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Moshe Zuckermann:
Zertretener Wurm
Für Kevin, Sabine, Christof, Jan, Leo
und all die anderen, die für eine wahrhaft menschliche Welt kämpfen
Die
Bibelgeschichte von der Sintflut ist merkwürdig. Was für einen Gott hatte man
sich da ausgedacht, der wenige Kapitel nach dem gloriosen Schöpfungsbericht sich
bereits eines Anderen zu besinnen und fast die gesamte Menschheit auszurotten
sich genötigt sah? Und wenn schon die Menschen ob ihrer Sündigkeit bestraft
werden mußten – was hatten die Tiere verbrochen, die doch noch ganz das waren,
als was man sie erschaffen hatte: reine Natur? Derartiges muß auch den
Bibelschreibern in den Sinn gekommen sein. Denn während Noah und seine Sippe als
einzige Gerechte exemplarisch für das gesamte Menschengeschlecht erhalten
blieben, wurden die Tiere, keiner Moral, mithin keiner Sünde fähig, immerhin als
paarweise Exemplare aller Arten und Gattungen gerettet. Im berühmten
Sintflut-Bild von Gustave Doré ist die Unschuldshierarchie kurz vor der
Katastrophe gleichsam symbolisch festgehalten: An einem von der Flut umspülten
Felsgipfel strecken sich in letzter Anstrengung Gestalten von ertrinkenden
Eltern, die ihre Kinder vor dem Unglück zu retten, sie auf das aus dem Wasser
herausragende Gestein zu hieven versuchen. Die todgeweihten Kinder bevölkern den
Gipfel – und neben ihnen, alle an Höhe überragend, eine Tigermutter mit ihren
Jungen. Ein berückendes Bild: Im Angesicht der höchsten Gefahr, des nahenden
Todes, scheinen Mensch und Tier, zusammengepfercht, einander nicht wahrnehmend,
versöhnt. Die zivilisatorisch verursachte „Feindschaft“ – die Knechtung der
Tiere durch den Menschen, ihre Verfolgung, Tötung und Verwertung – ist im
Angesicht der biblisch sich anbahnenden Endlösung für den Moment erloschen: Die
noch im Ertrinken sich nach ihren Kindern reckende Menschenmutter und das sein
Junges im Maul tragende Muttertier sind gleichsam im nahenden Tod „vereint“.
Oder? Nein, natürlich nicht. Die nach der Sintflut sich bildende Zivilisation
wird nichts aus der gottverursachten Naturkatastrophe gelernt haben, sondern,
sich Gottes nach und nach entledigend, den Menschen selbst als Mördergott
einsetzen und so lange fortschreiten, bis er die industrielle Menschen- und
Tiervernichtung zur kultur-barbarischen Perfektion getrieben hat. Man solle da
tunlichst Mensch und Tier auseinanderhalten? Wie? Wann hätte das selbstherrlich
argumentierte Auseinanderhalten die Menschen je davon abgehalten, sich
gegenseitig so abzuschlachten, „als wären sie Tiere“? Noch im blutigen
Schlachtgetümmel der Revolution wusste Rosa Luxemburg, wahrhafte Versöhnung von
Mensch und Natur, von Mensch und Tier visionierend, zu sagen: „Rücksichtsloseste
revolutionäre Tatkraft und weitherzigste Menschlichkeit, dies allein ist der
wahre Odem des Sozialismus. Eine Welt muss umgestürzt werden, aber jede Träne,
die geflossen ist, obwohl sie abgewischt werden konnte, ist eine Anklage; und
ein zu wichtigem Tun eilender Mensch, der aus roher Unachtsamkeit einen Wurm
zertritt, begeht ein Verbrechen.“
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