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Georg Gangl: Space, Place and Gender –
Raum als soziale Kategorie. Ein Überblick
Ich danke
Karl Beyer, Martin Bartenberger, Elmar Flatschart, Christoph Wendler sowie
insbesondere Fu Lo für ihre kritischen Kommentare zu vorhergehenden Versionen
dieses Textes.
Raum als soziale Kategorie – Einleitung
Raum wird
gemacht und ändert sich zum Teil rasant. Was an einem Tag noch die Prunkstraße
des imperialen Wien war, kann am nächsten schon als Fanmeile ganz anderen
Zwecken dienen – dem Konsum und der Beschwipsung an Trank und Nation. Was da
diesen Sommer im Herzen Wiens, namentlich die Fußball-Europameisterschaft, von
Statten ging, war eine der üblichen Raumnahmen im Kapitalismus. Was zuvor als
öffentlich galt und allen Zutritt versprach, wird nun mit bewachten
Eintrittsschleusen versehen, und schon hat sich der Charakter der Straße
geändert: die Blechlawinen rollen jetzt anderswo, dafür darf auf der „Fanmeile“
konsumiert werden – vorausgesetzt, das eigene Geldsäckle lässt ein solches auch
zu.
Räumliche
Restrukturierungsprozesse an sich finden im Kapitalismus andauernd statt. Boden
als Ware bedeutet eben auch private Verfügbarkeit. Und so ist die Geschichte des
Kapitalismus eine der mehr oder minder gewaltsamen äußeren wie inneren Landnahme
im wörtlichen wie übertragenen Sinne. Gerade in den letzten Jahrzehnten hat aber
die kritische Theoretisierung von Raum in breiterer Konzeption als sozial
gemachter Kategorie deutlich zugenommen. Als Beginn dieser Entwicklung kann die
so genannte „Radical Geography“ (vgl. Belina/Michel 2007a; 25ff. sowie allgemein
und sehr ausführlich Soja 2007) angesehen werden, welche seit den 1970er Jahren
kontinuierlich versucht, Raum in kritisch-materialistischer Weise zu fassen[1].
Und insbesondere seit der Debatte um die Globalisierung gilt Raum als wichtige
soziale Kategorie. Denn in dieser wird immer öfter eine so genannte „Time-Space
Compression“ (David Harvey) festgestellt, also eine „Vernichtung des Raums durch
die Zeit“ (Marx 1974a; MEW 42; 430). Viel ist darob heute auch schon von einem „spatial
turn“ die Rede – die materialistische Theoretisierung von Raum scheint also in
sozialwissenschaftlichen Diskursen an Wichtigkeit zu gewinnen. Fest steht
jedenfalls, dass die Theoretisierung von Raum, wohl angestoßen durch die
Veränderungen des globalen Kapitalismus in den letzten Jahrzehnten, an Terrain
gewonnen hat und nun schön langsam auch schon im deutschsprachigen Kontext
angekommen ist[2].
Allen diesen
Theorien gemein ist dabei die folgende Prämisse: „Geographischer Raum wird als
gesellschaftliches Produkt angesehen (...)“ (Smith 2007; 62). Eine von der
Gesellschaftlichkeit abstrahierende Ansichtsweise des Raumes, als abstraktes
Koordinatensystem oder als zu befüllender Container, wird den verschiedenen
Raum- wie Zeitkonzeptionen differierender gesellschaftlicher Verhältnisse
einfach nicht gerecht. So sind abstrakte Fließzeit (vgl. Postone 2003; 287ff.)
und abstrakter Raum Produkte der kapitalistischen Gesellschaft.
Dieser Text hat sich
nun zur Aufgabe gemacht, ebenjenen Zusammenhang von Raum und Gesellschaft
genauer zu ergründen. Im folgenden Kapitel wird zu diesem Zweck zuerst einmal
genauer auf die physikalischen Eigenschaften von Objekten in raum-zeitlichen
Verhältnissen eingegangen. Denn auch wenn Raum als Konzeption und in der Form
unserer Perzeption desselbigen ein gesellschaftlich gemachter ist, so haben
Dinge wie Menschen dennoch eine physische, ja räumliche Ausdehnung, welche
relativ unabhängig von der je konkreten Gesellschaftlichkeit ist. Mit diesem
Kapitel ist sodann die Grundlage dafür gelegt, sich genauer anzuschauen, wie „Space“
and „Place“, Raum und Ort, ja räumlich Globales und Lokales im Kapitalismus
miteinander verstrickt sind und ineinander fließen. Es handelt sich jedenfalls,
soviel sei vorweggenommen, um ein ziemlich vertracktes Verhältnis. Dieses
Verhältnis korrespondiert wiederum mit einer gewissen geschlechtlichen „sozialgeographische[n]
Konnotationsmatrix“ (Strüver 2008; 135), wie Autorinnen wie Doreen Massey (vgl.
Massey 1994) immer wieder betont haben. Auf diesen Kapiteln aufbauend, wird
sodann die so genannte „Politics of Scale“-Debatte (vgl. Wissen/Röttger/Heeg
2008) genauer beleuchtet. Denn wenn Raum gesellschaftlich konstituiert ist,
dann ist diese Konstitution im Kapitalismus immer auch eine herrschaftliche und
von Kämpfen[3]
begleitete. Verschiedene AkteurInnen versuchen ihre Anliegen nämlich auf
verschiedenen „räumlichen Maßstabsebenen“ (so die holprige deutsche Übersetzung
von „scale“) durchzuboxen, sei es nun eine BürgerInneninitiative für eine
Umfahrungstraße auf der lokalen Scale, andere soziale Bewegungen wie z.B.
Anti-Hartz IV-Bündnisse auf nationalstaatlicher Ebene, oder gar die
globalisierungskritische „Bewegung der Bewegungen“, die ja bekannterweise global
denkt und (g)lokal[4]
zu handeln vorgibt. Jedenfalls versuchen diese AkteurInnen die Scales durch ihr
Handeln gerade auch zu verändern, um mehr Spielraum für ihre eigenen Interessen
zu erhalten (vgl. Brand 2008; 173ff.). Emanzipatorische Kämpfe müssen sich also
so oder so der Scale-Frage stellen. Zu guter Letzt soll in einem kleinen Exkurs
noch das Marxsche Verständnis von Raum etwas erhellt werden. Denn, auch wenn
Marx den räumlichen Veränderungen im Kapitalismus gegenüber, und gerade auch
denjenigen, die zum Kapitalismus hingeführt haben – Stichwort „enclosures“[5]
(vgl. MEW 23; 741ff.) – sehr hellhörig war, so fehlt in seinem Werk doch eine
ausgearbeitete Theorie des Raumes. Ziel dieses Teils des Textes ist es,
zumindest ansatzweise, die im Marxschen Werk verstreuten Anmerkungen zum Thema
Raum zusammenzuführen. Am Ende dieser Arbeit finden sich auch noch Anmerkungen
zu den möglichen Grenzen einer Theorie des Raumes, wie sie insbesondere von
Andrew Sayer immer wieder benannt und betont worden sind (vgl. Sayer 2000;
161ff, sowie Sayer 2004; 262).
Aber was ist
nun der kapitalistische Raum wirklich? Wir können uns hier zu anfangs dieses
Textes vorläufig mit der folgenden überbordenden Definition zufrieden geben, die
ein bissl was von jeder kritischen Raumdefinition enthält: „Als historisches
Produkt von Staat, Kommodifizierung, disziplinärem rationalistischem Wissen und
Phallozentrismus, verkörpert der abstrakte Raum die Widersprüche der
verräumlichten, linearen Zeit des Kapitalismus (...)“ (Kipfer 2008; 100, Fn. 5).
So weit, so (un)klar.
Physikalische Voraussetzungen
Raum wird
gesellschaftlich gemacht, so wurde bereits zu Anfang dieses Textes eingeleitet.
Aber alle Dinge, die sich so im Raum breitmachen, haben eine physische
Ausdehnung, jenseits der gesellschaftlichen Vermittlung; diese ist jener bereits
vorausgesetzt. „All matter
has spatial extension, possibly a certain capacity for mobility, and sometimes a
particular shape or geometry as a necessary condition of it being that kind of
thing“ (Sayer 2000; 110). Dinge,
Menschen inklusive, haben also gewisse „powers“, „liabilities“ and „properties“,
die sich aus ihrer physischen Konstitution als ebensolche speisen (vgl. Bhaskar
2008; 229ff., sowie Bhaskar 1998; 35ff.). Die Konsequenzen daraus sind einfach
zu ziehen: auch wenn Raum gesellschaftlich produziert wird, so ist nicht alles
an ihm eine „Konstruktion“ (um einen Begriff zu wählen, der gerade sehr en vogue
ist – auch wenn ich ihn für einen zwar schillernden, aber doch irreführenden
Begriff halte); Dinge haben nun mal verschiedene eigene – materielle –
Eigenschaften[6],
und diese wirken restringierend wie ermöglichend auf die einzelnen
Raumordnungen. Viel Konkreteres lässt sich auf dieser Ebene auch schon nicht
mehr sagen, da verschiedenen Dingen eben grundverschiedene Eigenschaften
zukommen, und in den konkreten geographisch-sozialen Settings deren physische „powers“
zusammenkommen und kombiniert werden. „Die Integration eines einstmals
isolierten Produktionsortes in eine nationale oder internationale Ökonomie
ändert zum Beispiel nicht dessen absolute Verortung“ (Smith 2007; 68), oder,
daran anschließend, an den physischen Gegebenheiten desselbigen
Produktionsortes. Dennoch wird diese Firma mit ihren „powers“ – physischen wie
gesellschaftlichen – dank dieser Integration nun besser an den (Welt-)Markt
angeschlossen sein, und dementsprechend erhöhen sich ihre Chancen der
Plusmacherei.
Nun gehört zu den
physikalischen Voraussetzungen aber nicht nur der Raum, sondern auch die Zeit.
Raum und Zeit sind, der modernen (Einsteinschen) Physik gemäß, nur in Relation
zueinander zu konzeptualisieren (vgl. Massey 1994; 260ff.[7]);
sie, Raum und Zeit, sind „inextricably interwoven“ – d.h. „both space and time
must be constructed as the result of interrelations“ (Massey 1994; 261). Auch
wenn beide nun nur zusammen als „space time“ auftreten, so sind Zeit und Raum
dennoch auch unterschieden. Während Zeit immer, jenseits der gesellschaftlichen
Bedingtheit der konkreten Zeitform, nur eine einzige Dimension hat (vorher –
nachher), hat der Raum deren drei.
Darob gilt: „[M]ovements are
reversible in space, but time is irreversible; and while many things can exist
at the same time, two things cannot exist in the same place at the same time
(the property of physical exclusivity)“ (Sayer 2000; 111).
Die „physische Exklusivität“
selbst ist also ein weiterer restringierender, sprich einschränkender Faktor der
gesellschaftlichen Schaffung von Raum, und auch hier gilt natürlich, dass
verschiedene „Dinge“, Menschleins wiederum inklusive, verschiedene Formen der
Exklusivität in ihrer materiellen Ausdehnung beinhalten (vgl. auch Giddens 1997;
162f.). „Alles gesellschaftliche Leben vollzieht sich in, und ist konstituiert
durch, Überschneidungen von Gegenwärtigem und Abwesenden im Medium von Raum und
Zeit. Die physischen Eigenschaften des Körpers und des Milieus, in dem er
sich bewegt, geben dem gesellschaftlichen Leben unvermeidlich einen seriellen
Charakter und begrenzen den Zugang zu räumlich abwesenden anderen“ (Giddens
1997; 185, Hervorhebung i. O.).
Es hat
dementsprechend keinen Sinn, Zeit gegen Raum auszuspielen, wie dies in manchen
als postmodern verschrienen linken Theorien geschieht[8].
Weder ist das Räumliche die Arena der Unbeweglichkeit, in der nichts geht –
schon gar keine (anti-)politisch emanzipatorischen Anstalten –, noch ist die
Zeit das genaue Gegenteil – die Dynamik und damit die Form, in der Emanzipation
von Statten gehen kann und soll[9].
Diese ideologischen Ansichten des starren Auseinanderdividierens haben ebenso
ihre gewisse Grundierung in der Physik, nämlich der Newtonschen, auch wenn diese
Physik bereits als überholt gilt. Denn in der Physik Newtonschen Paradigmas
existieren Zeit und Raum genau als relativ getrennte Sphären, und Dinge
existieren, zumindest im Popularverständnis, jenseits ihren Relationen
zueinander (vgl. Bhaskar 2008; 79ff. Harvey 2006; 121ff.).
„The ontology is one of atomistic
(and independent) events (...). And causality is seen as the regular
concomitance of such events (...)“
(Bhaskar 2008; 80)[10].
Am Ende
dieses Kapitels sei noch ein kleiner „Disclaimer“ angebracht: physikalische
Voraussetzungen sind rein solche, nicht mehr und nicht weniger. Dies sei deshalb
gesagt, da momentan bestimmte Kritiken öfters vorgetragen werden, die vor jeder
Form des so genannten Reduktionismus wie auch des Essentialismus warnen (vgl.
kritisch dazu Sayer 2000; 81ff.). Hier wird aber keinem Reduktionismus das Wort
geredet und nur für einen Essentialismus in einem sehr bestimmten und
eingeschränkten Sinne plädiert. Die materielle Ausdehnung von physischen Dingen,
Menschen inklusive, wenn eins so will, ihre „Essenz“ mit ihren bestimmten und
distinkten Eigenschaften, bleibt die Grundierung jedweder sozialen Theorie des
Raumes; nicht weniger als das. Aber eben auch nicht mehr: die verschiedenen
Strata der Realität (vgl. Bhaskar 2008; 181ff.), meint Schichten des „Aufbaus“
der Materie, wie das Physikalische, das Chemische, das Biologische, aber auch
das auf diesen aufruhende Soziale sind nicht auf einander reduzierbar (vgl.
Bhaskar 1998; 97ff.). Das je einzelne Stratum, die je einzelne Schicht, hat
jeweils so genannte emergente, meint überschießende Fähigkeiten dem
Vorangegangenen gegenüber. Etwas aufgesetzt lässt sich hier der Spruch
anbringen, dass das Ganze mehr sei als seine einzelnen Teile.
Emergenz nun – „that is situations
in which the conjunction of two or more features or aspects gives rise to new
phenomena, which have properties which are irreducible to those of their
constituents, even though the latter are necessary for their existence” (Sayer
2000; 12). Verliebte Duselei, oder
menschliches Denken im Allgemeinen, beruht nun mal auf unserer Hirnaktivität,
und besteht im Prinzip aus elektrischen Impulsen zwischen einzelnen Hirnzellen,
ist aber keineswegs auf solche Aktivität reduzierbar. Oder um noch ein Beispiel
für Emergenz zu bemühen, das der sozialen Realität näher ist und essentiell von
der sozialen Struktur der Gesellschaft abhängt: eine einzelne Arbeiterin kann in
ihrem Betrieb, sofern sie sich nicht freelancerisch selbst ausbeutet, kaum
streiken. Viele ArbeiterInnen hingegen können, wenn ihnen etwas stinkt, aufgrund
ihrer Positionierung, die sie durch die relationale Stellung in der
gesellschaftlich fetischistischen Struktur innehaben (ArbeitskraftverkäuferIn –
ArbeitskraftkäuferIn vulgo ArbeiterIn – KapitalistIn), streiken[11].
Nach dieser
Darlegung der physikalisch-materiellen Voraussetzungen einer jeden
Raumproduktion, können wir nun voranschreiten und uns ansehen, wie Raum und Ort,
space and place, im Einzelnen im Kapitalismus konstituiert werden. Dies
bereitet den Weg dafür, das Verhältnis von Raum und Gender genauer
auszuleuchten.
Space, place...
Der Kapitalismus in
seiner Akkumulation um der Akkumulation willen tendiert dazu, einen Weltmarkt zu
schaffen, will meinen, in einer äußeren Landnahme sich die ganze Erde Untertan
zu machen. Dies geschieht seit dem 19. Jahrhundert durch Imperialismus und (und
auch schon davor durch) Kolonialismus[12],
wie auch die so genannte innere Landnahme, also die Inwertsetzung immer größerer
Teile der sozialen (Re-)Produktion kapitalistisch organisiert wird. Insbesondere
Subsistenzproduktion ist auf diese Art und Weise in den kapitalistischen Zentren
immer weiter abgeschmolzen. Ziel und gleichsam Voraussetzung des Kapitalismus
ist dabei der Weltmarkt. „Der abstrakte Reichtum, Wert, Geld – hence die
abstrakte Arbeit entwickelt sich in dem Maße, worin die konkrete Arbeit zu einer
den Weltmarkt umfassenden Totalität verschiedener Arbeitsweisen entwickelt“
(Marx 1974b, MEW 26.3; 250). Nun hat diese umfassende Weltmarktbewegung die
Menschen aus ihren vormaligen Beziehungen gerissen und sie, der kapitalistischen
Produktion entsprechend, als doppelt freie ArbeiterInnen, zurückgelassen. Diese
mitunter gewaltsam organisierten Prozesse haben nun immer auch eine räumliche
Seite. „Es ist nicht nur so, dass verschiedene Produktionsprozesse verschiedene
‚Raumbedürfnisse‘ haben. Vielmehr wird in dem Maße, in dem die Produktivkräfte
Teil der Umwelt werden, Raum gemäß den räumlichen Eigenschaften dieses Sets an
Produktivkräften produziert“ (Smith 2007; 72). Wichtig hierbei ist zuallererst
die Überwindung räumlicher Barrieren selbst. Die kapitalistische Herstellung des
Weltmarktes beinhaltet immer auch den Zugriff auf (beinahe) die ganze Welt, auch
wenn weite Teile derselben im Endeffekt nicht kapitalistisch genutzt werden
(können), da sie nicht unmittelbar verwertbar sind oder etwa infrastrukturelle
Voraussetzungen der Verwertung fehlen. Zumindest müssen diese Teile aber
prinzipiell der Plusmacherei offen stehen. Kapitalismus zeichnet sich in diesem
Sinne immer als –imperialistisch induzierte – „accumulation
through dispossession“(z.B. Harvey 2006; 90), also Akkumulation durch
Enteignung, aus, wobei dieser Begriff ursprünglich bereits von Rosa Luxemburg zu
Anfang des 20. Jahrhunderts, also im Zeitalter des klassischen Imperialismus,
geprägt worden ist. Kapital auf der Suche nach Extramehrwert oder Extraprofiten
jagt demgemäß um den gesamten Erdball, um immerfort ein Mehr auf neuer
Stufenleiter akkumulieren zu können. Eine Voraussetzung dieses Herummarodierens
ist eine ausreichende –großteils staatlich zur Verfügung gestellte –
Infrastruktur (vgl. Harvey 1982; 404f.) genauso wie Transportindustrien (vgl.
Marx 1963, MEW 24; 60f.), die, da Waren bekanntlich ja nicht selbst zu Markte
marschieren können, diese auf die Märkte bringen.
„The mobility of capital in
commodity form is accomplished within a perpetually shifting framework of
relative spaces since cost and time distances may be shifted out by the
development of the means of transportation in a way that does not correspondent
to geographical distances“ (Harvey 1982; 377).
Gleichzeitig ist es natürlich
immer auch eine Frage nach der technischen wie der Wertzusammensetzung der
Produkte selbst, ob und wie einzelne WarenproduzentInnen ihre Produktion
verlagern können. Denn viele Industrien prozessieren mit einem hohen Einsatz an
konstantem Kapital, welches sich zum einen erst nach längerer Zeit amortisiert
und zum anderen nicht einfach so von A nach B transportiert werden kann. All
diese, zum Teil gegensätzlichen Prozesse konstituieren in ihrem Zusammenspiel
die räumliche Form des Kapitalismus.
Darüber hinaus ist
Boden wiederum, der gar nicht „verlagert“ oder gar „outgesourced“ werden kann,
nur in wenigen extraktiven Industrien sowie der Landwirtschaft ein
Produktionsmittel selbst. Da dieser im Kapitalismus aber in Privatbesitz ist,
kann er Renten abwerfen und ist natürlich den Fügungen der Rentiers selbst
ausgesetzt. Die Produktion selbst ist also immerzu, mit Ausnahme der
Transportindustrie, an einen bestimmten Boden gebunden – „the production of
commodities is tied to a particular location for the duration of the labour
process“ (Harvey 1982; 388). Das Kapital ist somit beharrlich in einer gewissen
Dialektik gefangen. Einerseits will es höchste Profite wo auch immer und am
besten überall auf der Welt einfahren, in diesem Sinne ist es und war es immer
schon ein „vaterlandsloser“ Geselle; andererseits ist es aber auch auf –von ihm
selbst kaum herstellbare – (räumliche) Voraussetzungen angewiesen, wie
geeignetes Land, geeignete Zufuhr von Arbeitskräften, Infrastruktur und
dergleichen mehr. Diese ganzen Imperative haben alle auch räumliche
Auswirkungen, ja sind nur in ihrer räumlichen Form und als räumliche
Rekonfigurationen denkbar. Ein Resultat dieser widersprüchlichen Bewegung des
Kapitals, und diesem Resultat wurde mit Feuerkraft wie Weltordnungskriegen auf
die Sprünge geholfen, ist die ungleichmäßige räumliche Entwicklung innerhalb des
Kapitalismus[13]
selbst. In neueren Zeiten oft als „Verslumung der Welt“ (vgl. Davis 2007)
bezeichnet, gehört diese Form der Entwicklung aber dem Kern des Kapitalismus an,
wie schon alleinig seine Ausdifferenzierung in Zentrum und Peripherie zeigt.
Nicht erst „gated communities“ auf der einen Seite, und ghettohafte Slums auf
der anderen in den westlichen Metropolen haben diese entfacht.
Denn „[c]ompetition, we may conclude, simultaneously promotes
shifts in spatial configurations of production, changes in technological mixes,
the restructuring of value relations and temporal shifts in the overall dynamic
of accumulation. The spatial aspect to competition is an active ingredient in
this volatile mix of forces“ (Harvey 1982; 393)[14].
Nun geht es
aber auch darum, diese zusammenwirkenden Kräfte konkret zu bestimmen, wobei
neben den globalen „forces of accumulation“ wohl noch andere Elemente wichtig
sein dürften. Grundsatz
dabei ist weiterhin: „Simple physical distance per se does not make any
difference: 100 kilometres has no effect in itself, for it depends on what kind
of things constitute space (housing estates, farms, motorways, etc.) and are
trying to move across it (Concorde, elderly legs, etc.)“
(Sayer 2004; 259).
Gerade auch deshalb, weil diese
verschiedenen Dinge, die nun wirklich durch den Raum wandern, eben, wie bereits
gesehen, bestimmte physikalische Eigenschaften ihr Eigen nennen können. Wie
weiter oben bereits angerissen, müssen Zeit und Raum essentiell als Raum-Zeit
verstanden werden – Bewegungen finden innerhalb von Räumen und in der Zeit
statt. Diese Räume selbst sind nun bestimmt durch die sozialen Verhältnisse, die
ebenda vorherrschen. Das Globale und das Lokale sind somit keine, gar durch den
Nationalstaat, fein säuberlich getrennten Sphären. Die „forces of accumulation“
wie auch andere Determinanten durchfurchen sie beide.
Denn Räume bestehen „out of
interrelations, as the simultaneous coexistence of social interrelations and
interactions at all spatial scales, from the most local level to the most
global“ (Massey 1994; 264).
Es kommt dann immer auf die je
einzelne sozio-räumliche Konfiguration und die sie konstituierenden „powers” and
„relations“ an, wenn es darum geht, was als räumliche Konfiguration an einem
bestimmten Ort auftritt (siehe auch das eben gebrachte Zitat von Andrew Sayer),
wobei verschiedene „powers“, wie diejenigen der kapitalistischen Wertverwertung,
tendenziell sehr stark in diesen Prozess involviert sein werden. Räumliche
Konfigurationen ergeben sich somit immer nur konkret aus dem sozioräumlichen
Zusammenspiel, der in sie involvierten „powers“ in ebenjenen bestimmten
strukturellen Settings, wobei deren „Handeln“ auch unvorgesehene Konsequenzen
haben kann, welche dann – einmal getätigt – zu unhintergehbaren
Voraussetzungen für weitere Handlungen werden (vgl. Sayer 2004; 262ff.). Somit
ist eine jedwede räumliche Konfiguration zwar verursacht, denn sie ist ja durch
ein Zusammenspiel von Ursachen eingetreten, gleichsam ist dem Raum aber auch
eine „chaotische“ Komponente eigen, da räumliches Aufeinandertreffen, gerade im
parzellierten Raum der Warenproduktion, sehr zufällig sein kann und auch
bornierten Partikularinteressen Folge leistet.
D.h. „the chaos of the spatial results from the happenstance
juxtapositions, the accidental separations, the often paradoxical nature of
spatial arrangements which result, from the operation of all these causalities“
(Massey 1994; 266)[15].
Auf den je konkret bestimmten
Kontext kommt es also an. In
konkreten Situationen kommen nämlich verschiedene gesellschaftliche Verhältnisse
mit ihren „powers“ zusammen und konstituieren das, was als konkreter Raum, als
konkrete räumliche Konfiguration an einem gewissen Ort aufgefasst werden kann.
Diese Konstitution ist mitnichten eine rein lokale Sache. Denn im Lokalen ist
oftmals das Globale bereits enthalten. Die Gentrifizierung eines x-beliebigen
Bezirkes einer europäischen Großstadt wird zwar wohl auch von semilokalen
AkteurInnen vorangetrieben werden, genauso ergibt sich aber auch ein
Zusammenhang mit größeren vom Weltmarkt diktierten Imperativen[16].
„Places“ sind also
keineswegs die unschuldigen Plätze der einsam-biederen Lokalität. Raum im
Kapitalismus – reale Orte wie auch das Globale – ist aber auch zerfurcht von
Machtrelationen, und verschiedene Individuen und Gruppen haben verschiedentliche
Möglichkeiten, sich in diesen – sozial konstituierten – Räumen zu bewegen, in
ihnen Anerkenntnis zu finden, was manchmal auch einfach nur meint, ebenda
sichtbar zu sein[17].
Internationale Migrationsregime, wie dasjenige der Abschottung der EU, legen
beredtes Zeugnis davon ab. Aber dies trifft auch auf kleinteiligere Arrangements
zu, wie z.B. einzelne Firmen. Auch dort verdingen sich mehrere Menschen in einem
Bürokomplex. Dass nun bei einer Investmentfirma ein Börsenbroker arbeitet,
dürfte allgemein bekannt sein; dass dort im selben Gebäude und in denselben
Räumlichkeiten auch die vielleicht bereits outgesourcte Putzfrau täglich ihren
Dienst tut, erscheint jedoch nicht im Blickfeld oder gilt als allzu
selbstverständlich (vgl. Allen 2003; 102ff.). Doreen Massey hat diese
Verhältnisse von Macht und Ohnmacht, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit als „power
geometry“ (Massey 1994; 149) beschrieben.
Gerade diese
„power geometries“ stellen nun sehr gut das Ineinanderwirken von Globalem und
Lokalem im globalisierten Kapitalismus dar.
Massey bietet hier ein sehr
instruktives Beispiel aus den brasilianischen Favelas: „ [T]he people, who live
in the favelas of Rio, who know global football like the back of their
hand, and have produced some of its players; who have contributed massively to
global music, who gave us the samba and produced the lambada that everyone was
dancing to last year [der Text wurde 1991 verfasst; Anm. G.G.] in the clubs of
Paris and London; and who have never, or hardly ever, been to Downtown Rio“
(Massey 1994; 150, Hervorhebung i. O.).
Wenn dieses Beispiel die so genannte „time space compression“
David Harvey beschreibt – gerade auch was popkulturell und multimedial
produzierte Bilder und Konsumgewohnheiten betrifft (vgl. Harvey 2007; 48ff.)[18]
–, dann ist dieser Prozess ein durch und durch ambivalenter. So können die Kids
aus den Favelas heutzutage vielleicht zu einem der seriell produzierten
Pop-Sternchen wie Rihanna tanzen und mit dem Arsch wackeln, und vielleicht haben
sie auch den Traum, sich aus diesen Verhältnissen hinauszudribbeln; eine
Anbindung an den Stadtkern, an diejenigen Gebiete, die Rio oder andere Städte
definieren und ihnen oft auch einen touristisch mondänen Glanz geben, haben sie
trotz allem nicht. Diese Innenstädte bleiben trotz absoluter Nähe beinah
unerreichbar; sind sozial ferner Raum[19].
Orte sind
also durch und durch ebenso von globalen wie rein lokalen sozialen Beziehungen
konstituiert. Da hilft auch kein reaktionäres Greinen darüber, dass Orte
annodazumal einmal von homogenen Gemeinschaften bewohnt worden wären. Der
Alptraum von der Scholle war –kapitalistisch besehen – schon immer reine
Ideologie. Sozioräumlichen Verhältnissen ist immer eine gewisse Dynamik eigen,
und diese ideologischen Aufwallungen wollen gerade diese Dynamik sistieren. Für
sie bedeutet Örtlichkeit immer „Verwurzeltheit“ und Fixierung an diesem einen
Platz. Da mag draußen der raue Wind der Globalisierung noch so stark wehen, die
Identität – des „mir san mir Platzls“ im österreichischen Fall – soll gewahrt
bleiben. Dabei zeigen
gerade die obigen Beispiele, dass Orte „can be imagined as articulated moments
in networks of social relations and understandings, but where a large proportion
of those relations, experiences and understandings are constructed on a far
larger scale than what we happen to define for that moment as the place itself,
whether that be a street, or a region or even a continent“ (Massey 1994; 154).
Nachdem wir
nun den verzwickten Zusammenhang zwischen Globalem und Lokalem herausgestellt
haben, gerade in seinem primären Ineinandergehen durch die
Akkumulationsdynamiken des Kapitals, können wir sogleich damit fortfahren,
räumliche Konfigurationen im Zusammenhang mit Gender genauer uns anzuschauen.
...and Gender
In der
Einleitung dieses Textes ist davon die Rede, dass es eine gegenderte
„sozialgeographische Konnotationsmatrix“ (Strüver 2008; 135) gebe. In diesem
Kapitel soll nun dargelegt werden, was mit diesem Wortungetüm gemeint ist.
Feministische Kritik an materialistischen Ansätzen nicht nur des Raumes hat
diese sehr oft dafür kritisiert, dass sie einem „dichotomischen Dualismus“
verfallen wären (vgl. z.B. Strüver 2008; 125ff., oder Massey 1994; 175ff.).
Dabei wurde und wird argumentiert, dass dichotomisches Denken im Allgemeinen
eine geschlechtliche Konnotation aufweise, wobei es Dichotomien eigen sei, dass
ein Teil dieser zumeist als der dynamische und superiore dargestellt wird; der
Andere jeweils als dessen Gegenteil, Genderzuordnung ebenso gleich inklusive.
„For within this kind of
conceptualization, only one kind of terms (A) is defined positively. The other
term (not-A) is conceived only in relation to A, and as lacking in A“ (Massey
1994; 256). Diese
dichotomische Struktur findet sich nun laut Massey auch bei den ideologischen
Konzeptualisierungen von Zeit und Raum, die – wie wir bereits weiter oben
gesehen haben – dazu tendieren, beide Kategorien auseinander zu reißen und starr
gegenüber zu stellen.
„There is a whole set of dualisms whose terms are commonly aligned with space
and time. With time are aligned History, Progress, Civilisation, Science,
Politics and Reason, portentous things with gravitas and capital letters. With
space on the other hand are aligned the other poles of these concept: stasis,
(‚simple‘) reproduction, nostalgia, emotion, aesthetics, the body“ (Massey 1994;
257). Diese Dichotomie mit ihren
gerade eben aufgezählten Eigenschaften hat nun laut Massey ebenso einen ganz
klaren Gender-Bias. Zeit als Bewegung, Dynamik, ja Transzendenz des Faktischen
überhaupt, ist männlich konnotiert, während Raum in Ermangelung der oben
genannten Eigenschaften Stasis und Unbeweglichkeit, reine Immanenz und konkrete
Körperlichkeit darstellt und dem Weiblichen zugeordnet wird. Aber auch innerhalb
des Räumlichen selbst tritt dieser Gender-Bias nochmals in gleicher Form zutage:
Während das Globale hier den Platz der Zeit einnimmt und in vielen Diskursen als
das Dynamische gilt, ist der „Ort“, das Lokale, Frauen zugeordnet, wiederum mit
Attributen wie: Heim, Nostalgie, Stabilität, Authentizität, Kleinod oder gar
Scholle. All diesen Gender-Zuordnungen ist gemein, dass die dem Weiblichen
zugeschriebenen Eigenschaften immer als „lack“ (Mangel) des Männlichen und
prinzipiell inferior gelten, wobei die männlichen Attribute sodann den Part des
Aktiven einnehmen und die weiblichen als Passiva verbleiben. Die passiven
Eigenschaften des Weiblichen sind demnach diejenigen des Lokalen oder auch der
Natur[20].
Der Mann ist Kultur oder auch beinah gleichbedeutend Ratio, die Frau Natur oder
Emotionalität, kurz: das Gegenbild zur Ratio. Der Mann geht hinaus in die Welt,
ins räumlich Globale, und verändert sie auch als handelndes Individuum, die Frau
bleibt zu Hause, räumlich gesehen also ans Lokale gebunden, und hütet Kind und
Küche (früher auch noch verstärkt dank der ideologischen Schützenhilfe der
Kirche – die berühmten 3 Ks.)[21]
[22].
Dass nun das Globale keineswegs dem Lokalen in einer starren Differenz
gegenübergesetzt werden kann, wurde hier schon argumentiert.
Und de facto
gehen natürlich auch Frauen hinaus in die weite Welt, wenn auch immer wieder
eingeschränkt von Männern. Die „power geometries“ von Frauen sind nun mal ganz
andere als diejenigen von Männern. Gesellschaftlich gemachte Räume können für
die einen, in der absolut überwiegenden Mehrheit Frauen, von erheblicher Gefahr
sein, für andere wiederum nicht (die so genannten Angstraumstudien haben dies
auf beeindruckend und gleichsam erschreckende Weise veranschaulicht – vgl. dazu
Strüver 2008; 132).
„Occupying a particular space and time can be a way of claiming a gendered
identity, as in the case of working class adolescent boys’ claim to freedom of
the streets. And being in the ‚wrong‘ place or time can therefore challenge
gender roles themselves (the lone woman in the pub)“ (Sayer 2000; 116).
So ist es auch ein anderes
bekanntes Beispiel, dass Frauen aus ländlichen Gegenden in Städte migrieren, um
den patriarchalischen und repressiven „power geometries“ am platten Land –
Räumen in denen sie eingeschränkt und überwacht werden – zu entfliehen. Die
Stadt in ihrer Anonymität, trotz der ebenso hohen vielleicht sogar höheren
potenziellen Gefahr Opfer von Gewalt zu werden, bietet einfach mehr
Entfaltungsmöglichkeiten jenseits von repressiver Kontrolle (für weitere
Beispiele vgl. Massey 1994; 185ff.).
An diesem
Punkt angekommen können wir nur fortfahren mit einer Darstellung der „politics
of scale“ Debatte. Auf dieser Ebene nämlich, nachdem wir bereits die
strukturellen wie physischen Bedingungen für die soziale Konstitution von Raum
herausgearbeitet haben, lässt sich nun unser Augenmerk darauf richten, wie
soziale AkteurInnen auf den verschiedenen „räumlichen Maßstabsebenen“ (Scales)
handeln, „power geometries“ einsetzen und diese genauso wie die Scales selbst zu
ändern trachten.
Politics of Scale
Räumliche
Maßstabsebenen sind nun als sozial gemachte Kategorien keineswegs für alle Zeit
hin fixiert. AkteurInnen mit verschiedenen Zielen und Interessen arbeiten daran,
sich innerhalb der räumliche Maßstabsebenen in einer ihnen vorteilhaften Art und
Weise zu bewegen. In Zeiten des Fordismus galt nun der Nationalstaat als die
unhintergehbare Scale schlechthin[23].
Der Staat schien alles unter seinen Fittichen zu haben, soziale Bewegungen und
andere AkteurInnen mussten sich auf dessen Ebene, der nationalen Scale[24],
herumschlagen. Heutzutage in Zeiten der so genannten Globalisierung sind andere
Scales wiederum von Bedeutung, insbesondere wird immer wieder das Globale
herausgestrichen. Grundsätzlich geht es „um die Frage, welche Interessen wie auf
welcher Maßstabsebene institutionalisiert werden“ (Wissen 2008; 9). Die Debatten
um die „politics of scale“ haben deshalb auch in den letzten Jahren sehr an
Fahrt gewonnen. Gerade in solchen Diskussionen wie derjenigen der Globalisierung
oder der Normierung der EU ist die Scale-Frage von essentieller Bedeutung. Wenn
auch nicht direkt ausgesprochen und wohl auch verschwiemelt spielt die Scale
auch in den Debatten um „Multi Level Governance“ (vgl. Brand 2008; 170ff.) oder
der Frage nach der Natur der EU – Stichwort Staatenverbund, Verdichtung zweiter
Ordnung oder doch neuer Superstaat – eine erhebliche Rolle.
Nun sind räumliche
Maßstabsebenen selbst nichts anderes als gesellschaftliche Produkte, auch wenn
die einzelnen Scales nicht unmittelbar von den AkteurInnen in einem
praktizistisch verstandenen „doing scale“ gemacht, ja gar konstruiert werden[25].
Die AkteurInnen, die an der Veränderung von „scale“ beteiligt sind, sind dennoch
mannigfaltig. Nationalstaaten sind hier z.B. genauso involviert wie soziale
Bewegungen oder mehr oder minder multinationale Konzerne. Sie alle versuchen,
Entscheidungen auf denjenigen Maßstabsebenen zur Entscheidung zu bringen, auf
denen sie am meisten Einfluss haben. „Scales [werden] durch eine Unzahl von –
manchmal absichtlich, manchmal ziellos vollzogenen – sozialen, ökonomischen und
kulturellen Handlungen gesellschaftlich produziert und reproduziert“ (Mahon/Keil
2008; 39). Dieser Prozess wird auch „Scaling“ genannt. Dieses Scaling wiederum
entwickelt seine Dynamik nun tendenziell um gewisse „skalare Zentren“ herum.
Diese Zentren werden mit regulationstheoretischem Zungenschlag oft auch „scalar
fixes“ genannt. Diese „können entstehen, wenn interskalare Beziehungen
vorübergehend um eine verhältnismäßig etablierte skalare Arbeitsteilung herum
stabilisiert werden“ (Brenner 2008; 76). Im Fordismus war eben nun der
Nationalstaat die zentrale räumliche Maßstabsebene und damit in gewisser Weise „scalar
fix“; heutzutage scheint sich hier ein „shift“ zur globalen Maßstabsebene
abzuzeichnen, und einen stabilen „fix“ scheint es gar nicht mehr in der
altbekannten Form zu geben. Dennoch kann hier die nationale Scale in diesem
Prozess genauso wie alle anderen, etwa das Lokale, nicht völlig ins Abseits
gedrängt werden, sondern eben nur an Relevanz verlieren. Der Staat spielt somit
in der Institutionalisierung von Scales weiterhin eine pfundige Rolle. Viel ist
deshalb insgesamt in letzter Zeit auch von einer „multiskalaren Perspektive“ die
Rede, welche die fordistische Fixierung auf den Nationalstaat hinter sich lässt,
gleichsam aber die verschiedenen räumlichen Maßstabsebenen miteinander
vermittelt, ohne notwendigerweise vom absoluten Primat einer einzigen Scale
auszugehen. Der Neoliberalismus lässt sich in Fragen des gesellschaftlichen
Raumes auch dahingehend verstehen, dass er die etablierten skalaren Beziehungen
zugunsten von Kapitalmobilität und Standortkonkurrenz verschoben und den
ziemlich stabilen „scalar fix“ des Fordismus aufgebrochen hat.
Das
Ineinandergreifen und Überlappen der unterschiedlichen räumlichen Maßstabsebenen
erlaubt es gewissen sozialen AkteurInnen auch, in emanzipatorischer Absicht oder
auch nicht, in gewisser Weise zwischen den Scales hin- und her zu wechseln. „Jumping
scale“ (Neil Smith) ist hierbei das Zauberwort und meint nichts weniger, als
dass „soziale Akteure, die die existierenden Kräfteverhältnisse herauszufordern
trachten, oftmals ‚Scale‘ in ihre strategischen Repertoires einbeziehen
und räumliche und gesellschaftliche Dimensionen (nach oben oder nach unten)
wechseln, um sich einen Vorteil zu verschaffen“ (Mahon/Keil 2008; 52,
Hervorhebung i. O.). In diesem Sinne kommt „scaling“ und „scale jumping“ eine
wichtige Rolle in der fortwährenden „Regulation“ der gesellschaftlichen
Verhältnisse zu. Gegen ein unreflektiert-praktizistisches Verständnis von „doing
scale“ bleibt aber zu sagen, „dass die allermeisten Menschen und Kollektive
solche [politics of scale; Anm. G.G,] nicht betreiben, sondern eher die
Auswirkungen der Herstellung von Scales und des Agierens entlang
verschiedener Handlungsebenen erleben“ (Brand 2008; 182, Hervorhebung i. O.). Je
nach Stellung in der gesamtgesellschaftlichen Struktur, und den einem/r dadurch
zukommenden „powers“ samt „geometries“ gestaltet es sich als ungemein schwierig,
überhaupt daran zu denken, räumliche Maßstabsebenen in irgendeiner Form zu
verändern. Frauen, Minderheiten und Menschen aus dem globalen Süden sind in
dieser Hinsicht besonders benachteiligt. Die Migrationsströme nach Europa, die
nur allzu oft tödlich enden, legen davon Zeugnis ab. Dabei wird nun auch
anschaulich, dass die Produktion räumlicher Maßstabsebenen – die skalare Praxis
– ein gesamtgesellschaftliches Verhältnis darstellt. Es wird also Zeit sich –
mit Hilfe Marxens – die gesamtgesellschaftlich fetischistische Konstitution der
Gesellschaft anzusehen.
Skalare Praxis: Splitter zu Marx und Raum
Innerhalb
materialistischer Raumtheorien gilt es als mehr oder minder klar, dass Marx (und
Engels) räumliche Veränderungen zwar als wichtig anerkannten, Raum als soziale
Kategorie in ihrer Theorie aber nicht in einer zureichenden Form
Berücksichtigung gefunden hat (vgl. z.B. Belina/Michel 2007; 8). Vielmehr
priorisierte Marx in seinen Schriften die (abstrakte) Zeit, weil diese ja als
„gesellschaftlich durchschnittlich notwendige Arbeitszeit“ (vgl. Marx 2005, MEW
23; 49ff.) das Wertmaß selbst bildet. Dennoch sind beide natürlich den
räumlichen Veränderungen und Rekonfigurationen gegenüber, die der Kapitalismus
ins Werk setzt, sensibel. Engels beschreibt bereits in der „Lage der arbeitenden
Klasse in England“ (Engels 1957, MEW 2; 225-506) das reale, gerade auch
räumliche Elend, in welches das englische Proletariat durch die kapitalistische
Ausbeutung gestoßen wurde. Dabei stößt er auch auf das Phänomen der raschen
Urbanisierung[26],
oder weniger blumig und mehr heutig formuliert, auf die Entstehung von
verslumten (Vor-)Städten: „Oft freilich wohnt die Armut in versteckten Gässchen,
aber im allgemeinen hat man ihr ein apartes Gebiet angewiesen, wo sie, aus den
Augen der glücklichen Klassen verbannt, sich mit sich selbst durchschlagen mag,
so gut es geht“ (Engels 1957, MEW 2; 259, siehe insbesondere auch 284ff.).
Marx selbst widmet
den elendigen Wohnbedingungen der ArbeiterInnen gelegentliche Randbemerkungen im
Kapitel um den „Normalarbeitstag“ (Marx 2005, MEW 23; 279-321) im ersten Band
des Kapitals. Seine expliziten theoretischen Überlegungen zu räumlichen Settings
finden sich dann aber im zweiten Band selbigen Werkes. Dort geht er auf die
Notwendigkeit des Transports der Waren ein und der Frage nach der Wertzusetzung
dieser „Transportarbeit“ durch Ortsveränderung[27]
(vgl. Marx 1963, MEW 24; 150-153) nach, da Waren nun mal einfach nicht selbst
auf den Markt spazieren können. Marx erwähnt in dieser Erörterung auch,
eigentlich nur en passant, dass verschiedene Dinge natürlich ihre
„physikalischen Eigenheiten“ haben; der Transport durch Raum und Zeit also auch
auf diese Rücksicht zu nehmen hat (vgl. Marx 1963, MEW 24; 151). Schließlich
spricht er in diesem Teil des zweiten Bandes des Kapitals die Zerfurchung und
Vermüllung der Landschaft an, die durch eine entwickelte Transportindustrie
vorangetrieben wird und gerade heutzutage in Zeiten von Globalisierung und
überbordendem (Individual-)Automobilismus besonders frappant erscheint. Denn die
kapitalistische Produktionsweise „vermehrt den Teil der gesellschaftlichen
Arbeit, lebendiger und vergegenständlichter, der im Warentransport verausgabt
wird, zuerst durch Verwandlung der großen Mehrzahl aller Produkte in Waren, und
sodann durch die Ersetzung lokaler durch entfernte Märkte“ (Marx 1963, MEW 24;
153). Der um die halbe Welt geschickte Joghurtbecher lässt grüßen[28].
Was Marx aber auch
ganz klar macht, ist, welche Voraussetzungen es zur Schaffung des abstrakten
kapitalistischen Raumes bedarf, der ja immer mehr von der Zeit aufgefressen oder
eingesogen zu werden scheint. Raum muss nämlich unter privater Verfügungsgewalt
stehen; er muss folglich Warenform annehmen. Dies geschah und geschieht
partiell, großteils imperialistisch induziert, auch noch durch die so genannte
„ursprüngliche Akkumulation“ (vgl. Marx 2005, MEW 23; 741-792). Denn wenn Raum
nicht als solcher abstrakt erfasst und unter private Verfügungsgewalt gestellt
ist, gibt es keine ArbeiterInnen, die ihre Arbeitskraft bei Strafe des
Untergangs verkaufen müssen. Marx macht genau dieses Faktum nochmals im wenig
rezipierten 25sten und letzten Kapitel des ersten Bandes des Kapitals klar. Dort
zeigt er nämlich am Beispiel der Kolonien, dass, sofern plattes Land nicht
Warenform angenommen hat, es keinen (Überlebens-)Anreiz für ArbeiterInnen
spendet, in die Fabrik zu gehen. „Anders in den Kolonien. Das kapitalistische
Regiment stößt dort überall auf das Hindernis des Produzenten, welcher als
Besitzer seiner eignen Arbeitsbedingungen sich selbst durch seine Arbeit
bereichert statt den Kapitalisten“ (Marx 2005, MEW 23; 792). Hier braucht es
dann schon den Zwang des Staates, um die ArbeiterInnen und den Boden jeweils der
Ware Untertan zu machen[29].
In Anschluss
an Marx könnte eins nun die Schaffung der verschiedenen räumlichen
Maßstabsebenen „skalare Praxis“ (Belina 2008; 106) nennen. Dabei gilt es zu
verstehen, dass es verschiedene Raumformen gibt, von denen manche, wie der reine
physikalische Raum, relativ unabhängig sind von anderen, ja diesen sogar
vorangehen. Denn die physikalische Ausdehnung von Dingen, Menschen inklusive,
und andere nicht minder physikalische Eigenschaften dieser gehen – wie wir
gesehen haben – der sozialen Raumproduktion in absolutem Sinne voraus. Diese
physikalischen Eigenschaften sind grundsätzlich für die soziale Herstellung von
Raum (vgl. grundlegend Bhaskar 2008; 12ff.), für skalare Praxis an sich, wiewohl
ebenjene Produktion nicht auf diese Voraussetzungen reduziert werden kann. „Skalare
Praxis“ als Begriff legt nun nahe, dass sozialer Raum unmittelbar praktisch
konstituiert, vielleicht sogar konstruiert würde. Dies wird er aber mitnichten
in einer individualistischen Art und Weise, gar als unmittelbare Performanz oder
ähnliches. Die meisten Leute betreiben nämlich gar keine „politics of scale“;
ihre Handlungen werden vielmehr von diesen Maßstabsebenen selbst erst ermöglicht
wie gleichzeitig restringiert, auch wenn die Ebenen selbst ohne ihr –
gesamtgesellschaftliches – Handeln selbst nicht existieren würden (zur Erklärung
des allgemeinen Verhältnisses von Struktur und Handlung vgl. Bhaskar 1998;
31ff.). Die Konstitution von räumlichen Maßstabsebenen, wie etwa der nationalen
oder gar der globalen des Weltmarktes, ist immer ein gesamtgesellschaftlicher
Prozess und nur als solcher zu begreifen und zu dechiffrieren. Wenn Belina
(2008; 117) nun schreibt: „Räumliche Maßstabsebenen des Sozialen liegen nicht
‚an sich‘ vor, sind aber auch nicht auf reine Blickwinkel zu reduzieren, sondern
werden im sozialen Prozess als gesellschaftliche Wirklichkeiten produziert, die
es zu erklären gilt“ – dann trifft er damit aber nur die halbe Wahrheit. Denn
natürlich gäbe es keine sozialen Scales, wenn diese nicht durch „die skalare
Praxis“ der Menschen hindurch (re-)produziert würden. Für die Einzelnen in
diesem fetischistischen Prozess liegen die „scales“ aber sehr wohl als
Voraussetzung „an sich“ vor. Die Reproduktion derselbigen ist nämlich eine
gesamtgesellschaftliche und stellt sich gerade so dar, dass sie über die
allermeisten Menschen als eine Art „Restriktion“ hereinbricht. Dies zeigt schon
an, worauf sich die Analyse zu richten hat. Handeln im Kapitalismus findet
nämlich nicht alleinig so statt, dass eine „materielle Verdichtung von
Kräfteverhältnissen“, wo auch immer die Kräfte der Verhältnisse herstammen
mögen, die sozialen Beziehungen alleinig konstituieren würde.
Kurzum das Handeln ist zwar Ausgangspunkt aller
Gesellschaftlichkeit; dieses Handeln geschieht aber unter unfreien und
einschränkenden Bedingungen – „[d]ie Menschen machen ihre eigene Geschichte,
aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten,
sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen“
(MEW 8; 115). Nun ist die Form von Unfreiheit im Kapitalismus aber eine
spezifische – nämlich die der Herrschaft des Wertes und seiner Verwertung. Dies
bedeutet gerade auf die Ebene der gesellschaftlichen Synthesis vorzudringen. Und
diese bilden die Menschen im Kapitalismus eben in einer unbewussten
gesamtgesellschaftlichen Handlungs- und Praxisform. „Solange die menschliche
Gesellschaft nicht zum Selbstbewusstsein als ‚Verein freier Individuen‘ gelangt
ist, der die Bedingungen und Folgen seines gesellschaftlichen Handelns immer
schon mitreflektiert und in freier, bewusster Entscheidung über die Realisierung
seiner Möglichkeiten bestimmt, – solange verdichten sich die
Verkettungszusammenhänge auch immer wieder zu blinden Handlungsmustern,
zur Matrix einer ‚zweiten Natur‘, die sich den Individuen gegenüber
verselbstständigt und wie ein ‚Ding da draußen‘ erscheint“ (Kurz 2005; 206,
Hervorhebung i. O.). Eine praktische Änderung der „scales“ müsste sich gerade
auch auf diese fetischistische Ebene konzentrieren und wohl auch in einem
Prozess der allgemeinen Emanzipation dorthin vorkämpfen.
Dies bedeutet umgekehrt
natürlich nicht, dass nicht auch das Handeln gewisser AkteurInnen in kleinerem
Rahmen Auswirkungen zeitigen können. Das tun diese sehr wohl. Sie verändern die
räumlichen Maßstabsebenen ja auch durch ihr Handeln – eins denke nur an die
Globalisierung. Die Form ist diesen Veränderungen aber bereits vollends
vorausgesetzt. Und diese Form bleibt eben durch diese Änderungen hindurch die
gleiche, und Raum auf welcher räumlichen Maßstabsebene auch immer bleibt somit
ein verdinglichter der unmittelbaren Praxis vorausgesetzter.
Conclusio – Von den Grenzen des Raumes und durchsichtiger partizipatorischer
Zugänglichkeit
In diesem Text wurde
bisher immer darauf insistiert, dass Raum von Wichtigkeit sei. Soziale Prozesse
haben unweigerlich auch eine räumliche Seite, und diese sollte bei Analysen
kurzum nicht vergessen werden – „there is no such thing as non spatial processes“
(Sayer 2000; 121). Besonders Andrew Sayer argumentiert nun, dass die
Theoretisierung von Raum zwar essentiell sei, es aber dennoch so etwas gäbe wie
eine „spatial flexibility or contingency“ (Sayer 2000; 126). Damit ist gemeint,
dass sich viele soziale Prozesse in mehreren räumlichen Konstellationen
ausdrücken können. Räumlichkeit in diesem Sinne also keinen wirklichen
Unterschied macht. Räume und Räumlichkeit an sich sind in vielen sozialen
Prozessen nur von sekundärer Bedeutung. Im Prinzip ist Sayers Einwurf nur ein
Plädoyer dafür, soziale Beziehungen als „powers“ und „tendencies“ zu
konzeptualisieren (vgl. allgemein zu diesem Ansatz Bhaskar 1998; 1ff.). Denn die
genaue räumlich-soziale Ausgestaltung, z.B. eines Grazer Randbezirks oder einer
Wiener Einkaufsmeile, ist eben von vielen – kontingent verbundenen – Faktoren
abhängig. Dennoch lassen sich eben bestimmte „powers“, wie jene der
kapitalistischen Produktion immanenten „forces of accumulation“, auch in ihren
räumlichen Auswirkungen benennen, und diese treten in konkreten Situationen dann
auch mit Bestimmtheit auf – umgeben von anderen kontingenten Bedingungen.
Wobei „[c]ontingent means ‚neither
necessary nor impossible‘; it does not mean undetermined or uncaused. To say
that two things are contingently related is to say that they could exist
independently of one another, not that they could exist independently of
everything (…). Contingency is also not to be confused with importance!
Contingent may be unimportant or important” (Sayer 2000; 123f.).
Sayer tritt also dafür ein, die
verschiedenen „powers“ auch in ihrer räumlichen Form zu untersuchen, und erst ex
post lässt sich sodann sagen, ob diese auch wirklich eine Auswirkung auf die
immer gegebene konkrete Situation haben, in welcher eben verschiedene „powers“
real zusammenkommen (vgl. auch Sayer 2004; 262). Selbiges gilt natürlich auch
für die hier im Text identifizierten Eigenschaften und kausalen Beziehungen.
Was dieser
Text aber nun zeigen wollte, war, dass die räumlichen Konfigurationen des
Kapitalismus vermachtete Herrschaftsverhältnisse darstellen. Strukturell durch
die gerade auch räumlichen Zwänge der Akkumulation und der Warenform des Bodens
wie auch auf subjektiver Ebene durch die ziseliert-hierarchischen „power
geometries“ einzelner Individuen und Gruppen. Die Produktion von Raum im
Kapitalismus ist jedenfalls ein undurchsichtiger Prozess. Ziel müsste es nun
sein, diesen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene durchsichtig zu machen, also als
Zweck zu setzen, Menschen den Zugang zu Raum im hinreichenden Maße zu
verschaffen – partizipatorische Zugänglichkeit zu gestalten. Jedem/jeder nach
seinen/ihren Bedürfnissen bedeutet eben auch, Menschen überhaupt erst einmal
räumlichen Zugang zu vielerlei Dingen zu verschaffen – eins denke nur an die
Forderungen der vielgestaltigen migrantischen „freedom of movement“-Bewegungen;
stets im Gedächtnis behaltend die natürlichen ökologischen Grenzen gewisser
Formen von (Massen-)Mobilität, wie sie heutzutage immer deutlicher hervortreten.
„We need to ask in other
words, whether our relative mobility entrenches the spatial imprisonment of
other groups“ (Massey 1994; 151).
Und da die Abschaffung der
heutigen herrschaftlichen räumlichen Konfigurationen kein individueller Prozess
sein kann, so sollte am Ende die allgemeine Zugänglichkeit und die Mobilität
aller stehen, eingedenk ökologischer Machbarkeiten und physischer
Voraussetzungen. Darunter sollten wir es eigentlich nicht geben.
E-Mail:
georg.gangl@inode.at
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Anmerkungen:
[1]
Weitere zu nennende wichtige TheoretikerInnen, die in dem einen oder
anderen Sinne Impulse für eine kritische Raumforschung gegeben haben,
sind Henri Lefebvre, Michel Foucault, und David Harvey (vgl. dazu
Belina/Michel 2007a; 14ff.). Besonders Letzterer, auf den sich auch
Teile dieses Textes beziehen, ist für seine Theoretisierungen des Raumes
in Bezug auf die sich ändernden Bedingungen kapitalistischer
Akkumulation bekannt (vgl. z.B. unter anderen Harvey 1982 oder Harvey
1991).
[2]
Gerade in den letzten Jahren sind in der Reihe „Raumproduktionen:
Theorie und gesellschaftliche Praxis“ des Dampfboot Verlages sehr
brauchbare Sammelbände erschienen, die zum Teil auch Texte aus der
angloamerikanischen Debatte zum ersten Mal auf Deutsch zugänglich machen
(vgl. insbesondere Belina/Michel 2007 und Wissen/Röttger/Heeg 2008).
Diese Arbeit fußt zu einem großen Teil auf diesen beiden Sammelbänden.
[3]
Natürlich kann nicht im Vorhinein dekretiert werden, ob diese Kämpfe
emanzipatorischen Charakters sind oder zumindest einen solchen Impuls
haben.
[4]
Anm. d. Red.: glokal/Glokalisierung – Kunstbegriff aus
den beiden Adjektiven „global“ und „lokal“, der auf die Wechselwirkung
zwischen globalen und lokalen Handlungen und Entwicklungen, Ideen und
Entscheidungen verweist. Quelle: Schubert, Klaus/Martina Klein: Das
Politiklexikon. 4., aktual. Aufl. Bonn: Dietz 2006.
[5]
Vgl. dazu Smith (2007; 71): „Im Übergang zum Kapitalismus stellen die
Einhegungen (enclosures) [Klammersetzung i. O; Anm. G.G.] eine
bemerkenswerte historische Schöpfung (...) dar. In dem Maße, in dem das
Kapital seinen Einfluss ausdehnt, wird der gesamte Globus in rechtlich
geschiedene Parzellen aufgeteilt, die durch echte oder imaginäre große
weiße Zäune getrennt sind.“
[6]
Siehe auch Smith (2007; 68), der das Ganze in einem marxistischeren
Vokabular auszudrücken weiß: „Die Form, in der der Gebrauchswert
erscheint, seine räumliche Ausdehnung in einer, zwei oder drei
Dimensionen und seine daraus resultierende Gestalt bilden seine
räumlichen Eigenschaften.“
[7]
Der hier als Referenz geltende Artikel Doreen Masseys namens „Politics
and Space/Time“(Massey 1994; 249-269) ist in dem von Belina und Michel
(2007) herausgegeben Sammelband unter dem Titel „Politik und Raum/Zeit“
in deutscher Übersetzung erschienen. Vgl. Massey 2007; 111-132.
[8]
Ganz zu schweigen vom Gender-Bias dieser Dichotomie, in welcher die Zeit
als das dynamische Element Männlichkeit repräsentieren soll und das
Weibliche der angeblichen räumlichen Stasis gleichgesetzt wird. Auf
diesen Punkt wird weiter unten noch genauer eingegangen werden.
[9]
Doreen Massey erwähnt auch, dass einige andere postmoderne Ansätze, wie
derjenige Frederic Jamesons, dieses Verhältnis genau auf den Kopf
stellen, und –in Zeiten von Globalisierung und Weltmarktbeben allerorten
– den Raum als das Dynamische schlechthin sehen (vgl. Massey 1994;
264ff.). Anyway, auch ein solcher Ansatz verfehlt die „Interwovenheit“
von Zeit und Raum.
[10]
Diese Konzeption kommt wohl nicht zufällig im 17. Jahrhundert auf. Ihr
scharfer Mechanizismus und ordnender Gedanke des nicht würfelnden
„Laplaceschen Dämon“ begleiten die Ideologiebildung des Kapitalismus
nicht umsonst für die nächsten Jahrhunderte, um dann im strikten
Positivismus zu landen. All diesen Konzeptionen gemein ist (vgl. Bhaskar
2008; 79ff.), dass sie von einem atomistisch monadischen
Erkenntnissubjekt ausgehen, das in einfacher Sinneserfahrung die Objekte
in ihrer (immerwährenden) Regularität (Stichwort: Humesche Kausalität –
vgl. Flatschart 2008; 48ff.) erkennt. Eine solche Vorstellung stinkt
gewaltig nach dem „sinnfreien“ abstrakten kapitalistischen Subjekt. Auf
diese Diskussion kann hier aber nicht mehr genauer eingegangen werden.
Siehe dazu auch Ortlieb/Ulrich 2007.
[11]
Allgemeiner formuliert: „Where there are two or more objects in an
internal relation, that is one in which the nature of each of the
relata depends on the other(s) through their relationship itself,
instead of merely being contingently or externally related, it is
possible for them to develop emergent powers“ (Sayer 2004; 266,
Hervorhebung i. O.).
[12]
Marx hat diesen Prozess wortgewaltig auf den Punkt gebracht: „Die
Entdeckung der Gold- und Silberländer in Amerika, die Ausrottung,
Versklavung und Vergrabung der eingebornen Bevölkerung in die Bergwerke,
die beginnende Eroberung und Ausplünderung von Ostindien, die
Verwandlung von Afrika in ein Geheg zur Handelsjagd auf Schwarzhäute,
bezeichnen die Morgenröte der kapitalistischen Produktionsära. Diese
idyllischen Prozesse sind Hauptmomente der ursprünglichen Akkumulation.
Auf dem Fuß folgt der Handelskrieg der europäischen Nationen, mit dem
Erdrund als Schauplatz“ (Marx 2005, MEW 23; 779). Siehe auch Smith
(2007; 69): „Der Prozess der Entdeckungsreisen, der dazu beitrug den
Weltmarkt zusammenzufügen, wird historisch zunehmend vom Prozess des
Kolonialismus überschattet“.
[13]
„Vast concentrations of productive power here contrast with relatively
empty regions there. Tight concentrations of activity in one place
contrast with sprawling far-flung development in another. All of this
adds up to what we call the ‚uneven geographical development‘ of
capitalism.“ (Harvey 1982; 373)
[14]
Harvey nennt (vgl. Harvey 1982; 373-412) noch andere durchwegs
widersprüchliche Faktoren, die zum „spatial structuring“ wie der
ungleichen geographischen Entwicklung des Kapitalismus beitragen. Ich
habe mich hier auf die meiner Ansicht nach wichtigsten Elemente
beschränkt.
[15]
Viele mehr oder minder trendige Stadtviertel mit Boboflair und
Gentrifizierungsdruck ziehen ihren Charme gerade aus dieser chaotischen
Komponente, diesem undurchsichtigen Ineinander von alt und neu, von
abgewrackt und trendy.
[16]
Es kommt eben immer auf die je einzelne soziale Beziehung selbst an:
„Some of these relations [gemeint sind ‚spatial relations‘, Anm. G.G.]
will be, as it were, contained within the place; others will stretch
beyond it, trying any particular locality into wider relations and
processes in which other places are implicated too.“ (Massey 1994; 120)
[17]
Auf den Genderaspekt dieser Relationen wird im nächsten Kapitel noch
genauer eingegangen.
[18]
Dieser Prozess wirkt sich, laut Harvey, auch auf die allgemeinen
künstlerischen Darstellungsformen aus. Vor dem
Hereinbrechen der globalisierten Welt galt in der Kunst der Geist des
Modernismus: „Realist narrative structures assumed, after all, that a
story could be told as if it was unfolding coherently, event after
event, in time. Such structures were inconsistent with a reality in
which two events in quite different spaces occurring at the same time
could so intersect as to change how the world worked“ (Harvey 1991;
265). Die neue postmoderne „reality“ der Unübersichtlichkeit bedeutet
nun in Harveys Worten: „Disruptive spatiality triumphs over the
coherence of perspective and narrative in postmodern fiction, in exactly
the same way that imported beers coexist with local brews, local
employment collapses under the weight of foreign competition, and all
the divergent spaces of the world are assembled nightly as a collage of
images upon the television screen.“ (Harvey 1991: 302)
[19]
Doreen Massey führt auch noch andere Beispiele der ziselierten „power
geometries“ des (globalisierten) Kapitalismus an: „Air Travel might
enable businessmen to buzz across the ocean, but the concurrent decline
in shipping has only increased the isolation of many island communities
... Pitcairn like many other pacific islands, has never felt so far from
its neighbours“ (Massey 1994; 148).
[20]
Vgl. auch das bekannte Marx-Zitat aus dem Kapitel zur „trinitarischen
Formel“, das sich am Ende des 3. Bandes des Kapital findet: „[D]ie
verzauberte, verkehrte und auf den Kopf gestellte Welt, wo Monsieur le
Capital und Madame la Terre als soziale Charaktere, und zugleich
unmittelbar als bloße Dinge ihren Spuk treiben“ (Marx 1965, MEW 25;
838). Auch in diesem Marxschen Satz, der die grundlegenden
Fetischisierungen der kapitalistischen Produktionsweise polemisch
anprangern möchte, findet sich die geschlechtliche Konnotation, dass das
tendenziell Dynamische –das Kapital – männlich, und das tendenziell
Statische –die Erde – weiblich sei. Tendenziell und nicht vollends
gegeben ist diese Zuordnung hier allein deshalb, weil ja auch der Boden,
den Fetischisierungen gemäß, die Marx in diesem Kapitel aufzeigen will,
etwas Verwertbares aus sich heraus zu gebären scheint: nämlich
Grundrente (vgl. Marx 1965; MEW 25; 790ff.); somit auch der weibliche
Part nicht gänzlich als das Untätige oder gar Passive erscheint.
[21]
Eine feministische Theorie, die all diese geschlechtlichen Konnotationen
mit der fetischistischen Grundstruktur der kapitalistischen Gesellschaft
zusammen zu denken versucht, ist diejenige von Roswitha Scholz. Vgl.
Scholz 2000 bzw. Scholz 2005.
[22]
Hier stellt sich natürlich auch die Frage, inwieweit Räume nicht nur
gegendert, sondern auch „racialized“ sind. Denn auch für gewisse „races“
gilt ja, dass sie in ihrer Bewegungen eingeschränkt werden, sodass auch
deren „power geometries“ anders zu bestimmen wären. Speziell auch dann,
wenn eins mit einbezieht, dass sich der „rationale“ weiß-westliche Mann
ja nicht nur in Abgrenzung zur irrational imaginierten, naturhaften Frau
definiert hat, sondern auch in einer ebensolchen gegen den angeblich
ebenso „naturwüchsigen Neger“ wie auch den „frivolen, wenn nicht gleich
schwulen, Orientalen bzw. Muselmann“. Vgl. zum männlich-weiß-westlichen
Subjekt allgemein Kurz 2003; 152ff.
[23]
Nochmals zum Scale-Begriff selbst: „Für den Begriff Scale lässt
sich im Deutschen nur schwer eine adäquate Übersetzung finden.(...). Er
bezeichnet sowohl die einzelne räumliche Maßstabsebene (local scale,
national scale, global scale etc.), als auch das Verhältnis
verschiedener Maßstabsebenen zueinander –bzw. wie im Ausdruck
Politics of Scale – die Maßstäblichkeit sozialer Prozesse“ (Wissen
2008; 26, Fn. 4)
[24]
Scales im Kapitalismus zeichnen sich wiederum, da sie herrschaftlichen
Charakters sind, durch eine „strukturelle Selektivität“(Bob Jessop) aus.
D.h. z.B. für die nationale Scale: „Particular
forms of state privilege somes strategies over others, privilege the
access of some forces over others, some interests over others, some time
horizons over others, some coalition possible over others“ (Jessop 1990;
10 zit. nach Wissen 2008; 27, Fn. 10).
[25]
Allgemein zum Verhältnis von Struktur und Handeln vgl. Bhaskar 1998;
34f., 40ff., sowie zum Fetischgehalt dieser Konstitution Kurz 2005 bzw.
Kurz 2007.
[26]
Faktisch gehört eine rasche Urbanisierung ja zu den räumlichen
Voraussetzungen gelingender kapitalistischer Akkumulation. Die
ArbeiterInnen müssen den Betrieben ja in großer Zahl zur Verfügung
stehen. In den Zeiten vor Automobilismus und öffentlichem Verkehr
bedeutete dies natürlich auch, dass die Menschen in relativer Nähe ihrer
Arbeitsstätten zu hausen hatten. Engels zur allgemeinen Urbanisierung
und ihren Effekten: „Die kolossale Zentralisation, diese Anhäufung von
dritthalb Millionen Menschen auf einem Punkt hat die Kraft dieser
dritthalb Millionen verhundertfacht [die Rede ist von London, Anm. G.G.]
(...). Die brutale Gleichgültigkeit, die gefühllose Isolierung jedes
einzelnen tritt umso widerwärtiger und verletzender hervor, je mehr
diese einzelnen auf den kleinen Raum zusammengedrängt sind; und wenn wir
auch wissen, dass die Isolierung des einzelnen, diese bornierte
Selbstsucht überall Grundprinzip unserer heutigen Gesellschaft ist, so
tritt sie doch nirgends so schamlos unverhüllt, so selbstbewusst auf als
in dem Gewühl der großen Stadt“ ( Engels 1957, MEW 2; 256f.,
Hervorhebung i. O.).
[27]
„Was aber die Transportindustrie verkauft ist die Ortsveränderung
selbst“ (Marx 1963, MEW 24; 60).
[28]
Anthony Giddens erwähnt noch einen Punkt, der gerade heutzutage in
Zeiten von Digitalisierung und Mikroelektronisierung spannend ist – das
Auseinandertreten von Kommunikations- und Transportmitteln: „Aber die
radikalste Trennung, die in der modernen Geschichte von Bedeutung ist
(und deren Implikationen heute noch lange nicht ausgeschöpft sind), ist
die durch die Entwicklung des elektronischen Fernmeldewesens vollzogene
Trennung der Kommunikations- von den Transportmitteln, die immer auf
irgendeine Weise die Mobilität des menschliche Körpers vorausgesetzt
haben“ (Giddens 1997; 175).
[29]
Die hier aufgezählten Bezüge Marxens und Engels zu Raum sind sicherlich
nicht vollständig. Sie sollen nur exemplarisch darstellen, dass beide
sich mit den räumlichen Umstrukturierungen des Kapitalismus beschäftigt
haben, ohne eine explizite Theorie des Raumes, oder der räumlichen
Formen der kapitalistischen „forces of accumulation“, zu formulieren.
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