|
Anton Pam:
Elitenbildung und Hochschulen im chinesischen Sozialismus: Rezensionsessay Joel Andreas: Rise of the Red Engineers: The Cultural Revolution and the Origins of China’s New Class, Stanford University Press 2009, 28 Euro Die Studierendenproteste in Österreich und Deutschland im Herbst 2009 haben die Fragen aufgeworfen, was der Sinn und Zweck von Hochschulbildung ist: Wer soll studieren können, wem gehört die Uni, wie kann soziale Selektion und Eliten-Bildung verhindert werden? In diesem Zusammenhang lohnt es, sich mit den gewonnenen und verlorenen Kämpfen in der Vergangenheit auseinandersetzen. Joel Andreas versucht in seinem Buch „The Rise of the Red Enineers“ zu erklären, wie Elitenbildung im sozialistischen China funktioniert hat. Andreas ist „Assistant Professor“ für Soziologie an der John Hopkins Universität in Baltimore. Am Beispiel der Top-Eliteuniversität Qinghua in Beijing erklärt er, wie die „roten Ingenieure“ zur neuen Klasse aufsteigen konnten, die heute in China eine technokratische Herrschaft ausüben würden. Dabei knüpft er an die Thesen von György Konrád und Iván Szelényi an, die in den 70er Jahren die These aufstellen, der Sozialismus in Osteuropa stelle eine Klassenherrschaft der Intellektuellen dar. Allerdings geht Andreas darüber hinaus, indem er, an Pierre Bourdieu angelehnt, die Begriffe des kulturelles und politisches Kapitals entwickelt. Über politisches Kapital verfügten in erster Linie die revolutionären Kader, die schon vor 1949 Aktivisten der KPCh wurden, und über kulturelles Kapital verfügte die alte Elite der Intellektuellen und ihre Kinder. Da das Privateigentum an Produktionsmitteln nach 1956 weitgehend abgeschafft wurde, glaubt Andreas, dass politisches und kulturelles Kapital die Grundlage für Klassenmacht im Sozialismus seien. Andreas argumentiert, dass es in der kommunistischen Bewegung zwei Traditionen bezüglich der Verteilung von politischem und kulturellem Kapital gebe: 1. Die egalitäre Tradition, die sich auf Karl Marx´ „Kritik des Gothaer Programms“ bezieht und auf eine Abschaffung der drei Unterschiede (zwischen körperlicher und geistiger Arbeit, Arbeiter und Bauern sowie Stadt und Land) abzielt. Diese Tradition hatte großen Einfluss auf die Politik der Bolschewiki von der Oktoberrevolution bis zum „großen Rückzug“ Mitte der 30er Jahre. 2. Damals wurde das sowjetische Hochschulsystem auf Elitenselektion umgestellt und alte Privilegien von Intellektuellen, Experten und Professoren wiederhergestellt. Das Ziel, die drei Unterschiede aufzuheben, wurde in die ferne kommunistische Zukunft vertagt. Spätestens nach dem 2.Weltkrieg wurde die Sowjetunion von einer technokratischen Elite von roten Ingenieuren regiert. Parteiführer wie Brezhnev, Kosygin, Gromyko, Andropov und Gorbachev hatten alle Abschlüsse in Ingenieurswissenschaften oder Agronomie (S.1). Diese Tradition bezeichnet Andreas als Utopie im Sinne des französischen utopischen Sozialisten Saint-Simon (1760-1825), dem eine Herrschaft der Wissenschaftler auf Basis öffentlichen Eigentums vorschwebte . Die Wiege der roten Ingenieure Die Qinghua-Universität wurde 1904 unter starkem US-amerikanischen Einfluss gegründet. Der erste Teil des Buches zeigt, wie die KPCh nach 1952 die Qinghua zur „Wiege der roten Ingenieure“ nach sowjetischem-(technokratischen) Vorbild umbaute. Die neue politische Elite, kommunistische Kader, die zumeist aus einfachen Familien kamen und über wenig formale Bildung verfügten, übernahmen zunächst die Kontrolle über die alten intellektuellen Eliten des Lehrkörpers. In diesem Jahr wurde in China eine zentralisierte, landesweite Aufnahmeprüfung (gaokao) eingeführt, durch die nur eine kleine Minderheit mit den besten Ereignissen an den Hochschulen studieren konnte. Das Gaokao-System führte dazu, dass Kinder der alten intellektuellen Elite die Mehrheit der Studierenden stellten, da sie in den schriftlichen Tests besser abschnitten. 1952 kamen nur 14 Prozent aller Studierenden von Qinghua aus Arbeiter- und Bauernfamilien, was schon viel ist, angesichts der Tatsache, dass nur 1 Prozent eines Jahrganges die höhere Mittelschule abschloß (S.43). In den Jahren vor der Kulturrevolution gelang es auch vielen Kaderkindern aufgenommen zu werden und der Anteil der Arbeiter-und Bauernkindern bei den neuaufgenommenen Studierenden stieg bis 1964 auf 44 Prozent (S.69). Der Rektor von Qinghua, Jiang Nanxiang, der 1960 auch zum chinesischen Bildungsminister ernannt wurde, versuchte, eine neue „rot-und fachkundige Elite“ auf Grund eines Auswahlsystem auf allen Ebenen der Schulbildung zu schaffen und auch die alten Professoren in die Partei zu integrieren. Jiang trat für eine klare Trennung zwischen der Bildung für die Massen der Bevölkerung und für die Elite der besten Studierenden ein. Andreas glaubt, dass bis 1966 die Konflikte in der Bildungspolitik in erste Linie zwischen der neuen politischen Elite und der alten kulturellen Elite verlaufen seien. Während Kader-Kinder von der stärkeren Politisierung profitierten, nutzte den Kindern der alten intellektuellen Elite der Gaokao, um bis zur Kulturrevolution die Mehrheit an den Elite-Hochschulen zu stellen. Der Angriff auf Partei und Hochschulen In der Kulturrevolution von 1966 eskalierten diese Konflikte. Mao Zedong, der Anfang der 50er Jahre die Einführung des sowjetischen Systems unterstützt hatte, sah durch das Entstehen einer neuen bürokratischen Elite die Gefahr einer „Restauration des Kapitalismus“. Zu Beginn der Kulturrevolution hoffte er, die städtische Jugend gegen die die Parteibürokratie sowie die technokratischen Hochschulleitungen mobilisieren zu können. Die frühe Bewegungen der Roten Garden im Herbst 1966 rekrutierte sich besonders an den Mittelschulen, die an die Universitäten angegliedert waren. Die frühen Roten Garden waren überwiegend Kader-Kinder, die Lehrer, Professoren und Mitschüler aus der alte Elite angriffen. Besonders populär wurde die so genannte „Blutslinientheorie“, die besagte, dass die Kinder von Revolutionären „rot geboren“ würden. Die Kulturrevolution nahm jedoch eine radikale Wendung, als die neu entstehenden Rebellen-Gruppen an der Qinghua die Universitätsleitung angriffen und sich Mao auf ihre Seiten gegen den Parteiapparat der Uni stellte. Nachdem die Rebellen die Kontrolle über die Universität gewinnen konnten, wurde Qinghua zum Wallfahrtsort für radikale Jugendliche aus ganz China. Die Rebellengruppe „Jianggangshan“ konnte Demonstrationen mit bis zu 100.000 Teilnehmern in Beijing auf die Beine stellen. Die Rebellen griffen die neue und die alte Elite an. Sie lehnten die „Blutslinientheorie“ ab und stellten das Auswahlsystem in Frage. Gegen die Rebellen formierten sich moderatere Gruppen, die zwar auch mit der militanten Rhetorik der Kulturrevolution auftraten, aber im Prinzip den Parteiapparat und die Universitätsleitung verteidigten. Unterricht fand in den ersten Jahren der Kulturrevolution nicht mehr statt. Alle Fraktionen waren mit Speeren und teilweise Gewehren bewaffnet und lieferten sich bis zum Sommer 1968 blutige Auseinandersetzungen, um die Kontrolle der Gebäude der Universität. Bis dahin waren 12 Studenten umgekommen und Dutzende wurden verletzt. Auch wenn die Mitglieder und Führer aller Fraktionen Kinder von Kadern, Intellektuellen oder aus dem einfachen Volk stammten, so argumentiert Andreas, dass sich der Anhang der moderateren Fraktionen zu einem deutlichen höheren Anteil aus Kadern und Kader-Kindern zusammensetzte. Der Konflikt sei ein Kampf um Klassenmacht, sprich um die Neuverteilung von politischen und kulturellen Kapital gewesen. Im Juli 1968 schickte Mao 30.000 Arbeiter auf den Campus der Qinghua, um die Fraktionskämpfe zu beenden. Die proletarischen Truppen übernahmen faktisch die Leitung der Universität. Professoren und Fabriksleiter wurden unter die „Aufsicht der Massen“ gestellt. Das gesamte Universitätspersonal wurde politischen Untersuchungen unterzogen. „Affirmative Aktion“ für Arbeiter und Bauern Im weiteren Verlauf des Buches beschreibt Andreas die Bildungsreformen, die während der Kulturrevolution durchgeführt wurden. Der Unterricht begann an der Qinghua 1970; an den meisten anderen Unis erst wieder 1972. Während dessen wurde das gesamte Bildungsystem in China radikal umgestaltet: Wie während des „Großen Sprungs nach vorne“ (1958-1961) integrierten die Universitäten Fabriken und Agrarbetriebe im großen Maß im Campus. Studierende wie Professoren mussten an körperlicher Arbeit teilnehmen. Das Gaokao-System wurde abgeschafft und die Studierenden nun auf Grundlage der „Empfehlungen der Massen“ in den Volkskommunen und Betrieben ausgesucht. Im August 1970 marschierten die neuen „Arbeiter, Bauern und Soldaten-Studierenden“ unter roten Fahnen auf dem Campus der Qinghua ein. Die soziale Zusammensetzung der Studierenden hatte sich radikal verändert. 81 Prozent der neuen Studierenden sollen aus Familien der Arbeiter oder armen- und unteren Mittelbauern gekommen sein. Fast 70 Prozent von ihnen hatten nur die untere Mittelschule besucht und 9 Prozent sogar nur die Grundschule (S.203). 80 Prozent der neuen Studierenden waren männlich. Andreas räumt jedoch ein, dass zum ersten Mal eine größere Anzahl von Bauerntöchtern auf der Qinghua aufgenommen wurde. Auf dem Campus wurden viele Privilegien der Professoren und Kader bei Gesundheitsversorgung, Gehältern und Wohnungen abgeschafft. Professoren und Studierende wurden in gemeinsamen Gruppen organisiert. Die Reformen brachten eine Verkürzung der Ausbildung, Abschaffung unangekündigter Prüfungen sowie eine Abwertung des „Bücherwissens“. Den Professoren saß der Schrecken ohnehin noch in den Knochen, so dass sie kaum wagten, die Studierenden zu kritisieren oder schlecht zu benoten. Leicht zu erraten ist, dass das System der „Empfehlung durch die Massen“ große Probleme mit sich brachte, da viele Kader versuchten, ihre „Günstlinge“ auf die Unis zu bringen und die Diskussionen der Massen zu manipulieren. Schon 1973 drängten deshalb die konservativeren Kräfte in der Partei auf die Wiedereinführung der Aufnahmeprüfungen, „um das Eintreten durch die Hintertür“ zu verhindern. Die Parteilinke pries in der Presse hingegen einen Studenten als Helden, der bei einer Prüfung ein leeres Blatt mit der Begründung abgab, dass diese Form der Prüfung „Bücherwürmer“ bevorzugen würde, die nicht an der kollektiven Arbeit teilnehmen. Die Linken forderten, die Massen erneut gegen die Kader zu mobilisieren. Nur die Einschränkung der Macht der Kader würde eine gerechte Auswahl der Studenten durch die Massen möglich machen. Mao unterstützte eine „zweite Kulturrevolution“ jedoch nicht, da er glaubte, nur ein Gleichgewicht zwischen beiden Parteiflügeln könnte ein Zusammenbruch des Systems verhindern. Die neue Klasse: Eine Synthese aus der alten und neuen Elite Der letzte Teil des Buches beschreibt, wie nach Maos Tod 1976 die technokratische Elite der „roten Ingenieure“ die Macht übernimmt. Eine der zentrale Thesen des Buches ist, dass die alte und neue Elite zusammenfinden, als der Status Quo von den Rebellen und den radikalen Bildungsreformen der Kulturrevolution bedroht wurde (S.125). Schon 1977 wurde der Gaokao wiedereingeführt und die Idee der Abschaffung der „drei Unterschiede“ aufgegeben. Die große Mehrheit der „Arbeiter, Bauern und Soldaten-Studierenden“ wurde wieder in die Betriebe und Volkskommunen zurückgeschickt. Negativ wirkte sich der neue Kurs vor allem in den Jahren 1977-1983 auf die ländliche Schulbildung aus. Die Zahl der Schüler an den Mittelschulen sank landesweit von über 67,7 Millionen auf 43,9 Million (S.227). „Affirmative Aktion“ für Arbeiter und Bauern wurde abgeschafft, da laut Andreas die Voraussetzung dafür die ständige Thematisierung der Klassenherkunft der Studierenden war. Anfang der 80er Jahr gab die KPCh das „class labeling“ auf. Menschen aus den unteren Schichten konnten keine bevorzugte Behandlung mehr erwarten, aber Angehörige der alten Elite, Intellektuelle und ihre Kinder wurden wieder in das System integriert. Angriffe auf die Parteibürokratie sollte es nicht mehr geben und Deng Xiaoping erklärte, dass die Intellektuellen Teil der Arbeiterklasse seien. Dank der neuen Politik konnte die Parteielite ihr politisches Kapital retten und die Bildungselite ihr kulturelles Kapital sowie durch die Auswahlsysteme in Partei und Hochschulen dieses kulturelle Kapital auch für ihre Kinder immer wieder neu reproduzieren. In Folge wurde die KPCh aus einer Bauern- und Arbeiterpartei eine Partei von Technokraten und Intellektuellen, wenn man die soziale Zusammensetzung der Mitglieder als Maßstab nimmt. Die Führung unter Deng machte klar, dass wer rot sein will, auch fachkundig sein muss (S.233). In den 80er Jahren triumphierte die Klasse der „roten Ingenieure“, die laut Andreas eine Synthese aus der alten kulturellen und neuen politischen Elite ist. Für symptomatisch hält Andreas die Zusammensetzung der Parteiführung: 2002 waren alle neun Mitglieder des Ständigen Ausschusses des Politikbüros, des mächtigsten Organ des Landes, Ingenieure. Darunter waren vier Männer wie Hu Jintao Absolventen der Qinghua-Universität. An der Qinghua kommen in den letzten Jahren nur noch 20 Prozent der Studierenden aus dem ländlichen China. Die „drei Unterschiede“ sind heute größer denn je. Noch in den späten 80er Jahren lag ein Monatsgehalt eines Professors an der Qinghua bei 160 Yuan, Angestellte in den Kantinen bekamen 40 Yuan. Heute bekommen die Kantinenangestellten hingegen den Mindestlohn von 580 Yuan pro Monat und Top-Wissenschaftler können ein Jahresgehalt bis zu 1 Million Yuan beziehen (S.256). Der Sieg über Maos „Egalitarismus“ hat sich für die technokratischen Eliten voll ausgezahlt. Wie soll die Restauration des Kapitalismus erklärt werden Ich bespreche hier das Buch von Andreas in einer solchen Ausführlichkeit, da es seit Jahren der erste ernstzunehmende Versuch von links ist, die Restauration des Kapitalismus in China zu erklären. Andreas stützt sich dabei auf neue Materialen und hat über 90 Interviews mit Studierenden, Professoren und ehemaligen Mitgliedern aller Fraktionen der Kulturrevolution an der Qinghua geführt. Erfrischend ist auch die Einbeziehung Bourdieus, die stringent im gesamten Buch verfolgt wird. Die These, dass die Schrecken der Kulturrevolution, sprich die Forderung der Rebellen und Maos nach einer radikalen Bildungsreform, die politischen und kulturellen Eliten des Landes zu einer technokratischen Konterrevolution zusammenführten, ist absolut überzeugend. Allerdings hat der Ansatz auch seine Mängel. Wie es in der angloamerikanischen Wissenschaft heute üblich ist, sollen sich Bücher an ein breites studentisches Publikum richten, um profitabel zu sein. Theorie soll dabei nicht zu kompliziert werden. Der Schwachpunkt des Buches ist vor allem der letzte Teil, in dem Andreas versucht, die Herrschaft der neuen Klasse an Hand von einigen Statistiken zu belegen. Der Verweis auf die soziale Herkunft der Mitglieder in der Parteiführung ist unzureichend, um eine Klasse im marxistischen Sinn zu definieren. Auch die Parteilinke, die so genannte „Vierer-Bande“, hatte die Gefahr einer Restauration des Kapitalismus eher im Gefühl und konnte die sozialen Ursprünge der „Machthaber des kapitalistisches Weges“ nie überzeugend erklären. Charles Bettelheim versuchte, die noch existierende Warenproduktion als Grundlage für die Verwandlung einer sozialistischen in eine kapitalistische Produktionsweise zu erforschen. Wenn Arbeiter aus der Verwaltung der Produktion ausgeschlossen würden und Effizienz statt Partizipation im Vordergrund stünde, könnte sich auch eine staatliche Fabrik in eine kapitalistische verwandeln, da sie nach den Kriterien der Warenproduktion agiere. Nur permanenter Klassenkampf könne eine Restauration des Kapitalismus unter sozialistischem Schleier verhindern. Andreas hat diese hochkomplexen Fragen der Rolle von Eigentum und Warenproduktion komplett ausgeklammert und sich ganz auf das System der Selektion an den Hochschulen konzentriert. Die Gleichsetzung von technokratischen Eliten mit einer herrschenden Klasse ignoriert die Sphäre der Produktion. Die Entstehung einer Wirtschaft mit kapitalistischen Produktionsverhältnissen seit Anfang der 90er Jahre spielt in dem Buch keine Rolle. Die Politik von Deng konnte sich nicht nur auf die alten und neuen Eliten stützen, sondern hatte eine wesentlich breitere Basis in der Bevölkerung. Die Auflösung der Volkskommune verbesserte das Leben der großen Mehrheit der Bauern in den 80er Jahren. Das Familienverantwortlichkeitssystem schuf eine Kleinbauernwirtschaft, in der das Land relativ gleich an Familien verteilt wird. Andreas thematisiert auch nicht, dass trotz selektiver Auswahlverfahren die Hochschulbildung radikal expandiert ist. 1976 gab es in China 564.000 Studierenden an regulären Hochschulen und 2.6 Millionen an „Universitäten“, die an Fabriken oder Volkskommunen angegliedert waren. 2007 waren hingegen 20 Millionen Studenten in China eingeschrieben! Selbst wenn Studierende aus den ländlichen Gebieten und unteren Schichten nur den kleineren Teil ausmachen, so sind sie in absoluten Zahlen stärker als zu Maos Zeiten vertreten. Die chinesische Regierung entschied während der Asien-Krise 1997, dass eine hohe Jugendarbeitslosigkeit verhindert werden soll und baute die Universitäten aus. Allein von 2000 bis 2007 nahm die Zahl der Studierenden um 7 Millionen zu. Die KPCh stützt sich zwar auf eine technokratische Elite, sie kann sich aber Unterstützung in breiten Teilen der Bevölkerung sichern. Interessenkonflikte und Terror Andreas hat sicher Recht, dass auf dem Campus der Qinghua eine der wichtigsten Schlachten der Kulturrevolution geschlagen wurde. Dankenswerterweise stellt er die Kulturrevolution nicht als sinnloses Morden armer Irrer dar, sondern versucht, die Interessenkonflikte zwischen den einzelnen Gruppen herauszuarbeiten. Terror wird aber nur am Rande erwähnt. Andreas konnte auch den landesweit bekannten Führer der Jinggangshan-Rebellen, Kuai Dafu, interviewen. Kuai leitete unter anderem die Kampfsitzungen gegen die Frau von Staatspräsidenten Liu Shaoqi, Wang Guangmei, die zu Beginn als Leiterin der vom ZK gesandten Arbeitsgruppen versucht hatte, die Rebellen zu unterdrücken. Wang wurde gezwungen, ein traditionelles Kleid anzuziehen und ihr wurde eine Kette aus Tischtennisbällen umgehängt, um ihre bürgerliche Dekadenz zu symbolisieren. Aus dem Buch ist nicht ersichtlich, ob Andreas ihn nach seiner heutigen Haltung dazu befragt hat. Keine Details finden sich im Buch über die Arbeitslager und Folterkeller, die Rotgardisten und Rebellen auf dem Campus errichteten. Interessant wäre es doch zu fragen, ob die Konflikte um politisches und kulturelles Kapital eskalierten oder ob es andere Erklärungen für das Ausmaß der Gewalt gibt. Es erscheint jedenfalls nicht als notwendig, Professoren Augen auszustechen, Nieren zu zertreten oder in den Selbstmord zu treiben, um Unis für Bauern- und Arbeiterkinder zu öffnen. Die Aktivisten von einst haben oft sehr unterschiedliche Erinnerungen an die Kulturrevolution. Es scheint jedoch, als ob Andreas den besonders schwierigen und schmerzhaften Fragen aus dem Weg gegangen ist. Fragen, die heute offen bleiben Das Buch wirft viele Fragen auf, die auch für die Gegenwart wichtig sind. Arbeitsteilung ist immer noch eine zentrale Grundlage für Hierarchien und Klassenbildung. Die Unterschiede zwischen Stadt und Land sind heute in den entwickelten kapitalistischen Ländern im Vergleich zu China in den 60er Jahren unbedeutend gering. Dank moderner Transport- und Kommunikationsmittel ist heute in Österreich niemand mehr vom Geschehen der Welt abgeschnitten, weil er auf einem Dorf wohnt. Die Anzahl der Menschen, die harte körperliche Arbeit leisten müssen, nimmt in Mitteleuropa ab. Trotzdem spielen Herkunft im Bildungsytem von Deutschland und Österreich eine zentrale Rolle. Nach einer Studie hätte Lisa Simpson (ein Mädchen aus einem bildungsfernen Haushalt aus einer Kleinstadt) in Österreich eine Chance von 6 bis 8 Prozent einen Hochschulabschluss zu erreichen und zwar trotz absolvierter Matura. In Deutschland wird durch das dreigliedrige Schulsystem (Hauptschule, Realschule, Gymnasium) für die meisten Kinder im Alter von 10 Jahren vorprogramminiert, ob sie Arbeiter im Billiglohnsektor werden oder vielleicht eine Chance haben, eine besser bezahlte "geistige Arbeit" zu verrichten. Studien zeigen, dass auch ohne Studiengebühren Kinder aus "bildungsfernen" Haushalten deutlich benachteiligt sind. Eliten müssen sich immer wieder selbst reproduzieren. Um in den Worten von Andreas zu sprechen, gelingt es den Inhabern des kulturellen und politischen Kapitals trotz scheinbar freien Zugangs zu Universitäten, das System so einzurichten, dass ihre Kinder besonders hoch aufsteigen. Das wird von vielen Aktivisten übersehen, die glauben, ein gebührenfreies Studium würde eine soziale Selektion generell verhindern. Die Selektion findet nur später im Laufe des Studiums statt. Studierende aus „bildungsfernen“ Schichten können in der Regel nur dann erfolgreich Karriere machen, wenn sie extreme soziale Anpassungsleistungen vollziehen und den Habitus des Bildungsbürgertums übernehmen. Bei der Diskussion dieses Artikel in der „Grundrisse“-Redaktion entbrannte eine Debatte, ob es heute ein klassisches Bildungsbürgertum überhaupt noch gibt. Mit dem Begriff meine ich einen Teil des Bürgertums, der auf Grund von Bildungskarrieren gutbezahlte und sichere Arbeitsplätze hat sowie sich über einen Wissenskanon aus Literatur, Kunst, Musik, Geschichte, Politik usw. definiert und den eigenen Standards von gutem Geschmack und Manieren universelle Geltung zuschreibt. Ein Argument in der Debatte war, dass sich heute das Proletariat so verallgemeinert habe, dass es als eigenes Milieu damit in der Gesellschaft aufgelöst wurde. Die technische Entwicklung (Ipod, Facebook usw.) würde den klassischen Wissenskanon entwerten und von einem Bildungsbürgertum könne nicht mehr gesprochen werden. Ich denke hingegen, dass gerade die Berufe des Lehrers und Professors noch sehr stark vom bildungsbürgerlichen Habitus geprägt sind und der Umgang mit den neuesten technischen Entwicklungen eher delegiert wird. Um die Frage zu beantworten, bedarf es sicher noch weiterer Forschung. Wie könnte heute eine Politik aussehen, die versucht, die auf Arbeitsteilung beruhenden Hierarchien zu überwinden? Wohl kaum darin, Studierende und Lehrende auf das Land zu verschicken und auf dem Campus Fabriken zu bauen. Diese Frage sollte jedoch von einer radikalen Studentenbewegung gestellt werden. Die Gesellschaften sind heute in Europa reich genug, um allen, die es wollen, einen Studienplatz zu gewährleisten. In China standen die Partei und die Rebellen jedoch vor der Frage, welche ein bis zwei Prozent der Bevölkerung studieren sollen. "Affirmative Aktion" für Kinder aus Gruppe der Bevölkerung, die bisher benachteiligt sind, würde ein ständiges Thematisieren von Klassenzugehörigkeit voraussetzen. Das Wort „Klasse“ wurde jedoch vom Mainstream an der Universität fast verbannt. Ein Problem in diesem Zusammenhang ist, dass das Einkommen der Eltern allein noch nicht alles über das kulturelle und politische Kapital der Familien aussagt. Bürgerliche Statistiken über Arbeiterkinder oder „bildungsferne Schichten“ an Universitäten haben mit einem marxistischen Klassenbegriff, der Lohnarbeit und Ausbeutung in den Vordergrund stellt, nicht viel gemein. Zentral an einer marxistischen Kritik der Klassengesellschaft ist der Gedanke von Marx aus der „Kritik des Gothaer Programms“, das gleiche „Rechte“, die auf ungleiche Menschen angewandt werden, neue Ungleichheiten reproduzieren. Heute gibt es für den Zusammenhang zwischen Klasse und Bildung bei fast allen Beteiligungen an den Unis kein Bewusstsein. Als Folge der sozialen Bewegungen der 80er Jahren liegt der Fokus auf Quoten für Frauen. Solange Studierende nicht als Teil der Klasse Forderungen aufstellen, wirken Forderung nach einer Einführung einer „Affirmativen Aktion“ für „bildungsferne Schichten“ von oben aufoktroyiert. In den USA wird seit der Bürgerrechtsbewegung der 60er Jahre "Rasse" ununterbrochen bei der Frage des Hochschulzugangs thematisiert. „Affirmative Aktion“ für Schwarze und andere Minderheiten wurde nicht zuletzt von sozialen Bewegungen erkämpft. In den letzten Jahren mehren sich die Stimmen, die darauf hinweisen, dass Menschen aus den unteren Einkommensschichten nur geringe Chancen haben, an den Topuniversitäten zu studieren. Seit einigen Jahren können Kinder aus Elternhäusern mit einem Jahreseinkommen von unter 60.000 Dollar in Harvard umsonst studieren, wenn sie aufgenommen werden. Nur 1/5 der Studierenden kommen jedoch aus solchen „armen“ Familien. Soziale Selektion findet schon im Kindergarten und in der Schule statt. Jede Form von „Affirmativer Aktion“ an den Universitäten könnte nur einen geringen Ausgleich leisten. Kostenlose Kindergärten-Plätze und ein Schulsystem, das nicht die Kinder im zarten Alter von 10 Jahren in verschiedene Schultypen einteilt, sind wichtig, werden jedoch nicht ausreichen, um das soziale Kapital dem Bildungsbürgertum zu entreißen. Das Buch von Andreas zeigt, dass nicht nur der Zugang zur Bildung entscheidend ist, sondern auch die Definitionshohheit über die Frage, welche Form des Wissens wissenswert ist und wie Leistung und Qualität definiert werden. Solange die Mächtigen und „Gebildeten“ stark genug sind, ihr Wissen als Norm der Qualität zu definieren, gelten Menschen, die auf Grund ihrer sozialen Herkunft den bürgerlichen Bildungskanon und seine adäquate sprachliche Präsentation nicht verinnerlicht haben, als dumm. Die Arbeitertochter aus Simmering, die „Snoop Doggy Dog“ kennt, aber nicht Gustav Mahler, verfügt über keine „Allgemeinbildung“. Der Migrant aus Nigeria, der weiß, wie man der Abschiebung entkommt, nicht jedoch welchen Wein man zum Shrimps - Risotto bestellt, fehlen die richtigen „Manieren“. Dem bildungsbürgerlichen Habitus positiv einen proletarischen Habitus entgegen zu stellen, werden vor allem „linke“ Akademiker problematisch finden, da (nicht ganz zu Unrecht) befürchtet wird, dass die hart erkämpfte politische Korrektheit an den Universitäten in Frage gestellt werden könnte. Was könnte dem bürgerlichen Habitus jedoch entgegen gesetzt werden? Wie man soziale Selektion auf Grundlage des kulturellen Kapitals verhindern soll, ist mir unklar. Neben Klasse sollten auch die subtilen und unbewussten Selektionsmechanischem immer wieder thematisiert werden, besonders wenn es um die Definition von „Leistung“ und „Qualität“ bei Bildung gibt. Abschließend bleibt zu sagen, dass Bildungssyteme wichtig für die Reproduktion von Eliten sind, jedoch als Teil einer Klassengesellschaft wirken. Jede Studierendenbewegung, die ihre Forderungen auf die Uni beschränkt, wird mit dem Kopf gegen die „Mauern“ des Campus laufen. Dass die herrschende Klasse freiwillig bereit sein könnte, ihr kulturelles Kapital und ihre Bedeutungshoheit über Bildung aufzugeben, ist ebenso unwahrscheinlich wie eine wohlwollende Übergabe der Produktionsmittel an die Produzenten.
Literatur: György Konrád und Iván Szelényi, „Die Intelligenz auf dem Weg zur Klassenmacht“, Frankfurt (M), Suhrkamp 1978. Ingolf Erler (Hg.): „Keine Chance für Lisa Simpson?: Soziale Ungleichheit im Bildungssystem“ Mandelbaum Wien, 2007, S.12. Felix Wemheuer: „Maoismus“ Pro Media, Wien, 2009. |
|