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Karl Reitter: Bemerkungen zum Buch „Der neue Geist des Kapitalismus“ von Luc Boltanski und Ève Chiapello

Erschienen ist dieses voluminöse Werk in französischer Sprache bereits 1999, eine erste Übersetzung ins Deutsche im Jahr 2003, eine Taschenbuchausgabe 2006. [Die Zahlen in runden Klammern beziehen sich auf die Seiten dieser Ausgabe.] Die erste Welle der zumeist akademischen Rezeption ist verebbt, was rechtfertigt nun eine etwas verspätete Rezeption? Aus der zeitlichen Distanz wird deutlich, dass dieses Buch in den Kontext zweier anderer, ebenfalls umfangreicher Werke zu stellen ist: 2000 erschien „Empire“ von Hardt und Negri sowie die Trilogie von Manuel Castells „The Rise of the Network Society“ (1996), „The Power of Identity“ (1997) sowie „End of Millennium“ (1998). (Deutsch 2001, 2002, 2003). Die zeitliche Nähe war kein Zufall. Die Staatsplanwirtschaft in Osteuropa war Geschichte, die Transformation des Fordismus in den Postfordismus vollzogen, die neuen Kommunikationstechnologien, insbesondere das Internet bereits massenhaft in Verwendung. Wenn auch die Intentionen, Methoden und das politische Kalkül dieser Werke unterschiedlich war, so bezogen sich doch alle auf ähnliche Phänomene: nämlich auf die sich in netzwerkartigen Strukturen organisierende Gesellschaft, auf die Bedeutung von Wissen und Information sowie auf die offensichtliche Erosion jener Trennungen, die die Phase bis Ende der 60er Jahre gekennzeichnet hatte: Die Scheidung von Arbeit und Freizeit, von Job und Privatleben sowie von Ausbildung und Arbeit schien tendenziell aufgehoben. Kaum ein Begriff war ohne Präfix wie Neo- oder Post- zu haben. Der Kapitalismus schien sich zu erneuern, aber in welche Richtung und durch welche Dynamik? Rund zehn Jahre später ist es möglich, eine erste Bilanz zu ziehen und somit auch diese Werke erneut einzuschätzen.

Der spannendste Fragenkomplex ist jene nach dem emanzipatorischen Gehalt dieser Entwicklung: Wer oder was hatte den fordistischen Kapitalismus zu diesen Transformationen gezwungen? Führt die Entwicklung zu neuen Freiräumen, zu mehr Autonomie und Selbstbestimmen, ja eröffnete sie – sobald die Treibkräfte einmal erkannt waren – die Chance zu weiterer Transformation? Ermöglichte das Begreifen der sich vor allen Augen abspielenden Veränderungen eine neue theoretische Grundlegung einer linken, antikapitalistischen und emanzipatorischen Sprache und Theorie? In all diese Fragen klinkt sich „Der neue Geist des Kapitalismus“ akribisch ein und mobilisiert ein umfassendes, methodisches und begriffliches Instrumentarium. Auf den ersten Blick, den journalistischen Blick wenn ich das so sagen darf, kann dieses Buch sogar für einen kritischen, ja linken Beitrag zur Debatte gehalten werden. Und so wurde es mitunter auch rezipiert. Im Gegensatz zum methodisch schwer zu fassendem „Empire“ zeichnet sich diese Arbeit durch eine exakt auf Max Weber aufbauende Methode und Begriffsbildung aus, wie die AutorInnen auch explizit darlegen. Es ist ein in höchstem Maße universitär-akademisch geschriebenes Buch, was seiner Wirkung in der linken Szene wohl abträglich, in dem sich als kritisch verstehenden Teil der Universität hingegen eher zuträglich war. Wer sich die Mühe macht, die über 700 Seiten genauer durchzuarbeiten, dem bieten sich völlig andere Deutungen an. Ist es der Versuch herrschender Eliten, nicht den Kontakt zur Realität zu verlieren, sich zumindest gewisser realer Prozesse zu vergewissern? Ist es ein akademischer Geniestreich, um Hegemonie in der uferlosen Szene der akademischen Expertise-, Beratungs- und Expertenmilieus zu gewinnen? Ist es auch der Versuch, Widerstand und Kritik durch deutendes Verstehen zu vereinnahmen und damit erstmals zu domestizieren? Ist es auch eine Warnung an die Herrschenden, den Bogen nicht zu überspannen und daher die im Buch vorgeschlagenen Reformen zu beherzigen? (Diese recht vage skizzierten „Empfehlungen“ (424) umfassen drei Bereiche: Erstens den Vorschlag, die informellen  Netzwerkstrukturen ein wenig zu verrechtlichen, zweitens nicht nur die unmittelbare Arbeitszeit zu entlohnen sondern die „Tätigkeit“ (430) und drittens die Mobilitätschancen für alle zu erhöhen. Alle diese Vorschläge unterstellen entwickelte prekäre, postfordistische Arbeitsverhältnisse.)

Ihre zentrale These

Die alles fundierende These lautet zusammengefasst: Der Kapitalismus ist aus sich heraus nicht fähig, die Teilnahme der Menschen an ihm zu begründen und legitimieren. „Eine Rechtfertigung des Kapitalismus setzt demnach voraus, dass man auf Konstruktionen aus einer anderen Ordnung zurückgreift.“ (58) Der „Geist des Kapitalismus“ ist also „eine Ideologie … die das Engagement für den Kapitalismus rechtfertigt.“ (43) Das klingt auf den ersten Blick durchaus kritisch. Es ist, so ihre These, also nicht selbstverständlich, dass Menschen sich im Sinne des Kapitalismus betätigen. Dazu bedarf es spezifischer Legitimationen. Diese Legitimationen wiederum sind permanent der Kritik ausgesetzt. Kritik ist also der Stachel, der die Formen des „Geistes des Kapitalismus“ herausfordert und vorantreibt. Der Kapitalismus muss demnach um die aktive Teilnahme der Menschen zu ermöglichen, auf Kritik reagieren und sie inkorporieren. Das bedeutet umgekehrt: die „Verwerfungen“ (575) des Kapitalismus, in wenig eleganter Sprache formuliert, die Missstände, resultieren aus falscher und unzureichender Kritik. Diese neu gedacht und auf den Begriff gebracht zu haben, reklamiert das Buch ja für sich. Was Kritik vermag und was nicht, in welche Richtung sie sich entwickeln sollte – alle diese Fragen werden, so der Anspruch, genau beantwortet.

Was ist Kapitalismus für Boltanski und Chiapello?

Um ihren Ansatz zu verstehen ist es vor allem notwendig, ihren Begriff von Kapitalismus nachzuvollziehen. Kapitalismus ist nichts anderes als das formale Prinzip der unbegrenzten Akkumulation, die ihren Sinn in sich selbst trägt. Kapitalismus ist die Form G – W – G’ und sonst nichts! Dieses Prinzip ist a-moralisch, karg und dürr, abgespeckt bis auf die Bewegung der Akkumulation. Sinn, lebensweltliche Deutungen, Moralität, Prinzipien der Gerechtigkeit, Legitimationen und Motivationen, all das muss von außen an den Kapitalismus herangetragen werden, ohne dieses Fleisch und Blut könnte er jedoch nicht existieren. Da er permanent wesensfremde Ergänzung benötigt, benötigt er eben einen Geist, der ihn legitimiert, aber zugleich auch begrenzt und zügelt, so ihre These. Sehr schematisch positionieren sich die AutorInnen zwischen zwei ihrer Konstruktionen: „zwischen Theorien nietzscheanisch-marxistischer Prägung, die in der Gesellschaft nichts weiter sehen als Gewalt, Machtverhältnisse, Ausbeutung und Interessenskonflikt und Theorien, die sich eher auf die politischen Vertragsphilosophien beziehen und dabei die Formen der demokratischen Debatte und die Bedingungen sozialer Gerechtigkeit in den Vordergrund stellen …“ (67) Die einen, so können wir diese Konstruktion übersetzten, sehen nur die Akkumulation und ihre Auswirkungen, die anderen nur den Bereich der Legitimation und Motivation. Ich kann nicht sagen, das wäre besonders geschickt gemacht. Abgesehen davon, dass ich mit solchen Theorien noch nie konfrontiert wurde – wer kann ernsthaft behaupten, der Kapitalismus beruhe nur auf Zwang, wer kann im Gegensatz dazu seine Existenz leugnen (ich spreche jetzt von AutorInnen, die ernst genommen werden können) – liegt die Crux in ihrer aparten zwei Reiche Theorie: Auf der einen Seite steht das homöopathisch verdünnte Akkumulationsprinzip, auf der anderen die reiche Welt des Sozialen und des Sinns.

Daher könne Kritik nie systematische Kritik am Kapitalismus selbst sein. Kritik entfalte sich in zwei Schritten. Erstmals setze Kritik eine vorsprachliche „als beklagenswert empfundene Erfahrung voraus…“ (79) In nobler Distanz zum Thema lassen es Boltanski und Chiapello erstmals offen, ob die leidvolle Erfahrung bloß subjektiv ist – sie könnte auch anders empfunden werden – oder ob sie einen objektiven Index trägt.

Im zweiten Schritt müssen diese leidvollen Erfahrungen sprachlich formuliert werden. Wenn leidvolle Erfahrung versprachlicht wird, und nur so wird sie zur Kritik, dann muss sie sich entweder in eine der existierenden Formen der Weltdeutungen (Polisformen) einklinken oder neue produzieren. Als artikulierte Kritik bezieht sie ihre Maßstäbe und Postulate, ihre Wertordnungen und Gerechtigkeitsvorstellungen aus sich selbst. Der Kapitalismus ist „… aufgrund seiner normativen Unbestimmtheit doch nicht dazu im Stande, den kapitalistischen Geist aus sich selbst heraus zu erzeugen.“ (68) Der Kapitalismus selbst ist weder gut noch schlecht, weder gerecht noch ungerecht, weder aufbauend noch zerstörend. Wäre er dies, so könnte er seine eigene, ihm entsprechende Legitimation produzieren. Dazu sei er unfähig: „Er ist auf seine Gegner angewiesen, auf diejenigen, die er gegen sich aufbringt und die sich ihm widersetzen, um die fehlende moralische Stütze zu finden und Gerechtigkeitsstrukturen in sich aufzunehmen, deren Relevanz er nicht einmal erkennen würde.“ (68) Legitimation wie Delegitimation vollzieht sich jenseits seines Bannkreises. Sowohl die Gründe für die aktive Teilname als auch die Gründe für die Kritik am Kapitalismus entstammen also aus Sphären, die dem Kapitalismus wesensfremd sind, das ist die Pointe, die es zu begreifen gilt. Da aber der dominante Geist des Kapitalismus die Verhältnisse prägt, folgt daraus: Der Kapitalismus ist das, was wir aus ihm machen. Wir müssen (und können) ihn nicht überwinden, aber gestalten.

Freilich, ganz eindeutig sind die Formulierungen auch nicht. Der Kapitalismus wird einerseits als formales Akkumulationsprinzip konzipiert, andererseits werden ihm „zerstörerische Begleiterscheinungen“ (569) zugesprochen. Der gewählte Ausdruck ist symptomatisch:  „Begleiterscheinungen“, das zielt nicht auf seinen Kern. Politisch läuft „Der neue Geist des Kapitalismus“ auf den Vorschlag hinaus, den Kapitalismus zu zügeln und zu modifizieren. Das ist wohl nicht besonders originell oder aufregend. Spezifisch ist jedoch die Behauptung, alles jenseits des Prinzips der reinen Akkumulation sei außerkapitalistisch. Eine paradigmatische Passage sei dazu angeführt: „Eine der Schwierigkeiten, auf die der Kapitalismus bei der Suche nach Akzeptanz stößt, besteht u. E. darin, dass er sich an die Menschen wendet, die ganz und gar nicht bereit sind, dem Akkumulationsprozess alles zu opfern, weil sie sich eben nicht voll und ganz mit ihm identifizieren und weil sie weiterhin mit anderen Systemen in Kontakt stehen – z.B. familiäre Bindungen, bürgerschaftliche Solidarität, Geistes- oder auch religiöses Leben.“ (519) Aus der dominierenden und bestimmenden sozialen Beziehung wie bei Marx finden wir uns in einer Welt der sauber getrennten sozialen Sphären mit aparter Eigenlogik wieder. Aber selbst das Prinzip der Kolonialisierung der Lebenswelt durch das System, wie bei Habermas, fehlt.

Andererseits lassen die AutorInnen (und nicht nur in dieser Passage) den Kapitalismus als handelndes Subjekt auftreten. Gut, diese Formulierungen sind Metaphorik, aber auch Metaphorik muss für reale Verhältnisse stehen. Bei Marx ist es klar: Der Kapitalismus ist vom Kapitalisten nicht zu trennen. Der Ausgleich der Profitrate schweißt die feindlichen Brüder zu einer sozial und politisch handelnden Klasse zusammen. Mit ihren Begriffen und in ihrer Sprache konkurrieren diese deutenden Eliten um die Gestaltung prokapitalistischer Politik, sei es auf der Makroebene, sei es auf der Miroebene. Bei Boltanski und Chiapello hingegen stehen die Menschen allesamt vorerst außerhalb des Kapitalismus, wie wir soeben gelesen haben. Die Identifikation erfolge stets in spezifischer Form und Brechung, bestimmt durch den je dominierenden Geist des Kapitalismus, der wiederum nicht aus dem Kapitalismus selbst resultieren kann. Durch welche Handlungsvollzüge wird also die Logik des Kapitalismus eingespeist? In jener Passage, in der die Durchsetzung von Ausschlussmechanismen dargestellt wird, stellen sich die AutorInnen diesem Problem. Ein systematisches Kalkül wollen sie nicht erkennen, stattdessen schlagen sie uns folgende Überlegung vor: „Allem Anschein nach entstehen die Exklusionsprozesse, die im Folgenden beschrieben werden sollen, aus einer Anhäufung von Miromodifikationen und Mikroverschiebungen, an denen von vielen Seiten mit gutem Willen und oft in bester Absicht mitgewirkt wurde.“ (282) Die Logik des Kapitalismus wirkt als fremder und äußerlicher Sachzwang auf die Dimension des sozialen Handelns, welches für sich genommen stets einer nichtkapitalistischen – wenn auch den Kapitalismus legitimierenden und affirmierenden – Eigenlogik folgt. Handeln die Menschen also aktiv, postulieren sie Werte und verfolgen sie Ziele, so müssen sie einer der Formen der Polis, die sich wohl kombinieren lassen, folgen.

Die Formen der Polis

Bevor wir uns dem meist zitierten Aspekt dieses Buches zuwenden, nämlich den Formen der Kritik, werfen wir einen Blick auf die Formen der cité, wohl etwas unglücklich als Polis übersetzt. Dieser Ausdruck, laut Übersetzer mit den AutorInnen abgesprochen, hat kaum etwas mit der antiken Polis zu tun, sondern meint so etwas wie „strukturierte Öffentlichkeit“ (711), was immer dies auch bedeuten mag. Blicken wir näher auf die Beschreibungen der verschiedenen Arten von Polis, so lässt sich dieser Begriff am ehesten mit einem Bündel von Legitimations- und Deutungsvorstellungen in bestimmten Praxisfeldern identifizieren. Bis zur gegenwärtigen Epoche hätte es sechs solcher Muster gegeben. Die erleuchtete Polis, die familiäre Polis, die Reputationspolis, die bürgerweltliche Polis, die marktwirtschaftliche Polis und die industrielle Polis. Eine kapitalistische Polis kann es aus der Schichtweise der AutorInnen klarerweise nicht geben, das bloße Akkumulationsprinzip schafft keine Deutungsmuster und Bewertungsmaßstäbe. Alle angeführten Polisarten sind keine Variation eines übergeordneten fiktiven kapitalistischen Polis, sondern besitzen eine außerkapitalistische Eigenlogik, das ist der Punkt. Die industrielle Polis „gründet die Wertigkeit (...) auf der Effizienz und bestimmt eine Skala professioneller Kompetenz“. (63) Diese Polis ist dem industriellen, wissenschaftlichen Fortschritt verschrieben, als Protagonist könnte wohl der Ingenieur gelten. In der marktwirtschaftlichen Polis – der Markt ist für die AutorInnen kein genuin kapitalistisches Prinzip – wäre es der erfolgreiche Kaufmann. Die erleuchtete Polis findet in Authentizität und Aura ihren Maßstab, die familiäre in der sozialen Positionierung in der Familiengenealogie. Die Reputationspolis und die bürgerweltliche Polis beziehen sich auf Bewertungs- und Wertschätzungsprozesse in der Öffentlichkeit. Uns interessieren nun weniger die zahlreichen offensichtlichen Anknüpfungspunkte an soziologische Klassifikationen - die Parallelen mit der protestantischen Ethik als nichtkapitalistischer Antrieb für den Erfolg durch kapitalistisches Handeln bei Max Weber liegt auf der Hand,  sondern die eigentümlich beschränkte Reichweite dieser idealtypischen Konstruktionen. Einerseits beziehen sie sich auf das Wirtschaftsleben im engeren Sinne, andererseits beinhalten sie darüber hinausweisende Momente. Trotzdem lassen sie viele Aspekte, die allen Legitimationsvorstellungen inhärent sein müssen, völlig unberührt. Diese Polisarten liefern bestenfalls bestimmte Elemente, jedoch kein umfassendes Weltbild, das Fragen nach der sozialen und politischen Ordnung, nach Krieg und Frieden, der internationalen Ordnung, der Legitimation der Herrschaftsformen, der Geschlechterverhältnisse und Vorstellungen von Moral und Sittlichkeit usw. beinhalten muss. Selbst wenn Boltanski und Chiapello die familienweltliche und die marktwirtschaftliche Polis zum ersten Geist es Kapitalismus (etwa bis 1930) und die industrie- sowie bürgerweltliche Polis zum zweiten Geist des Kapitalismus (in etwa 1930 bis 1960; Seite 55) kombinieren, so bleiben auch diese Kombinationen weit hinter den tatsächlich notwendig existierenden Gerechtigkeits- und Legitimationsvorstellungen, um in ihrer Sprache zu bleiben, zurück. Zu viele Dimensionen bleiben unbesetzt.

Die Formen der Kritik

Virulent wird diese Reduktion des Ideologischen bei der Bestimmung der Kritikformen, deren Inkorporation schließlich eine siebente Form der Polis und einen dritten Geist des Kapitalismus hervorgebracht haben sollen. Dieser Teil ihrer Arbeit wurde wohl am meisten rezipiert. Boltanski und Chiapello unterscheiden vier Formen von Kritik, die sie in zwei Perspektiven gliedern. Die Künstlerkritik umfasst die Elemente der beklagten Entzauberung, der fehlenden Authentizität und der Unterdrückung von Freiheit und Autonomie;  die Sozialkritik die Kritik an der Armut sowie den durch den Kapitalismus provozierten Opportunismus und Egoismus. (80) Obwohl diese beiden Kritikformen durchaus in Kombination auftreten können, besitzen sie, so die AutorInnen, doch eine eigenständige Logik, die sogar zum Konflikt führen kann. Die vorgebrachten Einwände, diese Kritikdimensionen würden sich keineswegs notwendig widersprechen finde ich nicht wirklich überzeugend. Mit Alex Demirović etwa kann man gegen diese Konstruktion einwenden: „Wenn, wie Boltanski und Chiapello es vorschlagen, die Artikulation der Kritiken allein in zwei Signifikantenketten und die Bildung von zwei leeren Signifikanten, das Soziale und das Ästhetische, in den Blick genommen wird, dann wird die Vielfalt der Kritiken reduziert. Ebenso problematisch ist, dass Boltanski und Chiapello ein Verständnis von Kritik vertreten, wonach die Empörungs- und Unzufriedenheitsmotive a priori die beiden Formen von Sozial- und KünstlerInnenkritik annehmen müssen und legen damit selbst eine gleichsam objektiv bestehende Distanz zwischen beiden nahe. Es wird damit die kulturelle Bedeutung der Sozialkritik ebenso ignoriert wie die soziale Dimension der KünstlerInnenkritik. Zudem bleibt außer Betracht, dass es unterschiedliche soziale Kräfte gibt, die mit diesen Kritiken verbunden sind.“ (Demirović, 2008; 35) Vom Standpunkt der AutorInnen könnte dagegen eingewendet werden, dass es sich ja um idealtypische reine Formen handle, deren konkrete Vermischung nicht bestritten wird, im Gegenteil. Auch die Einwände von Lazzarato treffen meines Erachtens nicht den Kern. Lazzarato verweist zu Recht auf die Tatsache, dass es grade KünstlerInnen waren, die massive Sozialkritik aus ihrer ureigensten Perspektive äußerten. Zu behaupten, Sozialkritik wäre KünstlerInnen fremd und äußerlich, verkenne fundamental ihre tatsächliche Existenz und ihre Bedürfnisse. Ein solches Bild vom Künstler und seiner Kritik würde den „im Kulturministerium tagenden Liberalen“ entsprechen, nicht der Realität. „…Ungleichheiten durchziehen die so genannten Kreativberufe, welche nach Boltanski/Chiapello die ‚Künstlerkritik’ tragen, in ihrem Inneren. Keiner der Berufe, die sie als Träger der Künstlerkritik anführen, bildet eine homogene Entität; vielmehr haben wir es mit einem Ensemble von Situationen zu tun, die in ihrem Inneren einer starken Ausdifferenzierung unterliegen, …“ Letztlich, so Lazzarato „…präsentieren uns [Boltanski und Chiapello K.R.] hier eine Neuauflage der Opposition von Freiheit und Gleichheit, Autonomie und Sicherheit …“ (Lazzarato 2007)

Die zwei Etappen der Inkorporation der Kritik. 1968 bis 1975 Sozialkritik, ab 1975 Künstlerkritik

Dass Künstler- und Sozialkritik nicht jenen substanziellen Widerspruch beinhalten, der in manchen Passagen (in anderen keineswegs) bei Boltanski und Chiapello anklingt, ist wohl ein richtiger Einwand. Weit entscheidender ist aber ihre Entsubstanzialisierung der Inhalte dieser Kritiken. (Wer allerdings diese Entsubstanzialisierung mitträgt, kann sie wiederum schwerlich einklagen.) Diese Entleerung und Verharmlosung trägt die eigentliche These: Nach 1968 hätte der Kapitalismus in zwei Etappen auf die geäußerte Kritik der 68er Bewegung reagiert, bis 1975 wäre die Sozialkritik, nach 1975 die Künstlerkritik inkorporiert worden. Diese These funktioniert nur, weil die tatsächliche Kritik der 68er Bewegung verflacht und eingeebnet wird, so weit, dass sie sogar mit der Managementliteratur der 90er Jahre und den konkreten Praktiken des Kapitals kompatibel wird. In der Verzerrung und Verniedlichung der wohl bedeutendsten Rebellion seit 1917 besteht der eigentliche Skandal dieses Buches. Der strategische Einsatz der Begriffe Künstlerkritik und Sozialkritik bei Boltanski und Chiapello erschließt sich aus ihrer Nutzanwendung auf die geschichtliche Entwicklung des Kapitalismus und seiner Transformationen. Mit dem Geist und der Praxis der 68er Bewegung innerhalb und außerhalb Frankreichs hat das Konstrukt dieser zwei Kritiken nichts zu tun. Wollen wir den Geist der 68er Bewegung erfassen, so sollten wir die These der Neuen Linken, wie sie etwa von Gilcher-Holtey in mehreren Studien entfaltet wurde, studieren. Wir könnten auch im Dokumentenband „Das Leben ändern, die Welt verändern“, herausgegeben von Lutz Schulenburg blättern, wir hätten all jene zahlreichen Dokumente und Berichte zu lesen, aus denen klar hervorgeht, dass die 68er Bewegung eine radikale Kritik an Institutionen und Formen des Kapitalismus entfaltet: Ob Familie, Kapitalismus und Geld, Staat und Herrschaft an sich, ob die Universität als Institution, letztlich stand das Establishment insgesamt zur Disposition. Ob wir uns heute über diese fundamentale Institutions- und Formenkritik erhaben oder uns noch immer mit ihr verbunden fühlen ist für die These einerlei, dass die Darstellung bei Boltanski und Chiapello diese Aspekte nicht einmal im Keim erfassen will. Form- und Institutionskritik ist nicht vorgesehen. Ungeniert wird etwa das Bedürfnis nach Selbstbestimmung, welches 68 selbstverständlich bedeutete alle kapitalistischen und gesellschaftlichen Formen des bürgerlichen Lebens als Hindernis dafür zu kritisieren, so systemkonform hingebogen, bis es unter anderem mit der Kritik an starren Befehlsstrukturen im Management der 90er Jahre kompatibel wird. Dass sich die Menschen ein Jenseits des Kapitalismus vorstellen konnten und dieses auch anstrebten, ist in ihrer Konzeption der Künstler- und Sozialkritik völlig verschwunden.

1968 bis 1975 Sozialkritik

Sehen wir uns ihre Darstellung näher an. Von 1968 bis Mitte der 70er Jahre, so die AutorInnen, hätte die Reaktion auf die Sozialkritik dominiert. Das heißt, die Unternehmungen wären mehr oder minder auf soziale, ökonomische Forderungen eingegangen. Nun, es ist richtig, dass der Mai 68 und auch das nahe Bespiel der ArbeiterInnenkämpfe in Norditalien zu gewissen ökonomischen Zugeständnissen genötigt hat. Aber ging es den ArbeiterInnen nur oder gar vorrangig um Lohn und Urlaubszeiten? Tatsächlich dominierte die Erkenntnis, dass „die Mauern des Kapitalismus ein Loch hatten“ (Rauch, Schirmbeck 1998; 149), dass ein anders Leben möglich schien. Dass die Macht von Kapital und Management in den Betrieben gebrochen werden konnte. Das magische Konzept der „autogestion“, der „Selbstverwaltung“, implizierte klarerweise einen Bruch mit kapitalistischen Verhältnissen. Selbst wenn Kapitalismus auf das Prinzip der formalen Akkumulation eingeschränkt wird, steht „autogestion“ dazu im krassen Widerspruch. Die Explosion der Befreiungsbestrebungen im Mai 68 und in den folgenden ArbeiterInnenkämpfen (so erfolgte die Besetzung der französischen Uhrenfabrik LIP erst 1974) wird auf eine Kritik an autoritären Führungsstilen heruntergebrochen, also ob es um ein erweitertes Konzept der Mitbestimmung gegangen wäre.

So domestiziert können Boltanski und Chiapello den Überschuss über bloße Lohnforderungen durchaus erwähnen. Exemplarisch für Stil und Typus der Darstellung erscheint mir folgende Passage: „Ausgangspunkt [für Konflikte K.R.] waren bisweilen individuelle Streitigkeiten wie z.B. der Protest gegenüber einem Vorarbeiter, er nütze seine Machtstellung aus. Die parallel dazu erfolgten Transformations- und Übersetzungsleistungen der Gewerkschaften mündeten jedoch in ein ‚ökonomisches’ Forderungspaket, das für die Gewerkschaften interessant war, weil dadurch die vertragliche bzw. kategoriale Basis weiter ausgedehnt werden konnte, und das auch die Arbeitgeber als verhandelbar ansahen.“ (229) Das Bestreben nach „autogestion“, die Überwindung der kapitalistischen Strukturen, wird zum Zoff mit dem Vorarbeiter. Allerdings, und das ist einer der positiven Aspekte des Buches, zeigen die AutorInnen durchaus reale und tatsächliche Faktoren auf. Sie betonen, dass die Inflation es dem Kapital leichter machte „… auch in Lohnfragen spendabler“ (232) zu sein. Sie zeigen vor allem die Befürchtung des Kapitals auf, die Gewerkschaften könnten die Kontrolle über ihre Basis verlieren (231), gerade und weil die Gewerkschaften jeden Konflikt in einen ökonomischen „übersetzten“. Wer nun nicht die Entleerung und Manipulation beim Begriff der Selbstbestimmung erkennt, hält diese Passagen leicht für eine adäquate und höchst kritische Darstellung der Verhältnisse.

Ab 1975 Künstlerkritik

Die frühen 70er Jahre, so Boltanski und Chiapello, hatten also für das Kapital nicht das gewünschte Ergebnis gebracht. Die ökonomischen Zugeständnisse erwiesen sich als nicht unbeträchtlich und schmälerten den Profit – „Die Rezession der Jahre 1974/75, die die Umsatzzahlen und Gewinnmargen schrumpfen ließ, öffnete den Verantwortlichen die Augen und offenbarte die Kosten der seit 1968 betriebenen Politik“ – daher griff die Avantgarde des Kapitals zu neuen Methoden. Dass die Initiative „… von der Avantgarde unter den Arbeitgebern“ (235f) ausging, wird explizit bekräftigt. An diesem Punkt findet auch ihre Analyse der Managementliteratur ihren Platz. Diese Literatur, so die AutorInnen, würde das theoretisch formulieren und fordern, was nach 1975 nach und nach Praxis wurde: Produktion und Gesellschaft werden in ein Netzwerk umstrukturiert. Völlig ungeniert wird dabei behauptet, jene Methoden, die starre Hierarchien und bürokratische Lenkungsmechanismen ablösen sollten, seien der 68er Bewegung entsprungen: „Wie uns scheint, reagiert demnach das Neomanagement allem Anschein nach auf die beiden Bedürfnisse nach Authentizität und Freiheit, die historisch gemeinsam von der sogenannten ‚Künstlerkritik’ getragen wurden, und vernachlässigt demgegenüber die traditionell in der ‚Sozialkritik’ verbundenen Problemfelder des Egoismus und der Ungleichheiten. (…) Darin lässt sich unschwer ein Echo der antiautoritären Kritik und der Autonomiewünsche erkennen, denen Ende der 60er und in den 70er Jahren mit Nachdruck Ausdruck verleiht wurde.“ (143)

Boltanski und Chiapello erkennen keinerlei Problem darin, dass, wie sie selbst beschreiben, die Initiative vom Kapital ausging. Ohne Federlesens wird die Kritik an „den herrschenden Arbeitsbedingungen und insbesondere gegen den Taylorismus“ (236) mit dem Entstehen der projektorientierten Polis verknüpft und als Realisation der Freiheitssehnsüchte des Mai 68 interpretiert. Der Preis: „In gewisser Hinsicht wurde durch einen Politikwechsel Sicherheit gegen Autonomie eingetauscht. Der Kampf gegen die Gewerkschaften und die Zuerkennung größerer Eigenständigkeit und individueller Vergünstigungen werden mit denselben Mittel, d.h. durch veränderte Arbeitsorganisation und Produktionsprozesse verfolgt.“ (243) Die AutorInnen sind freilich so realistisch, dass sie die tatsächlichen Verhältnisse nicht unerwähnt lassen können. Dass alle diese Maßnahmen dem „wichtigsten Ziel der Arbeitgeber, nämlich die Herrschaft in den Unternehmen wieder an sich zu reißen“ untergeordnet waren, wird ebenso anerkannt, wie die Tatsache, dass „Kontrolle durch Selbstkontrolle abgelöst wurde“ (244). Was den Text jedoch durch die inzwischen zahllosen Darstellungen postfordistischer Verhältnisse unterscheidet, ist das Insistieren der AutorInnen auf der These, all diese Entwicklungen hätten die Künstlerkritik des Jahres 68 verwirklicht. Um noch eins draufzusetzen übertiteln Boltanski und Chiapello den Abschnitt über die sozialdemokratische Regierung in Frankreich ab 1981 mit „Die 68er Generation an der Macht.“ (250) Wenn schon der Begriff der Autonomie jede Entstellung erleiden musste, warum die 68er Bewegung davon ausnehmen? Mit Erstaunen („paradoxerweise“) registrieren Boltanski und Chiapello das Faktum, dass sich die französische Sozialdemokratie als Vorkämpferin der postfordistischen Umgestaltung entpuppt.

Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie in den diversen akademischen Seminaren diese Thesen von völlig ahnungslosen und uninformierten Studierenden bierernst in diverse Seminararbeiten gegossen werden. Ja so sei das halt mit der Kritik; schon verflixt integrativ und dynamisch dieser Kapitalismus… Und ein wenig Ressentiment gegen die Revoluzzer von damals ist auch noch unterzubringen. Tatsächlich findet sich auch die Mär, die 68er wären im Grunde eine Karrieregeneration gewesen. „Oftmals entstammen sie [die neuen Manager] der linken Szene und vor allem der Arbeiterselbstverwaltung.“ (143) Wenn es nicht so tragisch wäre, wäre es auch amüsant.

Netzwerk und Projekt

Boltanski und Chiapello vermeiden es jedoch geschickt, die neuen Steuerungsmedien der postfordistischen Phase, in der vorgeblich die Künstlerkritik zu realen Verhältnissen geführt hätte, zu analysieren. Die These, Sicherheit wäre gegen Autonomie eingetauscht worden, wäre damit nicht zu halten gewesen. Statt dessen fokussieren sie auf die formalen Strukturen und auf die damit verbundenen neuen Wertmaßstäbe und Gerechtigkeitsvorstellungen. Dass das Netz zur dominanten Struktur wurde, diese These teilen sie mit vielen AutorInnen. Warum sprechen sie nun nicht von einer Netzpolis, analog zur Netzwerkgesellschaft von Castells? Dieses Argument trägt: weil das an sich unbegrenzte Netz keine Strukturen ermöglicht; es ist zu uferlos, zu entgrenzt, um irgendwelche Verbindlichkeiten und soziale Positionierungen zu ermöglichen. Es strukturiert nicht. Im Gegensatz dazu stellt das Projekt einen temporären Knoten im Netz der. Zwar kommt das Projekt aus dem Netz und löst sich darin wieder auf, aber im realen Handlungsvollzug findet sich das Individuum – wir werden noch sehen, welches – in einer Kette von Projekten. An die Stelle der linearen Karriere auf vorgefertigten Leitern, tritt das Vermögen,  sich möglichst prominent in Projekte einzubringen, und nach Möglichkeit die Bewährung in einem Projekt als Sprungbrett für weitere zu benützen.

Die Handlungs- und Bewertungsdimensionen ergeben sich also aus der Projektarbeit vor dem Hintergrund des Netzwerkes. Bei der Darstellung der Bewertungskriterien, die die AkteurInnen aus dem Handlungsvollzug im Wechselspiel von Projekt/Netz entwickeln, finden wir Max Webers Methodologie voll entfaltet. „Um sich auf die jeweilige Situation einzustellen, gleichzeitig man selbst zu bleiben und interessant wirken, bedient sich der Netzwerkmensch seiner kommunikativen Kompetenz, seines umgänglichen Charakters, seines offenen und neugierigen Geistes.“ (160) Der Netzwerkmensch ist „Impulsgeber, ein Lebens – Sinn- und Autonomiestifter“ (161) Ich kürze die Aufzählung dieser Qualitäten ab, sie finden sich in jedem Anforderungsprospekt an die Arbeitskraft. Die soziale Situation des Projekts, eingebettet ins Netz, würde eine spezielle Skala an Werten und Gerechtigkeitsvorstellungen generieren, die die AkteurInnen subjektiv für die Beurteilung der eigenen und der fremden Handlungen benutzen würden. So würde z.B. das Zurückhalten von Information und das Monopolisieren von Kontakten als unredlich, das Gegenteil als positiv wahrgenommen. Sehr ausführlich beschrieben nun die AutorInnen die neue Ethik der projektbasierten Polis. Freilich – die unterstellte Autonomie existierte niemals. Zwar wird behauptet: „Die Forderung nach Autonomie wurde in die neuen Unternehmensstrukturen integriert. So konnten die Arbeitnehmer wieder in den Produktivprozess eingebunden und die Kontrollkosten über den Umweg einer Selbstkontrolle verringert werden, in der Eigenständigkeit und Verantwortungsbewusstsein gegenüber Kundenanliegen oder kurzen Produktionsfristen miteinander gepaart wurden. Die Forderung nach Kreativität wurde vor allem von den Angestellten mit hohem Ausbildungsabschluss – Ingenieure, Führungskräfte – erhoben und stieß vor dreißig Jahren auf ein unverhofft positives Echo, …“ (375)

Gegen diese Darstellung wäre einzuwenden: Von Autonomie konnte in keiner Phase die Rede sein, stets waren Vorgaben zu erfüllen. An die Stelle der bürokratisch, administrativen Lenkung traten einerseits die Gewinnvorgaben, andererseits die Evaluation. Zudem stellte diese Art der Pseudoautonomie keine qualitative Neuentwicklung dar, schon das frühkapitalistische Verlagswesen funktionierte nach diesem Prinzip. Verwirklicht wurde jene Art von Autonomie, die es etwa dem Taxilenker frei lässt, wo und wann er seine Kundschaft herumfährt, im Gegensatz zum Lenker eines Linienbusses. Neu hingegen war die quantitative Ausweitung. Es ist schon bezeichnend, dass die AutorInnen in ihrem voluminösen Werk kein Wort über den Übergang zu Markt- und Profitmechanismen als jene Steuerungsmedien verlieren, die, verglichen mit den bürokratischen Abläufen, eine bestimmte Scheinautonomie ermöglichen. Kein Wort zur wuchernden Evaluationswelle, die in bestimmten Bereichen (z.B. Universität) einen wahren Seuchencharakter angenommen hat und dazu zwingt, jeden Schritt und jedes Verhalten durch mehrfache Beurteilungsverfahren zu legitimieren. Entscheidend ist, dass sowohl die Markt- und Profitsteuerung als auch die Evaluationswelle stets integrale Bestandteile der Projekte sind. Diese Kalküle sind dem Projekt keineswegs fremd, sondern bestimmen und durchdringen es permanent. Boltanski und Chiapello hingegen unterstellen durchgehend ein ungetrübtes Ausmaß an Autarkie, so, als ob es sich das Projekt selbst ins Leben rufen (bzw. von einem genialen Netzwerker erdacht wäre) und nur nach eigenen, internen Maßstäben funktionieren könnte.

Krise und Enttäuschung: die Grenzen der projektorientierten Polis

Allerdings können die AutorInnen bereits Ende der 90er Jahre die offensichtlichen Grenzen des „zweiten Geistes des Kapitalismus“ erkennen. Auch wenn sie das Phänomen der Projekte kühn mit tatsächlicher Autonomie gleichsetzen, so verlassen sie doch niemals radikal die empirische Basis. Im zweiten Abschnitt des Buches zeigen sie durchaus nüchtern die zweite, wahre Seite der Netzwerkgesellschaft. Es wird klar, dass die Teilhabe am Netz vermittelt über die Perlenkette der Projekte nur die Elite betraf. Die alten fordistischen Arbeitsformen blieben bestehen. „Die verfügbaren Zahlen bieten in der Tat ein kostrastreiches Bild. Zugunsten derer, die an der Taylorisierung festhalten wollen, lässt sich anführen, dass die Fließbandarbeit nicht rückläufig ist und bei den 40- bis 45-Jähgrigen, die bisher kaum davon betroffen waren, sogar zunimmt. (…) Außerdem hat die Taylorisierung auch im Dienstleitungssektor zugenommen.“ (263) Leiharbeit wie temporäre Arbeitsverhältnisse würden zunehmen, auch die vorerst behauptete Autonomie wird Schritt für Schritt relativiert. „Die Beschäftigten sind in ihren Arbeitszeiten freier und die Teilzeitarbeit kam vielen Wünschen entgegen. Nichts davon ist falsch. Andererseits sieht die Bilanz der kapitalistischen Transformationen in den letzten Jahrzehnten nicht besonders rosig aus.“ (308) Hundertfünfzig Seiten später ist der Enthusiasmus nochmals geschrumpft: „Andererseits kann man aber auch nicht die Augen davor verschließen, wie die gegenwärtigen Formen des Kapitalismus die Autonomie begrenzen und in Ansätzen rückgängig machen. Dabei wird das autonome Handeln nicht nur als eine Möglichkeit oder als ein Recht repräsentiert. Man verlangt es gewissermaßen von den Menschen. Deren Wertigkeit immer häufiger an ihrem Selbstverwirklichungspotential gemessen wird.“ (462) Diese Vieldeutigkeit der Aussagen haben klarerweise einen immunisierenden Effekt. Kritische Einwände können durch Zitate relativiert werden, freilich auf Kosten einer bestimmten Unschärfe der Aussagen. (Ein Beispiel wäre die bereits erwähnte Frage der Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit von Künstler- und Sozialkritik.)

Werden die Aussagen und Analysen ein wenig kritisch gelesen, so ergibt sich letztlich folgendes Bild: Der neue Geist des Kapitalismus, also die Werte der Netzwerkgesellschaft und der Projekte betrafen und betreffen eine Elite. Der Abbau der Hierarchien forcierte nicht nur die Selbststeuerung sondern eröffnete auch die Möglichkeit, das teure und selbst nicht arbeitende „Führungspersonal“ ein für alle mal loszuwerden. („Das ‚schlanke’, ‚verjüngte, ‚abgespeckte’ Unternehmen [Toyota K.R.] hat die meisten seiner Hierarchiestufen – mit Ausnahme von drei bis fünf – aufgegeben, wobei ganze Hierarchieebenen in die Arbeitslosigkeit entlassen werden.“ (112)) An die Stelle der bloß überwachenden Abteilungsleiter tritt nun der selbst werkende Projektleiter oder das zentrale Team. Immer wieder wird unverhüllt auch Klartext gesprochen: „Denjenigen, die übernommen werden und ‚dazugehören’, müssen weiterhin Berufsperspektiven geboten werden und andererseits darf man den anderen, die nur sporadisch benötigt werden und ‚nicht dazu gehören’ keine falschen Hoffnungen machen.“ (281)

Ausbeutung

Trotz zunehmend nüchternen und relativierenden Formulierungen, was die tatsächliche Verwirklichung von Autonomie in Projekt und Netz betrifft, halten die AutorInnen an der Bedeutung der Netzwerkstruktur fest. Gerade weil nicht alle in Netz und Projekt eingebunden und diese Strukturen mehr oder minder Eliten vorbehalten sind, gerade deswegen lassen sich spezifische Züge des gegenwärtigen Kapitalismus erkennen: allen voran der neue Typus von Ausbeutung. Ihre These zeigt viele Überschneidungen sowohl mit „Empire“ als auch mit Castells Trilogie. Ohne auf die Marxsche Analyse von Mehrwert und seinen Erscheinungsformen einzugehen wird versucht Begriffe wie Ausbeutung, Profit, Produktivität usw. unmittelbar an die neuen Strukturen zu knüpfen. Atmosphärisch wird ohne weitere Begründung ein Zusammenhang zwischen neuen Aspekten der sozialen Ordnung und der Quelle des Profits behauptet. Während Castells die Informationstechnologie als Springpunkt der Produktivität zu entdecken meint, Hardt und Negri das ganze Leben als produktiv erklären ohne nur im geringsten die Unterscheidung zwischen Tauschwert und Gebrauchswert zu berücksichtigen, vermeinen Boltanski und Chiapello schlicht in der Netzstruktur selbst die Ursache des Profits zu erkennen. „Wir werden im Fortgang der Analyse den Gedanken entwickeln, dass der Ausbeutungsbegriff vor allem für eine Welt der Ausbeutung in einer konnexionistischen Welt sinnvoll ist, d.h. einer Welt, in der die Profite über eine Vernetzung der Unternehmenstätigkeit erzielt werden.“ (391)

Allen diesen Theorieelementen ist eigen, dass sie plausibel sind, weil ja tatsächlich Profit und Ausbeutung irgendwie mit den genanten Faktoren zu tun haben. Über das Irgendwie kommen diese Ansätze jedoch nicht hinaus, aber offenbar fehlt auch der argumentative Druck einer informierten Marxistischen Theorie im akademischen Bereich, um weitere Präzisionen einzufordern. Ausbeutung gründe letztlich auf dem „Mobilitätsdifferenzial“ (411) Die Mobilen schöpfen den Mehrwert durch ihre fließenden Bewegungen im Netz, aber ihre Beweglichkeit, ihre Fähigkeit heute hier und morgen dort Kontakte zu knüpfen und Projekte zu produzieren beruhe auf der Immobilität der Anderen. Gäbe es nur noch Netzwerkmenschen würde die feste Basis für ihre Mobilität fehlen. Mobilität der einen setze also die Immobilität der anderen voraus. „Die Ausbeutung bleibt so lange im Unklaren, wie man nicht begreift, dass die Immobilität der einen Voraussetzung für die Mobilität der anderen ist.“ (400) Einmal entwickelt, wird diese Theorie auf alle Phänomene appliziert. Alles und alle die mobil sind (die Elite, aber auch das fiktive Finanzkapital) schöpfe den Gewinn durch die Ausbeutung der Nichtmobilen (der Nicht-Elite ebenso wie des fixen Kapitals). „Wenn es richtig ist, dass die Immobilität der einen die Voraussetzung für die Profite ist, die andere aus ihrer Beweglichkeit erzielen, und dass die Mobilität Profite bietet, die sich überhaupt nicht vergleichen lassen mit dem, was die Ortsgebundenen auch nur erhoffen können, dann lässt sich behaupten, dass die immobilen von den mobilen Akteuren ausgebeutet werden.“ (401) Dieser Dualismus von mobil und immobil könne zwar nicht zurückgenommen, wohl aber politisch bearbeitet und modifiziert werden. Auf dieser Basis könnte sich auch die Sozialkritik erneuern, etwa durch den Vorschlag, die Mobilitätschancen aller zu erhöhen. Als positive Maßnahme in diese Richtung wird das RMI (Revenue minimum d’ insertion) zitiert. Diese Wiedereingliederungsmaßnahme der französischen Regierung ist de facto nichts anders als eine geringe Sozialhilfe, die nur dann gewährt wird, wenn die Klienten einen formalen Vertrag unterschreiben, in dem sie sich verpflichten eigenverantwortlich Aktivitäten zu setzen, um wieder in die Gesellschaft eingegliedert zu werden. Dem RMI liegt also ein Vertrag zwischen der „Gesellschaft“, repräsentiert durch die Bürokratie und den so genannten Ausgegliederten zugrunde. Tatsächlich ist dieser Vertrag nur eine Schikane, ein Hartz IV auf Französisch. „Der ‚gegenseitig’ verpflichtende Vertrag wird zur Farce, es handelt sich – in der Durchführung – um ein typisches einseitig verpflichtendes, öffentlich-rechtliches Unterordnungsverhältnis.“ (Knecht 2002; 117) Es existiert nebenbei gesagt keine einzige Studie, die die negativen Folgen der Behandlung von Menschen durch die Sozialstaatsbürokratien untersucht, keine einzige! So materialisiert sich eben die Doktrin, dass es sich dabei nur um unterstützende Hilfe handeln kann. Unseren französischen Star-SoziologInnen scheint eine solche Untersuchung auch nicht gefehlt zu haben.

Die Umdeutung der Künstlerkritik

In den letzten Abschnitten ihres Buches wird das Konzept, die Entwicklung des Kapitalismus als Inkorporation der Kritik zu interpretieren, nochmals extrem gedehnt. Alles, und sei es noch so gegensätzlich, wird diesem Schema unterworfen. So wird die behauptete Abwendung von der Massenproduktion mit der Kritik „an der Inauthentizität als einer Vermassung und Uniformierung des Menschen“ durch „Mitglieder der Frankfurter Schule, wie T. Adorno, M. Horkheimer und H. Marcuse“ (475) unmittelbar in Verbindung gebracht. Wie wurde z.B. die Philosophie Adornos unmittelbar praktisch? So: „Die Massenfertigung wurde so verändert, dass eine differenzierte Warenpalette mit kürzerem Produktionszyklus und schnellerer Veränderbarkeit (…) angeboten werden konnte, die sich von den standardisierte Produktreihen des Fordismus unterschied.“ (477) Abgesehen von der Bezweifelbarkeit des empirischen Gehaltes dieser Aussage – das Massenprodukt ist nach wie vor zentral – zeigt sich die Methode: suggestiv wird Kritik auf einige Schlagworte verkürzt (Authentizität, Autonomie), deren Einlösung dann kurzum behauptet wird. Nichts soll fehlen. Selbstredend sind die AutorInnen mit der Kritik an der Authentizität, dem Subjekt usw. durch populäre Autoren wie Deleuze und Derrida (beide werden explizit erwähnt) konfrontiert. Wobei, und diese Pointe lassen sich Boltanski und Chiapello nicht entgehen, die Parallelen zwischen dem Rhizom-Begriff und dem Differenzbegriff sowie der Netzwerkstruktur nicht zu übersehen sind. Entscheidend ist aber, dass Kritik von Deleuze, Foucault usw. an Authentizität schlicht als weitere Entwicklungsstufe beziehungsweise Variante der Künstlerkritik rubriziert wird. „Parallel zu ihrer Vereinnahmung durch den Kapitalismus führt die Diskreditierung der Forderung nach Authentizität dazu, dass die neuen Authentiztätsansprüche anders formuliert wurden. Im Anschluss an den Dekonstruktionsprozess konnten diese neuen Ansprüche sich nicht länger ‚nativ’ geben wie zuvor, als gäbe es tatsächlich noch eine geschützte Ursprünglichkeit. Daher muss die neue Authentizitätsforderung unablässig in ironischer Distanz zu sich selbst formuliert werden.“ (489) Hier gerät die Chronologie freilich mächtig in Unordnung. Im Mai 68 hatten die später so populären Philosophen wie Foucault, Derrida oder Deleuze absolut keinerlei Einfluss und Bedeutung. Man vergleiche nur das Vorwort des Buches von Daniel und Gabriel Cohn-Bendit, Linksradikalismus (Reinbek 1968), das Journal de la Commune èdudiante von Pierre Vidal-Naquet und Alain Schnapp (Paris 1969) und die diversen Anthologien mit Wandparolen (zum Beispiel Julien Besançon Les Murs ont la parole, Paris, Juni 1968)“ (Castoriadis 2009; 62) Erst nach dem Scheitern der 68er Revolte traten diese Theorien in den Vordergrund. Nach Boltanski und Chiapello lag also die Künstlerkritik bis Mitte der 70er Jahre eingefroren auf Eis, wurde dann zuerst in der ursprünglichen Mai 68er Variante inkorporiert um dann, durch die Resultate der Verwirklichung, in der Form ihres Gegenteiles wieder aufzuerstehen.

Resümee

Thema und Anspruch des Buches erfordern eine energische linke, marxistische Gegenkritik. Gesellschaftskritisches Denken, dass ihre Thesen unwidersprochen lässt, gibt sich selbst auf. Gerade weil ich ihre Grundthese prinzipiell richtig finde – der Kapitalismus kann sich niemals zur alles umfassenden Totalität entfalten und ist immer auf Nichtkapitalistisches angewiesen –ermöglicht die Auseinandersetzung mit dem „neuen Geist des Kapitalismus“ eine präzise Fragestellung nach dem Wie und Womit.

E-Mail: k.reitter@gmx.net

Literatur:

Boltanski, Luc; Chiapello, Ève (2006) „Der neue Geist des Kapitalismus“, Konstanz

Castoriadis, Cornelius, (2009) „Mai 68, Die vorweggenommene Revolution“, Moers

Demirović, Alex, (2008) „Kritik und Wahrheit“ In. Grundrisse Nr. 26, 31 – 40, Wien 2008

Knecht, Alban (2002), Bürgergeld: Armut bekämpfen ohne Sozialhilfe“, Bern, Stuttgart, Wien

Maurizio Lazzarato, (2007)  Die Missgeschicke der „Künstlerkritik“ und der kulturellen Beschäftigung, Übersetzt von Stefan Nowotny, http://eipcp.net/transversal/0207/lazzarato/de/print

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