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Ayse Deniz Temiz: Ein Meridian entscheidet über die Wahrheit? Wider die Rolle eines Wachpostens für den Eurostaat[1] übersetzt aus dem Englischen von Birgit Mennel gemeinsam mit dose und Minimol Ausgehend von der kürzlich gegründeten Union für den Mittelmeerraum, stellt dieser Text die Auslagerung der EU-Migrationspolitik an – insbesondere nordafrikanische – Drittstaaten in Frage, und zwar mit dem Ziel, wichtige Anhaltspunkte für die derzeit in Entstehung begriffene Rolle der Türkei zu suchen. Die Diskussion fokussiert dabei insbesondere auf die Verschiebung, die diese Auslagerung für den Aktivismus von MigrantInnen mit sich bringt: die Verlagerung von einer politischen Herausforderung der Politiken des Eurostaats hin zu einem abgeschwächten Monitoring von Flüchtlingsrechten. Gegen diese Engführung der Perspektive im Bereich des Aktivismus sowie gegen den damit einhergehenden Transfer politischer Schuldigkeiten vom Euro-Staat zu – insbesondere nordafrikanischen – Drittstaaten wird in diesem Text die These vertreten, dass sich ein anderes Bild abzuzeichnen beginnt, sobald die mikropolitischen Praxen undokumentierter MigrantInnen im Zuge ihres Grenzübertritts ins Auge gefasst werden. Die Vervielfachung von Vereinigungen sub-saharischer MigrantInnen in Nordafrika ist eine Form des Sichtbarwerdens dieser Praxen; eine weitere die Mobilisierungen der nordafrikanischen Diaspora-Communities in Europa gegen die Grenzrestriktionen der EU. In beiden Fällen lassen die Mikropolitiken undokumentierter Migration deutlich werden, dass die Auslagerung der EU-Grenze Auswirkungen hat, die über den Aufgabenbereich von Menschenrechtsinitiativen hinausreichen und andere AkteurInnen involvieren als das UN-Gremium für Flüchtlinge. Ebenso wird offenbar, dass die Involvierung von Drittstaaten in die Pufferzone Europas nicht auf Verträge mit dem Eurostaat reduziert werden kann, sondern sich vielmehr im lokalen Aufeinandertreffen zwischen den AkteurInnen an den jeweils benachbarten Ländern, den MigrantInnen sowie zwischen den MigrantInnen und der lokalen Bevölkerung vollzieht. Dieser Text geht zurück auf einen Vortrag am No-Border Camp, das erstmals in der Türkei in Dikili stattfand. Die türkische Öffentlichkeit verfolgte in den letzten Monaten aufmerksam die Gespräche über die Union für den Mittelmeerraum. Diskussionen über die konkreten Inhalte, die der Gipfel mit sich bringen würde, blieben jedoch aus. Dieses jüngste Partnerschaftsprojekt der EU, die erste Tat einer ungeduldigen französischen Präsidentschaft, wurde bereits einer Reihe von strukturellen Revisionen unterzogen: im ursprünglichen Konzept wären die Mittelmeerländer noch unter der alleinigen Führung Frankreichs versammelt worden; erst nach Einspruch Deutschlands wurde die Union auf alle EU-Mitgliedsstaaten ausgeweitet. Auch waren mehrere Anläufe nötig, bis die Partnerschaft schließlich „Barcelona Prozess: Union für den Mittelmeerraum“ oder abgekürzt UpM[2] genannt wurde – was leicht mit Sarkozys eigener UMP, der französischen Rechtspartei[3] zu verwechseln ist. Eine der wenigen in der türkischen Presse veröffentlichten Darstellungen ist die des türkischen Außenministers Ali Babacan, der Folgendes gesagt haben soll: „Wir haben ihnen erklärt, dass die Situation der Türkei nicht mit der eines nordafrikanischen Landes vergleichbar ist. Dementsprechend müssen sich unsere Position und unser Status unterscheiden. Und dies wurde akzeptiert.“[4] Aus dieser Bemerkung geht nicht hervor, inwiefern sich die Situation der Türkei von der eines nordafrikanischen Landes unterscheidet. Aus der Perspektive der Türkei wurde der Prozess der Schaffung der UpM als Projekt vornehmlich als Alternativvorschlag zu den EU-Mitgliedschaftsverhandlungen eingeleitet. Statt einer Debatte über die voraussichtliche Rolle der Türkei als Mittelmeerpartner, einer Debatte darüber, was uns aus türkischer Perspektive als Mitglied der Union für den Mittelmeerraum erwartet, richtete sich die öffentliche Aufmerksamkeit ausschließlich darauf, ob es zulässig sei, eine Partnerschaft im Mittelmeer gegen die Perspektive einer tatsächlichen EU-Mitgliedschaft einzutauschen. Doch weit davon entfernt auf die Türkei zugeschnitten zu sein, stellt die UpM – wie wir wissen – die letzte Phase einer langen Geschichte europäischer Politik der Grenzkontrolle und des Managements von Migrationsströmen dar, deren Konturen sich seit dem Barcelona-Prozess im Jahr 1995 mehr und mehr abzeichneten. Der Barcelona-Prozess bildet das Grundgerüst, um das Europa eine Arbeitsaufteilung zwischen den Staaten an seinen östlichen und südlichen Grenzen auszuarbeiten begann. Die Beziehung der Türkei zur Union für den Mittelmeerraum muss demzufolge entlang dieser Linien gedacht werden. Wenn ihr Status „nicht der eines nordafrikanischen Landes sein kann“, lässt sich möglicherweise eine Parallele zu einem Land wie Polen ziehen, das sich als erfolgreicherer Kandidat als die Türkei erwiesen hat und unmittelbar nach seinem EU-Beitritt im Jahr 2005 mit dem Hauptquartier von Frontex[5], der EU-Agentur für integrierte Grenzüberwachung, mit einem Begleitbudget von knapp vier Millionen Euro, belohnt wurde. Es ist irreführend, sich unter dem Begriff „Festung Europa“ auf die gegenwärtige Restrukturierung der EU-Grenzstrategie zu beziehen, obwohl der Begriff für diejenigen, die mit diesem Problem beschäftigt sind, längst zu einem Gemeinplatz geworden ist: Wir stehen jedoch nicht vor einer Situation, in der die EU ihre Grenzen für Migration überhaupt dicht macht, sondern sind mit einer Situation der Feinabstimmung von Mechanismen konfrontiert, mittels derer Migration gefiltert wird. So ist insbesondere in Frankreich oft von „gefilterter“ anstelle von erzwungener Migration die Rede. Das Bild einer Festung führt also in die Irre, zumal die Grenze, um die es hier geht, nicht – wie eine Mauer – starr und indifferent ist, sondern sich in ihrem Selektionsprozess ganz im Gegenteil als durchlässig und äußerst sensibel erweist. Im Unterschied zu einer festen Mauer haben wir es heute mit einer flexiblen, gleitenden und sich verschiebenden Mauer zu tun, die rasch auf die Bewegungen der MigrantInnen zu antworten vermag. In den Worten von Sandro Mezzadra, die Grenze fungiert als Graben[6] oder, um eine Formulierung der aktivistischen TheoretikerInnen Angela Mitropoulos und Brian Finoki aufzugreifen, als Just-in-Time-Grenze[7]. Dem ließe sich noch hinzufügen, dass die Grenze die Bewegung, die sie aufzuhalten trachtet, nachahmt. Sie bewegt sich ins Außen der EU weiter in Richtung Süden und Osten. Die kürzlich erfolgte Einbeziehung Mauretaniens in die Union für den Mittelmeerraum gibt uns eine Vorstellung vom Ausmaß dieser Flexibilität, zumal die Küste Mauretaniens nicht ans Mittelmeer, sondern an den Atlantik grenzt. Die geographische Flexibilität wird durch eine Flexibilität rechtlicher Vereinbarungen ergänzt. Ich werde an dieser Stelle einige Probleme hinsichtlich dieses Flexibel-Werdens der Grenze darzulegen versuchen. Die bilateralen Verhandlungen der EU mit den nordafrikanischen Staaten sind ein ergiebiges und komplexes Beispiel für diese Entwicklungen. Daher werde ich versuchen, entgegen der behördlichen Wahrnehmung eines „türkischen Exzeptionalismus“, die Bedeutung derartiger Problemstellungen für unseren geographischen Raum aufzuzeigen. Die Restrukturierung der europäischen Politik des Grenzmanagements wurde erstmals 1999 auf dem Treffen von Tampere angekündigt, auf dem die „Drittstaaten“ zur „Rückübernahme sowohl deren eigener Staatsangehöriger, die sich unrechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhalten“ verpflichtet wurden, als auch zur Rückübernahme aller anderen undokumentierten Personen, die den jeweiligen Drittstaat durchqueren. Dies war die erste gemeinschaftsweite Artikulation einer Entwicklung, die sich bereits im Jahr 1992 auf der Grundlage einzelner Aktionspläne mit Grenzstaaten wie Marokko abzuzeichnen begann. Auf dem Gipfel von Sevilla im Jahr 2002 wurde die Bandbreite der Kooperation von Drittstaaten durch die von Spanien und Großbritannien vorgeschlagenen Artikel erweitert, die beide auf eine Vertiefung der Kooperation drängten. In diesen Artikeln wurde festgehalten, dass die EU im Falle einer Kooperationsverweigerung geeignete Maßnahmen ergreifen würde, was bedeutet, dass dem Partnerstaat sowohl Sanktionen als auch Kürzungen bei den von der EU erhaltenen Gelder drohten. Dies wurde durch eine Klausel ergänzt, die jedes von der EU mit einem Drittstaat abgeschlossene zukünftige Kooperations- oder Assoziationsabkommen bzw. jedes vergleichbare Abkommen von der Partizipation letzterer am gemeinsamen Management der Migrationsströme abhängig machte. Obwohl jene Vorstöße letztlich als kontraproduktiv abgelehnt wurden, vermitteln sie doch einen Eindruck von der für die Umgestaltung der europäischen Grenzen vorgesehenen Richtung. So schreibt sich die Idee einer Auslagerung der Aufgabe von Grenzkontrollen etwa im inoffiziellen Entwurf der britischen Regierung aus dem Jahr 2003 fort, in dem die Schaffung von Aufnahmezentren für die Abwicklung von Asylverfahren in den Herkunftsregionen wie etwa „Marokko, Somalia, Iran, Kurdistan und Türkei“ vorgeschlagen wird. Im 2004 in La Haye konzipierten Fünfjahresprogramm taucht diese Tendenz in der ausdrücklichen Formulierung der „externen Dimension“ der EU-Migrationspolitik wieder auf. Das in La Haye entworfene Programm schlägt über den in Sevilla beschlossenen Schritt einer „Rücknahme“ irregulärer MigrantInnen hinaus vor, die Checkpoints selbst in die an Europa grenzenden Regionen zu verlagern. Die tatsächlichen mit der Grenzregulierung in Zusammenhang stehenden Abläufe, das heißt, nicht nur die für die Überwachung erforderlichen Systeme und Personaleinheiten, sondern auch die so genannten „provisorischen Bearbeitungsstellen“, die für die Abwicklung und Evaluierung von Asylanträgen erforderlich sind, sollen in die Transitländer ausgelagert werden. Damit würden auch Maßnahmen, die denjenigen blühen, deren Asylanträge abgelehnt werden, – wie etwa Anhaltezentren und Abschiebungen in die Herkunftsländer – in diese Regionen verlagert.[8] Anlässlich der Bekanntgabe der Ergebnisse einer Durchführbarkeitsstudie hinsichtlich Frage der „Externalisierung“ im Jahr 2005 stellte der italienische Außenminister Frattini fest, dass die Aufnahme undokumentierter MigrantInnen in den Transitländern „billiger zu sein scheint, als deren Aufnahme in den Flüchtlingszentren der EU-Mitgliedsstaaten“.[9] Seit dem Jahr 2004, als die Auslagerung der Grenzen erstmals auf die EU-Agenda gesetzt wurde, bis auf den heutigen Tag wurde die erforderliche Infrastruktur in den Drittstaaten mit bemerkenswerter Geschwindigkeit und Effizienz eingerichtet, um so eine Pufferzone zu schaffen, welche die Ankunft der Undokumentierten an den europäischen Grenze abfedert. Bis dato wurden sieben Abschiebelager in Marokko, zwölf in Algerien und mindestens zwanzig in Libyen eingerichtet. Marokkanische Sicherheitskräfte fingen im Jahr 2004 26.000 klandestine MigrantInnen ab, von denen 17.000 nicht-marokkanischer Nationalität aus sub-saharischen Ländern migriert waren. In Algerien wurden bereits in der ersten Hälfte des Jahres 2007 mehr als 8.000 MigrantInnen festgenommen. An der südlichen Grenze Algeriens mit Mali und Nigeria wurden in den Jahren 2000 bis 2007 40.000 MigrantInnen inhaftiert, von denen mehr als 27.000 abgeschoben wurden. Libyen brüstet sich mit 53.842 Abschiebungen im Jahr 2006 – sowohl in der Straße von Sizilien als auch an seiner südlichen Wüstengrenze mit Mali und dem Niger. Zwischenzeitlich berichtet der Senegal, ein neuer Partner der EU, von der Festnahme von mehr als 1500 klandestinen MigrantInnen im Jahr 2006, die ihren Aufbruch vom senegalesischen Territorium in Richtung Kanarische Inseln vorbereiteten. Allerdings handelt die EU nicht mit der gleichen Geschwindigkeit, wenn es um die Sicherung von Grundrechten der festgehaltenen Personen im Zeitraum ihrer Anhaltung und Abschiebung oder um die Gewährleistung von gesetzlich verbürgten Rechten wie etwa Zugang zum Asylverfahren geht. Die Einrichtung von Büros des Flüchtlingshochkommissariats der Vereinten Nationen (UNHCR) hinkt der Eröffnung von Abschiebelagern hinterher, von denen eine beträchtliche Anzahl in den Wüstenregionen jener nordafrikanischen Länder angesiedelt ist, mit dem Ergebnis, dass die Festgehaltenen, oftmals ohne irgendeine Aussicht auf einen Asylantrag, abgeschoben werden. Die untergeordnete Rolle der Grundrechte von MigrantInnen gegenüber den Prioritäten des Grenzmanagements lässt sich nicht nur durch das Versagen der Drittstaaten begründen. Es ist wichtig, diesen Punkt zu betonen, da wir unsererseits auf einzelne Vorfälle von Menschenrechtsverletzungen und Misshandlung der MigrantInnen durch die Sicherheitskräfte der Transitländer reagieren. Die zeitliche Verzögerung zwischen der Durchsetzung von Kontrollmaßnahmen und dem Schutz von Rechten ist nicht nur einem Unfall bei der Umsetzung von Abkommen durch einen Nicht-Mitgliedsstaat geschuldet; vielmehr handelt es sich um eine legislative Diskrepanz beim Entwurf der Abkommen durch die EU und ihre Partner. Ein typischer Fall dafür ist der Text aus dem Jahr 2004, die Grundlage für die Einrichtung von Frontex. Wie Pierre-Arnaud Perrouty vom Netzwerk Migreurope[10] aufzeigte, wurde eine Klausel, der zufolge AsylwerberInnen innerhalb einer Gruppe, die von einer Frontex-Einheit aufgegriffen wird, gesondert zu behandeln sind, erst nach zwei Jahren in den ursprünglichen Text aufgenommen, welcher eine detaillierte Beschreibung von Kontrollmaßnahmen gegeben hatte. Solche legislativen Lücken werden also durch die von der EU angenommenen Abkommen selbst hervorgebracht. Darüber hinaus möchte ich die Ansicht vertreten, dass die besondere Weise, wie Unterscheidungen zwischen Begriffen wie „illegale MigrantIn“ und „AsylwerberIn“ zum Einsatz kommen, keinem Versehen zuzuschreiben ist; vielmehr dienen diese als politische Werkzeuge in der europäischen Strategie des Grenzmanagements. Das Verwischen dieser Unterscheidung zeitigte und zeitigt ernste Ergebnisse: Im Jahr 2004 deportierte der libysche Staat inmitten eines andauernden Krieges 164 potentielle politische Flüchtlinge in den Sudan und nach Eritrea. Die 109 EritreerInnen wurden mit stillschweigendem Einverständnis des UNHCR repatriiert und befinden sich Berichten zufolge seither in Haft. Menschenrechtsorganisationen tendieren jedoch in ihrem Bemühen, Bewusstsein für die besondere Situation von AsylwerberInnen zu schaffen, dazu, in eine andere Art von Falle zu tappen: Wenn politische Flüchtlinge und WirtschaftsmigrantInnen unter der gemeinsamen Rubrik der „Illegalen“ in einen Topf geworfen werden und dies eine Funktionsweise des Vereinnahmungsapparates ist, wird das Ausdifferenzieren dieser Gruppen möglicherweise zu einer anderen Form von Kontrolle, insofern es dazu dient, eine Hierarchie zwischen politischen und ökonomischen Fluchtgründen zu etablieren. Durch ihr Eintreten für den Vorrang von Rechten gegenüber Zwangsmaßnahmen bleibt die Menschenrechtsperspektive indes auf den Diskurs der europäischen Staaten beschränkt; ein Diskurs, der das Recht auf Bewegungsfreiheit von Nicht-EU-BürgerInnen nur anerkennt, wenn es auf Grundlage einer ersichtlichen, politisch motivierten Bedrohung des Lebens gerechtfertigt werden kann. Der Handlungsspielraum für Aktivismus scheint zusehends auf die Justierung anstelle der Ablehnung von staatlichem Migrationsmanagement eingeengt zu werden; das heißt darauf, den Staat zu erinnern, dass er sein Wort halten möge. Dies impliziert jedoch eine stillschweigende Zurücknahme der Forderung nach Bewegungsfreiheit der Menschen, in der die unbezwingbare Kraft liegt, die Grenzen des Lohns zu erschüttern, die der Kapitalismus intakt zu halten bemüht ist. Es erweckt den Anschein, als wäre der Euro-Staat mit seiner Strategie der „Externalisierung“ der Grenzen auch darin erfolgreich, das Betätigungsfeld des Aktivismus von weiter ausgreifenden politischen Anliegen bezüglich der Bewegung der Migration als Gegenkraft zur kapitalistischen Ungerechtigkeit auf ethische Anliegen hinsichtlich der Behandlung von MigrantInnen zu lenken: Seine Priorität verlagert sich zunehmend darauf, sicherzustellen, dass jene mit Anspruch auf einen „legalen“ Flüchtlingsstatus gewissenhaft vom Rest der MigrantInnen unterschieden werden; sowie zu gewährleisten, dass bei der Abschiebung Letzterer „humane“ Kriterien zur Anwendung kommen. Eine weitere signifikante Verschiebung in der politischen Perspektive ergibt sich daraus, dass Menschenrechtsorganisationen ihre Arbeit mehr und mehr auf die Vertragsumsetzungen von Transitländern konzentrieren und diese Staaten danach bewerten und einordnen, ob sie die Kriterien europäischer und internationaler Konventionen erfüllen. Dies wiederum führt zu einer stillschweigenden, aber signifikanten Neuausrichtung ihrer politischen Haltung, wobei alles dem gesunden Menschenverstand zu folgen scheint: NGOs und AktivistInnen müssen gegenüber dem Management von Migrationsströmen in Staaten wie Libyen notwendig in Alarmbereitschaft versetzt werden, zumal Libyen noch nicht einmal die Genfer Konvention unterzeichnet hat und seine Partnerschaft mit der EU während des gesamten Prozesses der UpM auf den Status eines „Beobachters“ beschränkt wurde. Diese „Externalisierung“ von NGO-Tätigkeiten fällt indes in die Hierarchie zwischen Europa und weniger demokratisierten Staaten zurück; außerdem fungieren Menschenrechtsberichte zu den EU-Mittelmeerpartnern zunehmend wie Verhandlungen um eine EU-Mitgliedschaft, in denen die Kandidatenstaaten unter der Vormundschaft der EU auf den Pfad der Demokratisierung gebracht werden. Der Fall der Türkei dürfte diesbezüglich symptomatisch sein, da hier der Status des Partners mit dem des Kandidaten gekoppelt wurde. Sobald die Angelegenheit in die Bedingungen eines Vertrages zwischen der EU und einem Nicht-Mitgliedsstaat eingearbeitet wird, geraten auch all jene Dynamiken aus dem Blickfeld, die auf die Eignung des Drittstaates als Grenzschutz einwirken und diese befördern, wie etwa die Beziehungen zwischen zwei Transitländern (etwa Marokko und Algerien oder die Türkei und Griechenland), zwischen diesen und den Herkunftsländern sowie die entsprechenden Konflikte und widersprüchlichen Interessen. Konzepte wie „regionale Schutzprogramme“ oder „Schutzprogramme nahe der Herkunftsregionen“ – ein in einem EU-Rundschreiben aus dem Jahr 2004, in dem das La Haye-Programm umrissen wird, formulierter Vorschlag – beschäftigen sich nicht wirklich mit diesen lokalen Dynamiken. Doch wir verfügen über die frappierenden Darstellungen der von den Maghrebstaaten festgehaltenen sub-saharischen MigrantInnen als die Lager für MigrantInnen in Ceuta und Melilla im Jahr 2005 niedergerissen wurden. Wir erfahren aus jenen Berichten, wie kamerunische, malische, senegalesische und mauretanische MigrantInnen von den marokkanischen Behörden in die Wüstenzone zwischen Marokko und Mauretanien getrieben wurden, nur um von algerischen Sicherheitskräften angehalten und wieder auf die marokkanische Seite verwiesen zu werden.[11] Gilt dies noch als eine Neuinszenierung einer Politik der „Externalisierung“ der Grenzen in kleinem Maßstab, als Duplikat der europäischen Strategie? In Anbetracht ihrer begrenzten Mittel vollziehen die Maghrebstaaten die „Eindämmung“ der Migration darüber, dass sie diese in ein Niemandsland verlagern. Es ließe sich argumentieren, dass es zwischen der Genauigkeit der Kontrollen an den Grenzen zu Europa und der Prekarisierung der Grenze zwischen den südlichen Mittelmeerstaaten zu einem Ausgleich kommt. Während die Menschen an einer fluktuierenden Grenze in der Wüste zwischen Marokko und Algerien, Algerien und Mali, dem Niger und Libyen in zunehmend unsichere Bedingungen gedrängt werden, wird aus der Perspektive der europäischen Küste die Effizienz der Politik der Eindämmung nicht gemindert. Multiliterale Verbände wie die Euromediterrane Partnerschaft verabsäumen es, die Dynamik der Beziehungen zwischen den Drittstaaten anzusprechen, da solche Organisationen auf die Regulierung der Beziehungen zwischen den Nicht-Mitgliedsstaaten und der EU abstellen. Obwohl transnationale regionale Gremien wie die Arabische Maghreb-Union[12] mit der EU in Verhandlung treten, zielen ihre Interventionen oftmals auf allumfassende Angelegenheiten und lang währende Konflikte, in denen diese Staaten als geeinter Block auftreten können. So war es beispielsweise bemerkenswert, zu beobachten, wie sich die Vorbehalte der Arabischen Maghreb-Union in den jüngsten Debatten zur Union für den Mittelmeerraum ausschließlich auf den israelisch-palästinensischen Konflikt konzentrierten.[13] Auch die vom algerischen Außenminister auf dem Forum der Mittelmeerstaaten[14] geäußerten Bedenken setzten den Akzent auf die Verteilung von Geldern sowie auf den Standort des Hauptquartiers der Union für das Mittelmeer. Immanente aus dem Migrationsmanagement auf der lokalen Ebene zwischen jenen Staaten erwachsende Probleme kamen nicht zur Sprache. Ähnlich substanzlos ist der von der Afrikanischen Union vorgebrachte Einwand, dass sich Vorstöße wie die Union für den Mittelmeerraum zerstörerisch auf die Afrikanische Union auswirken würden. Dies lässt fraglich werden, ob Treffen wie die Union für den Mittelmeerraum tatsächlich Kooperationen zwischen jenen Staaten begünstigen, die an der Aufgabe der Überwachung der europäischen Grenzen teilhaben. Die Abschiebungen, die an den Grenzen zwischen Nicht-Mitgliedsstaaten stattfinden, scheinen auch den traditionellen Tätigkeitsbereich von Menschenrechtsgruppen und NGOs zu überschreiten, da das Problem über die Beobachtung von Bedingungen in einem bestimmten Aufnahmelager sowie die entsprechende Berichterstattung hinausreicht. Die Lücke, die sich an den inneren Grenzen südlich des Mittelmeeres und außerhalb des von der EU legislativ oder vertraglich festgeschriebenen Raumes auftut, kann einerseits als Sackgasse im Kampf um Menschenrechte verstanden werden; andererseits bereitet diese aber den Boden für unvorhergesehene politische Antworten in Bezug auf transnationale Migration. Die jüngsten Berichte über die Behandlung von MigrantInnengruppen an den Saharagrenzen der nordafrikanischen Staaten verweisen in eine neue Richtung hinsichtlich des Aktivismus von MigrantInnen, der die traditionelle Orientierung von Menschenrechtsinitiativen überschreitet. Auf der vom Migreuropekollektiv zusammengestellten Liste jener Gruppen, die mit ihren Berichten einen Beitrag zum Black Book of Ceuta and Melilla[15] geleistet haben, finden wir neben den traditionellen Menschenrechtsorganisationen in Andalusien, im Rif oder andernorts angesiedelt, auch Namen von Initiativen und Organisationen wie Forum pour un Autre Mali [Forum für ein anderes Mali], Réseau des Artistes et Intellectuels Africains pour l’Ethique et l’Esthétique [Netzwerk afrikanischer KünstlerInnen und Intellektueller] sowie Association Beni Znassen pour la culture, le développement et la solidarité [Vereinigung Beni Znassen für Kultur, Entwicklung und Solidarität], eine Gruppe aus Oujda, der Grenzstadt zwischen Algerien und Marokko. Im Oktober 2007, zwei Jahre später, taten sich unterschiedlichste Gruppierungen für den Entwurf der „Deklaration von Oujda“[16] zusammen, in der sie eine Untersuchung der Angriffe auf MigrantInnen in Ceuta und Melilla forderten: Association de développement et de la sensibilisation des migrants camerounais au Maghreb [Vereinigung zur Entwicklung und Sensibilisierung kamerunischer MigrantInnen im Maghreb], Association Amis et Familles des Victimes de l’Immigration Clandestine [Vereinigung der FreundInnen und Familien von Opfern klandestiner Migration], Association des réfugiés et demandeurs d’asile congolais au Maroc [Vereinigung kongolesischer Flüchtlinge und AsylwerberInnen in Marokko], Confédération Démocratique du Travail [Demokratische Arbeiterkonföderation, Marokko], Conseil des Migrants Subsahariens au Maroc [Rat sub-saharischer MigrantInnen in Marokko] usw. Eine wahre Koalition lokaler Initiativen. Wir können auch feststellen, dass transversale regionale Verbindungen ein Charakteristikum dieser Gruppen sind. Die Erfahrung mit Vertreibung sowie die spezifischen Wege und Hindernisse, mit denen sie konfrontiert sind, finden ihren Ausdruck auch in der Zusammensetzung der Organisationen. Der Fall von A.R.A.C.E.M, Association des Refoulés d'Afrique Centrale au Mali [Vereinigung zentralafrikanischer nach Mali Abgewiesener] stellt ein gutes Beispiel dieser Entwicklung dar: Gegründet von zwei jungen MigrantInnen aus Kamerun, deren Wege sich in Bamako, der Hauptstadt Malis, kreuzten, nachdem sie im Laufe ihrer Reise erst von marokkanischen Sicherheitskräften in Ceuta und anschließend von algerischen Sicherheitskräften abgefangen wurden. Sich in Bamako aufhaltende MigrantInnen aus unterschiedlichen zentralafrikanischen Ländern, denen der Status als Vertriebene gemeinsam ist, schließen sich in diesem Verein zusammen, da ihnen eine Rückkehr in ihre jeweiligen Heimatstädte nicht möglich ist, nachdem sie sämtliche Familienressourcen für den Antritt ihrer Reise aufgebraucht haben. So verwandeln sie ihre Prekarität in eine Möglichkeit und treffen sich in Solidarität, um von ihren Erfahrungen zu berichten und das Bewusstsein für die Dynamiken zu schärfen, die an den unkontrollierten Wüstengrenzen in Nordafrika im Gange sind. Die Vereinigung veröffentlichte im Jahr 2007 einen Bericht über willkürliche Abschiebungen, die von der algerischen Regierung an der Grenze zu Mali und dem Niger vorgenommen wurden.[17] Durch diesen Bericht erfahren wir von den inoffiziellen Taktiken der maghrebinischen Sicherheitskräfte im Umgang mit MigrantInnen und finden ferner Anhaltspunkte für Mikrodynamiken, die aus dem Aufeinandertreffen zwischen Menschen unterschiedlicher Ethnien und Religionen hervorgehen, darunter auch Beispiele lokaler Solidarität. So erfahren wir beispielsweise, dass, wenn eine Gruppe schwarzer MigrantInnen auf die BewohnerInnen einer algerischen Stadt trifft, diese zunächst danach gefragt werden, ob sie Moslems seien. Wenn die lokale Bevölkerung erfährt, dass die MigrantInnen ihren Glauben teilen, wird diesen oft großzügige Hilfe zuteil. Auch eine gemeinsame Sprache ist die Grundlage für Solidarität: Wenn es unter den MigrantInnen Arabischsprechende gibt, können diese mit der lokalen Bevölkerung in Kontakt treten und Unterstützung erhalten. Durch diese Erzählungen bekommen wir also Einblick in das unmittelbare Aufeinandertreffen zwischen den Menschen in Bewegung und der lokalen Bevölkerung. Derartige Dynamiken operieren auf einer anderen Ebene als der vertraglichen zwischen den Regierungen der Drittstaaten und Europa. Die Vielfalt lokaler Dynamiken und die daraus erwachsenden Zusammenschlüsse weisen in eine andere politische Richtung als die Bemühungen von Menschenrechtsorganisationen und progressiveren Teilen in der EU-Körperschaft, die eine Kontrolle der Umsetzungen der Drittstaaten etablieren wollen. Die Mikropolitiken der Migration, die in den Grenzzonen Gestalt annehmen, agieren jenseits des langsamen Zeitplans der „Demokratisierung“, den die EU für die Drittstaaten vorgesehen hat. Der Legalisierungs- bzw. Regularisierungsdiskurs scheint im Gegensatz dazu, den Horizont dermaßen verengt zu haben, dass neben den staatlichen Handlungsträgern die „illegalen Netzwerke des Menschenhandels“ als einzige Akteure auf dem Feld wahrgenommen werden. Lesen wir zum Beispiel diesen Absatz aus dem Entwurf von Schlussfolgerungen des Rates zum Sevilla-Gipfel: „Intensivierung der Überwachungsmaßnahmen an ihren Grenzen zur Verhütung der illegalen Einreise in bzw. Durchreise durch die Länder der Europäischen Union und des illegalen Aufenthalts in diesen Ländern, ergänzt durch polizeiliche Kontrollen innerhalb ihres Hoheitsgebiets, mit dem Ziel, Schleusernetze oder Netze von Menschenhändlern […] auszuheben“, finden wir im letzten Teil folgende Verschiebung: „[…] im Einklang mit den einschlägigen internationalen Übereinkünften, einschließlich Übereinkünfte über Menschenrechte, […].“ MigrantInnen werden bestenfalls als „Opfer“ illegaler Netzwerke dargestellt, als wäre der Akt des Grenzübertritts keine bewusste Wahl seitens der MigrantInnen. Oder was noch schlimmer ist, der in den multilateralen Abkommen der EU zur Anwendung kommende Diskurs verwechselt den „undokumentierten“ Status von MigrantInnen mit der „Illegalität“ von Schleppern. Eine gute Methode diese Logik, die jeden aktiven Wunsch zur Mobilität verschwinden lässt oder in die Illegalität verschiebt, zu enthüllen, besteht in einem Vergleich der Diskurse in den EU-Dokumenten mit dem Gegenbeispiel der freiwilligen „humanitären Hilfe“ für MigrantInnen im US-amerikanischen Grenzgebiet. Ein jüngst verabschiedetes Gesetz des Heimatschutzministeriums der Vereinigten Staaten [US Homeland Security] sieht für die UnterstützerInnen illegalisierter MigrantInnen die gleichen Strafen vor wie für Menschenschmuggler. Hochrangige KatholikInnen in den Grenzbundesstaaten mussten sich kürzlich mit dieser neuen Regulierung befassen und gingen offen dagegen vor, indem sie in einem Akt zivilen Ungehorsams MigrantInnen weiterhin Obdach und Unterstützung boten. Dieses Gegenbeispiel macht deutlich, dass sich der staatliche Diskurs gegen die „Misshandlung der Menschenhändler“ – auch wenn er Rechte zu wahren scheint – zugleich gegen humanitäre Unterstützungsgruppen wendet, da diese die Bewegungsfreiheit von Menschen entgegen der staatlichen Kontrolle an den Grenzen erleichtern. Die Ausdifferenzierung der Migrations- und Asylpolitik findet aber auch andere Kanäle. Aufgrund der langen Migrationsgeschichte aus Nordafrika nach Europa gibt es in der maghrebinischen Diaspora insbesondere in Frankreich eine Vielzahl migrantischer Organisationen, welche die EU-Politik der Auslagerung der Grenzen genau verfolgen. Diese Gruppen haben in der Tat eine Innenperspektive auf beide Aspekte der Grenze: sowohl auf die innere Grenze, die Menschen mit migrantischem Hintergrund in den Metropolen isoliert, wie auch auf die äußere Grenze, die von ihren eigenen Landsleuten im Maghreb überwacht wird. In den Tagen vor dem ersten Treffen der Union für den Mittelmeerraum kommentierte ein freimütiges Mitglied der Mouvement des Indigènes de la République [Bewegung der Indigenen der Republik], eines transnationalen Kollektivs von MigrantInnen in Frankreich: „Mich beunruhigt die Rolle der Gendarmerie Europas, welche die Maghrebstaaten gegenüber unseren schwarzen afrikanischen Brüdern übernehmen. Sie verraten den Geist der Unabhängigkeit und den Kampf gegen den Imperialismus. Aber ich habe großes Vertrauen in die algerische Bevölkerung. Ich bin sicher, dass sie sich immer auf die Seite der Unterdrückten schlagen wird … .“ [18] Zum selben Zeitpunkt als die Maghrebstaaten ihre Vorbehalte gegenüber der Union für den Mittelmeerraum äußerten, die durch geschickte Schachzüge der französischen Regierung – wie etwa ein Besuch in Algerien, bei dem ein Atomreaktor versprochen wurde – rasch vom Tisch waren, arbeitete eine Koalition von Organisationen in Frankreich aktiv an einem Aufruf für ein „Mittelmeer der Kämpfe“.[19] Unterzeichnet wurde dieser von Initiativen wie der Association des Marocains en France [Vereinigung von MarokkanerInnen in Frankreich], Association des Palestiniens en France [Vereinigung von PalästinenserInnen in Frankreich], Association des Tunisiens en France [Vereinigung von TunesierInnen in Frankreich], Association des travailleurs maghrébins de France [Vereinigung maghrebinischer ArbeiterInnen aus Frankreich], Union des travailleurs immigrés tunisiens [Union immigrierter tunesischer ArbeiterInnen], Campagne civile internationale pour la protection du peuple palestinien [Internationale Zivilbewegung zum Schutz der palästinensischen Bevölkerung], Fédération des Tunisiens citoyens des deux rives [Föderation tunesischer BürgerInnen zweier Küsten], Génération Palestine [Generation Palästina], dem Mouvement des Indigènes de la République, Rassemblement des associations citoyennes des originaires de Turquie [Versammlung der Vereinigungen von BürgerInnen mit türkischem Hintergrund] sowie der Union juive française pour la paix [Jüdisch-französische Friedensunion] gemeinsam mit Organisationen wie Attac und der anarchosyndikalistischen Gewerkschaftsbewegung CNT. Diese Diasporaorganisationen nähern sich dem Problem der Auslagerung der Grenze in seinen vielfältigen Facetten. Ihre an den Maghrebstaaten geäußerte Kritik beschränkt sich nicht auf deren Haltung zu Migration, sondern nimmt all die anderen Mängel, einschließlich der Frage politischer Freiheiten ins Visier. Die Vision eines „Mittelmeers der Kämpfe“ verbindet daher die Forderung nach „Bewegungsfreiheit der Menschen, Schließung der Abschiebelager sowie Aufhebung aller Abkommen zur Bekämpfung von Migration“ mit dem Kampf um „Achtung der Menschenrechte und Entwicklung grundlegender Freiheiten, insbesondere gewerkschaftlicher Rechte sowie Presse-, Meinungs- und Organisationsfreiheit; Freilassung aller aufgrund ihrer Gesinnung Inhaftierten, Abschaffung von Folter, Ausnahmezustand und Terror sowie Achtung des für alle geltenden Rechts auf Verteidigung vor Gericht.“ Wir können feststellen, dass politische Flüchtlinge aus den Maghrebstaaten in der Zusammensetzung dieser Diasporagruppen großes Gewicht haben. Ein weiterer einzigartiger Aspekt ihrer Zusammensetzung besteht darin, dass sie einer Solidarität in den französischen Banlieues entspringen, in denen Menschen mit nordafrikanischem, karibischem und westafrikanischem Hintergrund versammelt sind. Die Diaspora ist damit ein Schritt in Richtung einer interethnischen oder transnationalen Solidarität, die in den saharischen Grenzzonen sowie entlang der Migrationsrouten im Entstehen begriffen ist. Transnationale Solidarität in Bezug auf Migration bildete sich auf einer Makroebene auch auf den Grenz-Sozialforen heraus. Das Grenz-Sozialforum wurde erstmals im Jahr 2006 in Bamako, Mali, in der Elfenbeinküste sowie in Rabat, Marokko organisiert und fand unmittelbar im Anschluss daran an der US-amerikanischen und mexikanischen Grenze statt. Das wechselseitige Bewusstsein über Kämpfe sehr verschiedener Geographien verspricht, die Kraft der jeweiligen Kämpfe zu verstärken. Die Erwiderungen der Organisationen der maghrebinischen Diaspora auf die am 18. Juni 2008 von der EU verabschiedete „Rückkehr-Richtlinie“ fanden ein rasches Echo in den Erklärungen lateinamerikanischer Anführer, insbesondere in der von Morales, der die Richtlinie als Verletzung des Rechts auf Bewegungsfreiheit bezeichnete und die Bedeutung der von den MigrantInnen getätigten Geldsendungen für die Länder der dritten Welt unterstrich. Alles in allem bilden sich die Politiken der Migration offenbar unter dem Einfluss unterschiedlicher Kräfte heraus: Die Auslagerung der EU-Grenze sowie der EU-Asylpolitik scheint ihr Ziel der Filterung von Menschenströmen erreicht zu haben. Asylsuchende sind die einzige aus der Masse von MigrantInnen auserwählte Gruppe, deren Forderung nach Grenzüberschreitung für rechtsgültig erklärt werden kann. In einem Klima, in dem das Anerkennungsverfahren selbst Gefahr läuft, an Drittstaaten delegiert zu werden, konzentrieren sich die Anstrengungen von Menschenrechtsorganisationen zunehmend auf die Sicherstellung der Gesetzmäßigkeit dieses Verfahrens. Diese Neuausrichtung führt zur Abgrenzung gegen die Perspektive der Verteidigung der Bewegungsfreiheit sowie zu einer Schwerpunktverlagerung auf ein juridisch-ethisches Anliegen, das dem Asylrecht und der korrekten Behandlung der Abzuschiebenden gilt. Die Gegentendenz dazu bildet andererseits eine Vervielfältigung lokaler und transversaler Gruppen, die sich für Rechte von MigrantInnen einsetzen und aus den Communities von in Drittstaaten abgeschobenen MigrantInnen, aus der Interaktion zwischen den MigrantInnen und den BewohnerInnen der Orte an Migrationsrouten sowie aus schon etablierten diasporischen Kämpfen in den Metropolen hervorgehen. Meiner Meinung nach ziehen diesen verschiedenen Möglichkeiten Fragen nach sich wie: Was werden die bestimmenden Kräfte in unseren Versuchen sein, die Rolle einer Gendarmerie für den Euro-Staat zurückzuweisen? Welche lokalen Dynamiken können für unseren geographischen Raum von Relevanz sein, wenn wir mehr Handlungsspielraum anstreben, als nur die Kontrollfunktion darüber wahrzunehmen, wie der türkische Staat jene Maßnahmen, die uns von einer mediterranen Partnerschaft auferlegt werden, umsetzt? Welche Potenziale sehen wir für eine lokale, transversale Solidarität mit unseren NachbarInnen an der Grenze, insbesondere Griechenland? Wird das Entstehen von Grenzstädten als Zentren für Versammlungen und Erklärungen jenseits einer staatlichen Initiative, wie etwa Oujda zwischen Algerien und Marokko, auch in unserer lokalen Landkarte einen Niederschlag finden? Ayse Deniz Temiz arbeitet zu aktuellen politischen Fragestellungen, zur Migrationspolitik in Europa und den USA sowie zu Arbeiten nordafrikanischer und karibischer Diaspora-SchriftstellerInnen. Sie schloss kürzlich ihre Dissertation mit dem Titel „Gens inconnus: Political and Literary Habitations of Postcolonial Border Spaces“ [Unbekannte Leute: Politische und literarische Habitate der postkolonialen Grenzräume] am Institut für vergleichende Literaturwissenschaften der State University, New York-Binghamton ab und schreibt für die türkischen Magazine Conatus, Otonom, Siyahi und Yasak Meyve. Email: aysedtemiz@yahoo.com [1] Der erste mit einem Fragezeichen versehene Teil des Texttitels ist ein Satz aus den Gedanken Pascals, die Carl Schmitt in Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum (1950) zur Untermauerung seiner These zitiert, dass das Reich der Gerechtigkeit notwendigerweise geografisch begrenzt sei. Das Jus Publicum Europaeum bzw. ein europaweites Justizsystem ist nach Schmitt nur in dem Ausmaß realisierbar, in dem es sich selbst gegen Territorien setzt, in denen ein anderes Recht oder komplette Rechtlosigkeit herrscht. Dies führt etwa den Versuch nach Art der Vereinten Nationen, europäisches Rechts auf die ganze Welt auszudehnen, ad absurdum. Schmitts Rechtsauffassung scheint eine für die aktuelle Situation, in der Menschenrechte entlang der beweglichen Grenzen von Europa im Schwinden begriffen sind, passende Analyse darzustellen. [2] Die UpM, offizieller Name: Union pour la méditerranée, ist eine internationale Organisation mit Sitz in Barcelona, die aus dem 1995 gestarteten Barcelona-Prozess resultiert und derzeit 43 Mitgliedsstaaten umfasst (darunter die Länder der Europäischen Union, die Mittelmeeranrainerstaaten sowie die an diese angrenzenden Staaten Mauretanien und Jordanien). Vgl: http://de.wikipedia.org/wiki/Union_f%C3%BCr_das_Mittelmeer. Unión para el mediterráneo, Sitz in Barcelona, 43 Mitgliedsstaaten (u.a. auch Österreich und Deutschland), die Gründungszeremonie erfolgte am 13. Juli 2008 in Paris [Anmerk. d. Übers.]. [3] UMP, Union pour un mouvement populaire [„Volksbewegungsunion“], ist ein französisches Rechtsparteienbündnis, das im Jahr 2002 mit dem Ziel der Unterstützung der Kandidatur von Jacques Chirac beim zweiten Wahlgang der französischen Präsidentschaftswahlen gegründet worden war (dementsprechend lautete der ursprüngliche Name des Bündnisses auch Union pour la majorité présidentielle [Union für die Mehrheit des Präsidenten]. Die UMP stellt seit ihrer Gründung in Frankreich den Staatspräsidenten. Vgl.: http://de.wikipedia.org/wiki/Union_pour_un_mouvement_populaire [Anmerk. d. Übers.]. [4] „Babacan: ‚Akdeniz‘ konusunda korkular yersiz.“, in: Radikal, 15. Juli 2008. [5] Für mehr Informationen zu Frontex (Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen) vgl. die im Jänner 2008 im Auftrag von Tobias Pflüger, Mitglied des Europäischen Parlaments erstellte Broschüre Was ist Frontex? Aufgaben und Strukturen der Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen, Materialien gegen Krieg, Repression und für andere Verhältnisse Nr. 4; vgl.: http://www.no-fortress-europe.eu/upload/FRONTEX-Broschuere.pdf [Anmerk. d. Übers.]. [6] Sandro Mezzadra, „Border, Migrants, Citizenship“, übers. v. Maribel Casas Cortés/Sebastian Cobarrubias, 11. September 2006, http://deletetheborder.org/node/1515. [7] Angela Mitropoulos und Brian Finoki, „Borders 2.0: Future, Tense.“, in: Metamute, 12. August 2008, http://www.metamute.org/en/content/borders_2_0_future_tense. [8] Vgl. Kollektiv Migreurop, Le livre noir de Ceuta et Mellila [Das Schwarzbuch Ceuta und Melilla], http://www.migreurop.org/rubrique177.html. [9] Ibid. [10] Das Netzwerk Migeurop ist ein Zusammenschluss europäischer ForscherInnen und NGOs, die sich für die Offenlegung der systematisch betriebenen Ausgrenzung von illegalisiert in Europa lebenden MigrantInnen einsetzen und die immer größer werdende Anzahl von Abschiebelagern bekannt machen. Migreurop entstand im Rahmen eines Seminars zum Thema „Das Europa der Lager“, das im Rahmen des im November 2002 organisierten europäischen Sozialforums in Florenz abgehaltenen wurde. Genauere Informationen zu den Aktivitäten des Netzwerks sowie Texte, teilweise auch in deutscher Sprache, finden sich auf der Website http://www.migreurop.org; [Anmerk. d. Übers.]. [11] Association des Refoulés d’Afrique Centrale au Mali [Vereinigung zentralafrikanischer nach Mali Abgewiesener], „Rapporto sulle Condizioni dei Migranti di Transito in Algeria.“ [Bericht über die Bedingungen von TransitmigrantInnen in Algerien], 10. Dezember 2007, http://fortresseurope.blogspot.com/2006/01/august-2007.html. [12] Die Arabische Maghreb-Union ist ein panarabisches Abkommen mit dem Ziel einer wirtschaftlichen Union und einer einheitlichen Politik in Nordafrika. Sie versammelt die Staaten Algerien, Libyen, Mauretanien, Marokko und Tunesien; vgl.: http://de.wikipedia.org/wiki/Arabische_Maghreb-Union. [13] Union pour la Méditerranée: les pays arabes veulent des „clarifications“, [Union für den Mittelmeerraum: Die arabischen Länder fordern „Klärungen“], 5. August 2008, http://www.europe1.fr/Info/Actualite-Politique/Union-europeenne/Union-pour-la-Mediterranee-les-pays-arabes-veulent-des-clarifications/(gid)/142221. [14] Das FORMED [Forum des pays de la Méditerranée] fand im August 2008 in Algier statt, einen Monat vor der Proklamation der Union für das Mittelmeer, und versammelte elf Länder der nördlichen und südlichen Mittelmeerküste ebenso wie Slowenien, das die turnusmäßige Präsidentschaft der EU sicherstellte, und Libyen in seiner Eigenschaft als Vorsitz der Arabischen Maghreb-Union. [15] Dieses Schwarzbuch (vgl. FN 8) zu den Geschehnissen in Ceuta und Melilla versammelt Zeugenberichte der Opfer und analysiert die möglichen Auswirkungen der Asyl- und Migrationspolitik auf die Achtung der Grundrechte. Das Buch sowie einige andere Berichte (in englischer Sprache) finden sich als PDF-Versionen auf der Website des Migreurop-Kollektivs, vgl.: http://www.migreurop.org/rubrique177.html?lang=de. [16] Die Deklaration von Oujda ist auf der Website http://www.manifeste-euroafricain.org/Declaration-d-Oujda auch in deutscher Sprache zugänglich. [17] A.R.A.C.E.M., Association des Refoulés d’Afrique Centrale au Mali, „Rapporto sulle Condizioni dei Migranti di Transito in Algeria“ (vgl. FN 11), 10. Dezember 2007, http://www.infinitoedizioni.it/fileadmin/InfinitoEdizioni/rapporti/RAPPORTO_ALGERIA.pdf. [18] Interview mit Houria Bouteldja aus der Bewegung der Indigenen der Republik, http://www.indigenes-republique.org. Für weitere auf Deutsch zugängliche Dokumente, vgl. deren Manifest zu den „Banlieues-Revolten“ im November 2005, abdruckt in Grundrisse Nr. 17. [19] „Pour une Méditerranée des luttes“, http://www.atmf.org/article.php3?id_article=1019. |
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