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Michael Wolf:
Die Organisierung des sozialen Krieges:
„Wenn wir
garantieren, dass jeder am Leben erhalten wird, der erst einmal geboren ist,
werden wir sehr bald nicht mehr in der Lage sein, dieses Versprechen zu
erfüllen.“
„Der Sozialstaat
wird nach und nach, ebenso unablässig wie konsequent, in einen ,Besatzungsstaat‘
umgewandelt […] – einen Staat, der zunehmend die Interessen globaler,
transnational operierender Unternehmen schützt, ,während er zugleich den Grad
der Repression und Militarisierung an der Heimatfront steigert‘.“
I Schon immer ist Arbeitslosigkeit Gegenstand politischer Kämpfe und öffentlicher Dispute gewesen – und dies hinsichtlich wenigstens zweier Momente. Das erste Moment ist bezogen auf die Frage nach der Existenz von Arbeitslosigkeit, thematisiert also deren Definition und Verursachung. Das heisst, es fragt danach, was unter Arbeitslosigkeit zu verstehen ist und von wem, den Käufern oder den Verkäufern von Arbeitskraft, Arbeitslosigkeit verursacht wird. Indem es die Frage nach der Bewertung von Arbeitslosigkeit aufwirft, ist das zweite Moment hingegen normativer Art. Von zentraler Bedeutung ist hier, ob Arbeitslosigkeit positiv oder negativ konnotiert und damit in der Konsequenz als ein Problem begriffen wird, das gesellschaftlich und politisch als inakzeptabel gilt und deswegen beseitigt oder doch zumindest entschärft werden soll. Dieser eigentlich recht triviale Sachverhalt, dass Arbeitslosigkeit nicht ,an sich‘ existiert, sondern sozial konstruiert und definiert wird, wenn auch mit Rückbezug auf ,objektive‘ soziale Phänomene[2], führt dazu, dass erst im politischen Prozess auf der Basis von Machtstrukturen und gegensätzlichen Interessenlagen in einem stets prekären und instabilen Interessenkompromiss entwickelt und selektiv festgelegt wird, ob überhaupt und in welcher Art und Weise Arbeitslosigkeit auf der politischen Agenda als Gegenstand erscheint.[3] Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass – je nach Zeitgeist – nicht nur Arbeitslosigkeit, sondern auch die Arbeitslosen selbst unterschiedlich wahrgenommen und beurteilt werden.[4] Als Mitte der 1970er Jahre die Arbeitslosigkeit erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland die Millionengrenze überschritt und sich deren Verstetigung auf hohem Niveau allmählich abzuzeichnen begann[5], galten die meisten Arbeitslosen als „echte Arbeitslose mit einem schweren Schicksal“ (Uske 1995: 216), denen die Politik durch Maßnahmen zur Wiederherstellung von Vollbeschäftigung zu helfen suchte. Gut 30 Jahre später hat sich der Blick auf Menschen ohne Arbeit gewandelt. Waren vormals die ,unechten‘ Arbeitslosen, das heisst die Arbeitslosen, von denen angenommen wird, dass sie eigentlich arbeiten könnten, es aber nicht wollten[6] und statt dessen lieber Transfereinkommen beziehen, eine Minderheit, der die ,echten‘ Arbeitslosen gegenüberstanden, rückten nunmehr in Politik und Medien und zunehmend auch in der Wissenschaft die Arbeitslosen als Menschen in den Vordergrund, denen es nicht an Arbeit fehle, sondern die etwas erhielten, das ihnen an und für sich nicht zustünde: nämlich staatliche Unterstützungsleistungen. Die Folgen hiervon seien desaströs, weil sie bei den Betroffenen Passivität fördere und Eigenaktivität mindere[7], so dass diese sich letztlich mit ihrer „nicht sehr komfortablen, aber erträglichen“ (Kocka 2006) materiellen Situation abfänden und eine Art und Weise der Lebensführung herausbildeten, mit der der ,anständige‘ Bürger partout nichts zu tun haben will, weil sie unzivilisiert sei und eine Bedrohung der bürgerlichen Werteordnung mit ihren Sekundärtugenden wie Fleiß, Ordentlichkeit, Pflichtbewusstsein, Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit und Beständigkeit darstelle. Dass die veränderte Wahrnehmung der Arbeitslosen in der seit etwa dem Jahr 2004 forciert geführten Debatte über die „neue Unterschicht“[8] kulminierte, deren „einziger Ehrgeiz oft im professionellen Missbrauch von Sozialleistungen“ bestehe, so Draxler (2006) in einem Bild-Kommentar Vorurteile produzierend und reproduzierend, verwundert daher nicht. Im Gegenteil. Liest man diese Debatte als ein diskursives Element des Projektes der neoliberalen Rekonstruktion der Gesellschaft, so lässt sie sich mühelos als klassenpolitische Komplementärdebatte zur sozialpolitischen Missbrauchsdebatte begreifen, die vom seinerzeitigen Bundeskanzler Gerhard Schröder mit den Worten: „Wer arbeiten kann, aber nicht will, der kann nicht mit Solidarität rechnen. Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft!“, im April 2001 angezettelt wurde und die ihren vorerst letzten traurigen Höhepunkt im Mai 2005 fand, als in einer unsäglichen, vom vormaligen Wirtschafts- und Arbeitsminister Wolfgang Clement gewissermaßen regierungsamtlich zu verantwortenden und bis heute andauernden Missbrauchskampagne Arbeitslose in einem als „Report vom Arbeitsmarkt im Sommer 2005“ bezeichneten Pamphlet pauschal der „Abzocke“ (BMWA 2005: passim) bezichtigt und expressis verbis als „Parasiten“ (ebd.: 10) bezeichnet wurden. Unter Berufung auf den BMWA-Report hetzte sodann im Herbst des gleichen Jahres zunächst das Boulevardblatt Bild, Deutschlands auflagenstärkste Tageszeitung, unter der Überschrift „Die üblen Tricks der Hartz-IV-Schmarotzer! … und wir müssen zahlen“ gegen hilfebedürftige Arbeitslose, die auf den Bezug von Arbeitslosengeld II zur Sicherung ihrer Existenz angewiesen sind. Eine Woche später griff der Spiegel mit der Titelgeschichte „Hartz IV: Das Spiel mit den Armen. Wie der Sozialstaat zur Selbstbedienung einlädt“ das Thema auf in dem für ihn typischen ,seriösen Stil‘ für ,gehobene Leserschichten‘. Seither hat die Thematik auf der Tagesordnung der Medien einen prominenten Stellenwert eingenommen, wofür neben der TV-Serie „Sozialfahnder“ des kommerziellen Senders SAT.1 die im Frühjahr und Herbst des Jahres 2008 erneut von Bild inszenierte Hetze gegen Arbeitslose spricht, mit der diese nicht nur für ihr Schicksal, arbeitslos zu sein, selbst verantwortlich gemacht, sondern auch pauschal bezichtigt wurden, sich „vor der Arbeit zu drücken“, sprich ,arbeitsscheu‘ zu sein, und den „Staat zu bescheißen“. Nun weiß, zumindest ahnungsweise, ein jeder, selbst der sogenannte ,kleine Mann‘ von der Straße, dass den Aussagen lügen- oder dummheitsträchtiger Sinnsysteme wie denen der Politik oder der Medien hinsichtlich ihres Wahrheitsgehalts nur bedingt Glauben zu schenken ist. Für die Wissenschaft als eines mit Nachdruck um Wahrheit bemühten Sinnsystems gilt diese Skepsis in besonderer Weise, so sie nicht zur Magd irgendwelcher Interessen verkommen ist. Das heisst, dass Wissenschaft, die man mit Elias als „Mythenjägerin“ bezeichnen kann (vgl. Elias 1981: 51ff.), aufgefordert ist, die in einer Gesellschaft vorherrschenden Kollektivvorstellungen zu hinterfragen und gegebenenfalls zu verwerfen, wie sehr sie sich auch auf irgendwelche vermeintlichen Autoritäten zu stützen vermögen. Wenn sie dies mit Blick auf den Sozialleistungsmissbrauch und diejenigen tut, die ihn begehen, dann ist sie zunächst mit dem Sachverhalt konfrontiert, dass zwischen der Realität des Sozialleistungsmissbrauchs und seiner öffentlichen Thematisierung eine erhebliche Diskrepanz existiert, der es im folgenden nachzuspüren gilt (s. Abschnitt III). Ist die benannte Diskrepanz erst einmal als Ausdruck einer Inszenierung und Dramatisierung erkannt, wirft dies nahezu zwangsläufig die Frage nach dem Warum beziehungsweise dem Cui bono der Dramatisierung des Sozialleistungsmissbrauchs auf. Dieser wird gewöhnlich, so auch hier, auf der Ebene der ,Oberflächenstruktur‘ nachgegangen (IV). Allerdings sollte Wissenschaft bei der Analyse des in Rede stehenden Problems sich damit nicht begnügen, sondern versuchen, zu dessen ,Tiefenstruktur‘ vorzudringen (V). Bevor ein solcher Versuch im folgenden unternommen wird, scheint es angezeigt, den Ausführungen einige Bemerkungen zu der Vokabel ,Schmarotzer‘ vorwegzuschicken, da sie beziehungsweise deren mit ,sozial‘ gebildetes Kompositum sowohl in der Debatte über die „neue Unterschicht“ als auch in der über den Sozialleistungsmissbrauch mit besonderer Vorliebe als Schmähwort im politischen Machtkampf benutzt wird (II). II Wenn Sprache Denken zu dessen Schaden verführt, so liegt dies weniger an der Sprache, sondern mehr an dem Denken, das dumm genug ist, sich verführen zu lassen. Dieser Einsicht folgend, ist man stets gut beraten, einen kritisch reflektierten Umgang mit Sprache zu pflegen, das heisst, sich der Mühe des zweiten Blicks zu unterziehen. Dies steht mit Bezug auf die Vokabel ,Schmarotzer‘, bei der es sich bekanntlich um eine Verdeutschung von ,Parasit‘ handelt, auch hier an, um deutlich zu machen, dass a) ,Parasit‘ ursprünglich eine neutrale Bedeutung besaß, dass b) es kein Leben ohne Parasiten gibt und dass c) es eine Frage der Perspektive ist, wer eigentlich ein Parasit ist. Ad a) Ursprünglich, das heisst zu Zeiten der attischen Demokratie, bezeichnete man mit ,Parasit‘ einen von der Gemeinde gewählten hochgeachteten Beamten, der an der Seite (pará) des Priesters am Opfermahl teilnahm und mit diesem gemeinsam Speisen (sĩtos) einnahm. Erst später erhielt die zunächst wertfreie Bedeutung ,Tischgenosse‘ (parasitus) einen abwertenden Beigeschmack: Aus dem wegen seiner Verdienste um das Gemeinwesen auf Staatskosten gespeisten Mann wurde die Figur des ungebetenen Gastes, der sich als Schmeichler auf Kosten seines Wirtes eine freie Mahlzeit zu verschaffen suchte.[9] Im Sinne des ,auf Kosten anderer leben‘ wird die Vokabel bis heute gebraucht, wobei allerdings die Formen, in denen Parasiten beziehungsweise Schmarotzer vorkommen, entsprechend der jeweiligen Kultur, Wirtschaftsweise und Herrschaftsordnung verschieden sind. Sie erstrecken sich vom ,Energieparasitismus‘, das heisst dem Aufbrauchen fossiler Energievorräte zu Lasten künftiger Generation, über den ,Bevölkerungsparasitismus‘, das heisst dem explosiven Wachstum der Weltbevölkerung auf Kosten anderer Lebewesen, bis hin zum ,Sozialparasitismus‘, der uns in der Figur des „Sozialschnorrers“ (Schmölders 1973) beziehungsweise des „Sozialschmarotzers“ entgegentritt, der im allgemeinen als eine Person begriffen wird, die sich Einkommensvorteile verschafft durch den Bezug von wohlfahrtsstaatlichen Unterstützungsleistungen, ohne dass diesen Leistungen eine entsprechende Gegenleistung gegenübersteht.[10] Ad b) Spätestens mit dem Einzug des Begriffs des Parasiten in die Naturwissenschaften und der Entstehung einer eigenen Disziplin, der Parasitologie, zeigte sich, dass es kein Leben ohne Parasiten gibt. Im biologischen Sinne ist ein Parasit ein Lebewesen, das sich bei seinem Wirt aufhält, mit diesem allerdings nicht wie ein Symbiont in einer Symbiose, das heisst zum gegenseitigen Nutzen lebt, ihn aber auch nicht wie ein Raubtier tötet und verzehrt, sondern sich von ihm nur auf eine Art und Weise ernährt, die sicherstellt, dass dieser zumindest nicht kurzfristig zugrunde geht. Mit anderen Worten: Ein Parasit schädigt seinen Wirt, ohne ihn im allgemeinen zu töten. Es gibt Parasiten unter den Bakterien, den Pflanzen, den Tieren – und selbstredend auch unter den Menschen. In Anspielung auf Hobbes’ „Der Mensch ist ein Wolf für den Menschen“ (Hobbes 1966: 59)[11] veranlasste dies Serres zu dem Bonmot: „Der Mensch ist des Menschen Laus.“ (Serres 1987: 14) Bedauerlicherweise hat die Erkenntnis, dass es kein parasitenfreies Leben gibt, nicht wesentlich die Einsicht befördert, dass die Verwirklichung des Traums von absoluter Reinheit etwas Totalitäres an sich hat und letztlich den Tod allen Lebens nach sich zieht, obwohl dies jedem seit dem Aufkommen der nationalsozialistischen Idee von der Reinheit der Rasse und deren barbarischen Folgen klar sein müsste.[12] Ad c) Wenn menschliche Parasiten als Personen betrachtet werden, die von den Früchten anderer schmarotzen, dann ist unklar, wer eigentlich von dieser Charakterisierung betroffen ist. Zwar sind im massenmedial geprägten Bild der öffentlichen Meinung es zumeist diejenigen, die ein Einkommen beziehen, ohne hierfür arbeiten zu müssen, nämlich die ,unechten‘ Arbeitslosen: die „Arbeitsunwilligen“, „Drückeberger“, „Faulenzer“, „Müßiggänger“, die „Sozialschmarotzer“ eben. Für Saint-Simon, den Frühsozialisten, und viele andere in seiner Nachfolge[13] war indes klar, dass dieses Bild eine „verkehrte Welt“ darstelle, weil diejenigen, die damit betraut sind, die öffentlichen Angelegenheiten zu verwalten, die eigentlichen, wirklichen Parasiten seien. Denn sie beraubten die am „wenigsten Begüterten eines Teiles des Notwendigsten“, um den Reichtum der Reichen zu vermehren, und sie seien beauftragt, die „kleinen Vergehen gegen die Gesellschaft unter Strafe zu stellen“. Mit einem Wort: Die „unmoralischsten Menschen sind berufen, die Bürger zur Tugend zu erziehen, und die großen Frevler sind bestimmt, die Vergehen der kleinen Sünder zu bestrafen.“ (Saint-Simon 1970: 162) So gesehen dienen projektive Parasitenvorwürfe, ganz nach dem Motto „Haltet den Dieb!“, auch dem Verschleiern der Frage, wer eigentlich wen ausnutzt und missbraucht. Wenn also, soviel sollte selbst bei den wenigen Hinweisen deutlich geworden sein, Vorsicht geboten und Nachdenken angezeigt ist beim Aufscheinen der Vokabel ,Parasit‘ im politischen Sprachgebrauch, dann gewinnt unter Umständen auch der „Sozialschmarotzer“ und das Ausmaß des ihm von Politik und Medien angelasteten Sozialleistungsmissbrauchs eine etwas andere Kontur. Vor diesem Hintergrund empfiehlt es sich, sich dem Phänomen des Sozialleistungsmissbrauchs detaillierter zuzuwenden. III Obwohl der „Report“ des BMWA über den Umfang des Sozialleistungsmissbrauchs keine Angaben enthält, wird von diesem wie auch in den Medien auf der Grundlage eines gewollt unklaren Missbrauchsbegriffs durch eine unzulässige und tendenziöse Verallgemeinerung besonders spektakulärer Fälle[14] von Sozialleistungsmissbrauch in der Öffentlichkeit der Eindruck erweckt, eine große Anzahl, jeder fünfte, so Wolfgang Clement (zit. nach: Köhler 2005), der Arbeitslosengeld-II-Bezieher erhielte zuviel oder zu Unrecht Sozialleistungen.[15] Das heisst nun nicht, dass es Sozialleistungsmissbrauch nicht gäbe. Allerdings ist, erstens, nicht alles Missbrauch, was Missbrauch genannt wird[16], so das Ausschöpfen eines Rechtsanspruchs zum eigenen Vorteil durch die rechtlich zulässige Auslegung einer unklaren Rechtsnorm. Auch sogenannte Mitnahmen, „unter schlitzohriger Ausnutzung aller Sozialangebote“ (Kaltenbrunner 1981b: 22), wie es Wohlfahrtsstaatskritiker zu formulieren pflegen, stellen keinen rechtswidrigen Leistungsbezug dar, sondern sind allenfalls unter dem Aspekt der moralischen Legitimität zu bewerten.[17] Zudem ist, zweitens, zu vermerken, dass Sozialleistungsmissbrauch im juristischen Sinne einer rechtswidrigen Inanspruchnahme von Leistungen sowohl die Folge betrügerischen[18] Handelns der Leistungsempfänger sein kann als auch Folge administrativen Fehlverhaltens seitens der Leistungsträger. Letzteres liegt beispielsweise dann vor, wenn es zu Überzahlungen kommt auf Grund vom Leistungsträger verschuldeter Fehlberechnungen oder Verzögerungen im Verwaltungsablauf. Missbrauch seitens der Leistungsträger ist jedoch nicht bloß Folge von Fahrlässigkeit, sondern kann auch auf Grund vorsätzlichen Handelns gegeben sein. Dies ist dann der Fall, wenn die Leistungsträger ihren Informations-, Beratungs- und Unterstützungspflichten nicht nachkommen und Rechtsvorschriften missachten, in der Absicht, erwerbsfähige hilfebedürftige Arbeitslose aus dem potenziellen wie aktuellen Leistungsbezug „auszufördern“, wie es im Behördenjargon unverblümt heisst. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang mit Bezug auf die Verwaltungspraxis der Grundsicherungsträger die Kritik des Bundesrechnungshofs, der moniert, dass etliche der Grundsicherungsträger gegen die gesetzlich auferlegte Pflicht, erwerbfähige Hilfebedürftige umfassend zu betreuen, verstießen, indem sie bei „Personen mit multiplen Vermittlungshemmnissen“ auf ein Case-Management verzichteten, weil sie es für wirtschaftlicher hielten, „sich um integrationsnahe Arbeitslose zu kümmern“ (BRH 2008: 4,12). Zugleich stellt er unmissverständlich fest: „Solange der Status der Erwerbsfähigkeit als leistungsbegründendes Merkmal für das Arbeitslosengeld II bejaht wird, verstösst ein fehlendes Fallmanagement [...] nach Auffassung des Bundesrechnungshofes gegen wesentliche Ziele der Grundsicherung.“ (ebd.: 14) Auch war die überwiegende Zahl der Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigungen[19], also der sogenannten Zusatz- oder Ein-Euro-Jobs, zu beanstanden[20]: So war bei zwei Drittel mindestens eine Förderungsvoraussetzung nicht erfüllt. Das heisst, in vier Fünftel der beanstandeten Maßnahmen waren die Tätigkeiten nicht zusätzlich, da sie reguläre Aufgaben eines öffentlichen Trägers betrafen und normale Arbeitskräfte einsparen oder einen haushaltsbedingten Personalmangel ausgleichen sollten. Und bei der Hälfte der beanstandeten Maßnahmen waren die Tätigkeiten auch nicht im öffentlichen Interesse, weil ihr Nutzen nur einem stark eingeschränkten Personenkreis zugänglich war. Außerdem wurden in drei Fünftel der Fälle Maßnahmekostenpauschalen von mindestens 200 Euro pro Monat und Teilnehmer gezahlt, obwohl keine nennenswerten Aufwendungen seitens der Maßnahmeträger erkennbar waren. (vgl. ebd.: 17f.) Dass der in der Öffentlichkeit erweckte Eindruck, der Missbrauch von Sozialleistungen sei geradezu ein Massenphänomen, mit der Realität nicht im Geringsten übereinstimmt, belegen, wenn auch diesbezügliche systematische, empirische Analysen „bislang ausgesprochen rar“ (Lamnek et al. 2000: 13) sind, sowohl ältere international vergleichende (vgl. Henkel/Pawelka 1981) wie auch neuere nationalstaatlich fokussierte (vgl. Martens 2005; Trube 2003: 195) empirische Untersuchungen. Die Größenordnung des Missbrauchs bewegt sich hier in einer Schwankungsbreite von einem bis, im Extrem, zehn Prozent. Im Durchschnitt geht man von drei Prozent aus. Selbst die Bundesagentur für Arbeit kommt auf der Grundlage des von ihr vierteljährlich durchgeführten automatisierten Datenabgleichs, mit dem geprüft wird, ob Arbeitslose anderweitige Transferleistungen beziehen, einer Beschäftigung nachgehen oder andere Einkünfte haben, zu dem Ergebnis, dass bei noch nicht einmal drei Prozent aller Arbeitslosengeld-II-Fälle Sozialleistungsmissbrauch vorliege und dass hiervon bei lediglich knapp 40 Prozent der Verdacht auf Vorliegen einer Ordnungswidrigkeit oder Straftat bestehe. (vgl. Spiegel-Online vom 20. 06. 2006) Zudem gilt es zu beachten, dass Sozialhilfeempfänger, entgegen dem sozialpolitischen Stereotyp, faule „Sozialschmarotzer“ zu sein, sich auch durch Annahme gering entlohnter Tätigkeiten darum bemühen, ihre materielle Situation zu verbessern und unabhängig von staatlichen Zuwendungen zu werden (vgl. Gebauer et al. 2002: passim). Vergleichbares ergab auch eine kürzlich publizierte DIW-Studie, in der resümierend festgestellt wird, „dass die meisten Arbeitslosen nicht wählerisch sind, wenn es darum geht, in einen Job zu kommen“ (Brenke 2008: 684). Mit anderen Worten: Sozialleistungsmissbrauch kommt zwar vor, aber er ist verschwindend gering und rechtfertigt in keiner Weise, hilfebedürftige Arbeitslose pauschal dem Verdacht auszusetzen, skrupellose Betrüger zu sein. Dass diese Wertung mehr als berechtigt ist, wird vor allem dann deutlich, wenn man den Sozialleistungsmissbrauch in Beziehung setzt zur „verdeckten Armut“, das heisst zur Nichtinanspruchnahme von zustehenden Sozialleistungen auf Grund gesellschaftlicher und administrativer Schwellen[21], die erst überwunden werden müssen, bevor aus den Anspruchsberechtigten auch tatsächliche Leistungsbezieher werden (vgl. Leibfried 1976). So weisen Daten für die Bundesrepublik Deutschland aus, dass etwa nur 50 Prozent der Anspruchsberechtigten tatsächlich Leistungen in Anspruch nehmen. (vgl. Becker 1996: 6; Henkel/Pawelka 1981: 67; Becker/Hauser 2005: 16ff.) Noch marginaler erscheint der Sozialleistungsmissbrauch, vergleicht man den durch ihn angerichteten monetären Schaden mit dem von anderen Missbrauchstatbeständen wie zum Beispiel Subventionsbetrug oder Steuerhinterziehung: Er beträgt nur etwa sechs Prozent hiervon (vgl. Lamnek et al. 2000: 69) und ist insofern lächerlich gering. Dies verdeutlicht eindringlich auch Oschmianskys Feststellung: „Selbst wenn alle Leistungsempfänger [von Arbeitslosengeld und -hilfe; M.W.] ,Arbeitsverweigerer‘ wären, ihre Leistungen entsprechend missbräuchlich in Anspruch genommen hätten, betrüge der ,Schaden‘ gerade 28 Prozent des Schadens durch Schwarzarbeit .“ (Oschmiansky 2003: 15). So wie die Frage des Missbrauchs von Sozialleistungen nicht losgelöst betrachtet werden kann von den gesetzlichen Leistungsversprechen, sprich Anspruchsberechtigungen, einerseits und der tatsächlichen Einlösung dieser Versprechen, sprich Anspruchsrealisierung, andererseits, so gehört zur Beantwortung der Frage des Sozialleistungsmissbrauchs nicht nur die Berücksichtigung des Legalitätsaspekts, sondern auch des Legitimitätsaspekts des Missbrauchs, bei dem es um die Gründe geht, die einen Verstoß gegen rechtlich codierte Normen zu einer subjektiv-sinnvollen und damit legitimen Verhaltensalternative machen. Sollten zum Beispiel aus einer willkürlichen Verwaltungspraxis offensichtliche oder auch bloß scheinbare Ungerechtigkeiten resultieren, so ist durchaus denkbar, dass dies bei den Betroffenen die Bereitschaft fördert, die subjektiv wahrgenommene Gerechtigkeitslücke eigenmächtig durch Sozialleistungsmissbrauch zu schließen (vgl. Lamnek et al. 2000: 22).[22] Das Problem der Gerechtigkeitslücke stellt sich selbstredend auch angesichts der Tatsache, dass Personen des öffentlichen Lebens häufig, gemessen am Umfang der von ihnen hinterzogenen Steuern, vergleichsweise gering bestraft werden oder sogar straffrei ausgehen, weil die Steuerbehörden auf eine Strafverfolgung verzichten, da sie den unter Umständen immensen Aufwand juristischer Verfahren scheuen.[23] Zudem muss gesehen werden, dass in einer Gesellschaft, in der als Folge der Universalisierung des Marktes und des Wettbewerbs geradezu eine Ellenbogenmentalität zur Durchsetzung der eigenen Interessen gefordert wird, gemeinwohlorientiertes Handeln nicht prämiiert wird. Wenn jeder angehalten wird, im alltäglichen Konkurrenzkampf, sei es in der Schule, am Arbeitsmarkt oder im Betrieb, das Beste für sich herauszuholen, dann erscheint auch der Sozialleistungsmissbrauch als eine rationale und legitime Handlungsweise zur Erweiterung des eigenen finanziellen Handlungsspielraums, zumal das Streben nach Verbesserung der eigenen ökonomischen Situation durchaus gesellschaftlich anerkannt ist, ja sogar als Motor der Wirtschaft angesehen wird. Vor diesem Hintergrund wird dann auch eher verständlich, was Arbeitslose motiviert, sich öffentlich als „Sozialschmarotzer“ zu bekennen: Es ist Ausdruck einer Rationalisierungsstrategie, mittels deren die erfolglose Arbeitsuche und immer bedrohlichere Aussichtslosigkeit bewältig wird, indem man nämlich sein Handeln zur Überwindung der Zwangslage, in der man sich befindet, als „Ergebnis ökonomischer Rationalität und sogar besonderer individueller Schläue“ (Zilian/Moser 1989: 50) darstellt. Insofern gibt es auch eine Parallele zu denjenigen, die mit Hilfe von bezahlten Beratern alle Spielräume, negativ formuliert: Schlupflöcher, der Steuergesetzgebung nutzen – nur mit dem kleinen, aber feinen Unterschied, dass diesen gegenüber keineswegs der Vorwurf erhoben wird, sie würden sich Vorteile erschleichen. Im Gegenteil, in den Medien spricht man fast mit Bewunderung von der „,Cleverness‘ solcher Leute“ (Henkel/Pavelka 1985: 319) IV Dass der Sozialleistungsmissbrauch sowohl von den seinerzeitigen als auch den derzeitigen politisch Verantwortlichen so dramatisiert wird, obwohl diesen das tatsächliche Missbrauchsausmaß hinlänglich bekannt ist[24], hat seinen tieferen Grund und lässt auf nicht ausgewiesene Interessen schließen. Hierbei kann gewissermaßen zwischen zwei Schichten unterschieden werden: der schon irgendwie verständlichen Sinnschicht der Oberfläche und der dem unmittelbaren Zugriff verschlossenen Sinnschicht der ,Tiefenstruktur‘, auf die sich die Erscheinungsformen der ,Oberflächenstruktur‘ letztlich zurückführen lassen.[25] Setzt man an der ,Oberflächenstruktur‘ an, so ist allem voran selbstverständlich zu nennen, dass den Gegnern des Wohlfahrtsstaats jegliches Mittel recht ist, diesen insgesamt als ,zu teuer‘, ,zu ineffizient‘, als ,nicht wirksam und zielgenau‘, als ,wachstumsschädigend‘, als im Grunde ,überflüssig‘ zu diskreditieren, um dadurch die gesellschaftliche Akzeptanz für ihn zu minimieren – ein Motiv, das die immer wiederkehrenden Debatten über den Wohlfahrtsstaat seit seinen Anfängen, sei es in seiner Entstehungsphase, sei es in seiner Expansionsphase, begleitete, wie ein Blick in dessen Geschichte zu zeigen vermag.[26] Vor dem Hintergrund der durch die Massenarbeitslosigkeit mitbedingten höchst prekären Finanzlage der öffentlichen Haushalte zielt die Missbrauchskampagne mit ihrer Begründung, den Wohlfahrtsstaat nicht abschaffen, sondern durch Modernisierung sichern zu wollen[27], insbesondere darauf ab, Zustimmung zu erheischen für die Durchsetzung restriktiverer Kontrollmaßnahmen und für ein weiteres Zurückschneiden wohlfahrtsstaatlicher Leistungen. Über die genannte ideologische Flankierung des Abbaus des Wohlfahrtsstaats hinaus vermutlich nicht minder bedeutsam einzuschätzen ist das Bemühen der politisch Verantwortlichen, sowohl von den wirklichen Ursachen und Verursachern der Arbeitsmarktkrise als auch vom eigenen Versagen, das heisst von den Misserfolgen der betriebenen Arbeitsmarktpolitik oder anderer damit in Zusammenhang stehender unzureichender Reformaktivitäten, abzulenken. Erinnert sei hier nur an das bis heute uneingelöste Versprechen der damaligen rot-grünen Bundesregierung anlässlich der Übergabe des Schlussberichts der Hartz-Kommission, die Anzahl der Arbeitslosen in drei Jahren um zwei Millionen zu verringern (vgl. Handelsblatt vom 08. 08. 2002). In die gleiche Richtung zielt auch der BMWA-Report, der eine sachlich-objektive und kritische Betrachtung des Arbeitsmarkts und der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik möglichst zu durchkreuzen trachtet, indem er den „Arbeitsmarkt im Sommer 2005“ als nur von „Sozialschmarotzern“ bevölkert beschreibt. Indem von den Arbeitslosengeld-II-Beziehern ein Bild als „Müßiggänger“ gezeichnet wird, die auf Kosten der Allgemeinheit ein angenehmes Leben führen und dabei den Staatshaushalt ruinieren, wird zudem von der tatsächlich armseligen Lage der Hartz-IV-Betroffenen abgelenkt, die sich seit der mit dem SGB II vollzogenen organisatorischen Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe nicht verbessert, sondern, von Ausnahmen abgesehen, verschlechtert hat, und zwar um bis zu 18 Prozent, je nachdem, ob die Analyse der dadurch entstandenen Einkommensverteilungseffekte auf der Basis der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe oder des Sozio-ökonomischen Panels erfolgt. (vgl. Becker/Hauser 2006) Gleichsam spiegelbildlich zur Dethematisierung der arbeitsmarktpolitischen Misserfolge stellt die Missbrauchskampagne schließlich darauf ab, hilfebedürftige Arbeitslose als Subjekte ohne jeglichen Sinn für Verantwortung darzustellen, und zwar sowohl gegenüber sich selbst als auch gegenüber der Gesellschaft. Einerseits werden nämlich die Opfer der Arbeitsmarktkrise in der Weise einer Blaming-the-victim-Strategie zu deren Tätern umdefiniert, indem man ihnen vorhält, sie allein trügen Schuld an ihrer Situation, weil ein jeder, der Arbeit suche, auch welche finde. Das heisst, die Ursache von Arbeitslosigkeit wird nicht in den kapitalistischen Ausbeutungs- und Aneignungsverhältnissen gesehen, sondern, der Denktradition Mandevilles[28] folgend, begriffen als Resultat einer moralischen Fehlhaltung: dem mangelnden Willen zur Arbeit[29]. Ein völlig absurdes Argument, das allein schon durch die seit drei Jahrzehnten existierende Massenarbeitslosigkeit Lügen gestraft wird. Wäre Arbeitslosigkeit wirklich, wie von den Gegner des Wohlfahrtsstaats gebetsmühlenhaft immer wieder behauptet, Ausdruck von Arbeitsunwilligkeit, müssten in der Bundesrepublik Deutschland regionale Faulheitszonen existieren und die Erwerbstätigen von konjunkturellen Faulheitszyklen befallen werden.[30] Zudem müsste, wenn die Behauptung sich als zutreffend erweisen sollte, dass Arbeitsunwillige durch zu hohe Transferleistungen verleitet würden, von Beschäftigung in Arbeitslosigkeit zu wechseln, eine positive Korrelation von Massenarbeitslosigkeit und massenhaften Kündigungen von Beschäftigungsverhältnissen bestehen. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Denn in der Arbeitsmarktkrise nehmen Kündigungen ab und nicht zu. Zu Tätern werden die Arbeitslosen aber auch andererseits, weil sie durch ihr vermeintlich verantwortungsloses Handeln sich gemeinschaftsschädlich verhielten, insofern die von ihnen beanspruchten wohlfahrtsstaatlichen Unterstützungsleistungen einen kostspieligen Wettbewerbsnachteil im Rahmen der globalisierten Standortkonkurrenz der Nationalstaaten darstellten.[31] Hier kommt der Missbrauchskampagne die Funktion zu, von den Arbeitslosen ein Feindbild[32] zu produzieren, wodurch die Bevölkerung in eine herrschende Majorität der ,Leistungsbürger‘ und eine diskriminierte Minorität der ,Anspruchsbürger‘ gespalten und ein gesellschaftliches Klima der „Entsachlichung und normativen Dichotomisierung von Problemen“ (Prisching 2003: 231) erzeugt wird. In einem derartigen Klima, das geeignet ist, Aggressionsbarrieren zu schwächen und Tatbereitschaften aufzubauen und abzurufen[33], bedarf es keiner schriftlich fixierten Dienstanweisung mehr, um die Mitarbeiter der Arbeitsverwaltung, die längst zu einem der Orte der Realisierung der conditio inhumana mutiert ist, auf den Grundsatz zu verpflichten, die soziale Ausgrenzung der das Gemeinwohl schädigenden Arbeitslosen voranzutreiben, wie sich zum Beispiel einer jüngst erschienenen Untersuchung zu den Interaktions- und Deutungsmustern von Mitarbeitern entnehmen lässt, die mit der Beratung beziehungsweise Betreuung von arbeitslosen Leistungsempfängern befasst sind. Im Vergleich zur früheren Arbeitsverwaltung hat sich nämlich seit der Hartz-IV-Reform der Umgang mit den Arbeitslosen in der Weise geändert, dass diese nicht nur, wie bisher schon, bei Verstößen gegen rechtliche Regelungen negativ sanktioniert werden, sondern mittlerweile auch dann, wenn sie ,falsche‘ Denk- und Verhaltensweisen an den Tag legen. „Aktivieren als soziale Kontrolle zielt heute primär direkt auf die Einstellungen und Haltungen.“ (Behrend 2008: 21) V Mit dem letztgenannten Punkt ist, wenn man so will, die Schnittstelle zwischen ,Oberflächenstruktur‘ und ,Tiefenstruktur‘ ins Blickfeld geraten, und zwar insofern, als die in den letzten Jahren erneut entfachte Missbrauchskampagne gegen Arbeitslose und insbesondere gegen sogenannte Hartz-IV-Empfänger eine neue Qualität signalisiert, verbirgt sich hinter ihr doch mehr als eine der üblichen, in Konjunkturen verlaufenden Debatten über Sozialleistungsmissbrauch[34]. Sie ist, so die hier vertretene These, Ausdruck eines sozialen Krieges, der von den hegemonialen Eliten gegen die zum innerstaatlichen Feind erklärten Arbeitslosen geführt wird.[35] Dies erschliesst sich einem, wenn man danach fragt, was es heisst, die Form eigne sich Inhalte und Ziele an. Mit Blick auf die Dramatisierung des Sozialleistungsmissbrauchs fällt dann hier auf, dass diese auf zwei Ebenen erfolgt: zum einen auf der Inhaltsebene, indem, wie gezeigt, das Missbrauchsausmaß maßlos übertrieben wird, und zum anderen auf der Formebene, indem die angeblichen Missbrauchstäter als „Parasiten“ beziehungsweise, verdeutscht, „Schmarotzer“ entmenschlicht und zu innerstaatlichen Feinden verfremdet werden. Unverkennbar ist hier die Annäherung an die Propagandasprache des Nationalsozialismus[36], was jedoch keineswegs als situativ-zufällige Entgleisung charakterisiert oder als biologisierende Metaphorik abgetan werden kann. Wenn im „Report“ des BMWA darauf hingewiesen wird, es sei „natürlich […] völlig unstatthaft, Begriffe aus dem Tierreich auf Menschen zu übertragen“ (BMWA 2005: 10), dann bedient man sich des rhetorischen Kniffs der Prolepsis genau genommen nur, um mit der vermuteten Einwandvorwegnahme nicht nur als Denkgifte wirkende „winzige Arsendosen“ (Klemperer 1969: 23) auszustreuen, sondern auch um den ,parasitären‘ Arbeitslosen als noch verwerflicher darstellen zu können als den tierischen Parasiten, da jener im Gegensatz zu diesem sich nicht instinktiv verhalte, sondern auf Grund einer bewussten Willensentscheidung. Denn schließlich sei „Sozialbetrug nicht durch die Natur bestimmt, sondern vom Willen des Einzelnen gesteuert“ (ebd.). In diesem Sachverhalt der Charakterisierung von hilfebedürftigen Arbeitslosen als „Parasiten“ oder „Sozialschmarotzer“, denen nach Auffassung der Bundesregierung „energisch und konsequent entgegenzutreten“ (Bundesregierung 2005: 35) sei, verdichten sich Vorstellungen, die weit über den Rahmen der bisherigen Missbrauchskampagnen hinausweisen, insofern sie an das politische Denken des konservativen Staatsrechtlers Carl Schmitt anknüpfen, der den Normalfall des Staates als Ausnahmezustand zu erklären sucht und hierbei der spezifisch politischen „Unterscheidung von Freund und Feind“ (Schmitt 1963: 26) eine existenzielle Bedeutung zumisst. Ein Gedanke, den Agamben radikalisiert, indem ihm nicht, wie Schmitt, das Freund-Feind-Schema als Leitidee des Politischen gilt, sondern die Trennung zwischen dem „nackten Leben“ (zoé) und der „politischen Existenz“ (bíos) eines Menschen, zwischen dessen natürlichem Dasein und seinem rechtlichem Sein. (vgl. Agamben 2002: passim) Auf diese Weise kommt Agamben eine Entwicklung in den Blick, vor der auch Demokratien nicht gefeit sind: der Ausnahmezustand wird zum „herrschenden Paradigma des Regierens“ (Agamben 2004: 9), wodurch die ursprüngliche Struktur des Politischen zunehmend in eine „Zone irreduzibler Ununterscheidbarkeit“ (Agamben 2002: 19) gerät und an die Stelle des Rechts der soziale Krieg tritt.[37] Schmitts „bis zur Kenntlichkeit entstellter“ (Preuß 1994: 129) und durch den „äußersten Intensitätsgrad einer […] Dissoziation“ (Schmitt 1963: 27) charakterisierter Begriff des Politischen beruht auf der Überlegung, dass es Aufgabe jedes normalen Staates sei, „innerhalb des Staates und seines Territoriums eine vollständige Befriedung herbeizuführen, ,Ruhe, Sicherheit und Ordnung‘ herzustellen“, was in „kritischen Situationen“ dazu führe, dass der „Staat als politische Einheit von sich aus […] auch den ,innern Feind‘ bestimmt. In allen Staaten gibt es deshalb in irgendeiner Form […] schärfere oder mildere, ipso facto eintretende oder auf Grund von Sondergesetzen justizförmig wirksame, offene oder in generellen Umschreibungen versteckte Arten der Ächtung, des Bannes, der Proskription, Friedloslegung, hors-la-loi-Setzung, mit einem Wort: der innerstaatlichen Feinderklärung.“ (ebd.: 46f.) Da der Ausnahmezustand jener Zustand sei, in dem die prinzipiell permanent vorhandene Gefahr abgewendet werden muss, wird folgerichtig der Ausnahmezustand zum Normalfall des Staates und die innerstaatliche Feinderklärung für den Staat schlechthin konstitutiv, wobei für Schmitt der politische Feind weder „moralisch böse“ noch „ästhetisch häslich“ ist, sondern „der andere, der Fremde“ (ebd.: 27), derjenige, „gegen den eine Fehde geführt“ wird oder der einfach nur „negativ […] als Nicht-Freund“ (ebd.: 104f.) bestimmt ist. Das heisst, dass es sich bei dem Schmittschen Feind nicht um einen konkreten Feind handelt, der das eigene Überleben herausfordert, auch nicht um einen gleichsam a priori feststehenden Feind wie in Weltanschauungskonflikten, dort die ,Bösen‘, die ,Schurken‘, hier die ,Guten‘, die ,Edlen‘, sondern um einen „gewollten Feind“ (Papcke 1985: 113), zu dem je nach Bedarf alle Welt werden kann, weswegen Kirchheimer denn auch zu Recht feststellt: „Jedes politische Regime hat seine Feinde oder produziert sie zu gegebener Zeit.“ (Kirchheimer 1985: 21) Analysiert man mit einer derartigen kognitiven Analyse- und Deutungsfolie die jüngere deutsche Geschichte im Hinblick auf ihre „gewollten Feinde“, so waren dies in der Zeit des Nationalsozialismus vornehmlich die Juden, während der sogenannten „Rekonstruktionsperiode“ (vgl. Abelshauser 2005: passim) nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hauptsächlich die Kommunisten und in der Phase der keynesianischen Globalsteuerung ab 1967 vor allem die ,Neue Linke‘. Und heute, das heisst seit dem Ende des „kurzen Traums immerwährender Prosperität“ (Lutz 1984) und der seit den 1980/90er Jahren immer durchgreifender sich vollziehenden neoliberalen Restrukturierung der Gesellschaft? Nicht die Juden, sind diese doch seit dem Holocaust als Israelis Freunde geworden. Die Kommunisten auch nicht, da diese nach dem Zerfall der staatssozialistischen Gesellschaften zu veritablen Geschäftspartnern avancierten. Und die ,Neue Linke‘ erst recht nicht, seit sie nach dem „Marsch durch die Institutionen“ (Dutschke) gesellschaftsfähig geworden in den Sesseln der Macht Platz genommen hat. Also sind es, wofür etliches zu sprechen scheint, jene, die sich „sozialschädlich“ oder „gemeinschaftsgefährdend“ verhalten: die auf wohlfahrtsstaatliche Existenzsicherungsleistungen angewiesenen erwerbsfähigen Arbeitslosen, deren Makel nicht darin besteht, dass sie ohne Arbeit sind, sondern dass sie es sind oder unterstelltermaßen sein wollen, obwohl sie es sich nicht wie etwa aristokratische, couponschneidende oder ruhestandsversetzte Rentiers leisten können, da sie nicht wie diese über Einkünfte verfügen, die es ihnen erlauben, den Lebensunterhalt ohne Arbeit zu bestreiten. Damit schädigen sie, wie der „Report“ des BMWA Glauben machen will, die Gemeinschaft der Bürger, der „Anständigen“ (BMWA 2005), die, weil sie Steuern und Sozialabgaben zahlen und Existenzsicherungsleistungen nicht benötigen, „Vorrang“ (ebd.) genießen und ein Anrecht darauf haben, dass der Staat sie vor „Drückebergern“, „Faulenzern“ und „Sozialschmarotzern“ schützt. Mit anderen Worten: Heutzutage gilt in der Bundesrepublik Deutschland derjenige als Feind, von dem angenommen wird, dass er sich dem Erwerbsleben und dem ihm korrespondierenden Arbeitsethos abwende und durch seine Verweigerung zu arbeiten, sich außerhalb der Gemeinschaft stelle. Denn er setze so an die Stelle der Werteordnung der anständigen Bürger seine eigene, ein Verhalten, das von diesen als verächtlich und nicht hinnehmbar angesehen wird, und zwar insbesondere dann, wenn man die Bürger im Rahmen einer psychologischen Kriegsführung ganz nach der Maxime „Es ist nicht wichtig, ob das, was behauptet wird, wahr ist, es ist nur wichtig, ob, was behauptet wird, wirkt.“ von der vorgeblichen Sozialschädlichkeit der Arbeitslosen zu überzeugen vermochte. Aus diesem Grund kann die innerstaatliche Feinderklärung auch nicht auf „propagandistische Vorbereitung und Begleitung“ (Brückner/Krovoza 1976: 61) verzichten. Vor diesem Hintergrund wird denn auch begreiflich, warum es, erstens, nicht zufälligerweise im Vorfeld der „Hartz-Gesetzgebung“ zu einer Missbrauchskampagne kam und warum man sich hierbei, zweitens, eines Vokabulars bedient, das sich wegen seines menschenverachtenden Charakters zwar verbietet, sich offensichtlich aber doch einer gewissen Beliebtheit erfreut, da es ein probates Mittel zu sein scheint, das Problem der „propagandistischen Präparierung der Feinderklärung“ zu lösen: nämlich „die Sichtbarmachung und […] Versinnlichung der Teilpopulation, die ausgegrenzt und ausgebürgert werden soll“ (ebd.).[38] Um zur ,Tiefenstruktur‘ der Missbrauchskampagne vordringen zu können, mit der die Arbeitslosen pauschal als parasitäre Existenzen diffamiert und diskriminiert und gegen den Arbeitsfleiß und die Ordentlichkeit der übrigen Bevölkerung gesetzt werden, ist es unabdingbar, sich das Projekt der neoliberalen Rekonstruktion der Gesellschaft zu vergegenwärtigen, mit dem sich eine Neudefinition sowohl des Verhältnisses von Staat und Ökonomie als auch eine des Sozialen vollzieht. Das heisst einerseits, dass im Unterschied zur klassisch-liberalen Rationalität der Staat die Freiheit des Marktes nicht länger definiert und überwacht, sondern eine Entwicklung fördert und exekutiert, mit der der Markt selbst zum organisierenden und regulierenden Prinzip des Staates wird und bei der die Regierung zu einer Art Unternehmensleitung mutiert, deren Aufgabe in der Universalisierung des Wettbewerbs und der Generalisierung des Ökonomischen besteht. Mit anderen Worten: In der neoliberalen Konzeption von Gesellschaft ist das Ökonomische nicht mehr wie im Frühliberalismus ein fest umrissener und eingegrenzter gesellschaftlicher Bereich mit spezifischer Rationalität, Gesetzen und Instrumenten, sondern das Ökonomische umfasst nunmehr prinzipiell alle Formen menschlichen Handelns. (vgl. Lemke et al. 2000: 14ff.) Folgerichtig avanciert von daher auch der Bürger vom Arbeitskraftbesitzer zum Unternehmer seiner selbst beziehungsweise zum „Arbeitskraftunternehmer“ (Voß/Pongratz 1998), der nicht bloß seine Arbeitskraft, sondern seine ganze Persönlichkeit als Ware auf dem Markt gewinnbringend feilbieten soll, was erfordert, sich selbst als Unternehmen zu begreifen und entsprechend zu führen, das heisst, den gesamten eigenen Lebenszusammenhang aktiv an betriebswirtschaftlichen Effizienzkriterien und unternehmerischen Kalkülen auszurichten. Eng damit verbunden ist andererseits die völlige Neudefinition des Sozialen, nach der erstens als sozial nur noch das gilt, was Arbeit schafft[39], nach der zweitens jede Arbeit besser ist als keine und nach der drittens der Staat berechtigt ist, gegen all jenes vorzugehen, das es einem Arbeitskraftbesitzer erlauben würde, nicht zu arbeiten, ohne dies sich leisten zu können, da er über keine Einkünfte zur Bestreitung seines Lebensunterhalts ohne Arbeit verfügt. Im Umkehrschluss wird daher davon ausgegangen, dass gemeinwohlschädigendes, weil auf staatliche Transferleistungen angewiesenes, unsoziales Verhalten sich nur durch Verpflichtung zur Arbeit bekämpfen lasse, wobei die Verpflichtung zur Arbeit in der Marktanpassung und diese wiederum in dem bedingungslosen Akzeptieren der Kauf- und Anwendungsbedingungen von Arbeitskraft bestehe. Da es sich bei der neoliberalen Konzeption von Staat und Gesellschaft also nicht nur um eine marktradikale handelt, sondern überdies um eine, die vorsieht, dass der Staat seine Bürger legitimerweise zu marktkonformen Verhalten zwingen könne, hat jenes Deutungsmuster hegemonialen Rang erlangt, das von der Vorstellung geleitet wird, nur durch einen Abbau von ungerechtfertigten Leistungen und ebensolchen Ansprüchen an den Wohlfahrtsstaat und durch eine Umorientierung von amoralischen Verhaltensweisen auf Eigenverantwortung und Gemeinschaftlichkeit könne die Verwirklichung des Neoliberalismus als politisches Projekt herbeigeführt werden, das zum Ziel hat, „eine soziale Realität herzustellen, die es zugleich als bereits existierend voraussetzt“ (Lemke et al. 2000: 9). Dies erklärt auch die strategische Schlüsselstellung, die dem Wohlfahrtstaat beziehungsweise dessen Umbau zum Workfare State in diesem Zusammenhang zukommt, was sich an der Programmatik des „aktivierenden Sozialstaats“[40], insbesondere in Gestalt der sogenannten Hartz-Gesetze, ablesen lässt. Umgestaltet wird die Arbeits(markt)- und Sozialpolitik auf der Ebene der marktlichen Makrosteuerung nämlich so, dass sie als Standortpolitik einen Beitrag zur Steigerung der nationalen Wettbewerbsfähigkeit leistet, während sie auf der Mikroebene der marktbezogenen Selbststeuerung der Individuen einen paradigmatischen Wechsel vollzieht vom gesellschaftlichen zum individuellen Risikomanagement und von der sozialen Sicherheit zur persönlichen Selbstsorge. Damit nimmt der Staat Abstand von der Idee, dass die Gesellschaft für die Gefährdung der Existenz ihrer Mitglieder verantwortlich und demgemäß auch verpflichtet ist, die Sicherung der Existenz zu gewährleisten, und erhebt fortan subjektive Unsicherheit und Verunsicherung zur Grundlage der von ihm im Einklang mit den neoliberalen „Evangelisten des Marktes“ (Dixon 2000) geforderten Eigenverantwortung. Worum es den in Politik und Verwaltung Verantwortlichen für die mit den Hartz-Gesetzen auf den Weg gebrachte Reform der Arbeits(markt)- und Sozialpolitik mithin geht, ist ordnungspolitisch die Aufrechterhaltung und Stärkung einer arbeitsethischen Gesinnung, fiskalpolitisch die Entlastung des Haushalts durch Ausgabenreduktion, arbeitspolitisch die Etablierung und Förderung des Niedriglohnsektors und sozialpolitisch die Etablierung eines Workfare-Regimes, bei dem die Gewährung staatlicher Unterstützungsleistungen abhängig gemacht wird von der Gegenleistung der Hilfeempfänger, jedwede Arbeit anzunehmen und individuelles Wohlverhalten zu zeigen. Übersehen wird bei der Problematisierung der genannten Reform aber durchweg deren staatspolitische Dimension. Diese gerät allerdings in den Wahrnehmungshorizont, wenn man mit Foucault, dem „Politik die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln ist“[41] (Foucault 2001: 32), anzuerkennen bereit ist, dass „unterhalb der Formel des Gesetzes“ (ebd.: 74) das Geschrei des Krieges sich wiederfinden lässt, der unsere Gesellschaft durchzieht und zweiteilt in einen Krieg der Rassen: „hier die einen und dort die anderen, die Ungerechten und Gerechten, die Herren und jene, die ihnen unterworfen sind, die Reichen und die Armen, die Machthaber und jene, die nur ihre Arme haben, […] die Leute des gegenwärtigen Gesetzes und jene der künftigen Heimat“ (ebd.: 92).[42] Betrachtet man in diesem Licht den BMWA-Report, mit dem gewissermaßen die Lunte gelegt wurde für eine von den Print- und Rundfunkmedien geführte Hetze gegen Arbeitslose, so lässt sich dies ohne größere Schwierigkeit als das deuten, was es ist: als Bestandteil einer psychologischen Kriegsführung gegen die zu innerstaatlichen Feinden erkorenen Arbeitslosen. Feinde, die gefährlich sind für den Bestand dieser Gesellschaft, was allein schon durch die Verwendung der Vokabel ,Parasit‘ zum Ausdruck gebracht wird. Denn Parasiten gelten als Ungeziefer, Schädlinge, die Krankheiten und Seuchen mit sich bringen und denen man nur beizukommen ist, indem man sie radikal ausmerzt. Mit der öffentlichen Darstellung der Arbeitslosengeld-II-Bezieher als „Parasiten“ werden die betroffenen hilfebedürftigen Arbeitslosen und mit ihnen alle ,normalen‘ Arbeitslosen, weil potenzielle Arbeitslosengeld-II-Bezieher, in diffamierender und diskriminierender Absicht hergerichtet zu einer Spezies, die ihre Umwelt schädigt, indem sie dieser etwas entzieht, ohne dafür etwas zu leisten, womit sie, aus Sicht der gesellschaftlichen Majorität, in der Gesellschaft ein Fremdkörper ohne irgend eine nützliche Funktion ist. Mehr noch: Ihre ,Verderbnis‘ besteht nicht nur darin, dass sie von den durch fleißige und ehrliche Arbeit erwirtschafteten Früchten anderer schmarotzt, sondern auch darin, dass sie als schlechtes Beispiel die „anständigen“ Bürger infiziert und die „wirklich Bedürftigen“ in ein schlechtes Licht setzt. Weil anscheinend ohne Willen oder Fähigkeit, den von den Vertretern der herrschenden sozialen Ordnung propagierten Normalitätsvorstellungen zu entsprechen, treten mithin die Arbeitslosen als gemeinschaftsunfähig und ‑schädlich in Erscheinung, gegen die mit aller Härte und ,Null-Toleranz‘ (vgl. Hansen 1999) vorzugehen, selbst wenn diese hierbei Schaden an Leib und Seele nehmen[43], nicht nur völlig legitim, sondern schlechterdings erforderlich ist, will man die wirtschaftlich existenzielle Bedrohung auf Grund der Gefährdung der Konkurrenzfähigkeit des Standorts Deutschland abwehren. Auf Grund der sich geradezu reflexartig einstellenden assoziativen und affektiven Kopplung des Begriffs des Parasiten mit der Idee des Ausmerzens heisst dies im schlimmsten Falle, die unter Generalverdacht des Leistungsmissbrauchs gestellten Arbeitslosen zu biologisieren, womit ihnen das Lebensrecht in der menschlichen Gemeinschaft bestritten wird. Im minder schlimmen Falle werden die Arbeitslosen ,bloß‘ kriminalisiert, was es erlaubt, sich mit ihren berechtigten Ansprüchen auf wohlfahrtsstaatliche Unterstützung nicht ernsthaft auseinandersetzen zu müssen, so dass die Hemmschwelle sinkt, sie als mit Rechten ausgestattete Personen wahrzunehmen und zu behandeln.[44] Und dies vor allem deswegen, weil die Arbeitslosen zum Feind der herrschenden Ordnung werden nicht auf Grund spezifischer äußerer Merkmale, sondern auf Grund einer markierten Position, die sie gemäß den Annahmen der Apologeten der fundamentalistischen Heilslehre des Neoliberalismus durch eigenen Entschluss beziehen. Mit anderen Worten: Das sozialpolitische Feindbild des „Sozialschmarotzers“ lässt den als Feind namhaft gemachten Arbeitslosen keine Wahl zwischen Freundschaft und Feindschaft; es legt sie fest auf die Rolle des Feindes, und zwar bloß deswegen, weil man ist, was man ist: arbeitsloser Transfereinkommensbezieher. Hier zeigt sich, um Agamben zu paraphrasieren, dass die Arbeitslosen zu einem augenfälligen Symbol jenes von der „politischen Existenz“ getrennten „nackten Lebens“ avanciert sind, das der Kapitalismus notwendigerweise in seinem Inneren schafft und dessen Gegenwart er in keiner Weise mehr weder tolerieren will noch kann (vgl. Agamben 2006: 35), so dass deren „nacktes Leben“ jederzeit in Frage steht. Die Konsequenz: An die Stelle der Unterscheidung zwischen Bourgeois und Citoyen tritt die Reduzierung des politischen auf den biologischen Körper, das heisst die Behandlung der arbeitslosen Individuen als überflüssiger Körper durch den Staat, weswegen so jemand wie Robert J. Eaton, vormaliger DaimlerChrysler-Vorsitzender, auch wieder unverblümt sagen kann, was ein Zelot des reinen Marktes denkt: „Die Schwachen müssen sich verändern oder sterben“ (Eaton 1999) – Worte, die ob ihrer schlichten Klarheit keiner Interpretation mehr bedürfen, aber Handeln erfordern, soll der Fehdehandschuh aufgegriffen werden, um die Neoliberalismus genannte „,graue Wolke‘, […] die den Tod der Geschichte, das Verschwinden der Utopie, die Vernichtung des Traums verordnet“ (Freire 1997: 9), vom Himmel zu vertreiben. Prof. Dr.rer.pol. Michael Wolf, Sozialwissenschaftler, Hochschullehrer für Sozialpolitik und Sozialplanung am Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule Koblenz; Arbeitsschwerpunkte: Arbeits(markt)- und Sozialpolitik, Befreiungspädagogik (Paulo Freire), Diskrepanzphilosophie (Günther Anders), Figurationssoziologie (Norbert Elias), Transformationsforschung; Kontakt: wolf@fh-koblenz.de]
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Michael Wolf, Sozialwissenschaftler, Hochschullehrer für Sozialpolitik und Sozialplanung am Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule Koblenz; Arbeitsschwerpunkte: Arbeits(markt)- und Sozialpolitik, Befreiungspädagogik (Paulo Freire), Diskrepanzphilosophie (Günther Anders), Figurationssoziologie (Norbert Elias), Transformationsforschung; Kontakt: wolf@fh-koblenz.d] [1] Der Beitrag greift Gedanken auf und vertieft und verbreitert sie, die im Rahmen der von Business Crime Control durchgeführten Konferenz zum Thema „Arbeits-Unrecht in Deutschland. Arbeit und Arbeitslosigkeit in der Krise des Neoliberalismus“ am 14. März 2009 in Köln unter dem Titel „Der gewollte Feind. Die Geburt des ,Sozialschmarotzers‘ aus dem Geiste des Staatsrassismus“ vorgetragen und in der NRhZ – Neue Rheinische Zeitung, Online-Flyer Nr. 189 vom 18. März 2009 veröffentlicht wurden. Eingeflossen sind darüber hinaus Überlegungen, die bereits im Vorgriff auf die Konferenz unter dem Titel „,Sozialschmarotzer‘. Stichworte zur politischen Funktion eines Feindbilds“ in der NRhZ – Neue Rheinische Zeitung, Online-Flyer Nr. 182 vom 28. Januar 2009 veröffentlicht worden sind. [2] Dahinter steht die Vorstellung, wie sie etwa von Berger/Luckmann (1980) vertreten wird, dass Gesellschaft sowohl als objektive Faktizität wie auch als subjektiv gemeinter Sinn existiert. [3] Vgl. hierzu auch Offes „Modell der Thematisierung politischer Probleme“ (Offe 1975: 158ff.). [4] Zur Rekonstruktion der öffentlichen Wahrnehmung und Thematisierung nicht mit Bezug auf Arbeitslosigkeit, sondern Armut in vier Jahrzehnten Bundesrepublik Deutschland vgl. Leisering (1993: 490ff.). [5] Zur Geschichte der Arbeitslosigkeit vgl. das Buch von Niess (1982) mit dem gleichnamigen Titel. [6] Mit Uske (1995: 41ff.) wäre zu ergänzen: Zu den ,unechten‘ Arbeitslosen gehören nicht nur diejenigen, die nicht arbeiten wollen (die „Arbeitsunwilligen“ und „Faulenzer“), sondern auch jene, die nicht arbeiten können (die vom Standpunkt ihrer Verwertbarkeit aus unbrauchbaren Arbeitskräfte), sowie jene, die vom Standpunkt der moralischen Berechtigung aus nicht arbeiten dürfen wie etwa die Frauen als „Zubrotverdierinnen“ oder Ausländer. [7] Hinsichtlich der Tafeln und Suppenküchen (vgl. hierzu namentlich Selke 2008; i.E.) kommt Ernste vom wirtschaftsnahen Institut der Deutschen Wirtschaft zu der Einschätzung, deren Kernproblem bestehe darin, „dass Menschen längerfristig die Fähigkeit verlieren, für sich selber zu sorgen. Das heisst, dass sie fast wie bei einer Fütterung in der freien Wildbahn, man falsch erzogen wird, man selber nicht mehr in der Lage ist, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, also bildlich gesprochen jagen zu gehen und für sich selber zu sorgen, sondern immer stärker angewiesen wird auf diese Hilfe.“ (Ernste, D.; zit. nach: Svehla/Simon 2009) [8] Als Stichwortgeber der Debatte gilt gemeinhin Nolte (2004); zur Kritik an dessen „,kulturalistischen‘ Klassentheorie“ vgl. vor allem die Beiträge in Kessl et al. (2007). [9] Die Argumentation folgt hier Enzensberger (2001), der den wundersamen, zwischen Natur und Kultur hin- und herpendelnden Zickzackweg der Vokabel ,Parasit‘ kenntnisreich nachzeichnet. Vgl. ferner die Beiträge in Kaltenbrunner (1981a) sowie Serres (1987), der die zweistellige Parasit-Wirt-Beziehung in eine dreistellige Wirt-Parasit-Störer-Beziehung überführt, wobei die Störung nicht eindeutig negativ ist, da sie sowohl schwächen, durch die Provokation von Abwehrkräften aber auch stärken kann. [10] Im soziologischen Sinne ist die Vokabel ,Sozialschmarotzer‘ insofern tautologisch, als menschliche Schmarotzer immer in einem sozialen Verhältnis wirken. Wenn hier aber von ,Sozialschmarotzer‘ die Rede ist, dann bezieht sich diese Vokabel nur auf den Bereich des Missbrauchs sozialer Transferleistungen wie z. B Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe. [11] Hobbes hat der Sentenz in der politischen Sprache der Neuzeit zwar ihren prominenten Rang verschafft, ihren Ursprung hat sie aber in der Antike bei Plautus. [12] Unverkennbar ist hier die Parallele zur Idee der Prävention, die in ihren Konsequenzen repressiv, totalitär und autoritär ist, sofern sie die von ihr gesetzten Ziele wirklich erreichen will, nämlich bestimmte, als negativ bewertete Zustände, seien sie verhältnis-, seien sie verhaltensbedingt, in der Zukunft nicht eintreten zu lassen. [13] Von etwa Lenin, der jene Personen anprangert, die „vom ,Kouponschneiden‘ leben, […] Personen, deren Beruf der Müßiggang ist“ (Lenin 1960: 281), über Veblens (1986) „Theorie der feinen Leute“ bis hin zu Arnim, wobei gerade der Letztgenannte es sich gewissermaßen zur Aufgabe gemacht, das Problem des Zugriffs der herrschenden politischen Klasse auf den Staat als einer „Maschine der Ausplünderung“ (Pareto, V.; zit. nach: Hirschman 1995: 63) in konkurrenzdemokratisch verfassten Gesellschaften wie der Bundesrepublik Deutschland öffentlich zu thematisieren, wovon die Titel seiner Bücher „Der Staat als Beute“ (1993), „,Der Staat sind wir!‘“ (1995) beredt Auskunft geben. [14] Aus Sicht der Bundesregierung sei die „lebensnahe, pointierte Darstellung“ von Einzelfällen „sachgerecht“ und „notwendig“, weil sie dazu beitrage, „die öffentliche Aufmerksamkeit auch tatsächlich auf diese Problematik zu lenken“ (BT-Drs. 16/48: 13). [15] Des Missbrauchs bezichtigt werden jedoch nicht nur die Arbeitslosen, sondern auch die als „Helfershelfer“ und „windige Ratgeber“ (BMWA 2005: 19, 22) titulierten Berater, die, wie z. B. Roth/Thomé (2005), es sich zur Aufgabe gemacht haben, Hilfesuchenden in prekären materiellen Lebenslagen wie Arbeitslosigkeit oder Armut durch Information und Beratung zu ihrem Recht zu verhelfen. [16] Im juristischen Sinne handelt es sich bei Missbrauch nur um die rechtswidrige Inanspruchnahme von Leistungen, d. h., es werden Leistungen bezogen, obwohl kein Anspruch bzw. kein Anspruch in der gewährten Leistungshöhe besteht. Dies kann mit Bezug auf die Existenzsicherungsleistungen gegeben sein, wenn z. B. das Bestehen von Arbeitslosigkeit, die arbeitsmarktmäßige Verfügbarkeit, das Vorliegen von Erwerbsunfähigkeit oder Arbeitsunfähigkeit wegen Krankheit nur vorgetäuscht wird, wenn unwahre Angaben über die Anzahl der Beschäftigungsverhältnisse und die Arbeitszeiten gemacht werden, wenn das Bestehen einer „eheähnlichen Gemeinschaft“, das Vorhandensein von Einkommen und Vermögen, eigenes oder des Partners, der Zweck und Umfang von Schenkungen verschwiegen wird oder auch wenn Einkommen und Vermögen in der Absicht vermindert werden, Voraussetzungen für die Gewährung oder Erhöhung der Leistungen herbeizuführen. [17] Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang etwa an den rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten und früheren SPD-Vorsitzenden Kurt Beck, der das unter Umständen ethisch als gemeinwohlwidrig zu beanstandende, aber gleichwohl legale Ausschöpfen gesetzlich gegebener Möglichkeiten mit den tadelnswerten Worten „Man muss nicht alles rausholen, was geht.“ (Beck 2006) kritisiert. [18] Denkbar ist selbstverständlich auch, dass Leistungen unter Umständen missbräuchlich bezogen werden, ohne dies zu bemerken, weil auf Grund der Komplexität der gesetzlichen Regelungen für die Betroffenen sich die Schwierigkeit ergibt, das eigene Handeln korrekt in bezug auf das Einhalten rechtlicher Regelungen zu bewerten. [19] Nach § 16 III SGB II müssen Ein-Euro-Jobs „im öffentlichen Interesse“ liegen und „zusätzlich“ sein. Beide Kriterien sind allerdings alles andere als trennscharf, wie man auf den ersten Blick meinen könnte; vgl. hierzu kritisch Stahlmann (2005: 15ff.). [20] In dem von der Presse aufgegriffenen Fall des missbräuchlichen Einsatzes von hilfebedürftigen Arbeitslosen durch das Recklinghauser Job-Center vermag der Anwalt des strafrechtlich zur Verantwortung herangezogenen Leiters nur zu bekennen: „Wenn es hier zu einer Verurteilung kommt, müssten die Leiter aller Jobcenter angeklagt werden.“ (Rüthers, K.; zit. nach: Rath 2008) [21] Hierzu gehören etwa falscher Stolz und Scham ebenso wie die Unkenntnis über Zuständigkeiten und Rechtsansprüche oder die Furcht vor sozialer Diskriminierung wegen Arbeitsmarktversagens, der Verletzung der Privatsphäre oder dem Rückgriff auf unterhaltspflichtige Verwandte. [22] Bedenkenswert ist in diesem Zusammenhang der folgende Gedanke Höffes: „Weil kein empirischer Staat die Wirklichkeit der sittlichen Idee schlechthin ist, kann man auch nicht […] ein Widerstandsrecht gegen Staatsgewalten, oder weniger pathetisch, einen (staats-)bürgerlichen Ungehorsam a priori ausschließen. Gewiss, gegen den Staat der Gerechtigkeit ist jeder Widerstand grundsätzlich illegitim. Aber kein empirischer, ,natürlicher‘ Staat darf sich als ,Staat der Gerechtigkeit‘ bezeichnen.“ (Höffe 1989: 473) Mit anderen Worten: Was dem Staat als ,Betrug‘ erscheint, kann aus der Perspektive der Betroffenen im Sinne der Gerechtigkeit auch als demokratischer Widerstand und bürgerlicher Ungehorsam betrachtet werden. Es ist also wie bei der Frage, wer eigentlich ein Parasit ist, auch eine Frage der Perspektive. [23] Wie jüngst der ,Fall Zumwinkel‘ zeigt. Die Steuerhinterziehung von knapp einer Million Euro brachte dem einstigen Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Post lediglich eine Verurteilung zu zwei Jahren Haft auf Bewährung und einer Geldstrafe von einer Million Euro ein. (vgl. Spiegel-Online vom 26.01.2009). Vor diesem Hintergrund würden manch einer es sarkastisch ,ausgleichende Gerechtigkeit‘ nennen, dass einer ehemaligen Kassiererin von ihrem Arbeitgeber wegen angeblicher Unterschlagung von zwei Pfandbons in Höhe von insgesamt 1,30 Euro fristlos gekündigt und dies von dem damit befassten Arbeits- und Landesarbeitsgericht für Recht befunden wurde. (vgl. Haustein-Teßmer 2009a)
[24]
So kommt die Bundesregierung nicht umhin, in der Beantwortung einer
Kleinen Anfrage der Fraktion DIE LINKE zum Sozialleistungsmissbrauch
einzugestehen: „Illegales Handeln entzieht sich seiner Natur gemäß der
statistischen Erfassung und kann daher nur vermittels
Plausibilitätsbetrachtungen grob abgeschätzt werden. Dies vorangestellt
dürften nach Einschätzung der Bundesregierung jährlich etwa 3 Prozent
bis [25] Mit der Unterscheidung von ,Oberflächen- und Tiefenstruktur‘ wird hier in lockerer Weise an Chomsky angeknüpft, der darauf hinweist, dass sich aus dem Erscheinungsbild eines wirklichen Satzes nicht der eigentliche Gegenstand der Aussage ablesen lasse. Mit anderen Worten: In der Konstruktionsform des Satzes sind die zur Erfassung seiner Bedeutung notwendigen Informationen nur implizit enthalten, weswegen diese in den „Tiefenstrukturen“ gesucht und explizit gemacht werden müssen. (Chomsky, N.; zit. nach: Wunderlich 1974: 385ff.) [26] Vgl. hierzu statt anderer den Überblick von Prisching (2000). [27] Ein Paradoxon, das Offe zutreffend mit den folgenden Worten kritisiert: „Wenn wir soziale Sicherheit gewährleisten wollen, müssen wir sie parziell abschaffen. So einen Satz hätte man früher mit gutem Grund einen Widerspruch genannt. Heute nennt man ihn Agenda 2010.“ (Offe 2003: 810) [28] Nach Mandeville, dem viele neoliberale Eiferer näher stehen, als sie selbst annehmen möchten, haben alle Menschen einen „außerordentlichen Hang zum Müßiggang“ (Mandeville 1980: 231), weswegen es sehr unwahrscheinlich sei, dass sie arbeiten würden, wären sie nicht dazu gezwungen durch „ihre Armut, die es zwar klug ist zu mildern, töricht aber ganz zu beseitigen“ (ebd.: 232). [29] Arbeitswilligkeit heisst jedoch nicht, der Wille, einer Arbeit nachgehen zu wollen, die sinnvoll ist, den eigenen Neigungen entgegenkommt, womöglich noch Befriedigung bereitet und existenzsichernd entgolten wird, sondern das Zeigen der Bereitschaft, sich den herrschenden Bedingungen des Arbeitsmarks und den Zumutungen der Arbeitsverwaltung restlos zu unterwerfen. [30] Eine Annahme, der sich selbst der damalige Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, Heinrich Franke, nicht anzuschließen vermochte: „Wäre Arbeitsunwilligkeit tatsächlich ein Hauptgrund für die hohe Arbeitslosenzahl, dann müssten in Leer und Emden hauptsächlich Faule, in Göppingen und Nagold dagegen die Fleißigen wohnen. Dies wird wohl niemand ernsthaft behaupten wollen. Auch ist nicht einzusehen, dass innerhalb weniger Jahre aus einem ,Volk von Fleißigen‘ – Mitte 1970 gab es weniger als 100.000 Arbeitslose – ein ,Volk von Arbeitsunwilligen‘ geworden sein soll.“ (Franke, H.; zit. nach: Uske 1995: 49) [31] Hiervon kann man zumindest ausgehen, wenn einer Studie zufolge exakt ein Drittel aller befragten Personen die Ansicht vertritt, „Menschen, die wenig nützlich sind, kann sich eine Gesellschaft nicht leisten“. (vgl. Vornbäumen (2007) [32] Zum Begriff vgl. Nicklas (1985: 102), ferner Münkler (1994: 22ff.). [33] „Je unwerter die Minderheit, je kompakter die Majorität der ,Guten‘, je geringer die Furcht vor Sanktionen, je stärker die nachrichtenpolitisch konstituierte Aggression, umso eher können Aufforderungen zur Gewalt die Aggression abrufen, bzw. umso leichter werden Informationen (,sich zur Wehr setzen…‘) als Aufforderung erlebt.“ (Brückner 1969: 341) [34] Vgl. hierzu Oschmiansky (2003), der zeigt, dass die Missbrauchskampagnen der letzten drei Jahrzehnte einem politischen Konjunkturzyklus unterlagen, insofern das Aufflammen der Kampagnen in der Regel einer bevorstehenden Bundestags- oder wichtigen Landtagswahl vorausging, mithin politischen Kalkülen folgend die Umwerbung der politischen Mitte, des ,median voters‘, zum Ziel hatte, dessen Einstellung bekanntlich wahlentscheidend sein kann. [35] Die Formulierung ,sozialer Krieg‘ folgt hier nicht der Engelschen, die, wie bei Hobbes (vgl. 1989: 96), auf einen dem Staat vorgängigen „Krieg Aller gegen Alle“ abstellt, bei dem es, Individuum gegen Individuum, darum geht, dass „der Stärkere den Schwächeren unter die Füße tritt“ (Engels 1976: 257). Wenn hier von ,sozialem Krieg‘ die Rede ist, dann eher im Foucaultschen Sinne des „inneren Krieges, des Gesellschaftskrieges“ (Foucault 2001: 107), der mit Beginn des 17. Jahrhunderts als Krieg die Gesellschaft durchgängig und dauerhaft durchzieht und entlang einer Schlachtlinie binär ordnet: zunächst als Zusammenstoß zweier sozialer Rassen, als Rassenkrieg, sodann als „Staatsrassismus“. Bei diesem Ordnungsprinzip des modernen Staates handelt es sich mit Foucault erst einmal nicht um einen Rassismus biologischer, sondern kriegerischer oder politischer Art, wiewohl sich beide Arten überlagern können, also eines Rassismus, den „die Gesellschaft gegen sich selber, gegen ihre eigenen Elemente, ihre eigenen Produkte“ (ebd.: 81) führt und bei dem soziale Gruppen entlang sozialer Marker als Normabweichler, Gegner oder Feind mit dem Zweck konstituiert werden, diese zu bekämpfen und auszugrenzen. Dabei kann es sich ebensogut um rassische, ethnische, kulturelle, religiöse, politische oder auch soziale Minderheiten handeln. [36] „Bei dem Juden ist hingegen diese Einstellung [zur Arbeit; M.W.] überhaupt nicht vorhanden; er […] war immer nur Parasit im Körper anderer Völker. […] Er ist und bleibt der ewige Parasit, ein Schmarotzer, der wie ein schädlicher Bazillus sich immer mehr ausbreitet, sowie nur ein günstiger Nährboden dazu einlädt. […] Im Leben des Juden als Parasit […] liegt eine Eigenart begründet, die Schopenhauer einst zu dem […] Ausspruch veranlasste, der Jude sei der ,große Meister im Lügen‘. Das Dasein treibt den Juden zur Lüge, und zwar zur immerwährenden Lüge, wie es den Nordländer zur warmen Kleidung zwingt.“ (Hitler 1949: 334f.) – Zum „Vokabular des Nationalsozialismus“ vgl. neuerdings insbesondere Schmitz-Berning (2007). Dass es wohl kaum ein wirkungsvolleres Mittel gibt, den Menschen ohne Anwendung physischer Gewalt seiner individuellen Handlungsfähigkeit und Urteilskraft zu berauben, als ihn zur Benutzung einer entsprechend präparierten Sprache zu bringen, wird von dem kritischen Beobachter und geheimen Archivar der „Lingua Tertii Imperii“, Klemperer, wie folgt beschrieben: „Aber Sprache dichtet und denkt nicht nur für mich, sie lenkt auch mein Gefühl, sie steuert mein ganzes seelisches Wesen, je selbstverständlicher, je unbewusster ich mich ihr überlasse. [...] Worte können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.“ (Klemperer 1969: 23)
[37]
„Der Versuch der Staatsmacht, sich die Anomie durch den Ausnahmezustand
einzuverleiben, […] ist: eine fictio juris par excellence, die
vorgibt, das Recht genau dort, wo es suspendiert ist, als [38] Dass im Nationalsozialismus zur Kenntlichmachung und Versinnlichung der Juden als Feind der gelbe Stern eingeführt wurde, ist hinlänglich bekannt, weniger hingegen der im systematischen Zusammenhang der Vorurteilsbildung bedeutungsgleiche schwarze Winkel, der die damit Gekennzeichneten (Bettler, Landstreicher, Alkoholkranke etc.) als zur Gruppe der „Asozialen“ zugehörig kennzeichnete, deren gemeinsames Merkmal darin bestand, dass sie auf Grund „gemeinschaftswidrigen Verhaltens“ von ihren Unterdrückern als ,arbeitsscheu‘ definiert und diffamiert wurden. Mit der Vokabel ,asozial‘ bezeichneten die Nationalsozialisten „Menschen, die keinerlei Einordnungswillen oder ‑fähigkeit zeigen und die als Schlacken der menschlichen Gesellschaft als ,Gemeinschaftsuntüchtige‘ angesprochen werden müssen. […] Es sind arbeitsscheue Elemente, politische Untermenschen, die von der Fürsorge der übrigen Volksgenossen mit durchgeschleppt werden müssen. (zit. nach: Schmitz-Berning 2007: 264) Zu den diesbezüglichen Parallelen von Nationalsozialismus und Bundesrepublik Deutschland vgl. auch Allex (2008). [39] Einer solchen Sichtweise lässt sich entgegenhalten, es sei in Anbetracht der nationalsozialistischen Vergangenheit „Zurückhaltung geboten bei dem Slogan: ,Sozial ist, was Arbeit schafft.‘“ (Spindler 2003: 12). Dem ist uneingeschränkt zuzustimmen. Gleichwohl sollte das Diktum Horkheimers „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen“ (Horkheimer 1988: 308f.) nicht vergessen werden, das in historisch-kritischer Absicht nicht die differentia specifica hervorhebt, sondern auf das genus proximum abstellt. [40] Zum Konzept des „aktivierenden Staates“ vgl. allgemein Lamping et al. (2002), zu dessen Bedeutung als Ansatz zur Umgestaltung des Wohlfahrtsstaats im besonderen die Beiträge in Dahme et al. (2003) sowie Mezger/West (2000). [41] Foucault kehrt hier die bekannte Formulierung von Clausewitz um, wonach „der Krieg nur eine Fortführung der Politik mit anderen Mitteln ist“ (Clausewitz, C. v.; zit. nach: Foucault 2001: 32). [42] Vgl. hierzu klassisch schon Benjamin, der neben Schmitt und Foucault Agamben als zentrale Referenz seiner Fundamentalanalyse des Ausnahmezustands gilt: „Die Funktion der Gewalt in der Rechtsetzung ist nämlich zwiefach in dem Sinne, dass die Rechtsetzung zwar dasjenige, was als Recht eingesetzt wird, als ihren Zweck mit der Gewalt als Mittel erstrebt, im Augenblick der Einsetzung des Bezweckten als Recht die Gewalt aber nicht abdankt, sondern sie nun erst im strengen Sinne, und zwar unmittelbar, zur rechtsetzenden macht, indem sie nicht einen von Gewalt freien und unabhängigen, sondern notwendig und innig an sie gebundenen Zweck als Recht unter dem Namen der Macht einsetzt. Rechtsetzung ist Machtsetzung und insofern ein Akt unmittelbarer Manifestation der Gewalt.“ (Benjamin 1978: 56f.) [43] Dass Hartz IV, wenn auch bisher nur in Ausnahmefällen und am Rande der Gesellschaft, Tote zur Folge hat, ist bekannt. Erinnert sei hier z. B. nur an den Tod eines psychisch erkrankten Hartz-IV-Betroffenen aus Speyer, der verhungerte, weil ihm durch den zuständigen Grundsicherungsträger wegen mangelnder Kooperationsbereitschaft (er hatte nicht auf die Vorladung zur Erstellung eines psychologischen Gutachtens reagiert) zuerst teilweise und dann vollständig die Zahlung der Existenzsicherungsleistungen versagt wurde. (vgl. Stumberger 2007) In ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE räumt die Bundesregierung zwar ein, dass die Absenkungen und die vollständige Aufhebung der Leistung „rechtsfehlerhaft“ (BT-Drs. 16/5550: 2) gewesen sei, gleichwohl hält sie das Vorgehen grundsätzlich für gerechtfertigt, da dem Betroffenen ein entsprechendes Angebot an sozialen Diensten zur Verfügung gestanden habe. Da dieser jedoch keinen Bedarf signalisiert habe, „gab es auch keine Veranlassung, diese Dienste zu aktivieren“ (ebd.: 4) Was lehrt uns dies: Arbeitslose tragen nicht nur Schuld an ihrer Arbeitslosigkeit, sondern auch an ihrem möglichen Verhungern. Dass es sich hierbei nicht um zufällige, sondern um systemische Tote handelt, denn es ist die Drohung mit der Existenzvernichtung, die systemisch hinter der erzwungenen Kooperationsbereitschaft steht, zeigt auch das jüngste Beispiel aus dem Waffenarsenal der Grundsicherungsträger, die als institutioneller Kern der Hartz-IV-Reform den sozialen Krieg gegen die Arbeitslosen strategisch organisieren und umsetzen: die Kürzung der Existenzsicherungsleistung wegen Bettelns. So geschehen in Göttingen. Dort wurden einem Sozialhilfeempfänger, nachdem er beim Betteln beobachtet und die ihm gegebenen Almosen hochgerechnet worden waren, die Geldspenden als zusätzliches Einkommen auf die Leistungen der Sozialhilfe angerechnet (vgl. Haustein-Teßmer 2009b), was de facto nichts anderes bedeutet, als Bettler als beschäftigt aufzufassen. Denkt man diese Vorstellung zu Ende, so kommt man zu dem Schluss, dass diejenigen Arbeitslosen, die von der Option der Bettelei keinen Gebrauch machen wollen, freiwillig arbeitslos seien, weswegen ihnen dann auch die Gewährung von Unterstützungsleistungen zu versagen ist. [44] Der seitens der Politik induzierte Abbau verfahrensrechtlicher Garantien wie die Abschaffung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gemäß § 39 SGB II spricht hier eine ebenso eindeutige Sprache wie die in Angriff genommene Einführung von Sozialgerichtsgebühren und der Anwaltspflicht vor den Landessozialgerichten oder die geplante Verschärfung der Anspruchsvoraussetzungen zur Bewilligung der Prozesskostenhilfe oder die beabsichtigte Abkehr vom Amtsermittlungsprinzip. (vgl. Jäger 2007) |
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