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Philippe Kellermann: Marxistische Annäherung an den Anarchismus?
Die Konjunktur leerer Gesten am Beispiel Wolfgang Fritz Haugs

Denn die einen sind im Dunkeln
Und die andern sind im Licht
Und man siehet die im Lichte
Die im Dunkeln sieht man nicht

Bertolt Brecht

die Geschichte des kommunistischen Abenteuers
ist nicht gleichbedeutend mit der
Geschichte des Sozialismus als solchem

Fredric Jameson

0. Vorab

Es ist schon einige Zeit her, seit dem in der GRUNDRISSE der Versuch einer Annäherung von Anarchismus und Marxismus unternommen wurde. Leider sind bis jetzt nur drei Aufsätze zum Thema erschienen,[1] dafür aber scheint es auch für Leute aus dem anarchistischen Umfeld die Möglichkeit zu geben, an der GRUNDRISSE mitzuarbeiten.[2] Und vielleicht ist diese praktische Zusammenarbeit letztlich auch wichtiger als jeder theoretische Text.[3]

Im Folgenden möchte ich mich mit W.F. Haug auseinandersetzen. Der Grund dafür ist, dass auch er in seinem Buch High-Tech-Kapitalismus dafür plädiert hat, den historischen Bruch mit den „anarchistischen oder anarcho-syndikalistischen Strömungen“ rückgängig zu machen (2003a, 285). So begrüßenswert dies ist, so ernüchternd ist eine Durchsicht der Haugschen Texten der letzten Jahre, zeigen diese doch, dass diese Annäherung in keiner Weise zum Thema gemacht wurden, so dass man sich fragt, was diese Geste eigentlich für einen Wert besitzt.[4] Die Berechtigung zum folgenden Text scheint mir dabei erstens darin zu liegen, dass Haug ein durchaus einflussreicher Marxist ist, der, als Herausgeber der Zeitschrift DAS ARGUMENT oder des HISTORISCH-KRITISCHEN WÖRTBUCHS DES MARXISMUS in dieser Sache vieles hätte bewirken können; und zweitens, weil mir der Haugsche „Umgang“ mit dem Anarchismus bezeichnend dafür zu sein scheint, wie von großen Teilen der MarxistInnen das Thema Anarchismus (nicht-)verhandelt wird – selbst, oder gerade da, wo ursprünglich anarchistische Positionen vertreten werden.[5]

1. High-Tech-Kapitalismus (2003)

Liest man sich die knapp eineinhalb Seiten unter der Überschrift Marx’ Abrechnung mit den Anarchisten durch, in denen Haug ein Zusammengehen mit den Anarchisten proklamiert, so fragt man sich nach der Lektüre unweigerlich: Warum eigentlich? Denn Haug erzählt an besagter Stelle lediglich eine angebliche „Abrechnung“ von Marx mit „den Anarchisten“ nach, in der, statt von „den Anarchisten“ eigentlich nur von der im Anarchismus umstrittenen Figur Netschajew und - da mit diesem zeitweise im Kontakt stehend - Bakunin die Rede ist (2003a, 85).[6] Ohne kritische Distanz wird dabei Marx’ Position übernommen, nach der die Anarchisten „autoritärer als der primitivste Kommunismus“ seien, während Marx selbst als Verteidiger von „Basisdemokratie, Menschenrechte[n] und Ethik“ (2003a, 85) präsentiert wird.[7] Haug geht dabei soweit, den Eindruck zu erzeugen, dass die Anarchisten in ähnlicher Weise autoritär gewesen seien, wie die spätere KPdSU.[8] Kritisiert wird Marx nur dafür, dass er die autoritären Tendenzen, die er bei den Anarchisten anscheinend so hellsichtig erkannt hat, im eigenen Lager nicht gesehen habe.

Nun wird aus alledem eines nicht ersichtlich: Warum ein Zusammengehen mit „Superautoritären“ (2003a, 85)? Meint Haug, entgegen seinem Titel vielleicht, dass es doch noch andere Anarchisten gibt? Wenn ja, warum spricht er von Ihnen nicht. Und warum überschreibt er den Abschnitt nicht mit „Marx’ Abrechnung mit Bakunin und Netschajew“? Dies ist auch deshalb auffällig, weil Haug in seinem Buch Elemente einer Theorie des Ideologischen, die in HTK geäußerten Gedanken schon einmal kundgetan und dort unter die Überschrift Der Kampf gegen die »Immoralität« der Bakunisten (1993, 165) gestellt hatte. Auch wenn der Begriff der „Bakunisten“ irreführend und unreflektiert aus der Marxschen Polemik übernommen ist,[9] so ist er dennoch spezifischer als allgemein von „den Anarchisten“ zu reden.

Mögen diese Unklarheiten der Form des Vortrags geschuldet sein,[10] so wäre doch zu erwarten, dass Haug etwas zum Anarchismus, etwa einen Aufsatz in Das Argument, veröffentlicht.

2. Aufsätze in Das Argument (2004-2006)

Überfliegt man nun mit einiger Hoffnung der eine (»Zusammengehen erwünscht«), mit einiger Angst der andere (»Keine Kooperation mit der ’Kinderkrankheit’«), die Aufsätze, die W.F. Haug zwischen 2004 und 2006 in Das Argument veröffentlicht hat, fällt zunächst eines auf: Kein einziger beschäftigt sich erkennbar mit dem Thema Anarchismus. Das ist vor dem Hintergrund der oben erwähnten Annäherungsgeste schon einmal erstaunlich. Aber vielleicht hat Haug ja stattdessen in seinen Argument-Aufsätzen anhand aktueller politischer Fragestellungen die Chance für Querverweise auf und/oder für die Diskussion anarchistischer Positionen genutzt. Im Folgenden seien deshalb exemplarisch drei Aufsätze behandelt, in denen dies möglich gewesen wäre, vielleicht sogar nahe gelegen hätte: 1. „Zivilgesellschaft – Kämpfe im Zweideutigen“ (Das Argument 253), 2. „Parteilichkeit und Objektivität“ (Das Argument 255), 3. „Untergang der deutschen Linksregierung – Aufstieg der Linkspartei“ (Das Argument 262).

1.) In Das Argument 253 greift Haug mit einem Beitrag in die Kontroverse über die neozapatistische Politik ein. In deren Zentrum steht die Auseinandersetzung zwischen John Holloway und Atilio Boron, deren Beiträge im selben Heft veröffentlicht sind, und die um die Frage des Staates als „strategische[m] Dispositiv“ (Boron 2003, 808) kreist. Boron spricht sich dabei für einen Kampf um den Staat aus und wirft den Zapatistas vor, diesen zu vernachlässigen. In diesem Kontext verteidigt Boron Lenin gegen den Vorwurf des „Staatszentrismus“, habe dieser doch nach erfolgter Machtübernahme auf der perspektivischen Abschaffung des Staates bestanden (ebd. 804). Holloway hingegen erklärt seine Zustimmung zur (anti-) politischen Praxis der Zapatistas und wendet gegen Boron ein, dass das Leninsche Zwei-Phasen-Modell [Machtübernahme, Abschaffung] nicht als Lösung, sondern als Verschärfung des Problems anzusehen sei, da die dort getroffene „Unterscheidung nicht getroffen werden“ könne (2003, 819). Vielmehr sei der Kampf um Emanzipation nur auf dem Boden grundlegend anderer Politik- und Organisationsformen möglich. Seine Konzeption jenseits des Dualismus von Reform und Revolution, die beide als „staatszentrierte Ansätze“ (ebd. 814) verstanden werden, bringt Holloway dabei mit Ansätzen in Verbindung, die historisch als „anarchistisch stigmatisiert“ worden seien (ebd.).

Haug erkennt die „große Bedeutung“ der „Debatte“ - und zwar „nicht nur für Lateinamerika“- an und betont, dass diese „nach Vermittlung“ verlange (2003b, 856). Er fühlt sich bei der Diskussion aber nicht, wie es nahe gelegen hätte, an die historischen Auseinandersetzungen zwischen anarchistischen und marxistischen/sozialdemokratischen Positionen erinnert, sondern an die Diskussion zwischen Kautsky (»Kein Sozialismus ohne Demokratie«) und Lenin (»Keine Demokratie ohne Sozialismus«). Hier bleibt völlig unklar, wo in dieser Konstellation Holloways Position vertreten sein soll. Für Holloway sind doch sowohl Kautsky als auch Lenin - wie auch die dann von Haug als Vermittlerin eingeführte Luxemburg – als Anhänger staatszentrierter Ansätze abzulehnen. All das ist umso sonderbarer, als doch sogar Haug in Kautsky und Lenin Anhänger von „Etatismen“ erkennt (ebd. 856). Aber scheinbar hat dies keine Relevanz und die von Holloway angedeutete Nähe zum Anarchistischen wird dezent überlesen. Die eigene Geste des Vermitteln-Wollens und die darüber hinaus stark gemachte Position Luxemburgs scheint Haug wichtiger zu sein, als die angesprochenen Positionen ernst zu nehmen.

2.) Kommen wir zum zweiten Aufsatz, betitelt Parteilichkeit und Objektivität (Das Argument 255), in dem Haug, wie der Titel schon verrät, das Verhältnis von Parteilichkeit und Objektivität diskutiert. Dabei wendet er sich gegen den „Konstruktivismus’“ Michael Heinrichs (2004, 212f.), kommt auf den Perspektivismus Nietzsches zu sprechen (ebd. 215) und diskutiert die „Frage der »Werturteile«“ bei Max Weber (ebd. 215-220). Hätte es nun aus der Perspektive eines kritischen Marxismus nicht  nahe gelegen bei dem Thema Wissenschaft und Objektivität das problematische Verhältnis zwischen wissenschaftlichem Anspruch und autoritären Praxen in der Geschichte des Marxismus anzusprechen, so zum Beispiel die mit dem Vorwurf des „Utopischen“ legitimierten Ausgrenzungen? Hätte sich in diesem Kontext nicht eine Diskussion anarchistischer Positionen angeboten, da diese doch genau auf diesen problematischen Zusammenhang immer wieder hinwiesen? Genannt sei nur beispielhaft Proudhon, der an Marx appellierte, sich nicht zu einem „Apostel[.] einer neuen Religion und wäre es die der Logik und der Vernunft“ zu machen, die nur „neue[.] Intoleranz“, „Ausschließungen und Mystifikationen“ zur Folge hätten (zit.n. Koechlin 1990, 183), oder Bakunins Bestehen auf der „Empörung des Lebens (...) gegen die Herrschaft der Wissenschaft, nicht um die Wissenschaft zu zerstören – dies wäre ein Verbrechen an der Menschheit -, sondern um sie an ihren Platz zu verweisen“ (1871, 104).[11]

3.) Als letztes soll es um einen Aufsatz Haugs über den Aufstieg der deutschen Linkspartei (Das Argument 262) gehen, in dem die „Gründe des Scheiterns der rot-grünen Regierung“ (2005a, 455) im Kontext des transnationalen Kapitalismus diskutiert werden. Haug schreibt mit Blick auf den Ausgang der Bundestagswahlen von einem „Sieg“ der „Linken“ (ebd. 453), warnt aber auch davor in „Illusionen“ zu verfallen (ebd. 455). Anscheinend um die Linkspartei gegen linke Kritik zu stärken, wendet er sich gegen „political correctness“ und „undialektischen Fundamentalismus“ (ebd. 452) und macht sein von Brecht übernommenes Konzept des „Operierenkönnen[s] mit Antinomien“ (ebd.) stark. Hätte es sich hier nicht wieder die Möglichkeit geboten, eine Diskussion zwischen radikal staatskritischen Ansätzen, zum Beispiel anarchistischer Parlamentarismuskritik und dem eigenen Konzept zu führen? Warum nutzt Haug die Möglichkeit nicht, seinen Ansatz gegen die anarchistische Staatskritik zu verteidigen und somit endlich einmal zum Thema Anarchismus/Marxismus Stellung zu beziehen?

Dass ein „gemeinsamer >sozialistischer< Horizont (...), in dem die einzelnen Projekte an Kraft und Richtung gewinnen würden, (...) sich erst undeutlich“ abzeichnen würde (ebd. 458), wie Haug am Ende des Aufsatzes bedauernd feststellt, ist wohl kein Wunder wenn die Existenz bestimmter Projekte gar nicht erst zu einem kritisch-solidarischen Diskurs eingeladen, bzw. überhaupt diskutiert werden.[12]

3. Revolution mit Poesie (1999)

Haugs Aufsätze in Das Argument enthalten also keinerlei Bezugs- und Anknüpfungspunkte für die hier verhandelte und von Haug zum Thema gemachte Problematik. Vielleicht kann man ja in seinen letzten Büchern fündig werden. Ich beginne dabei mit der Betrachtung eines Kapitels aus Politisch richtig oder richtig politisch, das sich mit einem oben schon angesprochenen Thema beschäftigt, den Zapatistas und deren „anti-avantgardistische[r] Politik“ (1999, 149). Dort verteidigt Haug die zapatistischen Politikformen und betont die Vorbildhaftigkeit neuer Politik- und Organisationsformen im Kontext der zapatistischen Bewegung.[13] Diese begreift er als eine Umsetzung Gramscianischer und Marxscher Positionen und Maximen. Und so macht es die marxistische Ahnengalerie scheinbar unnötig über andere linke Positionen zu reflektieren. Wo dies möglich gewesen wäre, soll an ein paar Beispielen gezeigt werden.

Haug lobt die Zapatistas für ihr Gespür der Mobilisierungsfunktion von Mythen (1999, 157f.), in dem „etwas von Gramscis Lehren aus Sorels Rationalismuskritik“ mitschwänge (ebd. 158). Alternativ hätte hier auch auf Bakunin verwiesen werden können, der schon 1873 in Staatlichkeit und Anarchie - wohl gegen marxistisch-deterministische Verelendungstheorien gerichtet - betont hatte, dass „Armut und Verzweiflung“ allein nicht zur sozialen Revolution führen, es dafür vielmehr eines „Volkideals“ bedürfe, dass „sich durch eine Kette von Ereignissen sowie schweren und bitteren Erfahrungen formt, erweitert und erhellt“, und „ferner eine[r] allgemeine[n] Vorstellung vom eigenen Recht und ein[es] tiefe[n], leidenschaftliche[n], man kann sagen, religiöse[n] Glaube[ns] an dieses Recht“ (1873b, 447f.).[14] Auch das zapatistische Motto „fragend finden wir den Weg“ wird von Haug in einen gramscianischen Kontext gebracht, da dieses „sehr gramscianisch, das Zuhören“ privilegiere (Haug 1999, 163). Hätte nicht der Ausspruch Landauers aus dessen Aufruf zum Sozialismus näher gelegen, wo es heißt: „Der Sozialismus als Wirklichkeit kann nur erlernt werden; der Sozialismus ist wie jedes Leben ein Versuch“ (1911, 138)?[15]

Bei der Ablehnung elitärer Avantgardekonzepte wird der Marx der Feuerbachthesen als „Pate“ vermutet (1999, 163). Dabei dürfte doch die Positionierung gegen elitäre Führungskonzepte in der anarchistischen Tradition weitaus stärker beheimatet sein, als in der marxistischen. An anderer Stelle zitiert Haug Boris Kanzleiter, der die zapatistischen Vergesellschaftungsformen als Struktur von „selbstorganisierten, dezentralen, aber verknüpften Netzen einer demokratisch strukturierten Gegenmacht“ beschreibt, die „eine befreite Gesellschaft bereits im Kampf gegen die alte“ vorausnähme (ebd. 164). Obwohl die Skizzierung Kanzleiters wie eine Beschreibung klassisch-anarchistischer Vergesellschaftungsvorstellungen wirkt,[16] wird dieses Bild von Haug als umgesetzte Praxis der Feuerbachthesen interpretiert, so dass und man sich fragt, warum es überhaupt jemals eine anarchistische Kritik an Marx gab.[17]

In diesem Kontext ist es interessant, dass Holloway, als an die zapatistischen Praxen sich anlehnender Denker, die Haugschen Galionsfiguren Luxemburg (wegen »Staatszentrismus«[18]) und Gramsci (wegen elitärer Implikationen seines Konzeptes des »organischen Intellektuellen«[19]) kritisiert. Würde Haug auch gegen Holloway sein (überhebliches) „Argument“ in Stellung bringen, dass zum „Beschreiben und Begreifen der zapatistischen Praxis“ Gramscis Theorie „besser geeignet“ sei, „als manche Verlautbarungen aus dem Umkreis der Zapatisten“ (2003b, 855)?

Für Haug jedenfalls, so ist in den Versuchen zu lesen, die im Folgenden besprochen werden sollen, scheint es zwischen zapatistischen und anarchistischen Praxen keine Ähnlichkeiten zu geben. Ihm zufolge verbänden die Zapatisten „auf dem Boden indigener Kultur (...) Gramsci mit Brecht und Derrida“ (2005b, 105).

4. Dreizehn Versuche marxistisches Denken zu erneuern. Gefolgt von Sondierungen zu Marx/Lenin/Luxemburg (Erweiterte Neuausgabe, 2005)

Wie kein anderes Buch hätten die Versuche marxistisches Denken zu erneuern, Anlass und Möglichkeit einer Aufarbeitung und Diskussion des Verhältnisses zwischen Marxismen und Anarchismen geboten, gerade auch vor dem Hintergrund des von Haug programmatisch vorangestellten Mottos, dass es „als ausgeschlossen gelten“ müsse, „unkritisch an Marx anzuknüpfen“ (Haug 2005b, 14). Und hatte nicht Georges Labica von der „Lektion“ gesprochen, die der Anarchismus für den Marxismus sei (1984, 58)? Für Haug anscheinend nicht. Weder wird auf die Auseinandersetzungen innerhalb der Internationale eingegangen,[20] noch wird bei der Diskussion von Lenins Positionen und der Russischen Revolution auf anarchistische Bewegungen und Kritiken verwiesen.[21] Haug scheint sich mit seiner von Peter Weiss übernommenen „Linie Luxemburg-Gramsci“ (2005b, 20) darauf zu beschränken, einen guten, kritischen Marxismus von einem schlechten Kriegs- oder Offizialkommunismus abzugrenzen.[22] Was jenseits des innermarxistischen Diskurses existierte ist scheinbar nicht der Rede wert - ob es von Haug als legitime Kritik gesehen wird, bleibt in der Schwebe. Es werden weder anarchistische Positionen, noch anarchistische Figuren ernsthaft zur Diskussion gestellt.[23] Warum sollte es auch anarchistischer Kritik bedürfen, wenn mit Gramsci der Gegenpol zum „kriegskommunistisch geprägten Marxismus-Leninismus“ (2005b, 44) von marxistischer Seite aus prominent besetzbar ist?[24] 

Neben Gramsci ist es Rosa Luxemburg, die von Haug stark gemacht wird – und zwar als „prophetisch[e]“ Kritikerin des Marxismus-Leninismus (2005b, 264). Haug spricht von Luxemburgs „atemberaubende[r] Weitsicht“ (ebd. 267), da diese 1904 Lenins „rücksichtslosen Zentralismus“ kritisiert (ebd. 264) und bei genereller Sympathie für die Oktoberrevolution vor der Ausbildung autoritärer Strukturen in Russland gewarnt hatte. Aber was ist das für eine „atemberaubende Weitsicht“ (ebd. 267), die schon aus dem 19.Jahrhundert als anarchistische Kritik an den etatistischen Vorstellungen der sich auf Marx berufenden Sozialismen bekannt ist?[25] Eine Kritik, die sich dann bei Kropotkin im Kontext der ersten gescheiterten Russischen Revolution 1905 genauso finden lässt[26], wie bei Volin 1917/1918[27] und bei Malatesta 1919[28]. Es hinterlässt deshalb einen bitteren Nachgeschmack, wenn Haug meint, dass Luxemburg „Recht“ behielt (2005b, 274). Das ist ja an sich nicht falsch, aber: Gab es in dieser Hinsicht nicht noch andere Luxemburgs, die zu nennen gewesen wären (vgl. Heinrichs 2002, 112f.)? Und wäre dieses Nennen nicht auch im Interesse der Haugschen Annäherungsgeste gewesen? Auch bei den anderen von Haug angeführten Themen (z.B. Revolutions- und Parteitheorie), hätte sich eine Diskussion anarchistischer Positionen angeboten, aber auch hier wird sie nicht geführt.

Wie das Fazit des Buches klingt es, wenn Haug zustimmend Butenko zitiert, nach dem es „keinen Sozialismus“ gebe, „solange es nur Befreiung von der Ausbeutung, nicht jedoch von der Unterdrückung gibt“ (2005b, 276). Man meint die Stimme Bakunins zu hören: „Dass Freiheit ohne Sozialismus Privilegienwirtschaft und Ungerechtigkeit bedeutet; und dass Sozialismus ohne Freiheit Sklaverei und Brutalität ist“ (1868, 62)

Bei Haug ist Bakunin jedoch zum Schweigen verurteilt.

5. Einführung in marxistisches Philosophieren (Vorlesung 2000/2001)

Zu guter Letzt soll noch ein Blick in ein Buch geworfen werden, das zwar zeitlich nicht das letzte Werk Haugs ist, aber als letztes publiziert wurde: Haugs Abschiedsvorlesung mit dem Titel Einführung in marxistisches Philosophieren. Trotz des zu Beginn betonten Anspruchs „problembezogene Erinnerungsarbeiten“ betreiben und das „Gespräch mit einer Vielzahl philosophischer Sichtweisen suchen“ zu wollen (2006, 14), ist auch hier im Folgenden von der Diskussion anarchistischer Positionen nichts zu sehen. Hätte dies in einem Buch, das den Werdegang des Marxschen Denkens nachzeichnet nicht nahegelegen? Zumindest drei Denker - Proudhon, Stirner und Bakunin – hätten in diesem Kontext durchaus angesprochen werden können.

Proudhon wird von Haug genannt, aber nicht diskutiert (ebd. 142;163). Der Name Bakunin taucht zwar im Kontext des Briefwechsels in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern (1843) auf, nur: Wenn Haug die Sechste Vorlesung mit den Worten eröffnet, dass „wir“ vor einer Woche „einen Blick (...) in Briefwechsel zwischen Marx, Ruge, Bakunin und Feuerbach“ geworfen hätten (ebd. 65) ist dies nicht ganz richtig. Denn eigentlich wird nur auf Beiträge von Marx, Ruge und Feuerbach eingegangen, Bakunin kommt kein einziges mal zu Wort. Aber „als Mitstreiter von Marx“ (ebd. 146) sei er uns begegnet, wie es dann in der Zwölften Vorlesung heißt. Und auch ein paar Zeilen weiter, wenn Haug kurz auf die Internationale zu sprechen kommt, hätte es zumindest nahegelegen, das Verhältnis von Marx und Bakunin zu konkretisieren. Dass Bakunin nicht zu Wort kommt, scheint für Haug aber generell kein Problem zu sein, da sowieso keiner an „Marx’ analytische Kraft und strategische Orientierungsfähigkeit“ (ebd. 59) herangereicht habe.[29]

Über Stirner erfährt man auf zwei Seiten, dass Engels in einem Brief an Marx diesem eine auf dessen Der Einzige und sein Eigentum (1844) aufbauende Kritik vorschlägt, diesen Vorschlag aber wiederum unter dem Einfluss von Marx revidiert, wobei unklar sei in welchem Punkt (2006, 111f.). Man erfährt also - außer das Stirner „Ausdruck der bestehenden Tollheit“ (Engels) sei (ebd. 111) - kaum etwas. Besonders erstaunlich ist dies, weil Stirner in der Deutschen Ideologie doch immerhin über 300 (!) von gut 500 Seiten gewidmet wurden und Haug diese Schrift immerhin als Werk des „Einschnitts“ (ebd. 139) und „ungeheuer wichtige Schrift“ (2005b, 85) einschätzt. Michael Heinrich hat darauf hingewiesen, dass die „Bedeutung Stirners (...) von den meisten Autoren, die sich mit Marx’ Entwicklung beschäftigen, übersehen“ werde (2003, 129) und es doch gerade die „groß[e] Herausforderung“ (ebd. 129) durch Stirner gewesen sei, die „wahrscheinlich die inhaltliche Abkehr von Feuerbach auslöste“ (ebd. 127). Während es Haug also während der Vorlesungen gelingt, immer wieder Querverweise auf etablierte Gestalten der Philosophiegeschichte anzubringen, so zum Beispiel auf Platon (2006, 67), Parmenides (ebd. 87), Demokrit (ebd. 90), Spinoza (ebd. 109), Descartes (ebd. 133) und Epikur (ebd. 134), kommt die anarchistische Strömung weder zu Wort noch wird sie diskutiert.

In dem der Vorlesung angehängten Nachwort (Und nun?) wirft Haug Frieder Otto Wolf die Verwendung des Begriffs „Radikale Philosophie“ für dessen Projekt vor. Grund ist der implizite Vorwurf (nicht nur) an Wolf, das „Anstößige, den dieser Name [Marx] für die herrschende Meinung hat“ (ebd. 193) vermeiden zu wollen. Dabei würde doch Wolfs Projekt „in vielem in die gleiche Richtung“ zielen wie das von Haug „entfaltete“ (ebd.). Nur, was Haug mit dem Versuch, die Ähnlichkeit zwischen seinem und Wolfs Projekt als marxistische Philosophie herauszustreichen, unkenntlich macht, ist, dass Wolf im Gegensatz zu ihm die anarchistische Theorie diskutiert und sich (auch) positiv auf diese bezieht.[30] In diesem Sinn scheint mir der Begriff der „Radikalen Philosophie“ auch eine neue Perspektive anzudeuten, die den Boden historisch festgefahrener Begrifflichkeiten verlassen will.

6. Fazit

Eine „verrückte Dialektik“, wie sie Haug bei den Anarchisten am Werk gesehen hatte, lässt sich bei Haug selbst konstatieren. Es zeigt sich, dass seine Geste der Annäherung weder begründet noch in irgendeiner Form konkretisiert wird. Stattdessen ist auffällig, dass das konkurrierende Projekt völlig ignoriert wird, so dass sich die Frage stellt, ob Haugs Geste überhaupt ernst gemeint oder eher rhetorischen Zwecken angesichts des Vortragsortes geschuldet war.[31] Es wäre deshalb wünschenswert, dass Haug diese Geste begründet und konkretisiert oder eben Abstand von ihr nimmt - was allerdings schade wäre.

Paul Pop hat aus marxistischer Perspektive in der GRUNDRISSE (14/2005) darauf hingewiesen, dass es heute „nach dem alle Versuche eines Staatssozialismus gescheitert sind“, an der Zeit sei, „die Frage aufzuwerfen, ob sich die Widersprüche zwischen Kommunismus und Anarchismus“ relativiert hätten (2005, 35), wobei er zu dem Schluss kommt, dass die Frage heute nicht mehr „Anarchismus oder Sozialismus“, sondern „(Anarcho)Kommunismus oder Staatssozialismus“ sei (ebd. 46). Ob man Pop zustimmen mag oder nicht, der Zukunft eines linken Projekts würde der Versuch einer kritischen aber auch solidarischen Annäherung zwischen „feindlichen Brüdern“ sicherlich zugute kommen. Grundlage dafür muss aber sein, dass man den jeweils Anderen auch liest und in den eigenen Diskurs integriert. Floskelhafte Gesten allein können dies nicht ersetzen.

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Stirner, Max (1845): ‚Rezensenten Stirners.’ In. Ders. Parerga/Kritiken/Repliken. Nürnberg, 1986. S.147-205.

Weinbach, Heike (2003): „Anarchism is a Philosophy“ – Emma Goldman als Philosophin. In. Weinbach/Heinrichs/Wolf (Hg.). Die Tätigkeit der Philosophen. Beiträge zur radikalen Philosophie. Münster. S.178-187.

Wolf, Frieder Otto (2002): Radikale Philosophie. Aufklärung und Befreiung in der neuen Zeit. Münster.


[1] Die drei Aufsätze sind: Paul Pop. Rot-Schwarze Flitterwochen: Marx und Kropotkin für das 21.Jahrhundert (14/2005), Philippe Kellermann. Vom Geist und geistlosen Zuständen. Ein Versuch über den Anarchisten Gustav Landauer (17/2006), Torsten Bewernitz. Give the anarchists a theory. Renaissance des libertären Kommunismus? (24/2007). Dass der Aufsatz von Torsten Bewernitz dabei gespickt ist mit offenkundigen Unwahrheiten und irreführenden Suggestionen, sei hier nur am Rande bemerkt, aber anhand dreier ausgewählter Punkte erläutert. Es wird suggeriert, dass Bakunin nicht gegen das Privateigentum von Produktionsmitteln gewesen sei. Lesen wir nach: „Aber in allen Ländern bleibt das Ziel dasselbe: die Einführung der kollektiven Arbeit und des kollektiven Eigentums und die Freiheit eines jeden in der Gleichheit aller.“ (zit.n. Eckhardt 2004, 181; H.v.m.) 2. Es wird pauschal behauptet, dass Max Stirner Feind jeglichen Sozialismus sei. Stirner schreibt aber selbst, dass er „nicht gegen die Sozialisten, sondern gegen die heiligen Sozialisten“ sei (1845, 182; H.v.m.). 3. Der Anarchismus habe niemals das Problem des Ideologischen verstanden (wobei Bewernitz sich unausgesprochen mit seinem Hinweis auf Landauer selbst korrigiert und auch seine Ausführungen nicht gerade den Anschein erwecken, dass er über eine Ideologietheorie verfügt: er spricht nur von „Organisation“ und „Kontrolle“, also lustigerweise von Aspekten des Staatsapparats, die man mit Rückgriff auf Gramsci eher als repressive Funktionen bezeichnen würde). Und was lässt sich bei Alexander Berkman lesen: „Nun wodurch werden Regierungen am Leben erhalten? Durch Armeen und die Marine? Ja, aber auch nur scheinbar. Wodurch werden Armeen und Marine unterhalten? Es ist der Glaube der Menschen, der Massen, dass Regierung notwendig ist; es ist die allgemein akzeptierte Idee der Notwendigkeit einer Regierung. Das ist ihr wirkliches und dauerhaftes Fundament. Ohne diese Ideen oder diesen Glauben würde keine Regierung auch nur einen Tag länger bestehen.“ (1929, 2) Die Liste ließe sich fortsetzen.

[2] So z.B. Torsten Bewernitz oder Jürgen Mümken.

[3] Vgl. wie Bakunin die Rolle der Internationale versteht: „Die Internationale nimmt, von allen Unterschieden politischen oder religiösen Glaubens ganz absehend, alle ehrlichen Arbeiter in ihren Schoß auf unter der einzigen Bedingung, dass sie die Solidarität des Kampfes der Arbeiter gegen das die Arbeiter ausbeutende Bourgeoiskapital mit allen ihren Konsequenzen akzeptieren. (…) All diese Theorien mit noch vielen andern Nuancen sind schon heute in der Internationale vorhanden, aber solange keine derselben zur offiziellen Theorie proklamiert wird, sind diese Unterschiede in der Lehre und die sich daraus ergebenden friedlichen  Kämpfe im Schoß der Internationale selbst weit entfernt davon, ein Übel zu sein, sie sind, meine ich, etwas sehr Gutes, insofern als sie zur Entwicklung des Denkens und der spontanen geistigen Betätigung eines Jeden beitragen; sie können der Solidarität, welche die Arbeiter aller Länder vereinigen soll, keinen Abbruch tun, weil diese Solidarität nicht theoretischer, sondern ganz praktischer Art ist.“ (1872a, 798f.)

[4] Da Haug selbst auf eine Annäherung an den Anarchismus drängt, sehe ich mich nicht gezwungen im Folgenden meine Gründe, die ebenfalls für eine solche Annäherung sprechen, darzustellen. Dies sollte allerdings vor dem Hintergrund das sowohl Anarchismus als auch Marxismus ein emanzipatorisches Projekt verfolgen und nach der Geschichte des so genannten Realsozialismus auch selbstverständlich sein. Zurecht schreiben die HerausgeberInnen des Indeterminate! Kommunismus-Kongresses: „Kommunistische Politik muss das Bündnis mit allen fortschrittlichen gesellschaftlichen Gruppen und Einzelpersonen nicht nur deshalb suchen, weil dies die Chancen für den Erfolg gesellschaftsverändernder Praxis erhöht, sondern auch, um sich der Kritik an kommunistischer Theorie und Praxis zu stellen.“ (Demopunk/Kritik und Praxis 2005, 10)

[5] Exemplarisch habe ich dies am Beispiel Johannes Agnolis zu zeigen versucht (Kellermann 2009).

[6] Auf die Beziehung zwischen Bakunin und Netschajew, wie auch, dass sich Bakunin schließlich selbst von Netschajew abgrenzte, als er diesem schrieb, dass er, Netschajew, aufgrund seines „außerordentliche[m] Fanatismus (…) den Jesuiten“ näher stehen würden als „uns“ (1870, 58), geht Haug mit keinem Wort ein.

[7] Es ist erstaunlich wie ein ‚kritischer Marxist’ eine solch unkritische Marx-Lektüre betreiben kann. Dass die Texte von Marx (und Engels) aus den Jahren 1870-1873 voll absurdester Unterstellungen gegen ihre Gegner – und das heißt: die Mehrheit in der Internationale, sind, dürfte man eigentlich wissen (vgl. z.B. Brupbacher 1913, 90ff.; Mehring 1918, 431ff.; Eckhardt 2004). 

[8] Diese Position ist gerade bei jenen sehr beliebt, die Marx vom ‚Makel’ der Oktoberrevolution reinigen wollen. So beim Sozialdemokraten Blos (1920) oder beim Rätekommunisten Huhn, der Bakunin gleich noch zum Vorläufer des Faschismus erklärt (1939, 124). Vgl. auch Peter Sloterdijk, der meint, dass „in gewisser Weise (…) die Oktoberrevolution eine Rache Bakunins an Marx“ war (2008, 194) und Bakunins Denken als „Anarchofaschismus“ zu gelten habe (ebd.191). Es kann an dieser Stelle keine Diskussion dieser Positionen geleistet werden.  

[9] Zur Kritik am Begriff des „Bakunismus“ siehe Eckhardt 2004, 48f.. Vgl. auch Schrupp: Die Bezeichnung ‚Bakunisten’ sei „nicht nur irreführend, insofern damit der Person Bakunins zuviel Einfluss zugeschrieben wird, sondern auch, weil sie überhaupt das Vorhandensein einer gemeinsamen inhaltlichen Position unterstellt“ (1999, 190). Und Rolf Bigler hat in seiner Studie zum libertäten Sozialismus in der Westschweiz betont, dass Bakunin im Jura „eine selbständige Bewegung“ und „höchst selbstbewusste Leute“ antraf, die er, selbst wenn er dies gewollt hätte, „nicht nach seinem eigenen Gutdünken“ hätte „führen“ können (1963, 74). Bakunin selbst schrieb zum Abschied an seine Genossen der Juraföderation: „Seit wir uns vor vier und einem halben Jahr kennen lernten, habt Ihr trotz aller Kniffe unserer gemeinsamen Feinde und der infamen Verleumdungen, die sie gegen mich verbreitet, mir Eure Achtung und Freundschaft und Euer Vertrauen bewahrt. Ihr habt Euch nicht einmal durch die Bezeichnung »Bakunisten«, die sie Euch ins Gesicht schleuderten, einschüchtern lassen, da Ihr lieber dem Anschein nach abhängige als mit voller Gewissheit ungerechte Männer sein wolltet. Übrigens hattet Ihr immer, und zwar im hohem Grade, das Bewusstsein der Unabhängigkeit und vollständigen Spontaneität Eurer Ideen, Tendenzen und Taten, und die perfide Absicht unserer Gegner war so durchsichtig, dass Ihr deren verleumderische und verletztende Insinuationen nur mit der tiefsten Verachtung behandeln konntet.“ (1873a, 843f.)

[10] Der hier referierte Abschnitt ist Teil eines von Haug gehaltenen Vortrags in der Schweiz, 2002.

[11] Zur Kritik am marxistischen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit siehe Foucault 2001, 24f., der im Prinzip Bakunins Kritik (1873a, 614) wiederholt, und Heinrichs 2002, 116; zur Kritik an der „Tradition des wissenschaftlichen Marxismus“ siehe Holloway 2002, 138-160; für eine Kritik an Marxens und Engels Abrechnung mit dem „utopischen Sozialismus“ siehe Heyer 2006. Auf den Zusammenhang zwischen marxistischem „Bilderverbot“ und autoritären Praxen verweist Saage 1991, 333f..

[12] Das gilt in anderer Hinsicht auch für den innermarxistischen Diskurs. Wie soll ein gemeinsamer sozialistischer Horizont entstehen, wenn man dermaßen unnötig polemisch auf Kritiken und konkurrierende Marxinterpretationen reagiert, wie Haug beispielsweise gegenüber Michael Heinrich (Haug 2003c)? Es muss doch noch etwas jenseits einer „Harmonie der Guten“ und dem bloßen „Kampf um Stellen oder Marktanteile“ geben (Haug 2005b, 25).   

[13] Ähnlich betont Haug im Editorial von Das Argument 253, dass die zapatistische Praxis „für die sozialen Bewegungen der ganzen Welt wertvollste Anregungen“ enthalte (2003d, 779).

[14] Es darf darauf hingewiesen werden, dass schon Bakunin Marx der Sache nach Ökonomismus und eine unterkomplexe Revolutionstheorie vorwarf (1872b, 834). Im Übrigen zeigt sich an dieser Stelle wunderbar, wie Haug, den Einfluss des Anarchismus auf seinen Helden Gramsci (bewusst?) verschweigt. So hat Haug in seiner Einleitung zur Gramscis Philosohie der Praxis Gerhard Roths Buch über Gramsci als „sorgfältige Studie“ gelobt (1994, 1201). Nun betont aber gerade Roth die enge Affinität zwischen Sorel und Proudhon, wie er auch darauf verweist, dass die Gramscianische Vorstellung einer ‚intellektuell-moralischen Reform’ eine Übernahme eines Konzeptes Proudhons ist (1972, 136).

[15] In einem vom Dietz Verlag – der wohl kaum unter Anarchismusverdacht steht - herausgebrachten Buch beschwert sich der Autor sogar darüber, dass „2004 der 85.Todestag Landauers, der eigentlich ein Symbol für einen menschlichen Sozialismus sein sollte, so gut wie gar nicht thematisiert oder in irgendeiner Form erinnernd-vergegenwärtigend begangen wurde“, obwohl doch eine „selbstreflexive »Linke«“ auf dessen wichtigsten Werke „nur schwerlich verzichten“ könne (Heyer 2006, 78f.).

[16] Beispielhaft sei Volin angeführt: „Sie [die Organisation der Gesellschaft] darf nicht von einem vorher geschaffenen Zentrum ausgehen und sich dem Ganzen aufdrängen, sondern muss, umgekehrt, von allen Punkten des Ganzen aus ein Koordinatensystem von Knotenpunkten bilden, die als natürliche Zentren mit allen einzelnen Punkten verbunden bleiben (...) Während eine andere, einer alten Unterdrückungs- und Ausbeutungsgesellschaft nachgebildete >Organisation< (...) alle Fehler der alten Gesellschaft auf die Spitze treiben würde.“ (zit.n. Guerin 1967, 43)

[17] In diesem Sinn hat dann auch Paul Pop die anarchistische Kritik an Marx zu einer Art Missverständnis erklärt, wenn er meint, dass die Anarchisten viele wichtige Texte von Marx anscheinend nie gelesen hätten. An vielen Äußerungen von anarchistischer Seite lässt sich hingegen zeigen, dass diese die Marxschen Texte durchaus kannten, während von marxistischer Seite schnell eine ausgesprochen oberflächliche Auseinandersetzung mit dem Anarchismus einsetzte. Den Grund hierfür hat schon Marx selbst gelegt, wenn er Bakunins Vorstellungen schlicht zu „gedankenlose[n] Schwätzereien“ erklärte (1870, 409). Im Übrigen sollte man sich vielleicht mal überlegen, ob es nicht allein auf die Marxschen Texte ankommt, sondern auch auf das tatsächliche Verhalten Marxens – also marxistisch Marx zu analysieren (vgl. Marx/Engels 1845/46, 26). So haftet dann auch dem Versuch aus Marx anhand seiner Interpretation der Pariser Kommune einen Anarchisten zu machen etwas Groteskes an, wenn man mit keinem Wort erwähnt – Pop spricht diese Probleme durchaus an, dass diese Schrift (höchstwahrscheinlich) rein taktischer Natur war (vgl. Korsch 1931, 61f.). Bakunin hatte diese wie folgt kommentiert: „Die Wirkung davon [der Pariser Kommune] war überall eine so ungeheure, dass selbst die Marxianer, deren ganze Ideen durch diese Insurrektion umgestürzt waren,  sich verpflichtet sahen, den Hut vor ihr abzuziehen. Sie taten noch mehr: gegen die einfachste Logik und gegen ihre wahre Gefühle proklamierten sie, Programm [der Insurrektion] seien die ihren. Dies war eine wirklich possenhafte, aber gezwungene Verkleidung. Sie hatten das tun müssen, um nicht überflügelt und von allen verlassen zu werden; so mächtig war die bei allen von dieser Revolution hervorgerufene Leidenschaft gewesen.“ (1872b, 839) Man kann die Auseinandersetzung zwischen Anarchismus und Marxismus natürlich auch einfach leugnen, indem man schlichtweg behauptet (und damit offenkundig lügt), eine zu Marx alternative sozialistische Bewegung hätte nie existiert. So erstaunlich dreist Werner Schmidt, der, pikanterweise in der von Haug herausgegeben Zeitschrift ARGUMENT, behauptet: „Die europäische Arbeiterbewegung hat zwei grundverschiedene gesellschaftspolitische Projekte (…) hervorgebracht: ein dominierendes etatistisches Projekt, das in seinen beiden - sozialdemokratischen und kommunistischen – Varianten auch das einzige war, das die Chance hatte, realgeschichtlich umgesetzt zu werden [was Herr Schmidt so alles weiß!]; das andere, selbstemanzipatorische Projekt hat nur als Möglichkeit existiert, entweder als selbständiger theoretischer Entwurf oder als eine untergeordnete Tendenz innerhalb der etatistischen Varianten. Beide Projekte beriefen sich auf Marx, nur reklamierten sie nicht den gleichen Marx für sich.“ (1999, 316)

[18] Holloway 2003, 814.

[19] Holloway 2002, 71.

[20] Haug betont nur kurz, dass Marx, nur weil er so überzeugend wirkte, zum „einflussreichsten Intellektuellen der IAA geworden“ sei (2005b, 90). Marx war tatsächlich so ‚überzeugend’, dass er sich z..B. in der Frage nach der Rolle des Erbrechts nicht durchsetzen konnte und es nötig hatte, einen Kongress der Internationale (Den Haag 1872) in seiner Zusammensetzung zu manipulieren, um seine Linie in der Internationale und gegen deren Mehrheit durchzusetzen. Womit Marx, wie allgemein bekannt, auch die Zerstörung der Internationale in kauf nahm.

[21] Auf die Beteiligung anarchistischer Akteure an der Russischen Revolution verweisen zum Beispiel Guerin (1967, 82-109) und Degen/Knoblauch (2006, 123-138). Auch im Kontext der von Lenin aus der Rätebewegung übernommenen Parole „Alle Macht den Sowjets“ wird nicht darauf eingegangen, dass diese „bis dahin den Anarchismus gekennzeichnet hatte[.]“ (Volin zit.n. Guerin 1967, 85).

[22] Auch hier ist wieder auffällig: Während bei Peter Weiss anarchistische Frage- und Problemstellungen diskutiert werden und zu Wort kommen, z.B. in der Ästhetik des Widerstandes, ist bei Haug hiervon keine Spur. Fast hat es sogar den Anschein, dass die Rekonstruktion der „Linie Luxemburg-Gramsci“ Haug gerade von der Notwendigkeit entbindet von konkurrierenden emanzipatorischen Projekten jenseits des Marxismus sprechen zu müssen.

[23] Man erfährt lediglich von der Existenz einer „anarchisierenden Vera Sassulitsch, die mit Marx und Engels korrespondiert hatte“ (2005b, 262) und dass in Russland Ende des 19.Jahrhunderts „anarchistischer oder bauernsozialistischer Terror und Staatsterrorismus einander hochschaukelten“ (ebd. 257).

[24] Es bleibt ein weiteres Rätsel warum Haug in den von mir eingesehen Arbeiten niemals auf die Auseinandersetzungen zwischen Gramsci und den Anarchisten im Kontext der italienischen Rätebewegung zu sprechen kommt. Vor allem, da die - oftmals als utopisch diffamierten - Anarchisten dieser Zeit mit ihren Ansichten von manchem als „realitätsgerechter und weniger pathetisch“ als Gramsci beschrieben worden sind (Guerin 1967, 111). Weiter haben sowohl Agnoli (2001) als auch Levy (1999) auf den Einfluss des italienischen Anarchismus auf Gramsci aufmerksam gemacht.

[25] Siehe Mümken 2003, 58.

[26] Siehe Degen/Knoblauch 2006, 128.

[27] Siehe Guerin 1967, 87/88. 

[28] Siehe Guerin 1967, 113.

[29] Es ist beängstigend wie Haug, der sich doch als kritischer Marxist versteht und davon gesprochen hatte, dass nicht unkritisch an Marx anzuknüpfen sei (Versuche), autoritäre Verhaltensweisen von Marx immer wieder mit dem Argument auf seine intellektuelle Größe relativiert oder rechtfertigt. Obwohl Haug in den Versuchen noch von „abstoßenden Momenten von Marx“ („Unfähigkeit zur offenen Selbstkritik“, „geringe Fähigkeit zur Differenz“) gesprochen hatte, relativiert er diese gleichwohl mit dem Hinweis, dass es niemals in der Geschichte „ein harmonischer Vorgang“ gewesen sei, „wenn ein neues Denken auftauchte“ (2005b, 142). In der Vorlesung spricht Haug nur noch davon, „dass man hat glauben können, Marx sei unfähig zur Selbstkritik“ (2006, 32), ansonsten erfährt der/die LeserIn nur, dass Marx seinen Kontrahenten „so überlegen“ gewesen sei und dass nur der „Spießer“, der da er das neue Denken von Marx nicht begreift, Marx „Charakterfehler“ zuschreiben würde (ebd. 52). Sprich: Man darf gegen Marx eigentlich gar nichts sagen! Vgl. dagegen Bakunins Bemerkung, dass „da alle Theorien, insoweit sie  ausführliche und abgeschlossene Theorien sind, (…) in Wirklichkeit nie etwas anderes darstellen als den von dem Denken einiger auf das Denken Aller ausgeübten Despotismus – einen theoretischen Despotismus, der nie verfehlen wird, in praktischen Despotismus und Ausbeutung niederzuschlagen“ (1872a, 799).

[30] Um nur ein Beispiel zu nennen: Erich Mühsam wird, bei aller Kritik ein „moralisch eindrucksvoll[es] (...) politische[s] Programm“ attestiert (Wolf 2002, 71). Und in Die Tätigkeit der Philosophen findet sich ein ganzer Aufsatz, der, wenn auch nicht von Wolf selbst, aber als Beitrag zur radikalen Philosophie verfasst, sich mit der Anarchistin Emma Goldman befasst (Weinbach 2003).

[31] Der Schweizer Vortragsort befindet sich, wie Haug einführend betont, in der Nähe des Gebietes (Schweizer Jura), in der der Anarchismus sehr einflussreich war.

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