|
Karl Reitter: Produktivität als
Autonomie? Dieser kleine Text stellt selbstverständlich keine umfassende Analyse und Einschätzung der im Jahre 2000 mit Empire begonnen und nun mit Commonwealth abgeschlossenen Trilogie dar. Ob ein derartiges Unterfangen angesichts der oftmals unscharfen und schillernden Begriffsbildung und Begriffsverwendung durch die beiden Autoren überhaupt sinnvoll möglich ist, sei dahingestellt. Ich begnüge mich mit der Diskussion einiger problematischer Aspekte. Mein Hauptkritikpunkt steht bereits im Titel. Hardt und Negri behaupten, in der aktuellen Phase des Kapitalismus müsse der Multitude (Menge) unabdingbar Autonomie und Selbstbestimmung zugestanden werden. Ich zitiere typische Passagen. Schon zu Beginn von Commonwealth wird behauptet: „In den nunmehr vorherrschenden Formen der Produktion, die unter anderem Information, Codes, Wissen, Bilder und Affekte einbeziehen, bedürfen die Produzenten eines hohen Grades an Freiheit und vor allem des freien Zugangs zu gemeinsamen Ressourcen, wie sie in gesellschaftlichen Formen etwa in Kommunikationsnetzwerken, Datenbanken oder kulturellen Zirkeln existieren.“ (Hardt, Negri 2009; 11) Diese These wird in immer euphorischeren Wendungen wiederholt. „Die Arbeit entwickelt sich zunehmend unabhängig vom Kommando des Kapitals, dessen Ausbeutungs- und Kontrollmechanismen werden zu Fesseln, zu Hindernissen für die Produktivität.“ (Hardt, Negri 2009; 187) Und, da dieses Thema von entscheidender Bedeutung ist, noch eine Passage: „Heute erleben wir die Krise auch innerhalb des Kapitalverhältnisses selbst, da das Kapital sich zunehmend mit autonomen, antagonistischen und nicht zu kontrollierenden Formen der gesellschaftlichen Arbeitskraft konfrontiert sieht.“ (Hardt, Negri 2009; 299) Getragen wird diese ultraobjektivistische Geschichtsthese durch den schillernden Begriff der immateriellen Arbeit. Die Logik des Arguments ist klar: Wenn immaterielle Arbeit (was immer dies auch sei) mit Notwendigkeit die fortgeschrittenste Form der Produktion darstellt, also nicht mehr zurückgenommen werden kann, wenn gleichzeitig immaterielle Arbeit unabdingbar Autonomie erfordert, dann ist die Ausbreitung und Durchsetzung der Selbstbestimmung kaum noch aufzuhalten. Kurz gesagt: Mit uns zieht die neue Zeit. Ich habe soeben die letzte Version dieser These, wie sie in Commonwealth präsentiert wird, dargestellt. In Empire finden wir eine weitere, operaistische Version. In den 60er Jahren, kulminierend in der 68er Bewegung, hätte es ein massives Bedürfnis nach Autonomie und Selbstbestimmung angegeben. Dieses Bedürfnis hätte die fordistische, fließbandzentrierte Produktionsform zum Scheitern gebracht. So lesen wir in Empire in Kursivschrift: „Tatsächlich erfindet das Proletariat die gesellschaftlichen Formen und die Formen der Produktion, die das Kapital für die Zukunft übernehmen gezwungen ist.“ (Hardt, Negri; 2002; 279) Ich halte diese Auffassung für falsch. Wohl knüpfte das Projekt des Neoliberalismus äußerlich an bestimmten Emanzipationswünschen der 68er Bewegung an, aber von Haus aus in einer nur selektiven, verdrehenden Form. Im Grunde vertreten auch Hardt und Negri die These von Boltanski und Chiapello, die von einer Verwirklichung der Bedürfnisse der 68er Rebellion im Postfordismus ausgehen. Strategisch geschickt domestizieren Boltanski und Chiapello die 68er Revolte mit dem Begriff Künstlerkritik. Dadurch wird der Revolte der umfassende und materiell-existentielle Charakter abgesprochen. Stattdessen werden ihr ästhetisch-expressive Bedürfnisse unterstellt. Dass sich die Freiheitssehnsüchte der 68er Bewegung in den Lebenssituationen der neuen Selbständigen und postfordistischen Arbeitsformen verwirklicht hätten, kann nur ein bitterer Scherz sein. Aber immerhin, mit dieser Ableitung verbleiben Hardt und Negri noch im Paradigma des Operaismus, wonach es die Klassenkämpfe seien, die das Kapital vor sich her treiben würden. Bereits in Empire und klarer in Commonwealth verschiebt sich das Argument auf die objektive Seite der immateriellen Arbeit. Nun ist es nicht mehr der Klassenkampf, sondern der spezifische Charakter der immateriellen Arbeit, der schlicht und einfach Autonomie erfordere. Es bedarf nun keiner (oder fast keiner) Kämpfe mehr, sondern alles liegt in der Hand der historischen Tendenz, die auf die Hegemonie der immateriellen Arbeit hinausläuft. Ich behaupte nun, dass die These von der Notwendigkeit der Autonomie Negri bereits weit vor jener Zeit gedacht hat, in einer Phase, in der von immaterieller Arbeit und biopolitischer Produktion noch keine Rede war. Im Grunde finden wir die Konstellation der Trilogie – auf der einen Seite die autonom produzierende Menge, auf der anderen die dieser Produktion äußerliche, hemmende und parasitär agierende Macht – bereits in seiner Spinoza-Rezeption Die wilde Anomalie vollständig ausgearbeitet. Damals hieß das Empirie und die Biomacht noch „Vermittlung“. Vermittlung stand (und steht) für Wert, Staat und Kapital. Also für alle Faktoren, die die autonome Produktivität einem Maß und einer Ordnung unterwerfen wollen. Spinoza ist für Negri jener frühbürgerliche Denker, der Produktivität in einer Situation denkt, in der sich die Formen der bürgerlichen Herrschaft noch nicht gefestigt hätten. Es zeige sich die Produktivität, aber noch nicht die Vermittlung. „Und der reale Gedanke der potentia, des Vermögens, konstituiert die einzige Vermittlung.“ (Negri 1982; 61) „In Wirklichkeit fehlt der holländischen Konstitution ein formaler Zusammenhang; sie lebt in der – wenn auch sehr trägen – Aufrechterhaltung der institutionellen Dynamik des revolutionären Prozesses selbst.“ (Negri 1982; 31) „(…) der Markt ist Dialektik. Aber das gilt für das 17. Jahrhundert nicht.“ (Negri 1982; 32) Das sei der Kontext der Spinozistischen Philosophie. „Das reife Denken Spinozas ist Metaphysik der Produktivkraft, die das kritische Durchbrechen des Marktes als geheimnisvolle und transzendentale Episode ablehnt, die stattdessen – unmittelbar – das Verhältnis von aneignender Spannung und Produktivität als Stoff der Befreiung deutet. Materialistisch, sozial, kollektiv.“ (Negri 1982; 245) Hier finden wir bereits alle Stichworte, die auch seine späteren Texte prägen. Entscheidend ist die von Negri gesetzte Identität von Produktivität und Autonomie. Produktivität ist ihm per se autonom. Negri gelingt es umso leichter, die gesamte Formproblematik bei Marx zur Seite zu schieben, als es bei Spinoza keine Differenz zwischen Arbeit/Produktivität an sich und Arbeit/Produktivität in je spezifischer gesellschaftlicher Form geben kann. Produktivität/Arbeit können bei Spinoza und Negri keine substanziell unterscheidbaren historischen Verwirklichungen annehmen. Dass sich die Charaktere der Produktivität/Arbeit durch die kapitalistischen Formen verkehren, dass im Kapitalismus Arbeit/Produktivität statt Reichtum Armut, statt Universalität Reduktion, statt Freiheit Gezwungenheit zum Resultat hat, diesen Gedanken hat Negri nie akzeptiert. Im Grunde hat er die entscheidende Einsicht von Marx nie akzeptiert, dass das Kapital die Produktivität der Arbeit unter den Vorzeichen der Heteronomie und Entfremdung steigert. Dies führt zu jenen höchst befremdlichen Befunden, Autonomie und Selbstbestimmung seinen längst verwirklicht. Wenn wir Selbstbestimmung nicht mit dem notwenigen Maß des denkenden und aktiven Mitvollzugs verwechseln, auf den das Kapital immer schon angewiesen war, (auch am Höhepunkt des Fließbandes und des Fordismus), wenn wir individuelle und kollektive Autonomie ernsthaft denken, dann kommt den diesbezüglichen Aussagen in Empire und Commonwealth etwas unfreiwillig Zynisches zu. „Gewöhnlich kooperieren kognitiv und affektiv Arbeitende unabhängig vom kapitalistischen Kommando, selbst unter sehr ausbeuterischen Bedingungen, die wenige Spielräume bieten, wie beispielsweise in Callcentern oder in der Gastronomie.“ (Hardt, Negri 2009; 154) Was sollen wir zu diesen Behauptungen noch sagen? Ja, die Menschen sind nirgendwo Automaten, sie kooperieren auch in der materiellen und formal bürokratischen Arbeit. Ja, auch Mac Donalds kann Arbeitende nicht zu Marionetten formen. Aber bitte, verarscht uns doch nicht! Multitude oder Proletariat? Hardt und Negri haben sich niemals vom Begriff des Proletariats distanziert. Die Abgrenzung der Multitude erfolgte zumeist vom Volksbegriff, der sich historisch und logisch nur durch zwanghafte Vereinheitlichung und Identitätsbildung bilden lässt. Die Multitude hingegen bringe die Vielgestalt und Unterschiedlichkeit der Menge auf den Begriff. So weit, so gut. Trotzdem müssen wir auf einem tiefgreifenden Unterschied beharren, der von den Autoren recht geschickt überspielt wird. Ich gebe gerne zu, dass mir diese Differenz lange Zeit nicht klar war, möglicherweise habe ich zu viel Marxismus in ihre Konzeption hineingedacht. Der Unterschied ist schlicht folgender: Das Proletariat muss, will es sich emanzipieren, seine gesellschaftliche Existenzweise – ich spreche lieber von Existenzweise statt von gesellschaftlichem Sein – aufheben, die Multitude hingegen ihr Sein bejahen. Das Proletariat muss sich zum Nicht-Proletariat transformieren, die Multitude prinzipiell in ihrem Sein verharren und ihre Identität endgültig durchsetzen. Aus diesem Unterschied folgt alles. Als Multitude ist das freie Gemeinwesen bereits konstituiert, es muss bloß noch hemmende Faktoren abschütteln. Das heißt zugleich: Die Multitude ist bereits vorhanden, trotz der gesellschaftlichen Geltung der spezifischen Formen des Kapitalverhältnisses. Das Proletariat existiert jedoch keineswegs heute schon als Nicht-Proletariat, genauer: wenn, dann nur in suchenden Ansätzen, in errungenen und immer wieder implodierenden Freiräumen. Dass Arbeit als Lohnarbeit, Produktionsmittel als Kapital, dass Grund und Boden als Eigentum existiert, dass das Arbeitsprodukt zur Ware wird, alle diese Formen tangieren die Multitude in ihrem produktiven Sein nicht substanziell, aber sie konstituieren das gesellschaftliche Sein des Proletariats. Aus der Perspektive des Proletariats gedacht sind die herrschenden Formen die materiellen Bedingungen seiner sozialen Existenzform. Emanzipation bedeutet grundlegend die Überwindung dieser Formen. Lohnarbeit, Eigentum, Ware, Geld (wir können hinzusetzen: der Staat), also alle geltenden und prägenden Formen sind zu überwinden. Die Multitude existiert bereits heute jenseits der historischen Formen der gesellschaftlichen Arbeit. Daher finden wir bei Negri keine Rezeption der Marxschen Formkritik. Sie hätte auch keinen theoretischen Ort. Dass das Arbeitsprodukt zur Ware wird, dass Produktionsmittel und Produktionsfaktoren Kapital sind, das hindert und beeinflusst das tätige Sein der Multitude nur äußerlich. „Die biopolitische Produktion [das ist die umfassende Produktivität der Multitude, K. R.] stellt das Kapital vor ein Problem und der Neoliberalismus kennt keine Antwort darauf.“ (Hardt, Negri 2009; 279) So einfach ist die Welt. Dass der zwanglose Zwang der Verhältnisse sich mittels der gesellschaftlichen Formen des Kapitalverhältnisses durchsetzt, diesen Gedanken werden wir bei Negri und Hardt nie finden. Marx unterscheidet zwischen der mittelbaren Produktion im Kapitalismus und einer möglichen zukünftigen unmittelbaren Produktion. Mittelbare gesellschaftliche Produktion bedeutet, dass das Arbeitsprodukt eben Ware wird und sich über den Markt vermittelt. Eine unmittelbare Produktion kann es im Kapitalismus nicht geben, da sie salopp gesagt weder Waren- noch Geldform annehmen kann. Trotzdem schreiben Hardt und Negri in einer Vorarbeit zu ihrer Trilogie ungerührt: „Diese neuen Formen von Arbeit sind unmittelbar gesellschaftlich [sic! K. R.]; sie determinieren direkt die Netzwerke der produktiven Kooperation, in denen die Gesellschaft produziert und reproduziert wird.“ (Hardt/Negri 1997; 15) Im Klartext: Der Kapitalismus ist überwunden. Er existiert, wenn überhaupt, nur noch als leere Hülle. Aber auch das leere Kommando finden wir bereits in Negris Spinoza-Rezeption gedacht: „Jegliche Unterwerfung und Einordnung der Produktivkraft, die selbst nicht in der selbständigen Bewegung seiner konstitutiven Kraft besteht, ist Negativität, Antagonismus, Leere.“ (Negri 1982; 250) Dieser Irrwitz hat seinen Preis. Da der Kapitalismus weiter existiert, dominiert er die soziale Existenz von Milliarden Menschen. Nach wie vor bestimmt er die soziale Existenzweise der überwiegenden Mehrheit und zwingt sie, als Gebrauchswert Arbeitskraft dem Kapital als Tauschwert mehr oder minder willig zur Verfügung zu stehen und das Leben danach auszurichten. Diese soziale Existenzweise geht nicht ohne Beschädigung, ohne Verletzungen und ohne Entwürdigungen ab. John Holloway hat deshalb völlig zu Recht den Begriff der Würde in den Mittelpunkt gerückt. Der Begriff der Würde bringt diese Verletzungen zur Sprache, gibt uns eine Thematik, die sowohl die Beschädigungen als auch das Ringen um Würde sagbar macht. Mit dem Begriff der Würde verfügen wir auch über einen Ausdruck, der den qualitativen Aspekt des Klassenkampfes ausdrückt. Klassenkampf ist weit mehr als die Empörung über quantitative Ungleichheit. Ich gebe zehn und bekomme fünf; ja, das ist wohl ein Aspekt, aber nicht die ganze Sache. Es geht um ein neues gesellschaftliches Dasein. Zum Begriff der Würde gibt es bei Hardt und Negri kein Pendant. Wohl gibt es eingestreute Sätze, die etwas über die negative Situation der Menschen aussagen; eingestreute Bemerkungen, ohne jede theoretische und begriffliche Relevanz. Es ist exakt dieser Aspekt, der mich zu großer emotionaler Distanz veranlasst hat. Hier geht es für mich nicht mehr bloß um theoretische Fragen. Ob z. B. etwa die Autoren einen angemessen Begriff der Grundrente entwickelt oder nicht, darüber soll debattiert werden. Doch ihr Triumphalismus nimmt derart affirmative Züge an, dass er in Ignoranz kippt. An die Stelle der Selbstaufhebung der Multitude: Überwindung der Identitäten „Das Proletariat ist gemäß dieser Tradition die erste wahrhaft revolutionäre Klasse in der Menschheitsgeschichte, insofern sie darauf aus ist, sich als Klasse selbst abzuschaffen.“ (Hardt, Negri 2009; 340) Diese Definition von revolutionär gelte wohl für das Proletariat, nicht jedoch für die Multitude. Das Konzept der Multitude schließt ihre Selbstaufhebung aus. Der Prozess der Selbstaufhebung ginge nun auf die Identität über. „Das Projekt zur Abschaffung der Identität übernimmt somit die traditionelle Rolle der Abschaffung des Eigentums und des Staates.“ (Hardt, Negri 2009; 340) Ich will Negri und Hardt nun nicht unterstellen, sie würden die Abschaffung des Eigentums und des Staates aufgeben. So sind die Aussagen sicher nicht gemeint. Gemeint ist etwas anderes: Indem die Identitäten überwunden werden, wird zugleich dass Eigentum abgeschafft, da sie Identität eben nicht nur metaphorisch mit Eigentum gleichsetzen. Ich bin X, also ist mein X-Sein zugleich mein Eigentum. Klarerweise gestehen die Autoren zu, dass auch Identität einen befreienden und emanzipatorischen Index tragen kann. Ich kann allerdings nicht erkennen, dass sie den gordischen Knoten der Identitätsproblematik lösen. Die Frage der Identität wie Nichtidentität besitzt sozusagen die Würde einer Kantischen Antinomie. Beide Sätze sind unwiderlegbar, aber zugleich muss ihr Gegenteil als gültig angenommen werden: Aussage 1: Emanzipation schließt das Bejahen der eigenen Identität ein. Aussage 2: Emanzipation schließt die Überwindung der eigenen Identität ein. Es ist unmöglich, eine der beiden Sätze zu verwerfen. Ich kann diese Antinomie nicht lösen, aber auch die Autoren nicht. Allerdings suggerieren sie, nach einigem hin und her, folgende Lösung: Zum einen helfen sie sich durch Zuordnung von Worten über die Runden. „Während Emanzipation nach der Freiheit der Identität strebt, nach der Freiheit, der zu sein, der man wirklich ist [Aussage 1], zielt Befreiung auf die Freiheit der Selbstbestimmung und Selbsttransformation, auf die Freiheit, selbst zu bestimmen, wer und was man werden kann.“ [Aussage 2] (Hardt, Negri 2009; 339) Diese Wortzuordnung löst klarerweise diese Antinomie keineswegs, zumal Commonwealth den Unterschied Befreiung und Emanzipation nicht systematisch ausarbeitet. Zum anderen schlagen sie vor, alles unter dem Gesichtspunkt der Singularität zu betrachten. Singularität sei Element in einem Meer der Differenzen und Vielheiten. Sei Singularität, nicht Identität! So lautet nun der Imperativ. Ich kann es hier nicht begründen, aber es liegt in der Denklinie Nietzsche – Deleuze, die sie selbst an dieser Stelle anführen (die Hereinnahme von Spinoza ist diesem Zusammenhang frivol), immer auch etwas Ontologisch-Mystisches. Ich schlage meinen LeserInnen vor, nur versuchsweise die folgende Zitate jemanden anderen laut vorzulesen, ohne sogleich die Quelle zu verraten: „Versuche dich nicht selbst zu retten – tatsächlich muss dein Selbst geopfert werden!“ (Hardt, Negri 2009; 346) „Du musst verlieren, was du bist, um zu erkennen, was du werden kannst.“ (Hardt, Negri 2009; 347) Nochmals Formproblematik Der Marxsche Arbeitsbegriff ist denkbar weit und umfassend. Arbeit produziert keineswegs bloß Waren und Dienstleistungen, sondern die Sinnlichkeit des Menschen (so in den Pariser Manuskripten), die sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Verhältnisse. Arbeit produziert die materiellen Bedingungen der Befreiung, Arbeit schafft das dynamisch veränderbare Wesen des Menschen. Allerdings, und das ist ja die Pointe der Marxschen Kapitalismuskritik, ist die eigentliche Potenz der Arbeit durch die Formen und Verhältnisse im Kapitalismus blockiert. Arbeit kann in dieser Gesellschaft nicht das erste Lebensbedürfnis werden, das die Menschen in Freiheit verbindet. Negri und Hardt greifen diesen emphatischen Arbeitsbegriff auf, was ich sehr begrüße, geben ihm aber eine spezifische Wendung. Erstens wird er modisch unbenannt. Nun heißt Arbeit biopolitische Produktion. Auch dagegen wäre erst einmal nichts einzuwenden. Allerdings präsentieren sie in epischer Breite die von Marx analysierten Charaktere der Arbeit als funkelnagelneue Erkenntnisse. „Die Produktivkraft der lebendigen Arbeit, wird zum Vermögen, gesellschaftliches Leben hervorzubringen.“ (Hardt, Negri 2009; 147). Wird? Oder: „Ökonomie und Produktion durchlaufen gegenwärtig eine Zeit des Übergangs und was die kapitalistische Produktion hervorbringt, sind in zunehmendem Maß soziale Beziehungen und Lebensformen.“ (Hardt, Negri 2009; 145) Schrieb Marx nicht im Kapital, das eigentliche Resultat der kapitalistischen Produktionsweise sei sie selbst? Hat uns nicht schon Engels darüber informiert, dass Arbeit sogar aus dem Affen den Menschen schuf, wenn ich das mit etwas Humor bemerken darf? Um es auf den Punkt zu bringen: Jene Qualitäten, die Hardt und Negri der biopolitischen Produktion zuordnen, sind im Marxschen Arbeitsbegriff selbstredend ausgesprochen. Dass Arbeit auch die Subjektivität des Menschen schafft, ist ebenfalls keine Entdeckung von Hardt und Negri. Da ist nichts Neues. Allerdings, und das macht den Unterschied ums Ganze, tritt für Marx die je spezifische Form der Arbeit in den Vordergrund. Die entfremdete Arbeit produziert nicht das freie Gemeinwesen, sondern die sachlichen Mittel sozialer Herrschaft. Erneut sehen wir, wie Hardt und Negri die gesellschaftlichen Formbestimmungen schlicht ignorieren und behaupten, Arbeit, nun in biopolitische Produktion umbenannt, könne ihre Potenzen unabhängig von diesen entfalten. Zum historisch-zeitlichen Index Lesen wir Commonwealth genau, so merken wir, dass jede Aussage zur immateriellen Arbeit, zur Informatisierung der Produktion usw. stets einen zeitlichen Index trägt. „Immer mehr“, „tendenziell“, „zunehmend“, so oder ähnlich lauten die Wendungen, mit denen die vermehrte Hegemonie der immateriellen Arbeit formuliert wird. Das klingt auf den ersten Blick nach redlicher Vorsicht. Noch, so können wir vermuten, sei ja die Hegemonie der immateriellen Arbeit nicht ausgebildet, wir seien derzeit bloß Zeuge ihres Aufstiegs. Wenn wir aber über diesen permanent verwendeten zeitlichen Index nachdenken, erscheint er uns plötzlich sehr merkwürdig. Zwei Fragen drängen sich auf: 1. Warum ist der Prozess nicht schon lange abgeschlossen? 2. Gibt es eine notwenige Grenze der Tendenz und worin besteht sie oder kann letztlich jede Produktion immateriell werden? Zu 1. Das Kapital ist schnell. Profitable Tendenzen werden so rasch wie möglich umgesetzt. Es wäre eine sehr skurrile Aussage, zu sagen, es gäbe eine Tendenz zum Einsatz von Computern in Produktion und Verwaltung. Dort, wo der Einsatz möglich und sinnvoll ist, ist er schon lange geschehen. Ebenso halt ich es für falsch, von einer Tendenz der Auslagerung der Produktion nach Südostasien oder China zu sprechen. Was profitabel ausgelagert werden kann, ist es schon und nicht erst seit gestern. Produktions- und Verwaltungsabläufe, die in den imperialen Metropolen verblieben sind, sind aus guten Gründen hier, insofern ist die Drohung mit der Verlagerung in der Regel eine leere. Wenn nun die immaterielle Produktion gegenwärtig die Quelle des Reichtums und des Profits ist, warum ist diese Tendenz nicht schon vollendet? Ein Argument wäre, dass die damit vorgeblich verknüpfte Autonomie die kapitalistische Herrschaft veranlasst, die Tendenz zur Immaterialität zu behindern. Wir hätten erneut einen Klassiker: Die Produktionsverhältnisse als Fessel der Produktivkräfte. Aber wird das Argument in Commonwealth systematisch entfaltet? Nein. Dafür besitzt die Multitude zu viel Unabhängigkeit von der Herrschaft. Zu 2. Kann also jede Produktion immateriell werden? Oder muss sogar jede Produktion immateriell werden? Darauf finden wir keine Antwort. Und das ist kein Zufall. Wenn wir nämlich aus guten Gründen annehmen, dass zahlreiche Produktionsabläufe notwenig materiell bleiben, resultiert daraus eine Spaltung in der Multitude. Jene, die immateriell arbeiten, unterscheiden sich von jenen, die dies nicht tun können. Wir müssten also sagen, die immateriellen ArbeiterInnen beerben bei Negri und Hardt die klassische Industriearbeiterschaft. „Wir behaupten vielmehr, dass die biopolitische Produktion in der heutigen Ökonomie allmählich eine Hegemonialstellung einnimmt und die Rolle übernimmt, die die Industrie mehr als hundert Jahre lang gespielt hat.“ (Hardt, Negri 2010; 297) Stellten jene die produktive Avantgarde des Fordismus dar, so die heute immateriell arbeitenden Kreativen, die sich im Sinne der Autoren zu Recht einbilden können, die „Herren dieser Welt“ zu sein, weil ihre Begehren und ihre „Arbeit sie fortwährend neu erschaffen“. (Hardt, Negri 2002; 394) Ein Problem des Diskurses um den kognitiven Kapitalismus sehe ich nicht zuletzt in der Weigerung, konkrete Behauptungen auch empirisch oder illustrativ einzulösen. Die Arbeit würde immer immaterieller, wird behauptet. Welche? Die Arbeit der Postboten, der TransportarbeiterInnen, der Friseurinnen, der Bauarbeiter, der ErntehelferInnen, der KrankenpflegerInnen, der Handelsangestellten? Und wie steht es mit jenen Tätigkeiten (wer erinnert sich noch an die Diskussion um den Gegensatz von Kopf- und Handarbeit?), die als Kopfarbeit ausgeübt wurden und werden? Buchhaltung, Kostenrechnung, Sekretariatsarbeit, Planung von Arbeitsprozessen, Arbeit im Finanzsektor; alle diese Tätigkeiten hatten immer schon mit Information und Symbolen zu tun. Was unterscheidet also die ehrwürdige geistige Arbeit von der immateriellen Arbeit? Dort, wo tatsächlich Arbeitsverhältnisse exakt analysiert werden, wie etwa im Umkreis der Zeitschrift Wildcat oder auch in der Nachfolge von Bourdieu, sind alle jene mit Euphorie vorgestellten Kategorien seltsam absent. „Die biopolitische Arbeit bringt zunehmend ihre eigenen Formen gesellschaftlicher Kooperation hervor und produziert Wert selbständig.“ (Hardt, Negri 2009; 164) Auch hier sei naiv gefragt: wo bitte? Bei der Müllabfuhr, in der Filmproduktion, in der Landwirtschaft, bei den Handynetzbetreibern, an den Universitäten, in der Lebensmittelproduktion, in der Bauwirtschaft, bei den Eisenbahnen? Insbesondere werden die Universitäten derzeit in geradezu fordistischer Manier umgestaltet, so dass die Produktion von AbsolventInnen quasi einen Fließbandcharakter annimmt. Meine These lautet: Diese Kategorien, allen voran die immaterielle Arbeit, funktionieren nur in einer bestimmten Unschärfe. Sobald etwa die statistisch aufgegliederten Berufs- und Tätigkeitskategorien interpretiert werden sollen, aber auch exemplarisch bestimmte Unternehmen analysiert werden, schwinden diese Kategorien wie Schnee in der Sonne. Ärgerliches und Unheimliches Ärgerlich ist ihre Kritik am Wertgesetz. Ärgerlich deshalb, weil es in einer derart flapsigen und unscharfen Art rezipiert wird, so dass eine argumentative Auseinandersetzung kaum möglich erscheint. Ich gebe nur ein Beispiel: „Marxisten untersuchen, wie dieser qualitative Begriff [gemeint ist die abstrakte Arbeit, K. R.] sich verwandelt und in ein quantitatives Wertgesetz einfügt, das vor allem um das Problem kreist, wie sich der Wert der Arbeit messen lässt.“ (Hardt, Negri 2009; 322, herv. K. R.) Ist es Schlamperei, Unwissen, Ignoranz? Wir kehren zum Kapital zurück und lesen: „Die Arbeit ist die Substanz und das immanente Maß der Werte, aber sie selbst hat keinen Wert. Im Ausdruck: ‚Wert der Arbeit’ ist der Wertbegriff nicht nur völlig ausgelöscht, sondern in sein Gegenteil verkehrt. Es ist ein imaginärer Ausdruck, wie etwa Wert der Erde. Diese imaginären Ausdrücke entspringen jedoch aus den Produktionsverhältnissen selbst. Sie sind Kategorien für Erscheinungsformen wesentlicher Verhältnisse. Dass in der Erscheinung die Dinge sich oft verkehrt darstellen, ist ziemlich in allen Wissenschaften bekannt, außer in der politischen Ökonomie.“ (MEW 23; 559) Nun könnte gefordert werden, etwas großzügiger zu sein. Wahrscheinlich hätten die Autoren schon das Richtige gemeint, nämlich den Wert der Arbeitskraft. Wahrscheinlich. Es gehe zudem nicht um einen schrägen Satz, sondern um die gesamte Konzeption. Ich kann aus Commonwealth keine präzise Begründung entnehmen, warum das Wertgesetz nicht mehr gelten könne. In den früheren Arbeiten von Negri hingegen erkenne ich eine durchaus konzise Begründung. Diese beruht auf einer sehr einseitigen Interpretation des Kapitalverhältnisses. Negri zeichnet zuerst vom Kapitalismus folgendes Bild: Wertgrößen hätten Wertgrößen zu Folge, das besage das Wertgesetz. Ich gebe ein Beispiel. Der Kostpreis resultiere aus den Wertgrößen für das konstante und das variable Kapital. Zur Wertgröße Kostpreis tritt die Durchschnittsprofitrate hinzu und ergibt den Produktionspreis. Aus Wertgrößen resultieren wiederum Wertgrößen. Wir hätten also einen geschlossenen Kreislauf von Werten, die, vom Proletariat produziert, verschiedene Zyklen und Metamorphosen durchlaufen. Auch der Arbeitslohn sei eine solche objektive Wertgröße. Und nun schlussfolgert Negri: Wenn ich aber zeigen kann, dass an bestimmten Punkten nicht Wertgrößen, sondern bloß die unmittelbare Klassenauseinandersetzungen relevant wird, dann sei das Wertgesetz aufgehoben. Anders gesagt, wenn z. B. das Proletariat den Lohn vom Wert der Ware Arbeitskraft entkoppelt, in dem es massive Lohnerhöhungen erkämpft, verliert das Wertgesetz seine gesellschaftliche Bedeutung, es „gilt“ sozusagen nicht mehr. Diese Schlussfolgerung ist falsch. Das Kapitalverhältnis ist keineswegs eine ununterbrochene Kette von Wertgrößen. Nur eine verzerrende Marxinterpretation schließt zuerst den Klassengegensatz aus dem eigentlichen Kapitalverhältnis aus, um nachträglich diesen nun als außerökonomischen Faktor hinzuzufügen. Diese Fehlinterpretation hat unter dem Label „Kritik des Ökonomismus“ durchaus Karriere gemacht. Marx zeigt hingegen an vielen Stellen, wie und warum der Klassenkampf zum bestimmenden Faktor für Wertgrößen werden muss. Die Klassenauseinandersetzung ist selbst keine Wertgröße, hat aber Wertgrößen zur Folge. Wenn es zum Beispiel dem Proletariat gelingt, die Arbeitszeit – bei sonst gleich bleibenden Umständen – zu verkürzen, schmälert dies den Mehrwert und in Folge den Profit. Die Klassenauseinandersetzung hat sich in Wertgrößen ausgedrückt, ist aber dem Wert selbst vorgelagert. Das Klassenverhältnis selbst ist kein Wertverhältnis, sondern ein gesellschaftliches, soziales Verhältnis und als solches durch Kampf und Auseinandersetzung bestimmt. Es nimmt aber Wertform und Wertgröße an. Hätte Negri recht, wäre das Kapital selbst ein Text, in dem die gesellschaftliche Geltung des Wertgesetzes außer Kraft gesetzt wird. Dass der Wert der Ware Arbeitskraft eine contrafaktische, aber darstellungslogisch notwendige Bestimmung ist, führt Marx mehrfach klipp und klar aus. (Nur nebenbei: Nicht wenige Quatschköpfe vermeinen, Marx damit widerlegen zu können, indem sie den Lohn vom Wert entkoppeln.) Marx sagt ebenso: In der Realität ist der Lohn eine Resultante der Klassenauseinandersetzung. Solche im Kapital eindeutig dargelegten Analysen interpretiert Negri a) als Aufhebung des Wertgesetzes und b) verlegt die Aufhebung mehr oder minder willkürlich in die gegenwärtige Epoche. Diese in früheren Schriften dominierende Argumentation ist in Commonwealth kaum noch zu finden. Statt dessen, und das ist ein weiter ärgerlicher Punkt, lassen es die Autoren elegant offen, ob denn nicht Wert bei Marx eine positive Konnotation hätte, was klarerweise nicht der Fall ist. Sie dementieren mit keinem Wort ein übliches, gern gesehenes Missverständnis, welches ungefähr so lautet: Marx hätte die industrielle Arbeit als positiv bewertet. Nur die Arbeiter in der Fabrik würden die Werte schaffen. Das sei aber nicht korrekt. Diese Geldwerte seien gar keine wahren Werte, im Gegenteil. Wirkliche Werte … usw. usf. Es sage niemand, dies sei eine polemische Überzeichnung! Leider ist dieses Marxverständnis weit verbreitet. Und wie reagieren nun Hardt und Negri auf diese mitschwingende, aber nicht ausgeführte Rede? Sie affirmieren sie. Offen plädieren sie für einen Wertbegriff, in dem positive Wertschätzung, Bewertung und ethische Werte ineinander fließen und behaupten, dies sei die notwendige Alternative zum Marxschen Begriff: Es gelte den Wert des Lebens, den Wert der Liebe und der Freiheit in einem Wertbegriff zusammenzuführen. „An diesem Punkt brauchen wir eine neue Werttheorie. Aber wird es sich wirklich um eine Werttheorie handeln?“ (Hardt, Negri 2009; 324) Die Frage ist rhetorisch: Die geforderte Werttheorie ist auf einer völlig anderen Ebene angesiedelt und hat mit den Marxschen Wertbegriffen so viel gemeinsam hat, wie das Sternbild des Großen Bären mit dem Tier Bär. „In der heutigen Situation muss sich Wert auf die Lebenstätigkeit insgesamt beziehen und deshalb sind die Unermesslichkeit und das Überfließende produktiver Arbeit ein Prozess, der das gesamte biopolitische Gewebe der Gesellschaft durchzieht.“ (Hardt, Negri 2009; 325) Was ist der Wert? Der Wert ist die Freiheit. „Freiheit ist nicht nur ein politischer Wert, sondern vor allem ein ökonomischer, oder besser gesagt, ein biopolitischer Wert.“ (Hardt, Negri 2009; 329) Das Ärgerliche an diesem Verfahren besteht in der Suggestion, bei ihrem Wertbegriff würde es sich um eine Alternative zum Marxschen Wertbegriff handeln. Dass der Wert des Leben und der Freiheit nicht messbar ist, dass Leben und Freiheit über kein Maß verfügten, das gestehe ich erstmals gerne zu. Aber ich nehme zur Kenntnis: Weil Freiheit und Leben nicht messbar sind, diese aber das Produkt der biopolitischen Arbeit darstellen, sei das Marxsche Wertgesetz obsolet. Ein kleiner Nachtrag: Auch bei Marx misst der Wert nicht die konkrete Welt der Gegenstände und Tätigkeiten, er misst weder den Wert des Lebens noch den Wert der Dinge. In Marxscher Sprache ausgedrückt: Der Wert misst nicht den Gebrauchswert, sondern die zum aktuellen Zeitpunkt notwendige Arbeitsmenge zur Erzeugung dieses Gebrauchswert. Der abstrakte Wert ist also bei Marx nicht in der Lage, die Gebrauchswerte zumessen. Nichts anderes vertreten Antonio Negri und Michael Hardt. Der wirkliche Reichtum, so steht es im Kapital, wird vom (Tausch)Wert weder ausgedrückt noch gemessen. Unheimlich hat auf mich eine Passage gewirkt, der ich eine Vorgeschichte voranstellen muss. Detlef Hartmann hat seinerzeit beim Erscheinen von Empire eine wilde Polemik veröffentlicht. In »Empire« - Linkes Ticket für die Reise nach rechts beschuldigte er Negri, er würde einer neuen Elite das Wort reden. Diese Elite würde unter dem Leitstern der schöpferischen Zerstörung Schumpeters einen Diskurs der Selbstermächtigung betreiben. Wobei es mehr eine kommende Möchtegernelite sei und weniger reale Machthaber, denen Negri und Hardt mit Empire ein theoretisches Fundament ihrer Selbst- und Weltsicht anbieten würden. Empire würde soziale Milieus abfeiern, die sich als Avantgarde postfordistischer Arbeits- und Machtstrukturen aufdrängten, aber zugleich mit klassischem, konservativem Denk-, Lebens- und Arbeitsstil nichts am Hut hätten. In meiner ersten Reaktion habe ich diese Kritik als absurd abgelehnt. Nach und nach habe ich eine Teilberechtigung dieser Kritik anerkannt. Mit dieser Haltung im Kopf las ich nun die Seiten 306 und folgende der deutschsprachigen Ausgabe. Es war wie ein Schlag. Negri und Hardt beziehen sich erstmals auf Schumpeter und stimmen mit seiner Diagnose bezüglich des „Niedergangs der unternehmerischen Fähigkeiten des Kapitals“ (Hardt, Negri 2009; 306) überein. Und dann preisen sie die „Unternehmerschaft der Multitude“ (Hardt, Negri 2009; 307), die sozusagen das Erbe der verbrauchten klassischen Unternehmenskultur antreten würde. „Hat das Kapital aber erst einmal seien Innovationskraft und seien unternehmerische Fähigkeit verloren, so Schumpeters Überzeugung, dann kann es nicht mehr lange überleben.“ (Hardt, Negri 2009; 307) Diese Innovationskraft und der Unternehmergeist würden nun auf die Multitude übergehen. „Schumpeter hatte Recht, als er den kapitalistischen Unternehmer als Quelle wirtschaftlicher Innovationen für obsolet erklärte, aber er konnte nicht erkennen, dass an dessen Stelle die vielköpfige Hydra der Multitude als biopolitischer Unternehmer treten würde.“ (Hardt, Negri 2009; 307) Um noch eins draufzusetzen werden kurz davor Bill Gates und Steve Jobs folgendermaßen charakterisiert: Sie seien „keine wirklichen Unternehmer im Schumpeterschen Sinne. Sie sind lediglich Geschäftsmänner und Spekulanten.“ Apple und Microsoft würden von den „innovativen Energien“ zehren, die in den „rieseigen Netzwerken der Computerexperten und internetgestützten Produzenten“ entstehen würden. (Hardt, Negri 2009; 307) So steigt das Bild einer zukünftig erfolgreichen, gegenwärtig noch zu kurz gekommen Elite auf, die rund um die Uhr tätig ist und sich zugleich als die Quelle der wahren Werte imaginiert. „Die treibende Kraft biopolitischer Produktion kommt dann auch von unten aus der Unternehmerschaft der Multitude.“ (Hardt, Negri 2009; 307) Dieser unheimlichen Passage geht noch dazu folgende Überlegung voran. Ob denn nicht das Geld in den Händen der Multitude eine andere Rolle als gegenwärtig spielen könnte? „Könnte die Fähigkeit des Geldes (und der Finanzwelt ganz allgemein), das gesellschaftliche Feld der Produktion zu repräsentieren, in den Händen der Multitude ein Instrument der Freiheit sein, mit dessen Hilfe sich Elend und Armut überwinden lassen?“ (Hardt, Negri 2009; 305) Bei diesem Gedanken bekommen unsere Autoren doch kalte Füße und relativieren: „Wir können auf diese Fragen noch keine zufrieden stellende Antwort geben, aber wir haben den Eindruck, dass Bestrebungen, sich das Geld auf diese Weise wieder anzueignen, die Richtung weisen, wie revolutionäre Aktivität heute aussehen könnte.“ (Hardt, Negri 2009; 305) Auf jeden Fall ginge es nicht an, „davon zuträumen, in eine vorsintflutliche Welt der Gebrauchswerte zurückzukehren.“ (Hardt, Negri 2009; 305) Kein Kommunismus ohne Geld! Zurück zum Leninismus? Oder: die Grenzen der biopolitischen Produktion Abschließend möchte ich auf eine bemerkenswerte Verschiebung ihrer Positionen aufmerksam machen. In Empire, aber auch in der Wilden Anomalie scheint Negri der Auffassung zu sein, dass eine politische Organisation des Gemeinwesens bloß die bereits existierende Organisation in der biopolitischen Produktion und durch sie verdoppeln würde. Dieser Gedankengang ist leicht nachzuvollziehen. Wenn die Multitude durch ihre alles umfassende Produktivität sozusagen „alles“ produziert – wozu noch eine zweite politische Ebene? Die spontane Organisation des Sozialen bedürfe doch keiner wie immer gearteten weiteren Instanz. In der Wilden Anomalie kritisiert Negri sehr konsequent Spinoza, der insbesondere im zweiten Teil des vierten Buches, ab dem Lehrsatz 37, um genau zu sein, für die Notwendigkeit der politischen Konstitution des Gemeinwesens plädiert. Wohl hebt Spinoza den „Naturzustand“ niemals auf, aber dieser Naturzustand bedürfe doch einer politisch institutionalisierten Verfassung. Diese Wende in der Ethik des Spinoza wurde damals von Negri recht klar kritisiert: „Der Positivismus der Imagination hält vor dem Transzendentalismus der rechtsnaturalen Vernunft inne.“ (Negri 1982; 126) Allerdings war sich Negri auch nie zu hundert Prozent sicher, dass die spontane Produktivität der Multitude alle sozialen Fragen lösen könne. „But in the part available to us, even the PT [gemeint ist mit PT der Politische Traktat, das letzte Werk Spinozas, K. R.] does not succeed in resolving the problem of relationship between the ontological power of the collective and the freedom of individuals. The concept of the multitudo, as we have seen, poses the problem by leaving it open.” (Negri 1997; 238) Dass das Konzept der Multitude also Probleme formuliert, sie aber nicht löst, diesen Gedanken finden wir nun erneut in Commonwealth. „Die Menschen sind von Natur aus nicht spontan in der Lage, aus freien Stücken miteinander zu kooperieren und das Gemeinsame zu lenken.“ (Hardt, Negri 2009; 369) Das ist wohl eine gewichtige Aussage, die im Grunde vieles an euphorischen Aussagen über die biopolitische Produktion wieder zurücknimmt. Daher bedürfe es einer politisch intervenierenden Kraft. Zuerst ist es eine Frage: „Der Übergangsprozess verläuft freilich, wie wir gesagt haben, nicht spontan. Wie lässt sich der Übergang steuern? Wer oder was zieht die politische Diagonale, die den Übergang leitet?“ (Hardt, Negri 2009; 370) Dann eine Feststellung: „Und doch sind wir uns voll bewusst, dass der revolutionäre Prozess nicht spontan abläuft und dass er gesteuert werden muss.“ (Hardt, Negri 2009; 378) E-Mail: k.reitter@gmx.net Zitierte Literatur: Hardt, Michael; Negri, Antonio, (1997) „Die Arbeit des Dionysos. Materialistische Staatskritik in der Postmoderne“, Berlin Hardt, Michael; Negri, Antonio, (2002) „Empire. Die neue Weltordnung“, Frankfurt am Main, New York Hardt, Michael; Negri Antonio, (2009) „Commonwealth. Das Ende des Eigentums”, Frankfurt/New York Hartmann, Detlev, (2002) „Empire - Linkes Ticket für die Reise nach rechts“, Berlin Marx, Karl, (MEW 23) „Das Kapital, Band 1“ Berlin 1965 Negri, Antonio, (1982) „Die wilde Anomalie. Spinozas Entwurf einer freien Gesellschaft“, Berlin Negri, Antonio, (1997) „Reliqua desiderantur : A Conjecture for a Definition of the Concept of Democracy in the Final Spinoza“, in: Montag, Warren; Stolze, Ted (Ed.) „The New Spinoza“, Minneapolis |
|