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Stefan Almer: Die Sans-Papiers oder die „Tricksters“ des 21. Jahrhunderts

Übersetzt von Stefan Almer und Birgit Mennel

„Der Trickster ist die sagenumwobene Figur des Schelms in menschlicher oder tierischer Gestalt. Gewöhnlich navigiert der Schelm eher dank seines Sinns für die List als dank seiner Stärke erfolgreich in einer Umwelt, in der seine Feinde entschlossen sind, ihn zu erlegen – oder ihn zu essen. Grundsätzlich wäre es ihm unmöglich, seine Feinde in einer direkten Konfrontation zu bezwingen, da er kleiner und schwächer ist als seine Widersacher. Nur dank seines Wissens über ihre Gewohnheiten trickst er sie aus, zieht Vorteil aus ihrer Habgier, ihrer Größe, ihrer Leichtgläubigkeit oder ihrer Hast; er schafft es, ihren Klauen eins ums andere Mal zu entwischen, sein listenreiches Tun kann darin bestehen, den Idioten zu spielen oder so gewandt mit Worten zu spielen, dass er seine Widersacher damit in die Irre führt.“[1]

Die Grundvoraussetzung dafür, ein Territorium und eine Bevölkerung zu regieren, besteht darin, eine genaue Kenntnis über diese zu erlangen. Dieser Logik entsprechend stellen die verschiedenen Regierungen Europas eine wahrhafte Besessenheit zur Schau, wenn es um die vollständige Kontrolle und Kenntnis ihrer Territorien und Bevölkerungen geht. Im Falle der Migrationspolitik wirkt sich dies in einer wahren Flut von Gesetzeserlässen aus, in der Einrichtung von Institutionen wie Frontex, in der Installierung von Auffang-, Inhaftierungs- und Abschiebelagern (nicht nur auf dem europäischen Kontinent) sowie in der Neubestimmung des Auftrags alteingesessener Organisationen, wie etwa der Internationalen Organisation für Migration, die heute maßgeblich an der weltweiten Lenkung von Migrationsströmen beteiligt ist.

Die jeweiligen Verwaltungsbehörden agieren dabei als „Kundschafter“ des Staates, die den Auftrag haben, jedes Individuum, das sich auf ihrem Herrschaftsgebiet befindet, zu registrieren, zu nummerieren, zu verorten sowie zu identifizieren. Ja mehr noch, ihr Mandat erstreckt sich bis zur Entscheidung darüber, welches Leben als „wertvoll“ bzw. „wertlos“ zu klassifizieren ist: In dieser Perspektive ist denn auch der/die Sans-Papiers nicht befugt, sich legal im jeweiligen Verwaltungsterritorium aufzuhalten, sofern sein oder ihr Leben als – ökonomisch, sozial – wertlos eingestuft wird, und zwar den Bedürfnissen des jeweiligen Staates entsprechend.

Die Sans-Papiers widersetzen sich per Definition diesem Bestreben: Das Fehlen von bestimmten Papieren stellt für sie keinen legitimen Grund dar, der sie zum Verlassen des Landes, das in vielen Fällen längst ihr Zuhause ist, bewegen könnte. Sie finden sich daher in eine „administrative Klandestinität“ gedrängt, mit der die Prekarisierung ihrer Existenz einhergeht. Gleichzeitig ist es gerade diese Klandestinität, die es vielen von ihnen ermöglicht, sich dem staatlichen Zugriff – zumindest zeitweilig – zu entziehen. Die Existenz der Sans-Papiers erscheint folglich sowohl für die jeweilige Regierung wie auch für die staatlichen Administrationen als „politisches Problem“, als eine Art Angriff auf die Souveränität des Staats, obschon Regierung und Administration selbst es sind, die diesen Status mitzuverantworten haben. Der Staat interpretiert demnach das Verweilen der Sans-Papiers auf seinem Staatsgebiet als Verletzung seiner territorialen Souveränität durch unbefugtes Eindringen. Sans-Papiers werden damit zu Eindringlingen[2], die der souveräne Staat wieder auszustoßen versucht. Dass ihr Eindringen als Störung empfunden wird, ruft den/die Sans-Papiers als politische Figur erst auf den Plan: Der/die Sans-Papiers lässt sich also als Antwort auf die zunehmende Verfolgung und Unterdrückung der Undokumentierten verstehen.

Das Auftauchen dieses für viele äußerst dienlichen „politischen Kernproblems“, das der/die Sans-Papiers darstellt, nimmt insbesondere vor dem Hintergrund der ineinander verflochtenen Interessen und Absichten der politischen, wirtschaftlichen, sozialen und medialen AkteurInnen schärfere Konturen an: So korrespondiert das Interesse von WirtschaftsakteurInnen an besonders willigen und billigen Arbeitskräften trefflich damit, dass PolitikerInnen[3] um ihre (Wieder-)Wahl ständig ebenso besorgt sind wie um ihre Karrierepläne (ein etwaiger Wechsel in die lukrative Privatwirtschaft), während MedienakteurInnen, vereinfacht gesagt, an hohe Auflagen oder Einschaltquoten gebunden sind, um Werbeeinnahmen zu erwirtschaften. Die jeweiligen AkteurInnen bedienen sich unterschiedlichster Ideologien (rassistische Theorien, Identitätsdiskurse, Ökonomietheorien etc.), um ihre persönlichen Belange bzw. die ihrer Interessengruppe vor sich selbst und vor anderen zu rechtfertigen.

Hierbei ist zu präzisieren, dass die Sans-Papiers als ökonomischer Faktor für gewisse Wirtschaftssektoren in Europa längst unverzichtbar geworden sind, insbesondere wenn es um die sogenannte „Auslagerung vor Ort“[4] geht. Ganze Wirtschaftszweige, die nicht in Billigproduktionsländer verlagert werden können, wie etwa das Baugewerbe, die Landwirtschaft etc., sind auf diese billigen und willigen, weil illegalisierten Arbeitskräfte angewiesen. Doch auch Wirtschaftssektoren wie das Textilgewerbe oder das krisenarme und lukrative Sicherheitsgewerbe können nur dank dieser „Auslagerung vor Ort“ weiterhin mit Billiglohnländern konkurrieren. Die jeweiligen Unternehmen treten organisiert auf und versuchen ihrerseits aktiv auf politische Entscheidungen Einfluss zu nehmen und die politische Landschaft zu ihren Gunsten umzugestalten. Dass die Verwaltungsbehörden auch zukünftig Sans-Papiers produzieren, ist daher auch in ihrem Interesse, da damit garantiert ist, dass sie weiterhin auf gefügige und billige Arbeitskräfte zurückgreifen können.

Migration hat sich längst in ein medienpräsentes, politisches Kernthema verwandelt. Dies hat zur Folge, dass sich Menschen mit administrativen Problemen, etwa eine Verlängerung ihrer Aufenthaltsbewilligung betreffend, auf wundersame Weise in ein zentrales sozialpolitisches Problem verwandelt sehen und sich nunmehr als solches allabendlich in den Hauptnachrichten bewundern können. Diese Wandlung macht aber nicht nur ihre ökonomische Ausbeutung und ihre politische Instrumentalisierung nachhaltig möglich; vielmehr dient ihre unsichere Existenz zu guter Letzt auch noch dazu, die imaginäre „nationale Identität“ zu speisen.[5]

Dieser liegt die wohlbekannte alte Wahnidee einer „‚rassischen‘ und kulturellen Überlegenheit“ zugrunde: nämlich die der westlichen Kultur, die sich über ihre „kolonisierte Alterität“, ihr „absolutes Anderes“ definiert. Dieses Verhältnis kann etwa aus der Perspektive des subsaharischen Afrika begriffen werden, wie Achille Mbembe nahe legt – welchen Weg die französische Einwanderungspolitik eingeschlagen hat, dürfte so rasch klar werden: „In mehrerlei Hinsicht ist es [Afrika] die Antithese, vor deren Hintergrund sich der Westen den Ursprung seiner eigenen Normen verständlich macht, sich ein Bild von sich selbst erarbeitet und dieses in eine Gesamtheit anderer Signifikanten integriert, deren er sich bedient, um das festzuhalten, wovon er annimmt, es sei seine Identität. […] Es [Afrika] ist sein Unbewusstes, ‚dieses erfundene Etwas‘, das paradoxerweise für seine Ordnung notwendig wird, da ‚diesem Etwas‘ eine enorm wichtige Rolle zukommt, und zwar sowohl in jenem Universum, das sich der Westen erschafft, wie auch hinsichtlich seiner apologetischen Anliegen, seiner Praxen des Ausschlusses sowie seiner Brutalität gegenüber anderen.“[6]

Für die Sans-Papiers geht aus diesem nur schwer verdaulichen Gebräu von xenophober Politik, institutionalisiertem Fremdenhass, umsatzorientierter Medienrepräsentanz, wirtschaftlichen Interessen an billigen Arbeitskräften, immer undurchsichtiger und verworrener werdenden Gesetzen und administrativen Praktiken sowie einer an Inhaftierung orientierten Exekutivgewalt[7] ein unwirtliches Territorium hervor, das von AkteurInnen verwaltet wird, die ihnen nicht nur größtenteils feindlich gesinnt sind, sondern zudem an der Wahnvorstellung einer „totalen Kontrolle“ leiden. Als Antwort auf diese Situation entwickeln die listenreichen Sans-Papiers eine „Kunst der Taktik“, eine Lebenskunst, die es ihnen erlaubt, sich in einem derart verminten Territorium nicht nur zurechtzufinden, sondern zu (über)leben. Ihr Widerstand besteht unter anderem darin, dass sie – um dem Zugriff dieser Mächte zu entkommen – Schlupfwinkel erschaffen und suchen, die es ihnen ermöglichen, in dem Augenblick in Deckung zu gehen und sich zu verstecken, da die Scheinwerfer der Macht sie ins Visier nehmen, und sich so dem Blick ihrer Jäger zu entziehen.

So verwandeln sich die Sans-Papiers in wahre Meister der Taktik, in „Trickster“ einer Lebensweise, die es ihnen abverlangt, „das Spiel des Anderen […] zu spielen/zu vereiteln“[8]. Da sie sich auf einem Gebiet bewegen, das größtenteils vom „Feind“ kontrolliert und definiert wird, sind sie auf umfassende Kenntnisse eben dieses Territoriums angewiesen. Sie müssen nicht nur die Regeln, die administrativen Vorgaben sowie die für sie risikoreichen Orte kennen, sondern auch wissen, wann sie welche Worte oder Sätze sagen müssen bzw. wann es nötig ist, zu schweigen. Damit sie im feindlichen Territorium zurande kommen, bringen die Sans-Papiers als Trickster unablässig Listen und Taktiken zur Anwendung, die an die „griechische Metis“[9] denken lassen, ja sie werden zu wahren VirtuosInnen der Metis.

Anlässlich meiner im Jahr 2007 durchgeführten Forschungsarbeit La débrouille au quotidien. Etude des sans-papiers militants du collectif des sans-papiers à Marseille (Sich im Alltag zurechtfinden. Eine Studie zu den Sans-Papiers-AktivistInnen des Sans-Papiers-Kollektivs in Marseille) habe ich Azzam, Aïcha, Fatima und Abdechahid[10] kennengelernt. Alle vier sind legal mit einem Touristenvisum aus Algerien nach Marseille eingereist, in der Absicht, sich dauerhaft in dieser Stadt niederzulassen. Alle vier leben mittlerweile schon seit einigen Jahren in Marseille und sind aufgrund ihrer prekarisierten Lage als Illegalisierte dazu gezwungen, sich in einem von öffentlichen Politiken, Medien und Administrationen stratifizierten Raum zu bewegen, der ihnen größtenteils feindlich begegnet. Die damalige wie auch die aktuelle Gesetzeslage verunmöglicht es ihnen, auf behördlichem Wege die erwünschte langfristige Aufenthaltsbewilligung zu bekommen. Die letzte Möglichkeit, die ihnen bleibt, um ihre administrative Legalisierung in Frankreich zu erlangen, ist der politische Kampf; das heißt, ihre Stimme mittels eines Sans-Papiers-Kollektivs im öffentlichen Raum zu Gehör zu bringen, in der Hoffnung, dass die Regierung ein Circulaire administrative[11] erlässt. In anderen Worten, ihnen bleibt nur die Hoffnung, dass der Souverän ein Begnadigungsschreiben erlässt.

Marseille ist eine alte Hafenstadt, die seit ihrer Gründung eine über die Jahre relativ gleichbleibende Anzahl von Reisenden empfängt, die auf die eine oder andere Weise alle zur Gestaltung dieses urbanen Raums beigetragen haben und beitragen. Diese Stadt war seit ihrer Gründung, also auch während der Zeit der Kolonialisierung eine Stadt der Migration – und ist es bis heute. Marseille wurde also geschichtlich, politisch, wirtschaftlich und kulturell von MigrantInnen geprägt. Allein im 20. Jahrhundert war Marseille der Anlaufhafen für Menschen aus Italien, Griechenland, Russland, Armenien, Spanien, Tunesien, Algerien, Marokko, Korsika, für Harkis[12] ebenso wie für Pieds-Noirs[13].

So erzählte mir etwa Azzam davon, dass Marseille in Algerien als dessen 48. Département gilt. Als sein Lebensraum ist Marseile längst Teil seiner Geschichte: Die Stadt und er sind einander nicht fremd, auch wenn ihn die Verwaltungsbehörde als „Fremden“ einordnet. Damit bietet Marseille also sicherlich taktische Vorteile für eine/n Sans-Papiers, insofern es für den rassisierenden Blick nicht leicht ist, einen „Fremden“ als solchen zu erkennen. Dennoch kommt es tagtäglich zu rassistischen Polizeikontrollen; Menschen, denen bestimmte administrative Papiere fehlen, werden verhaftet und in Abschiebelager transportiert.

Die facettenreiche „Metis der Sans-Papiers“

Menschen, die sich ohne Aufenthaltsbewilligung in Europa wiederfinden, müssen sehr schnell lernen, in feindlichen und stürmischen Gewässern zu navigieren. Die verschiedenen sozialen und urbanen Räume, in denen sie sich bewegen, bestimmen ihr Leben als Sans-Papiers: Zur Arbeit gehen, Einkäufe erledigen, sich mit Menschen treffen, sich politisch organisieren usw. – all dies sind Tätigkeiten, die ein potenzielles Risiko darstellen; und um dieses Risiko zu verringern, ist es unentbehrlich, sich ein entsprechendes Wissen anzueignen, das risikoreiche Situationen und Orte als solche erkennen hilft. Dieses Wissen dient als Grundlage für Entscheidungen, wie und ob Risiken vermieden werden können oder nicht. Ihre prekäre Existenz verlangt von den Sans-Papiers also die Entfaltung mannigfaltiger Überlegungen und Taktiken, die zu Reflexen werden können und sich in einem Listenreichtum – einer „Metis der Sans-Papiers“ – widerspiegeln, welche zur Bedingung für die sichere Bewegung in der Stadt wird.

Die Metis als sehr spezifische Kunst des Handelns kann als listenreiche Antwort auf Maßnahmen wie etwa ein Dokument verstanden werden, das die Dienststellen von Pascal Clement[14] und Nicolas Sarkozy an die Verwaltungsbehörden richteten. Darin finden sich Vorsichtsmaßnahmen und Strategien aufgelistet, die mit den Dogmen der modernen Unternehmensführung und der Kultur des Messbaren im Einklang stehen und gegenüber undokumentierten MigrantInnen zur Anwendung zu bringen sind, wobei die Abschiebung möglichst vieler von ihnen das Ziel ist. So werden etwa drei bevorzugte Orte für die Durchführung von Verhaftungen angeführt: die Straße, das Zuhause der Zielpersonen und der Schalter der Präfektur.[15] Jeder dieser Orte hat seine eigenen Besonderheiten und Problematiken.[16] Zusätzlich sind sowohl die BeamtInnen der Präfektur als auch die Exekutivgewalt schon seit längerem damit konfrontiert, dass eine Abschiebe- beziehungsweise Festnahmequote erfüllt werden muss. Sich in Marseille fortzubewegen bedeutet also auch, sich in einen urbanen Raum zu begeben, der von PolizeibeamtInnen – oft mit Unterstützung des Militärs – gerastert wird.

Die Lebensweise der Sans-Papiers wird durch diese Umstände (mit)bestimmt: Sie müssen ihre Tagesabläufe und Bewegungen kontinuierlich an das Vorgehen der staatlichen Behörden anpassen. Alltägliche Banalitäten, wie etwa die Benützung der U-Bahn, Arztbesuche, das Erledigen von Einkäufen usw. werden so mit einer ganz neuen Bedeutung aufgeladen: nämlich immer auf der Hut zu sein, immer in Bereitschaft, einen Haken zu schlagen – also letztlich zum „Trickster“ zu werden, um den alltäglichen Lebensvollzug möglich zu machen. Im Falle von Fatima äußert sich dies etwa darin, dass sie die Pläne der ihr feindlich gesinnten Verwaltungsbehörde durchkreuzt und unter Rückgriff auf die Identität ihres Vaters erfolgreich durch die Maschen der Behörden schlüpft:

„Anfangs habe ich die Papiere meines Vaters verwendet, um eine Mietwohnung zu finden. Mein Vater lebt in ...; er ist ein französischer Kriegsveteran. Er gab mir [die erforderlichen Unterlagen][17] und ich ging damit zur Agentur. […] Ich habe Anspruch auf eine Wohnbeihilfe in der Höhe von € 227 und bezahle die restlichen € 170 selber. Im Vergleich zu meinen FreundInnen verdiene ich viel Geld. Außerdem habe ich keine Kinder, weshalb ich nur die Verantwortung für mich selbst tragen muss. Wenn ich zehn Stunden am Tag arbeite, ist da niemand, der nach mir verlangt. Frauen, die Kinder haben, können nicht arbeiten und haben außerdem oftmals nicht die entsprechenden Papiere, um eine Wohnung zu mieten. Und ich: Ich habe das alles ganz allein zuwege gebracht: einen Bürgen finden, um eine Wohnung zu mieten, die Papiere meines Vaters und, und, und.“[18]

Aufgrund ihres administrativen Status wird illegalisierten MigrantInnen der Zugang zu jenen Dokumenten versperrt, die für die Inanspruchnahme staatlicher Dienstleistungen nötig sind, welche wiederum für ein Leben in Würde unentbehrlich sind. Das Auffinden von Möglichkeiten, um diese Barrieren zu umgehen, wird daher zur Lebensaufgabe: Das Erfinden von Geschichten und Methoden gehört ebenso zur Routine wie die Aneignung eines Wissen darüber, wann und wo welche Taktiken und Redekünste zum Einsatz kommen müssen, die es ihnen ermöglichen, administrative Schlupflöcher aufzuspüren und sich dieser zu bedienen, um eine Wohnung zu mieten, Zugang zu staatlichen Unterstützungen zu bekommen oder einer Arbeit nachgehen zu können.

Die Vielfältigkeit der „Metis der Sans-Papiers“ lässt sich auch an Abdechahid veranschaulichen, der sich anlässlich eines Lieferauftrags Zugang zu einem Atomkraftwerk verschaffen musste, was für ihn insofern mit gewissen Schwierigkeiten verbunden war, als die Zustellung in ein Atomkraftwerk in Frankreich nur mit gültigem Reisepass bzw. überhaupt nur für französische StaatsbürgerInnen erlaubt ist, wie Abdechahid mir erklärte. Er musste also Argumente dafür liefern, weshalb es ihm unmöglich sei, diesen Auftrag zu übernehmen:

Einmal wurde ich mit einer Zustellung nach Cadarache ins Atomkraftwerk beauftragt. Dorthin kann und will ich nicht gehen! Dort kommst du nicht einmal mit einer Aufenthaltsbewilligung für 10 Jahre rein, du brauchst die Staatsbürgerschaft. Mir wurde also gesagt, dass wir einen Lieferauftrag haben; mein Chef weiß nicht, dass ich Sans-Papiers bin; manchmal wird man zur Lüge gezwungen, um eine Arbeit zu finden: Ich hatte ihm gesagt, dass ich Papiere habe, aber offiziell nicht bei ihm arbeiten kann, da ich andere Probleme habe; das war für ihn okay. Ich erklärte ihm, dass ich Probleme mit der Steuer habe. Und er erwiderte, dass ich probeweise einen Monat bei ihm arbeiten könne, und dann werde er mich anmelden. Wenn er wirklich auf die Anmeldung besteht, muss ich die Arbeit bleiben lassen – und tschüss!

Und wie hast du es schließlich geschafft, nicht ins Atomkraftwerk fahren zu müssen?

Er rief mich um sechs Uhr morgens an und sagte: ‚Du musst kommen! Wir müssen eine Lieferung nach Cadarache machen.‘ Ich erwiderte, dass ich krank sei und eine Magengrippe hätte. Er darauf: ‚Das gibt’s doch nicht! Ich zähle auf Dich!‘ Ich habe ihm erklärt, dass ich wirklich nicht kann, aber dass dies nicht zu meinen Gewohnheiten gehöre und es mir aufrichtig leid tue.“[19]

Als ehrlicher und gläubiger Mensch ist es nicht immer einfach, zu lügen oder Ausreden zu erfinden; das wird oft als Herabwürdigung empfunden. Das Fehlen einer gültigen Aufenthaltsbewilligung zwingt Abdechahid, gegen sein Gewissen und seine moralischen Überzeugungen zu handeln. Die Missachtung seiner Überzeugungen ist denn auch der Grund für sein Leiden und sein Unbehagen. Es wird für ihn zusehends schwieriger, sich selbst zu ertragen, und er verliert sein Selbstwertgefühl. Nach und nach bestimmt eine durch die Behörde geschaffene Situation seine Denk- und Lebensweise, wie er mir im Gespräch weiter erklärte. Dergleichen führt nicht selten zu schweren psychischen Störungen wie Paranoia und Depression bzw. oftmals zu „Unfällen“ (mit nicht selten tödlichem Ausgang), etwa beim panischen Versuch, einer Verhaftung zu entrinnen.[20]

Abdechahid und Fatima werden in ihrem Alltag ständig mit Problemen konfrontiert, die in direktem Zusammenhang mit ihrer behördlichen Situation stehen. Sie müssen sich fortwährend der „Metis des Sans-Papiers“ bedienen und sehen sich gezwungen, immerfort staatliche Pläne zu durchkreuzen, zu tricksen und Listen anzuwenden, um ihre illegalisierte Situation zu verschleiern. Sie werden ohne Unterlass daran erinnert, dass sie keine Papiere haben und dass sie anders als „alle anderen“ sind.

Die Stadt als Lebensraum

Anlässlich eines Treffens mit Abdechahid in einem Café in Marseille erklärte er mir, dass er sich deshalb verspätet habe, weil er die U-Bahn nicht mehr benützen möchte:

Ich bin heute zu spät gekommen, weil ich die U-Bahn nicht mehr benütze. Ich versuche, so oft es geht, entweder den Bus zu nehmen oder einfach zu Fuß zu gehen. In der U-Bahn gibt es viel zu viele Kontrollen. Ich nehme lieber den Bus als die direktere U-Bahn-Verbindung. Wenn ich die U-Bahn nehme, brauche ich normalerweise eine halbe Stunde bzw. 25 Minuten; mit dem Bus brauche ich dagegen fast eine Stunde. Ich verspäte mich zwar, aber es ist weniger risikoreich.“[21]

Das Kriterium für die Wahl der Verkehrsmittel ist für Abdechahid also nicht die schnellste Verbindung, sondern das geringste Risiko. Da die U-Bahn aufgrund der häufigen Kontrollen von ihm als das gefährlichste städtische Transportmittel eingestuft wird, muss er, um sicher ans Ziel zu kommen, Umwege in Kauf nehmen.

Abdechahid wurde nur kurz vor unserem ersten Zusammentreffen von der Polizei festgenommen. Noch von seiner Verhaftung traumatisiert, erklärt er mir, wie sehr diese Verhaftung, seine Art zu leben und sich in der Stadt zu bewegen verändert habe:

Eigentlich liebe ich es zu reisen; jetzt sitze ich ohne Papiere fest und kann nicht einmal Frankreich verlassen. Das ist unglaublich für mich. Ich kann nicht einmal nach Paris fahren. Sogar hier in der Stadt gibt es sehr gefährliche Orte, zum Beispiel den Bahnhof; dort sollte man nicht hingehen. Die französische Grenzschutzpolizei [PAF: Police aux frontières] ist überall auf der Jagd nach Menschen, die keine Papiere haben. Sie waren es, die mich festgenommen haben. Ich sagte ihnen: ‚Macht eure Arbeit und sucht die Kriminellen, die Diebe! Ihr nehmt mich, einen Familienvater, fest, obwohl ich nichts getan habe! Das ist eine Schande! Nur weil ich keine Papiere habe!‘ Warum haben sie mich nach meinem Ausweis gefragt? Ich habe nichts gemacht, ich ging wie jeder andere meiner Wege![22]

Nach der Festnahme wurde die Stadt für Abdechahid sehr eng: Die Beschränkungen, denen er als Sans-Papiers unterworfen ist, wurden ihm gewaltsam in Erinnerung gerufen. Dazu kommt die Angst, die mittlerweile zum Bestandteil seines Lebens geworden ist und jeder seiner Bewegungen eingeschrieben bleibt: Er fühlt sich ständig gejagt, verfolgt und unsicher. Dies wirkt sich auf das gesamte soziale Milieu aus, in dem er sich bewegt. Die hier zur Sprache kommende Entsolidarisierung von Dieben, also von Personen, die ihren Lebensunterhalt nicht auf legale Weise bestreiten (können) – eine Tätigkeit, der viele Undokumentierte nachgehen, da ihre Lage ihnen kaum einen anderen Ausweg lässt – zeigt sehr deutlich, wie sehr selbst jene, die durch den vorherrschenden Sicherheitsdiskurs kriminalisiert und bedrängt werden, darum kämpfen, endlich auch dem Bevölkerungsteil anzugehören, den es vor den anderen, den Kriminellen, den Eindringlingen zu schützen gilt. Die Angst ist wie ein Virus, das langsam um sich greift und letztlich alle terrorisiert.

Im Gegensatz zu Abdechahid versuchen Azzam und Aïcha, sich nicht terrorisieren zu lassen und ein „normales Leben“ zu führen, ein Leben wie alle anderen auch: Sie gehen mit ihren Kindern bzw. Verwandten und FreundInnen ans Meer, in Parks etc. Sie stellen sich den Gefahren mit großer Kühnheit und führen ihr Leben in einer Weise, die sich verstärkt der Metis bedient. Zur Verdeutlichung die folgende Erzählung von Aïcha:

„Ja ich lebe normal wie jeder andere auch; ich nehme die U-Bahn und all das. Es kommt auch vor, dass ich eine Mordsangst habe, wenn ich die Bullen sehe, aber ich zeige es nicht, ich gehe weiter, ich kann nicht zurück. […] Mehrmals bin ich am Bahnhof St. Charles oder an den U-Bahn-Haltestellen auf die Bullen getroffen, sie haben mir mit dem Kinderwagen geholfen. […] Polizisten haben mir schon öfters geholfen, ganz normal, sie haben mich gefragt, ob es Mädchen oder Jungs sind; ich spreche ganz normal mit ihnen.“[23]

Selbst für die mutigsten Sans-Papiers birgt die Bewegung in der Stadt immer eine Gefahr in sich. In die Stadt zu gehen will also überlegt sein; unnötige Risiken müssen vermieden werden. Und dennoch sind Entscheidung wie etwa jene, ob man die U-Bahn nimmt oder nicht, oftmals vom Tageszustand, von Gefühlen und Vorahnungen bestimmt.

Die Arbeitssuche als „Sans-Papiers“

Die prekäre Situation, in der sich Sans-Papiers befinden, erlaubt es ihnen nicht, allzu lange ohne Arbeit zu sein. Dies führt dazu, dass sie oftmals schlecht bezahlte und sozial verpönte Arbeiten annehmen müssen, um ihr Leben bestreiten zu können. Aufgrund ihrer irregulären Situation, für die insbesondere die Behörden verantwortlich zu machen sind, hat Fatima im Laufe ihrer „Karriere“ als undokumentierte Arbeiterin nicht nur eine Vielzahl von Tätigkeiten ausgeübt, für die sie überqualifiziert ist (sie hat in Algerien ihren Bachelor in Rechtswissenschaft gemacht); vielmehr wurde diese Situation zudem von ihren jeweiligen ArbeitgeberInnen zu deren Vorteil ausgenutzt.

Die Erzählung von Fatima verdeutlicht die Schwierigkeiten, mit denen sie zu kämpfen hat, um eine Arbeit zu finden und zu behalten:

„Ich habe sechs Monate in einem kleinen Unternehmen [einer Lebensmittelfabrik in einem Viertel in der Innenstadt] gearbeitet. Dann haben andere Araber angefangen, in diesem Unternehmen zu arbeiten, und du musst wissen, Araber und Araber, das klappt nie. Die Arbeitsverhältnisse wurden immer schwieriger, also bin ich gegangen, oh! Ich war es, die gegangen ist. Anschließend habe ich eine Arbeit in einer Reinigungsfirma gefunden. Ich hatte ein sehr gutes Gehalt bis zu dem Tag, an dem der Chef herausgefunden hat, dass ich keine Papiere habe. […] Ich habe schließlich jemanden kennengelernt, einen Mann. Nun ist dieser Herr, ein Franzose, die letzte Wahl, es gibt offenbar keine Französin, die ihn will. Er ist allein und arbeitet in der Baubranche. Jedes Mal, wenn ich ihn sah, habe ich ihm einen guten Tag gewünscht; eines Tages fragte er mich, ob ich mich mit ihm verloben wolle. Ich erwiderte: ‚Nein, das ist unmöglich‘; es gibt keinen Grund, warum wir uns verloben sollten; ‚Sie sind kein Moslem‘ und so weiter. Wir haben uns weiterhin einen guten Tag gewünscht und das war’s. Später einmal sagte ich ihm, dass er, falls er was von einer Arbeit höre, es mich wissen lassen solle. Und eines Tages gab er mir die Nummer von jemandem, der vielleicht einen Job für mich habe. Auch er weiß nicht, dass ich Sans-Papiers bin.

Ich rief also die Person an, ich fragte, ob sie jemanden für eine Arbeit suchen. Er sagte: ‚Ja, ich habe eine Reinigungsfirma.‘ Ich arbeitete dann zwei Jahre lang in dieser Firma und wurde sehr gut bezahlt. Ich habe 16 Stunden pro Woche gearbeitet. Bis zu dem Tag, an dem er mir sagte, er habe Arbeitsverträge für alle Geschäfte in dieser Straße erhalten und er wolle mich nun deklarieren. Ich musste ihm erklären, dass ich Sans-Papiers bin. An diesem Tag hat er mich nicht ausbezahlt; er behielt sich die € 480, die er mir bezahlen hätte müssen. Ich kehrte einige Male zurück, um mein Geld einzufordern; er aber erklärte mir, dass er mir das Geld nur dann aushändigen werde, wenn ich meinen Personalausweis vorlege. Er wusste ganz genau, dass ich keinen Ausweis habe, weshalb er auch darauf bestand, dass er mich, wenn ich ihm den Ausweis bringen würde, anmelden und mit einem Scheck ausbezahlen würde. Ich habe dann die Zeitung genommen und wieder eine Arbeit gefunden; ich kümmere mich um ältere Menschen; diese Arbeit mache ich auch heute noch.[24]

Der Arbeitsplatz, ein risikoreicher Ort

Jedes Mal, wenn ich derzeit wegen einer Arbeit angerufen werde, ist diese außerhalb von Marseille. Im Moment gibt es viele Kontrollen; früher haben sie nur den Fahrer kontrolliert, aber jetzt kontrollieren sie auch den Beifahrer. Ich habe selbst Freunde, die das erlebt haben. Ich vermeide es, auf großen Baustellen zu arbeiten – es ist zu gefährlich. Ich arbeite in privaten Haushalten, weil das Risiko geringer ist. Aber manchmal hat man keine andere Wahl.“[25]

Für Abdechahid wird die Wahl des Arbeitsortes durch drei Faktoren bedingt: Distanz, große oder kleine Baustellen und nicht deklarierte Arbeit. Aufgrund der möglichen Polizeikontrollen ist jeder Arbeitsplatz, der außerhalb der Stadt liegt und mit langen Fahrten verbunden ist, an ein höheres Risiko gebunden. Die Fahrten zum Arbeitsplatz sind Teil des Alltages; dieses Risiko muss jeden Tag aufs Neue in Kauf genommen werden, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Jedes Mal aufs Neue wird zwischen Risiko und Notwendigkeit abgewogen: Ist das Geld knapp, wird ein höheres Risiko eingegangen; sind hingegen Geldreserven vorhanden, kann man ein solches Arbeitsangebot ausschlagen und darauf warten, nahe am Wohnort auf einer kleinen Baustelle zu arbeiten, am besten Renovierungsarbeiten im Inneren durchzuführen.

Die zahllosen Taktiken, die Azzam, Aïcha, Fatima und Abdechahid anwenden, sind Formen des Widerstands, die aus jenen Situationen hervorgehen, in denen sie mit BeamtInnen, PolizistInnen, RichterInnen und beim Ausfüllen behördlicher Formulare in Berührung gekommen sind. Auch Taktiken wie das Erlangen des Flüchtlingsstatus bzw. des Krankenstatus[26], der Beitritt in ein Sans-Papiers-Kollektiv sowie die Beteiligung an politischen Kämpfen sind Fluchtlinien aus der durch administrative Rasterungen geprägten Situation. Die Metis der Sans-Papiers umfasst aber nicht nur Strategien, welche dazu beitragen, Behördengänge zu meistern und Verhaftungen zu entgehen, sondern auch eine rhetorische Kunst, die gegenüber RichterInnen in Anschlag gebracht wird, um eine Abschiebung aufzuschieben: So kommt es des Öfteren vor, dass ein/e Sans-Papiers wegen eines Verfahrensfehlers, der sich auf ein allzu hastiges und unrechtliches Vorgehen der Exekutive zurückführen lässt, freigelassen werden muss, was jedoch lediglich heißt, frei bis zur nächsten Kontrolle.

Anhand der Erzählungen von Azzam, Aïcha, Fatima und Abdechahid werden die Grenzen der Machtausübung, denen Sans-Papiers unterworfen sind, ebenso deutlich wie die Beschränkungen des nationalen Sicherheitsdiskurses. Denn die bloße Existenz der Sans-Papiers stellt die Wahnvorstellung einer „totalen Kontrolle“ von Bevölkerung und Territorium, an der die verschiedenen Regierungen leiden, radikal infrage.

Sich in Europa als Sans-Papiers zu bewegen ist angesichts der aktuellen Rechtslage und der politischen Repression ein durchaus gewagtes Abenteuer. Um dieses Abenteuer zu meistern, müssen Sans-Papiers immer zur Eroberung schattiger Ecken bereit sein, die ihnen Schutz vor der sengenden verwaltungsbehördlichen Sonne bieten, bzw. müssen sie sich durch eine Ritze des Behördenapparates und des bürokratischen Systems zwängen können. Es gilt, immer auf der Hut zu sein, um möglichen Polizeikontrollen und gerichtlichen Strafverfolgungen zu entwischen, sowie eine listenreiche Findigkeit zu entwickeln, um eine Arbeit und eine Wohnung zu finden. Kurzum, die Sans-Papiers sind zu permanenter Wachsamkeit und Bereitschaft verdammt, damit ihnen keine Gelegenheit entgeht, die es ihnen ermöglicht, ihr prekarisiertes Leben in Frankreich, in Europa weiterhin zu leben. Aus dieser Not entwickelt sich eine Kunst der Taktik, ein Savoir-vivre, eine Art „Metis der Sans-Papiers“.

Der überwiegende Teil des Lebens der Sans-Papiers wird dabei von dem Traum bestimmt, die für ein legales Leben nötigen „Papiere“ zu erhalten. Diese Papiere sind somit ein Synonym für ihre Träume von einer besseren Zukunft, einem richtigen Zuhause, einer guten Ausbildung für ihre Kinder – kurz, das Synonym für ein Leben wie „alle anderen“.

Über Jahre hinweg in einem Zustand permanenter Unsicherheit und Ungewissheit zu leben strukturiert und infiltriert ihren Alltag und ihr Leben. Die ständige Anpassungsleistung an eine sich kontinuierlich verändernde Umgebung lässt die eigene Identität fließend werden. Je länger dieser Zustand anhält, desto wahrscheinlicher führt dies zu einer veränderten Selbstwahrnehmung, die sich schlimmstenfalls durch eine paranoide Angst äußert. Als Sans-Papiers wird man (von den Medien, den Behörden etc.) ständig damit konfrontiert, nicht wie „alle anderen“ zu sein. Dies kann zu einer Verinnerlichung der diskriminierenden Diskurse führen und schließlich so weit gehen, dass der/die Sans-Papiers sich selbst als „nicht normal“ wahrnimmt; eine Selbstwahrnehmung, der – so wie Azzam, Aïcha, Fatima und Abdechahid in den von mir geführten Interviews – mit der beharrlichen Feststellung der eigenen Normalität und des eigenen Menschseins begegnet wird.

Bleibt die Frage, welche Folgen ein politisches Gesellschaftsprojekt zeitigt, das ein imaginäres „Wir“ über den Weg der permanenten Terrorisierung und Traumatisierung eines Teils seiner Bevölkerung herbeizuführen versucht.

Die gegenwärtige Migrationspolitik in Europa und insbesondere in Frankreich bringt kontinuierlich Sans-Papiers hervor und führt zu einer Klassifizierung des Lebens in wertvolles und wertloses Leben. Eine solche Politik ist auf identitäre Diskurse und Praktiken angewiesen, um den rassistischen Ausschluss zu legitimieren und in der Bevölkerung durchzusetzen. Am Beispiel der französischen Immigrationspolitik sowie des Ministeriums für Migration und nationale Identität lässt sich aufzeigen, dass eine solche Politik selbst vor der (Wieder-)Belebung der „nationalen Identität“ oder, besser gesagt, des „Urfranzosentums“ nicht zurückschreckt. So ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass der/die „Fremde“ stets aufs Neue von Medien und PolitikerInnen als Bedrohung und Gefahr verteufelt wird, und zwar mit dem Ziel, Vorteile auf Kosten eines „Schwächeren“ zu erhaschen. Der außerordentliche Zynismus einer solchen Ausbeutung lässt sich exemplarisch daran verdeutlichen, dass Bauunternehmen Aufträge für Überwachungsanlagen, Mauern und Abschiebelager erhalten, die zu Dumpingpreisen von schlecht bezahlten Sans-Papiers errichtet werden. Und so schließt sich der wirtschaftliche Teufelskreis.

Der traurige Unterton dieser Geschichte ist, dass die Idee, sich einzumauern, Zuflucht in Einsamkeit und Isolation zu finden und alles Fremde zu erschlagen, längst wieder salonfähig geworden ist. Wörter wie Gastfreundschaft hallen nur noch als weit entferntes Echo aus längst verstaubten Zeiten nach, als alte schnattrige Stimmen aus vergilbten Büchern, die kaum mehr an unsere Ohren dringen, in einer Zeit, in der alles lärmt, hastet und schreit – und in der man sich nur noch auf die Namen von SchriftstellerInnen beruft, aber längst nicht mehr auf die Inhalte ihrer Bücher, obwohl sich darin doch die eine oder andere lesenswerte und bedenkenswerte Stelle finden ließe, wie etwa in Homers Odyssee:

„Fremdling, es ziemte mir nicht, und wär’ er geringer als du bist,
Einen Gast zu verschmähn; denn Gott gehören ja alle
Fremdling’ und Darbende an.“
[27]

almer.stefan@gmail.com


[1] James C. Scott, La domination et les arts de la résistance, Fragments du discours subalterne, Editions Amsterdam 2008, S. 179.

[2] Jean-Luc Nancy, Der Eindringling/L' Intrus. Das fremde Herz. übers. v. Gabriel Garcia Düttmann, Merve 2000, S. 7–8.

[3] In Bezug auf PolitikerInnen und MedienakteurInnen merkt Gérard Noiriel in seinem Buch Immigration, antisémitisme et racisme en France an, dass den PolitikerInnen heute kaum mehr als das Kommentieren der durch die Medien forcierten Themen übrig bleibe. Sie surfen sozusagen auf der Welle der medialen Aktualität mit und können demgemäß auf Themen, die ihnen wichtig erscheinen, lediglich so lange Einfluss nehmen, wie diese in den Medien präsent sind; schon allein deshalb werden kollektive Aktionen (wie etwa eine Demonstration) oftmals in Events verwandelt, in für die mediale Berichterstattung verdauliche Häppchen. Noiriel zufolge besteht die politische Kunst heute also darin, die unterschiedlichen Kommentare zur Aktualität nicht nur zu nähren, sondern auch zu koordinieren, um auf diesem Weg Verbündete aus allen Lagern in Bezug auf ein Thema zu mobilisieren. Deutlich wurde dies etwa anlässlich der Debatte um das Kopftuchverbot in Schulen, in der sich die „kleinen Stimmen“, die dazu ihre Ansichten äußerten, wie z. B. feministische Gruppierungen, den Vorstößen der rechten Parteien inhaltlich anschlossen. Vgl. Gérard Noiriel, Immigration, antisémitisme et racisme en France (XIXe – XXe siècle) Discours publics, humiliations privées, Paris: Fayard 2007, S. 589–605, hier S. 639.

[4] Terray Emmanuel, „Le travail des étrangers en situation irrégulière ou la délocalisation sur place“, in: Etienne Balibar, Monique Chemillier-Gendreau, Jacqueline Costa-Lasoux, Emmanuel Terray, Sans-papiers : l'archaïsme fatal, Paris: Éditions la Découverte 1999.

[5] Nicolas Bancel, Pascal Blanchard, Françoise Vergès, La République coloniale, Albin Michel 2003.

[6] Achille Mbembe, De la postcolonie, Essai sur l’imagination politique dans l’Afrique contemporaine, Paris: Karthala 2000, S. 9 f.

[7] „2007 haben Polizei und Gendarmerie in Frankreich mehr als 88.000 ImmigrantInnen ohne Aufenthaltsbewilligung kontrolliert und ca. 23.000 von den vorgegebenen 25.000 Abschiebungen wurden durchgeführt.“ Vgl. Cette France-là 1, 06. 05. 2007 – 30. 06. 2008, Diffusion La Découverte, Jänner 2009.

[8] Michel de Certeau, Die Kunst des Handelns, übers. v. Ronald Voullié, Berlin: Merve 1988,. S. 60.

[9] Vgl. Marcel Detienne/Jean-Pierre Vernant, Les ruses de l’intelligence. La mètis des Grecs, Paris: Flammarion 1974: „Die Metis ist […] eine Form der Intelligenz und des Denkens, ein Erkenntnismodus; sie impliziert ein komplexes, aber sehr kohärentes Gerüst von mentalen Einstellungen und intellektuellen Verhaltensweisen, die Spürsinn, Scharfblick, Voraussicht, einen beweglichen Geist, Finten, Einfallsreichtum, Wachsamkeit, den Sinn für günstige Gelegenheiten, vielfältige Gewandtheiten sowie eine über die Jahre erworbene Erfahrung kombinieren. Die Metis kommt in flüchtigen, wandelbaren, verwirrenden und mehrdeutigen Situationen zum Einsatz; in Situationen, die sich nicht für eine genaue Maßnahme, ein exaktes Kalkül oder eine strenge Vernunftlogik eignen“ (S. 10) „[…] wenn das mit Metis begabte Individuum – ob Gott oder Mensch – mit einer vielfältigen, veränderlichen Realität konfrontiert ist, die aufgrund ihrer unbegrenzten Macht zur Vielgestaltigkeit kaum erfasst werden kann, dann kann es diese Realität lediglich dadurch beherrschen – d. h. auf eine einzige und feste, handhabbare Form eingrenzen –, wenn es sich selbst als noch mannigfaltiger, beweglicher, vielseitiger erweist als sein Widersacher“ (S. 11). „Die Metis vollzieht sich auf beweglichem Terrain, in ungewissen und mehrdeutigen Situationen. Zwei antagonistische Kräfte stehen einander gegenüber […]. Während dieser spannungsgeladenen und labilen Zeit des agôn verleiht die Metis eine Handhabungsmöglichkeit, an der es ohne sie fehlen würde“ (S. 21).

[10] Um die Anonymität der Personen zu wahren, habe ich hier Pseudonyme verwendet.

[11] Nach französischem Verwaltungsrecht ist ein Circulaire adminstratif ein – in diesem Fall an die Einwanderungsbehörde gerichtetes – Rundschreiben, das dieser vorschreibt, ausnahmsweise (sozusagen als souveräner Gnadenerlass) eine bestimmte Anzahl von Undokumentierten, die wiederum bestimmten Kriterien erfüllen müssen, zu legalisieren.

[12] „Harkis“ sind Algerier, die Frankreich während des algerischen Unabhängigkeitkrieges unterstützt haben.

[13] Franzosen, die in Algerien lebten und nach der Unabhängigkeit Algeriens nach Frankreich „zurückgekehrt“ sind.

[14] P. Clement war vom 02. 06. 2005 bis zum 07. 05. 2007 französischer Justizminister.

[15] Die Präfektur ist der Sitz des Präfekten. Seine Funktion ist es, den französischen Staat im Département zu vertreten; ernannt wird der Präfekt vom Staatspräsidenten. Er ist der Leiter der gesamten dekonzentrierten Staatsverwaltung im Département und als solchem kommen ihm insbesondere weitreichende Polizeibefugnisse zu (er ist der Befehlshabende für die im Département befindlichen Brigaden der Gendarmerie Nationale). Die BeamtInnen, die dem Präfekten unterstehen, sind außerdem sowohl für die Bearbeitung der Einreiseanträge als auch für die Verlängerung von Aufenthaltsbewilligungen zuständig.

[16] Cette France-là 1, 06. 05. 2007 – 30.06.2008, Diffusion La Découverte, Jänner 2009.

[17] Für die Erstellung des Textes wurden bestimmte Stellen und Angaben zu Taktiken, die Teil des mündlichen Interviews waren, ausgelassen, um die Anonymität der Personen zu wahren.

[18] Gespräch mit Fatima 1, geführt am 16. Dezember 2006.

[19] Gespräch mit Abdechahid, Familienvater mit Kind, geführt am 16. Februar 2007.

[20] Vgl. Cette France-là 1, 06. 05. 2007 – 30.06.2008, Diffusion La Découverte, Jänner 2009, S.196 f.

[21] Gespräch mit Abdechahid, Familienvater mit Kind, geführt am 16. Februar 2007.

[22] Gespräch mit Abdechahid, Familienvater mit Kind, geführt am 16. Februar 2007.

[23] Gespräch mit Aïcha und Azzam, geführt am 09. Februar 2007.

[24] Gespräch mit Fatima 1, geführt am 16 Dezember 2006.

[25] Gespräch mit Abdechahid, Familienvater mit Kind, geführt am 16. Februar 2007.

[26] Eine Aufenthaltsgenehmigung auf der Grundlage einer im Herkunftsland unheilbaren bzw. die Abschiebung verunmöglichenden Krankheit.

[27] Homer, Odyssee, 14. Gesang, Odysseus bei Eumaios.

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