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Robert Foltin: Das Kochen organisieren Zur Organisationsfrage Ich lehne nicht jede Form der Organisierung ab, allerdings gewisse politische Formen der Organisation. Ich bin dafür, dass sich die Protagonist_innen so genannter „Einpunkt-Bewegungen“ koordinieren, dass mehr Diskussionen stattfinden. Ich bin aber skeptisch, wenn versucht wird ein „gesamtgesellschaftliches“ Konzept darüber zu stülpen. Jeder einzelne Kampf für eine emanzipatorische Veränderung zielt „aufs Ganze“, auf den Kapitalismus. Die autonome Antifa Die Broschüre „Wir sollten mal dringend miteinander reden…“ von der Autonomen Antifa [Wien] und der Gruppe AuA beschreibt einmal die Proteste gegen den WKR-Ball[1] relativ detailliert, und macht dadurch wertvolle Einschätzungen möglich. Und dann enthält diese Broschüre zwei Beiträge, die implizit mit der Organisationsfrage zu tun haben. Ein Beitrag beschäftigt sich mit dem Verhältnis der „radikalen Linken zu bürgerlichen Institutionen“[2], der als Haupttenor bejammert, dass die Arbeit von Linksradikalen gemacht wurde, in den Medien sich aber die „Grünen“ profilierten. Das kommt fast so herüber, als ob es darum ginge, in den Medien prominent vorzukommen und damit neue Aktivist_innen zu gewinnen. Verärgert hat mich der Beitrag, der das Konzept des „Freiraums“ dem des Kommunismus gegenüberstellt[3]. In einer wohlwollenden Interpretation läuft dieser darauf hinaus, dass die Selbstorganisationsprojekte dafür kritisiert werden, dass sie zu wenig in die Gesellschaft hineinwirken. In einer böswilligen Sichtweise ist es eine sich über die Bewegung erhebende kritische Kritik, die bei einem unpolitischen Zynismus landet, der alles kritisiert, was nicht der eigenen Position entspricht. Obwohl in der Überschrift des letzten Unterabschnitts die Aufforderung zur Organisation vorkommt, gibt es keinen konkreten Vorschlag dazu außer eine nicht erklärte und nicht erklärbare „dialektische Einheit von Theorie und Praxis“[4]. Das Problem ist dabei nicht die „Dialektik“, sondern die postulierte „Einheit“: Theorie und Textproduktion ist Handeln, ist Praxis: so könnte der hier kritisierte Freiraum-Text bewirken, dass sich sonst aktive Personen auf zynisches Besserwissen zurückziehen (wäre das die „Einheit“?) oder das Gegenteil, dass erst recht emanzipatorische Räume weiterentwickelt werden. Der Begriff „Freiraum“ ist in Wien eher zufällig entstanden: Aus Italien wurden die Parolen „Nehmen wir uns die Stadt“ oder „Her mit dem ganzen Leben“ übernommen, um damit sowohl auszudrücken, dass der Kapitalismus das ganze Leben ausbeutet und unterwirft, was sich im städtischen Raum auswirkt, wie auch die Aneignungsbewegungen dagegen. Da die Verwendung des Begriffs „Lebensraum“ wegen der Benutzung durch den Nationalsozialismus völlig unvorstellbar war, lautete das Ergebnis eben „Freiraum“. Dass die Revolutionierung des Alltags durch solche Projekte widersprüchlich ist, ob sie Freiraum, soziales oder autonomes Zentrum genannt werden, wird wohl niemand abstreiten. Für mich war der Freiraum-Text aus der Broschüre ein Anlass, die Organisationsfrage und die Kritik der Organisation noch einmal auszuarbeiten. Dazu werde ich einige Abschnitte, die mir besonders unangenehm aufgestoßen sind, kommentieren und zum Schluss meine Vorstellungen und Vorschläge andeuten. Demokratie Wenn Kommunist_innen darauf verzichten, dem „Kapitalismus ein menschliches Antlitz“ zu verpassen, kurz „reformistische Forderungen“ zu stellen[5], dann brauche ich gar nichts mehr machen, denn jede Verbesserung der Lebensverhältnisse oder der Kampf gegen Verschlechterungen wird doch geführt, damit in zeitnaher Reichweite ein besseres oder nicht ganz so schlechtes Leben möglich ist. Wieso soll ich gegen Faschist_innen oder die FPÖ aktiv werden, wenn sie doch nur das barbarische Gesicht des Kapitalismus (und der SPÖ und der ÖVP) offenbaren? Wieso soll irgendwer gegen konkrete Abschiebungen kämpfen, weil durch eine Verhinderung doch nur gezeigt wird, dass es der Kapitalismus auch menschlich kann. Wieso soll ich gegen Schikanen am Arbeitsamt kämpfen, wenn sich doch dort der Kapitalismus selbst entlarvt. Und am besten ist, ich mache keine Volxküchen und selbst verwaltete Strukturen, denn womöglich könnte ich mich wohl fühlen und dann nicht mehr theoretisch „aufs Ganze“ schauen[6]. Methode Das Ausgehen und Ankommen bei materiellen Verhältnissen sei das Entscheidende, wodurch sich revolutionäre von bürgerlicher Theorie unterscheidet. Es ist allerdings so, dass der „Blick aufs Ganze“ eine vermeintlich außerhalb stehende Position einnimmt (Holloway 2002, S. 77: eine vermeintliche Objektivität als Blick vom Mond, Holloway versteht sich als Textproduzent als Teil eines rebellierenden „wir“). Die Wissenschaft ist aber von den herrschenden gesellschaftlichen Zuständen abhängig und darum auch und gerade von den dagegen gerichteten sozialen Bewegungen. Es ist nicht so, dass eine Theorie, die außerhalb entwickelt wird, zur Wirklichkeit drängt, sondern es muss darum gehen, dass die Theorie aus der Wirklichkeit kommt. Die „materiellen Verhältnisse“ sind primär eine Frage der Organisierung des Lebens oder anders formuliert eine „Kochfrage“ und erst sekundär eine theoretische Frage, die etwa die „abstrakte Arbeit“ diskutiert. „Revolutionäre Theorie“ kann nur in Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Realitäten und realen Bewegungen entstehen. Manche Kommunist_innen sollten wieder zuhören lernen, wie weiter unten als „militante Untersuchung“ vorgeschlagen. Das herrschende System ist nicht nur ein „apersonales Verhältnis“, es gibt nicht nur den stummen Zwang der Verhältnisse, sondern es gibt Chefs und Professor_innen, es gibt Verkäufer_innen und Abteilungsleiter_innen. Es gibt die AMS-Beamt_innen und es gibt die Bürokrat_innen. Und es gibt die „Männer“ und „Frauen“ in Beziehungen und Gruppen, die sich unterschiedlich verhalten und unterschiedliche Möglichkeiten und Voraussetzungen haben. Und es gibt Prolos, die sich nicht so gut äußern können und Intellektuelle, die auf „korrekte“ Art Veranstaltungen dominieren. Viele kleine Kämpfe, oft nur individuelle, sind ein Kampf gegen persönliche Schikanen. Dass eine kleine Rückgewinnung der Würde oder ein bisschen weniger Schikane, oder ein bisschen weniger Einschränkungen den Kapitalismus nicht abschaffen, wird wohl niemand bezweifeln. Was wäre die Alternative für „Kommunist_innen“? Wenn es nichts „Freies“ oder „Richtiges“ im Kapitalismus geben kann, läge es doch nahe, das „Falsche“ im „Falschen“ zu machen, was bei manchen zur Idealisierung des westlichen Herrschaftssystem gegenüber dem „Anderen“ im Sinne eines so genannten Universalismus führt. Und wer bestimmt, was eine „fehlerhafte Theorie“ ist? Die Zyniker_innen mit Blick aufs Ganze? Und wieso sollte mensch überhaupt etwas zu verändern versuchen, wenn uns die bürgerlich-kapitalistischen Zwänge „quasi naturgesetzlich“ gegenübertreten. Ich würde gerne sehen, wie sehr sich die Dialektiker_innen der Theorie und Praxis mit den realen Ausprägungen des Kapitalismus auseinandersetzen. Wahrscheinlich passen sie sich an und bleiben Freizeit-Theoretiker_innen, die sich mit der alltäglichen Scheiße zwischen Arbeit und Studium nicht auseinandersetzen, sondern sie leben. P.S.: Ich bin gerne ein „kritikloser und blinder Bewegungsfetischist“ und trotzdem beschäftige ich mich mit Theorie. Aber ich hab natürlich nicht die richtige Theorie, weil ich nicht ans „Ganze“ glaube, sondern mich als Teil der herrschenden Gesellschaft und der Bewegungen dagegen sehe und dadurch „nur“ ein situiertes Wissen entwickeln kann[7]. Freiraum Angeblich hätten in Wien Freiräume Konjunktur, als Resultat einer mangelnden Theorie und Praxis. Eine Veränderung „ums Ganze“ oder zumindest Versuche dazu finden allerdings in so genannten „Freiräumen“ mehr statt als in einer „Antifa“, die die Begrenzung ihrer Staatsorientiertheit nur oder hauptsächlich in der Befürwortung von Militanz sieht. In diesen Freiräumen wird wenigstens versucht, sich in Experimenten einer konkreten Utopie anzunähern. Dass die Aktivist_innen glauben würden, sie stünden außerhalb der herrschenden Gesellschaft, wird gerade an den Diskussionen um Organisation und Struktur und Auseinandersetzungen um die Wirkung von Herrschaftsmechanismen wie Rassismus und Sexismus widerlegt. Natürlich gibt es Projekte, die stärker am Überleben als Projekt orientiert sind und andere, denen politische Interventionen nach außen wichtiger sind. Die Probleme der „Freiräume“ liegen nämlich woanders, in der Trennung von Aktivist_innen und Konsument_innen, wo ich mir getrost zu unterstellen traue, dass die „kommunistischen Theoretiker_innen“ in ihrem dialektischen Verhältnis zur Praxis hauptsächlich konsumieren. Die autonome Szene entspricht allerdings wie vorgeworfen einer sozio-kulturellen Gruppe, aber große Teile greifen in den „alltäglichen Wahn“ ein, indem sie sich ihr Überleben organisieren und indem sie zu „reformistischen“ Einzelfragen nach außen aktiv werden: indem sie Veranstaltungen machen, praktische Arbeit, aber auch theoretische Diskussionen. Es gibt keine „politische“ oder emanzipatorische Organisierung ohne ein soziales Feld mit allen Problemen, wie Tendenzen der Abgrenzung gegenüber neuen und unbekannten Personen, der Entstehung informeller Hierarchien, der Bestätigung der Geschlechterordnung usw. Aber im Gegensatz zu den „kritischen Kritiker_innen“ wird auch dabei an der Veränderung des alltäglichen Lebens (meist zu wenig, aber immerhin) gearbeitet. Die emanzipatorische Veränderung der Gesellschaft muss ein Prozess sein, der jetzt anfängt. Und wie schon mehrmals betont, ist auch die Theorie nicht unabhängig von der herrschenden Gesellschaft, aber auch nicht von den Praxen der sozialen Bewegungen - dazu gehören auch Versuche der Selbstorganisation in so genannten Freiräumen. Jeder „Freiraum“ muss in Auseinandersetzung mit der herrschenden Gesellschaft organisiert werden: das fängt an mit den Polizeieinsätzen gegen Hausbesetzungen, geht über kapitalistisch („Bierverkauf bei Festen“) oder staatlich („Subventionen“) notwendiges Geldaufstellen bis hin zum Hereinwirken und der Auseinandersetzung mit dem herrschenden Sexismus. Die Gegenüberstellung eines „Freiraums“ zu einem „Autonomen Zentrum“ erscheint ziemlich willkürlich[8]. Im Gegensatz zu Freiräumen sei autonome Politik, den kapitalistischen Unsinn nicht mehr mitzumachen, sondern theoretisch und praktisch in Frage zu stellen. Wenn es nichts Richtiges im Falschen gibt, wie soll mensch den kapitalistischen Unsinn nicht mehr mitmachen: nicht mehr arbeiten gehen, zu studieren aufhören und natürlich auch jeden Aktivismus beenden, weil das ja nur den Kapitalismus menschlicher machen könnte. Und schon gar keine Freiräume wegen der Illusionen… Oder ist der „Blick in die weite Welt“, sich in der normalen Arbeits- und Studienwelt aufzuhalten und am Feierabend im Beisl am Eck antikapitalistische Strategien zu entwerfen? Und wenn etwas passiert, wie die Studierendenbewegung im Herbst 2009, sie zu kritisieren, weil sie nicht den „Blick aufs Ganze“ hat. Was tun? Ich sehe das Hauptproblem nicht im fehlenden Blick auf das Ganze und dem Versuch, die eigene „Theorie“ als richtig hinzustellen und daraus eine „Programmatik“ erstellen. Das führt eher zu Spaltungen und Zersplitterung. Das Leben soll und muss innerhalb und außerhalb von Projekten organisiert werden. Eine mangelnde Wirkung nach außen gibt es eher, weil die Aktivist_innen durch die Arbeit und die Energie, die hineingesteckt werden muss, aufgerieben werden (auch durch die weit verbreitete Konsumhaltung von den vielen anderen). Ein weiteres Problem ist, dass die verschiedenen emanzipatorischen Bewegungen zu wenig kommunizieren. Es gibt sehr viele Aktivitäten, die völlig unterschiedliche Menschen ansprechen. So etwa das menschenrechtliche Spektrum, wo von zwei Studierenden tausende Menschen mobilisiert werden konnten. Am gleichen Tag war die Free Parade, bei der ganz andere Aktivist_innen auf der Straße waren, die massiv Repression, Rassismus und Unterdrückungsverhältnisse thematisierten. Zu anderen Anlässen, etwa bei Hausbesetzungen oder bei Antifa-Aktionen treffen sich Menschen, die eher als (post)autonom eingeordnet werden können. Es gibt zwar Projekte, die versuchen, die verschiedenen Szenen zusammen zu führen, etwa das que[e]r, das Veranstaltungen zu unterschiedlichen Themen durchführt. Aber auch dort scheint es eine fein säuberliche Trennung des Publikums zu geben. Zu feministischen Themen erscheinen andere Besucher_innen als zu einem Antifa-Thema[9]. Das verschärft sich noch, wenn die Aktivist_innen älter werden. Dann dominiert der Druck, das (Über)Leben zu organisieren, etwa durch mehr notwendige Arbeitszeit, größeren Arbeitsaufwand oder Kinderbetreuung. Wobei natürlich erwähnt werden muss, dass Studierende früher auch noch mehr Zeit für Kreativität und politische Aktivität außerhalb der Studienzeit hatten als die jetzige Bologna-Generation. Brot und Spiele Bei der Organisationsfrage muss es um die „materiellen Realitäten“ der Menschen gehen: Woher die Möglichkeiten zum Überleben (Geld!) kommen (aus der Arbeit, vom Staat, von Bekannten / Verwandten) und wie das Leben organisiert wird. Und es muss um das gehen, was über das Überleben hinausgeht, was Beziehungen betrifft, soziale Zusammenhänge und damit verbunden, Möglichkeiten der Kommunikation und des Zusammenkommens. Es sind Partys, Konzerte, Veranstaltungen, kulturelles Leben, oder auch nur das Zusammentreffen zu formellen Diskussionen und informellen Gesprächen. In den Diskussionen können politische Theorien gewälzt werden, aber die „Aufklärung“ über die „richtige“ Theorie konnte noch nie eine emanzipatorische (oder revolutionäre) Entwicklung anstoßen. Es geht darum, die vielfältigen Facetten von Unterdrückung und Ausbeutung zu erfassen und die Bewegungen dagegen. Von Freiraum-Strukturen aus, das können „soziale Zentren“ sein oder auch nur soziale Zusammenhänge und Gruppen, sollten größere oder kleinere „Ereignisse“ organisiert werden, die die öffentlichen Diskurse beeinflussen (nicht unbedingt die veröffentlichten) oder konkrete Veränderungen bewirken. Dabei gibt es unterschiedliche Möglichkeiten der Wirkung nach außen, länger andauernde Kampagnen, die Auseinandersetzungen über Lebens- und Arbeitsbedingungen und dortige Möglichkeiten des Widerstands (militante Untersuchung) und das Warten auf und die anschließende Beteiligung an (spontanen oder organisierten) sozialen Bewegungen. Wobei sich diese unterschiedlichen Aktivitäten gegenseitig beeinflussen (sollten). Kampagnen Ein offensichtliches Beispiel ist die Kampagne gegen den WKR-Ball. Dabei geht es nicht nur um die Organisation und Durchführung der spektakulären Demonstrationen (ohne deren Spektakel die Wirkung geringer gewesen wäre), sondern auch um länger andauernde Recherche und Öffentlichkeitsarbeit. Und das ist der Punkt, wo sich die Aktivitäten nicht von anderen „bürgerlichen“ und „demokratischen“ Organisationen unterscheiden. Hausbesetzungen und Hausprojekte haben mehr mit den persönlichen (Über)Lebensnotwendigkeiten zu tun hat. Auch dabei geht es um ein Zusammenspiel von mehr oder weniger spektakulären Aktionen und gemeinsamer Recherche und Organisationsarbeit. Für die Tage einer Besetzung muss auch das Leben organisiert werden (Essen, Trinken, Veranstaltungen). Wobei unterschiedliche Gruppen bestehen (können), die unterschiedliche Konzepte der Selbstverwaltung verfolgen. Bestehenden Projekten könnte mensch höchstens vorwerfen, dass sie zu wenig Nachbarschaftsarbeit machen. Als Kampagnen können auch die queer-feministischen Aktivitäten gesehen werden. Das fängt bei Diskussionsgruppen an und geht hin bis zur „queer-feministischen Hausbesetzung“ und Großveranstaltungen wie Ladyfeste und queer-feministische Tage. Daneben auch die Gestaltung des queeren Alltags, wie er auch an linksradikalen Orten noch nicht selbstverständlich ist. Dazu ist gerade die „kulturelle“ Ebene von maßgeblicher Bedeutung, etwa die entsprechende Kunst- und Musikproduktion. Besondere Brisanz erreichte in den letzten Jahren die antirassistische Bewegung. Die permanenten Verschärfungen und menschenrechtlichen Verschlechterungen erforderten und erfordern geradezu Interventionen. In diesen Bereichen heißt das, in der „bürgerlichen Demokratie“ für deren eigene Werte zu kämpfen. Ohne die radikaleren Gruppen, die „Bleiberecht für alle“ und offene Grenzen fordern, wären allerdings die minimalen Erfolge wie die Nichtabschiebung von Kindern kaum möglich. Die Organisation des Mayday, einer Demonstration von allen, die nicht in ein „normales“ Arbeits- und Lebensverhältnis fallen, am Nachmittag des Ersten Mai ist ein weiteres Beispiel für eine Kampagne. Wobei sich schließlich herausstellte, dass ein Ziel, die Vernetzung der unterschiedlichen Menschen, die prekär leben, kaum erreicht wurde, sondern viele nur die lebendige und bunte Mayday-Parade konsumierten und unterm Jahr wenige Aktivitäten zeigten. Im Umfeld des „Mayday“ wurde mit einer Praxis experimentiert, die ausdrücklich das eigene Leben mit allgemein-gesellschaftlichen Verhältnissen in Beziehung bringt, die „militante Untersuchung“. Militante Untersuchung Ausgehend von den eigenen Lebensverhältnissen sollen Fragen gestellt werden. Das Ziel dieser Fragen ist nicht ein Ergebnis, sondern das Auslösen von Diskussionen, im Idealfall ein Ansatz zur Organisierung. Da ich aus einer älteren Generation stamme, kenne ich viele Einzelpersonen, die an ihren Arbeitsplätzen das bisschen an Widerstand leisten, das möglich ist. Und das ist mehr, als sich viele in der Szene vorstellen, aber es ist „reformistisch“ und es ist natürlich immer in einer durchschnittsrassistischen und sexistischen Umgebung. Gerade diese Aktivist_innen brauchen soziale Zusammenhänge, in denen eine Art „linksradikaler Supervision“ möglich ist. Angeboten wird so etwas ähnliches fast nur von traditionsmarxistischen Gruppen, die von der postautonom-libertären Szene so gerne gebasht werden. Beteiligung an sozialen Bewegungen Immer wieder sind Einzelpersonen in Bürger_inneninitiativen aktiv, die um Lebensqualität in ihrer Wohnumgebung kämpfen, von ihren Forderungen her oft widersprüchlich sind. Die Linke interessiert sich meist erst dafür, wenn sie spektakulär in den Medien erscheinen (wie etwa durch die Besetzungen beim Kampf gegen die „Volksgarage“ unter dem Bacherpark oder gegen die Verbauung des Augartenspitzes). Viele „kleine“ Auseinandersetzungen gibt es in den Bereichen, wo der Kapitalismus dabei ist, Arbeit, die zuerst außerhalb eines direkten Kapitalverhältnisses ausgebeutet wurde, seinem Regime der Lohnarbeit zu unterwerfen: „Reproduktionsarbeit“ oder besser das, was von Feministinnen als „Produktion von Leben“ bezeichnet wird. Kinderbetreuer_innen haben sich im „Kindergartenaufstand“ organisiert und einige spektakuläre Demonstrationen durchgeführt. Im Sozialbereich und in der Erwachsenenbildung eskalieren immer wieder Auseinandersetzungen im Spannungsfeld zwischen Eigeninitiative und gewerkschaftlicher Disziplinierung. Gerade dort hatten Linke, allerdings kaum aus dem autonomen Spektrum, teilweise Katalysatorfunktion. In der massiven Bewegung der Studierenden im Herbst 2009 konnten „linke“ Ideen maßgeblich Einfluss nehmen, nicht durch gezielte und organisierte Interventionen, sondern durch Vorbildwirkung und die Aktivität von Einzelpersonen. Einzelne Initiativen und Aktivist_innengruppen bereiteten die große Unruhe vor (wie keineUni, Edufactory, das Widerstandscafé, Initiative for the Re-Democratization of Educational Institutions - IRDEI oder das Netzwerk Emanzipatorische Bildung). In der Bewegung selbst setzte sich unter Einfluss der Linken eine allgemeine Kritik der Repräsentation durch, mit dem die bürgerliche Öffentlichkeit zuerst nicht umgehen konnte. Auch die Auseinandersetzung um Sexismus und Queer-Feminismus wurde durch schon bestehende feministische Gruppen hineingetragen. Und dass Hörsäle besetzt wurden und sofort eine Volxküche eingerichtet wurde, hat mit der Vorbildwirkung früherer Hausbesetzungen und selbst organisierter Strukturen zu tun. Durch die Organisierung der „Reproduktionsarbeit“ wurde außerdem das Geschlechterverhältnis an die Öffentlichkeit gezerrt und sichtbar gemacht. Die vielfältigen und unterschiedlichen Forderungskataloge wurden von Linken beeinflusst, die „unerfüllbare“ Struktur der Forderungen und das Hinausweisen über den Kapitalismus entstanden praktisch von selbst. Viele Forderungen sind als Einzelforderungen realistisch, als Gesamtpaket aber völlig unerfüllbar. Erst recht, weil die Herrschenden mit den sich täglich ändernden Forderungen nicht umgehen konnten. Zur Organisationsfrage Kampagnen, militante Untersuchungen wie auch Interventionen in Bewegungen sind Formen der Organisierung. Wie sollen und können aber die unterschiedlichen Bewegungen und Revolten in einen allgemeinen „kommenden Aufstand“ (Unsichtbares Komitee 2010) zusammenfließen? Oder gibt es sogar Vorteile, wenn sich verschiedene Initiativen nicht über den Weg laufen. Während der Besetzung der Arena im Sommer 1976 funktionierte die „Zusammenarbeit“ der unterschiedlichsten Gruppen nur, weil das Gelände so groß war und sich die unterschiedlichen Initiativen ihre Räume aussuchen konnten. Ein Kommentar einer Aktivist_in aus der Pankahyttn[10] zu dieser bei einer Veranstaltung gefallenen Bemerkung war, dass (in Bezug auf Hausprojekte) heute eine ähnliche Situation besteht, nur dass die Subversion durch Initiativen und Projekte über die ganze Stadt verteilt ist (immer wieder bedroht, wie die Räumung der Wagenplätze zeigt). Warum ist trotzdem eine gewisse organisatorische Gemeinsamkeit notwendig. 1. Erfahrungen sollen weitergegeben werden. 2. Kommunikation sollte stattfinden, damit es ein Wissen über die Vielfältigkeit der Bewegungen gibt, aber auch, um (zeitliche) Überschneidungen zu vermeiden. In vielen Wochen finden mehrere Demonstrationen und Kundgebungen statt, die oft voneinander nichts wissen und bis jetzt nicht einmal in einem (linksradikalen) Kalender aufscheinen. 3. Einzelaktivist_innen, die z.B. in einem Betrieb oder einer Bürger_inneninitiative aktiv sind, bräuchten eine soziale (oder linksradikale) „Supervision“. 4. Die unterschiedlichen Bewegungen sollten sich gegenseitig beeinflussen, damit nicht eine Frage unbewusst zur wichtigsten Frage wird. Das kann meiner Ansicht nach keine Organisation mit einem vereinheitlichenden Programm bewerkstelligen. Aber es braucht Orte, an denen die Möglichkeit von Leben und Diskurs zusammenfallen. Bei der Auseinandersetzung mit den herrschenden Strukturen, bei Interventionen in die Gesellschaft wird ein Teil des Lebens organisiert. Nicht umsonst beginnt „Organisierung“ an Arbeitsplätzen (und auch in Bürger_inneninitiativen) mit sozialen Treffen (meist) außerhalb der Firmenräume, um erste Informationen auszutauschen. Normalerweise bedeutet die Aufforderung, „sich zu organisieren“ nichts anderes als soziale Zusammenhänge herzustellen. Die Anstrengungen zur emanzipatorischen Veränderung des alltäglichen Lebens (innerhalb und außerhalb von „Freiräumen“) in Kommunikation mit den sozialen Bewegungen und Revolten sind das, was Hardt / Negri (2009, S. 173ff) als eine Multitude im Werden verstehen (das „Making der Multitude“). Die Machtfrage stellen die sozialen Bewegungen, indem sie Verschiebungen in der herrschenden Gesellschaft bewirken (oder verhindern), aber auch, indem sie sich neben dem und gegen den Kapitalismus organisieren, nicht aber in den kapitalistischen Institutionen (das machen schon die Reformist_innen und Pragmatiker_innen der Sachzwänge). Literatur: Adorno, Theoror W. (1989): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Autonome Antifa [Wien] / Gruppe AuA (2010): „Wir sollten dringend miteinander reden…“ Nachbereitungs- und Diskussionsreader zu den bisherigen Mobilisierungen gegen den WKR-Ball. Wien. Haraway, Donna (1995): Situiertes Wissen. In: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Frankfurt am Main / New York: Campus, S. 73ff. Hardt, Michael / Negri, Antonio (2009): Commonwealth. Cambridge (MA): Harvard University Press. Holloway, John (2002): Die Welt verändern ohne die Macht zu übernehmen. Münster: Westfälisches Dampfboot. Unsichtbares Komitee (2010): Der kommende Aufstand. Hamburg: Nautilus. [1] Der jährliche Ball des Wiener Korporationsringes ist ein Treffpunkt deutschnationaler Burschenschaftler und hat eine wichtige Scharnierfunktion zwischen dem Rechtsextremismus und der politischen Mitte. [2] „Kann das nicht jemand anderes machen?“ Über das Verhältnis der radikalen Linken zu bürgerlichen Institutionen und unhinterfragte Wiener Selbstverständlichkeiten.“ S. 23-26. [3] Den Freiraum, den wir meinen… Über fehlende Perspektiven, ein falsches Kapitalismusverständnis und die Aufforderung weniger zu kochen. S. 27-32. Mir drängt sich unweigerlich ein Zitat von Fritz Teufel auf: „Wir wussten alles besser und hatten von nichts eine Ahnung.“ [4] In den neoleninistischen Gruppen der 1970er Jahre bedeutete diese Phrase, dass „Kommissionen“ zu einzelnen Fragen ein Konzept erarbeiteten, schon auch in Auseinandersetzung mit realen sozialen Gruppen und Bewegungen und das Fußvolk (die Mitglieder und Sympathisant_innen) dann diese Thesen als Parteilinie verwirklichten. [5] Die Diskussion geht natürlich von der antifaschistischen Bewegung aus, die ja die notwendige Verteidigung der bürgerlichen Demokratie ist. Dann darf mensch sich allerdings nicht beschweren, wenn so genannte „bürgerliche Gruppen“ sich das ebenso auf die Fahnen heften. [6] Nicht nur das in der Broschüre zitierte „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ (Adorno 1989, S. 42), sondern auch „Das Ganze ist das Unwahre.“ (Adorno 1989, S. 57) stammt aus der Minima Moralia. Das zeigt allerdings bloß, das Aphorismen aus dem Kontext gerissen, völlig unterschiedlich verwendet werden können. [7] Situiertes Wissen (Haraway 1995) macht die Wahrheiten vom eigenen Standpunkt abhängig ist, es gibt keine Totalität, z.B. dass sich alles aus der „Fetischisierung der abstrakten Arbeit“ ableiten ließe. Umgekehrt bedeutet es keinen Relativismus, es gibt Wahrheiten, z.B., dass Frauen weniger verdienen oder sich Frauen in der herrschenden Gesellschaft stärker körperlich präsentieren müssen. [8] Warum der Begriff „Autonomes Zentrum“ eingeführt wird und nicht der des inzwischen international gebräuchlichen „Sozialen Zentrums“, in dem Wohnen, Arbeit, Kultur, das ganze Leben mit politischer Aktivität zusammen fallen, ist mir unklar. [9] Wobei meiner Ansicht nach theoretischer Queer-Feminismus einen weiteren Blick auf gesamtgesellschaftliche Phänomene hat als etwa die Antifa. [10] Nach zahlreichen Hausbesetzungen wurde den Punks von der Mariahilferstraße ein Haus zur Verfügung gestellt, die „pankahyttn“. Seit Herbst 2010 findet dort eine Ausstellung „Punk in Wien“ statt, begleitet von Veranstaltungen zur radikalen Geschichte, eben auch zur Besetzung des Auslandsschlachthofes „Arena“ im Jahr 1976. |
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