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Jens Kastner: Aspekte der
Guerilla-Form Die Geschichte von 1968 und der bildenden Kunst ist weder die Geschichte eines Jahres noch die eines vollkommen autonom funktionierenden gesellschaftlichen Sektors. Denn selten zuvor oder danach kam es zu dermaßen großen Überschneidungen zwischen dem künstlerischen und dem politischen Feld wie in jenen Jahren, für die 1968 als Chiffre fungiert. Der bildenden Kunst wird zunehmend eine „potenzielle moralisch-politische Bedeutung“ (Godfrey 2005: 130) abverlangt, bestimmte Zweige der konzeptuellen Kunst entstehen gar in Form von „Didactics of Liberation“ (Camnitzer 2007). Kurz: Obwohl Pierre Bourdieu sie als Invarianten des jeweiligen Feldes beschreibt, kamen die Überlappungen zwischen künstlerischem und politischem Feld in den „1968er Jahren“ vergleichsweise häufig vor. Die Verwirklichung des strukturell unrealistischen Traums „von einer Versöhnung von politischer Avantgarde und Avantgardismus in Sachen Kunst und Lebenskunst durch eine Art gleichzeitig sozialer, sexueller und künstlerischer Globalrevolution“ (Bourdieu 2001: 398f.) war selten so greifbar wie damals. Teil dieser künstlerisch-poilitisch-alltagsweltlichen Annäherungen war das, was ich im Folgenden als die Guerilla-Form zu skizzieren versuchen möchte. „…the great wake-up call“ (Lucy Lippard) Als der Ministerpräsident des Kongo, Moise Tschombé, im Dezember 1964 auf Staatsbesuch in Deutschland war, kam es in mehreren Städten zu Protestkundgebungen. Tschombé galt als einer der Hauptverantwortlichen für die Ermordung seines Vorgängers Patrice Lumumba (1961), der als erster antikolonialer Präsident das Land nach der Unabhängigkeit regiert hatte. Die Proteste wurden u. a. von jenen situationistischen KünstlerInnen und AktivistInnen koordiniert, die als lose Gruppe „Subversive Aktion“ ebenfalls 1964 in München und Berlin in den Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) eingetreten waren, um dort eine aktivistischere Politik durchzusetzen. Rudi Dutschke bezeichnete die Aktionen zum Tschombé-Besuch später als „Beginn unserer Kulturrevolution“ (Dutschke 1968). Das war der Eintritt der Peripherie ins Zentrum: Nicht die Situation an der Hochschule oder die Nazi-Vergangenheit der Eltern wurden zum Ausgangspunkt der Protestbewegungen in Westdeutschland erklärt, sondern die Solidarität mit dem antikolonialen Befreiungskampf, für den Lumumba zum Symbol geworden war. Mit den antikolonialen Kämpfen wurde zugleich der Stellenwert von Autorität und Repression relativiert, gegen die die antiautoritäre Revolte sich formierte. Zwar waren das Nachwirken der Kolonialgeschichte, die Unterstützung der westlichen Regierungen für korrupte und unterdrückerische Regime in aller Welt und allen voran der Krieg der USA gegen Vietnam die wesentlichen Ereignisse, die die vielen Bewegungen der 1960er Jahre in ihren antiautoritären und antirepressiven Anliegen verbanden. Ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückte neben diesen negativen Klammern aber auch das positive, utopische Befreiungsmotiv. Inspiriert durch die Schriften des Sprechers der algerischen Nationalen Befreiungsfront (FLN), Frantz Fanon, setzte sich innerhalb der schwarzen US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung ab 1966 im Student Nonviolent Coordinating Comittee (SNCC) mit Stokeley Carmichael die separatistische Fraktion durch, die für den „Aufbau eines afrikanischen kulturellen Bewusstseins“ (Carson 2004: 367) kämpfte. Die Bürgerrechtsbewegung wiederum war auch für die bildende Kunst der 1960er Jahre, wie Lucy Lippard (2007: 410) betont, „the great wake-up call“. Was sich aus dem Kunstfeld heraus entwickelte und die 1960er Jahre prägte – die Kritik an der Figur des Künstler-Genies und die Kritik an den Institutionen des Kunstfeldes –, fand also zusätzliche Motivationen in den sozialen Bewegungen und wurde über das Kunstfeld hinaus getrieben. Den als repressiv und entfremdet diagnostizierten Institutionen sollte nicht nur innerhalb des Kunstfeldes, sondern gesamtgesellschaftlich etwas entgegen gesetzt werden. Um die künstlerischen Impulse zu verstehen, denen es auch darum ging, soziale Effekte zu zeitigen, erscheint es hilfreich, den Fokus über feldimmanente, generationenspezifische und innergesellschaftlich-nationalstaatliche Erklärungsmodelle hinaus auszuweiten. Diese Ausweitung ist umso mehr für soziale Bewegungen in Anschlag zu bringen, als diese nach wie vor häufig innerhalb der drei Paradigmen (oder einem davon oder zweien in Kombination) wahrgenommen und untersucht werden. Für die Bewegungen um 1968 drängt sich diese Erweiterung der Perspektive überdies dadurch auf, dass ein erneuerter Internationalismus – in Abgrenzung zum arbeiterbewegten und parteiendominierten der Zweiten und Dritten Internationale – oft Anspruch der Bewegungen selbst war. (Ein Anspruch, über dessen ge- oder misslungene Einlösungen auch nur diskutiert werden kann, wenn er ernst genommen wird).[1] Dieser Internationalismus war einer der „zentralen Bestandteile“ (Hierlmeier 2002: 23) der 68er-Bewegungen. Um all dies in den Blick zu nehmen, sei also an die Langzeiteffekte zweier Ereignisse erinnert, die die genannten positiven Identifizierungsmodelle der Befreiung überhaupt erst möglich gemacht haben: Die kubanische Revolution (1959) und die Revolution in Algerien (1956-1962). „Der Sieg ist möglich“ (Che Guevara) In einer Rede im Juli 1960 widmet sich Ernesto Che Guevara den Erfolgen und Aufgaben der kubanischen Revolution. Die zwei wesentlichen Ergebnisse der Revolution im Hinblick auf andere revolutionäre Bewegungen sind demnach folgende: Erstens, „der Sieg ist möglich“ (Guevara 2003: 43f.). Die Massen, und das ist der zweite Effekt, wüssten nicht nur, dass der Sieg möglich sei, sondern sie würden bereits ihre Zukunft kennen. Diese könne nur in der sozialen Gerechtigkeit liegen. Auch wenn die Einschätzung, die konkrete Situation des prärevolutionären Kubas ließe sich auf ganz Lateinamerika (und weiter noch) verallgemeinern, sich als Fehleinschätzung mit katastrophalen Auswirkungen herausstellte, gehörte es doch zum festen Bestandteil des 68er-Glaubensuniversums, dass eine erfolgreiche Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse möglich wäre. Zwar unterschieden sich die Lebensverhältnisse von Mittelschichtsstudierenden in den westlichen und östlichen Industrienationen von denen lateinamerikanischer oder afrikanischer Bäuerinnen und Bauern fundamental, was im Übrigen auch für das Wissen und Bewusstsein der „Massen“ galt. Dennoch entwickelte die von Frantz Fanon (1981: 44) für die Kolonisierten formulierte Vorstellung, „die Rolle des Freiwilds aufzugeben, um die des Jägers zu übernehmen“, im übertragenden Sinne also selber tätig zu werden und sich nicht mehr von einer kaum mehr legitimierten Klasse regieren zu lassen, enorme Ausstrahlungskraft und ein Aktivierungspotenzial, das nicht zu unterschätzen ist. Die beiden zunächst erfolgreichen Guerilla-Kriege in Ländern der Peripherie schufen eine positive Folie, einen Imaginationsraum, der für die Überlappungen von sozialen Protestbewegungen und künstlerischen Produktionen entscheidend werden sollte: Die Guerilla-Form. Mit der Frage nach der Form fragt Marx danach, wie, also auf welche Art und Weise arbeitende Menschen, mit den ihnen zur Verfügung stehenden Produktionsmitteln in Beziehung treten. Diese Verhältnisse zwischen ArbeiterIn und Produktionsmitteln unterscheiden sich nach Marx je nach den ökonomischen Epochen der Gesellschaftsstruktur. (Vgl. Marx 1973: 765) Zwar zielt Marx mit dem Begriff der Formbestimmtheit auf die Produktionsverhältnisse insgesamt, um die es hier gar nicht gehen soll. Um das Verhältnis arbeitender Menschen zu ihren Produktionsmitteln geht es aber sehr wohl. Die soziale Form bezeichnet die „sich hinter dem Rücken der Subjekte herstellende und von ihnen nicht unmittelbar durchschaubare Verobjektivierung sozialer Beziehungen. Mittels dieser Formen vollzieht sich die Reproduktion der Gesellschaft zwar durch das Handeln der individuellen Akteure, aber nicht planmäßig und bewußt“ (Hirsch 2001: 104). „…Organisator schlechthinniger Irregularität“ (Rudi Dutschke/Hans-Jürgen Krahl) Im November 1967 publizierte Germano Celant in der Zeitschrift Flash Art den Text „Arte Povera. Notes for a guerrilla war“, in dem er die von ihm beschrieben Kunst in einen eindeutig politischen Kontext stellt. „Arm“ an der Arte Povera sind hier nicht mehr nur die verwendeten Materialien (Erde, Lehm, Wachs, etc.) oder die reduzierte Formsprache. Celant versteht „arm“ als normativen Gegensatz zur reichen Welt des westlichen Kapitalismus. Das durch Massenmedien und Technologie entfremdete Dasein gelte es aufzuheben, die KünstlerInnen sollten die Rolle der Ausgebeuteten verlassen und zu Nomaden werden. Denn die Beweglichkeit biete Vorteile im Kampf. Laut Bettina Ruhrberg (1997: 21) forderte Celant aber nicht die gezielte politische Aktion, sondern verstand die Guerillataktik eher „als Unterminieren eines Systems, als subversives Gegenverhalten.“ [2] Die Guerilla-Form ist nicht als konkrete Wirkung peripherer auf zentrale Bewegungen zu denken. Gemeint sind damit also gerade nicht die in den 1970er Jahren entstandenen Stadtguerillagruppen, die die Fokus-Theorie Che Guevaras in den Metropolen umsetzen wollten. Guevara hatte 1967 dazu aufgerufen, „zwei, drei, viele Vietnam“, also verschiedene Brennpunkte im Kampf gegen den Imperialismus zu schaffen. (Vgl. Guevara 1967) Die Guerilla-Form stellt vielmehr deskriptiv einen allgemeinen Kontext von Praktiken und Organisierungen sowie normativ eine Möglichkeit dar, diese Praktiken und Organisierungen zu fassen: Und zwar in Abgrenzung von holistischen Gemeinschaftskonzepten einerseits und konkreten Entwürfen von Kollektivität andererseits. Die Guerilla-Form ist also weniger als das allgemeine „Wir“, das die differenten Bewegungen als Gemeinsames für sich beanspruchten. Und sie ist mehr als die konkreten Kollektive, die sich in den späten 1960er Jahren als Reaktion auf die als entfremdet ausgemachte Individualisierung auch innerhalb der Kunstfelder gründeten. Sie ist eine besonders in den 1960er Jahren relevante Vermittlung von individueller und kollektiver Praxis, die sowohl in sozialen Bewegungen als auch im Kunstfeld ihre Effekte zeitigte und so als wesentliche Verbindung zwischen beiden diente. Rudi Dutschke und Hans-Jürgen Krahl hatten in ihrem „Organisationsreferat“ für den 22. Delegiertenkongress des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) betont, die von Che Guevara ausgerufene „Propaganda der Schüsse“ in der „Dritten Welt“ müsste in den Metropolen durch eine „Propaganda der Tat“ vervollständigt werden.[3] Anstelle von (meist anarchistisch motivierten) Attentaten auf Staatsoberhäupter, in deren Kontext der Begriff um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert aufgekommen war, forderten Dutschke und Krahl eine Organisierung alternativen Handelns: „Der städtische Guerillero ist der Organisator schlechthinniger Irregularität als Destruktion des Systems der repressiven Institutionen.“ (Dutschke/Krahl 1992: 257) Dutschkes und Krahls Idee der Stadtguerilla gründet zweifellos auf der Fokus-Theorie Che Guevaras, und der Aufruf zu einer Guerilla für Sabotage und Verweigerung bleibt gegenüber der Anwendung von physischer Gewalt immerhin offen. Wie Celant ging es aber auch Dutschke und Krahl um eine bestimmte Haltung und ein daraus resultierendes, alltägliches Verhalten. Beides war keineswegs als direkter Übergang in den bewaffneten Kampf konzipiert, sondern kann – und sollte – gerade auch als Alternative zu ihm gelesen werden.[4] Als in den Alltag diffundierte Militanz im Sinne einer kämpferischen Bereitschaft, gegen Unrecht anzugehen, ohne auf den historisch richtigen Moment dafür zu warten und ohne die quantitative Unterlegenheit als qualitative wahrzunehmen. „Guerilla-Mentalität“ würde flexible Gruppenbildungen ebenso enthalten wie permanentes Training, überraschende Strategiewechsel und unerwartete Attacken. Wobei auch variiert, wie metaphorisch und wie materiell diese Bestimmungen aufgefasst werden. „…become involved in the actual policy-making“ (Guerrilla Art Action Group) In ihrem „Manifesto for the Guerrilla Art Action Group“ wandte sich die darin angesprochene Gruppe 1969 mit drei Forderungen an das New Yorker Museum for Modern Art. Erstens sollte das Museum einen Teil seiner Kunstwerke (im Gegenwert von einer Millionen Dollar) verkaufen und das Geld an bedürftige Gemeinden verteilen. Zweitens sollte die Machtstruktur des Museums dezentralisiert und damit kommunalisiert werden. Und drittens forderte die Guerilla Art Action Group (GAAG) die Schließung des Museums für die Dauer des Vietnam-Krieges mit dem Argument, in Zeiten des Massenmordes gebe es keine Legitimation für den Kunstgenuss (vgl. GAAG 2007: 175f.). Diese dritte Forderung ist neben jenen nach Umverteilung gesellschaftlicher Ressourcen und der Dezentralisierung/Kommunalisierung von Macht einerseits eine typische Ausdrucksweise der Guerilla-Form, andererseits aber auch ihre problematischste. Denn in der Konsequenz läuft sie auf das Ende aller Kunstpraktiken hinaus, denn gemordet und gelitten wird, auch im großen Stil, immer. Dass die Überlappungen zwischen politischem Aktivismus und künstlerischer Produktion aber auch im Rahmen der Guerilla-Form nicht unbedingt mit dem Ende der Kunst einhergehen muss, kann die folgende Typologie erläutern. So lassen sich grob vier verschiedene Arten unterscheiden, in denen sich die Guerilla-Form äußert. Alle vier stellen bereits unterschiedliche Überlappungen zwischen Kunstfeld und Alltagsleben dar, die zugleich als politische Interventionen gelesen werden können. Eine erste Kategorie wäre die, die dem Ende der Kunstproduktion noch am nächsten kommt und die hier mit „Kunst im Dienste der Revolution“ bezeichnet sein soll. Gemeint ist damit nicht nur die ideelle Übereinstimmung künstlerischer Produktion mit bestimmten sozialrevolutionären Zielen (wie sie der „Surrealismus im Dienste der Revolution“ verkörperte), sondern deren tatsächliche und materielle Indienstnahme für den politischen Kampf. Solche Propaganda kann durchaus hohen ästhetischen Kriterien genügen, wie beispielsweise die posthume Anerkennung der Grafiken des Black Panther Party-Grafikers Emory Douglas im Kunstfeld belegen. Douglas hatte in den späten 1960er Jahren verschiedene Plakate für die militanten Schwarzen entworfen und die Zeitschrift der Organisation layoutet. (Vgl. Sack 2007) Eine Ausgabe dieses Blattes mit dem Aufmacher „Guerilla War in the U.S.A.“ war u. a. in der Ausstellung „Forms of Resistance“ 2007/2008 im Van Abbemuseum Eindhoven zu sehen. Ein anderes gutes Beispiel für diese propagandistische Kunst, die zugleich unter bildpolitischen und designgeschichtlichen Geschichtspunkte interessant ist, sind die Plakate des „Atelier Populaire“, die im Pariser Mai 1968 von großer Bedeutung waren und verschiedene systematische Zusammenhänge versuchten deutlich zu machen, ohne dabei, als Reflex auf die situationistische Kritik der kapitalistischen Bildproduktion, auf Fotografien oder andere spektakuläre Abbildungen zu setzen. Eine zweite Art und Weise, in der die Guerilla-Form zum Ausdruck kommt, ist in jener künstlerischen Produktion im engeren Sinne zu sehen, in der Beziehungen und Bezugnahmen auf die zeitgleich existierenden sozialen Bewegungen implizit oder explizit deutlich werden. Das sind z. B. Werke wie „Two, three, many… Terrorism“ (1972) von Allan Sekula oder „Bringing the War Home“ (1967-1972) von Martha Rosler, die sich bereits im Titel explizit auf die Fokus-Theorie beziehen (vgl. Kastner 2006). In Sekulas Serie von Performance-Fotos robbt ein mit vietnamesischem Strohhut bekleideter und Plastik-Maschinengewehr ausgerüsteter junger Mann durch die Vororte von Los Angeles. Eine ähnliche Idee, den „Krieg nach Hause“ zu bringen, vertritt Martha Rosler in der genannten Serie, die Bilder aus Inneneinrichtungsmagazinen mit solchen aus dem Vietnam-Krieg collagiert. Produktionsprinzip und Aussage sind hier ähnlich wie beim Flugblatt der Berliner Kommune 1, die nach einem Kaufhausbrand in Brüssel 1967 auf einem Flugblatt jenes „knisternde Vietnamgefühl (dabei zu sein und mitzubrennen)“ beschwor und als Werbegag der US-Regierung ausgab. Den BetrachterInnen bzw. LeserInnen sollte der Abstand zwischen dem konsumistischen Alltag in den westlichen Industrieländern und dem in Vietnam geführten Krieg vorgeführt und damit verkleinert werden.[5] Aber auch Arbeiten wie „Che fare?“ (1968) von Mario Merz, in der die beiden Worte als Leuchtröhren in einer Wanne mit Lehm liegen, oder „Heuschrecken“ (1969/70) von Wolf Vostell, die zwei sich liebende Frauen mit dem Einmarsch sowjetischer Panzer in Prag 1968 kombiniert und zusätzlich eine Kamera auf den/die BetrachterIn richtet, der sie sich selbst auf 20 Bildschirmen ins Bild einbezogen sieht, zählen zu dieser zweiten Kategorie. Sie handeln zwar zuallererst von Problemen bestimmter Medien und/oder Materialien, entwickeln sie weiter und nehmen nur implizit auf Bewegungen Bezug. Aber ihre an die BetrachterInnen gewandten Fragestellungen sind durch den eröffneten Kontext auch als Fragen nach der politischen Positionierung zu lesen.[6] Drittens sind künstlerische Praktiken im weiteren Sinne zu nennen, also kollektive Aktionen wie Happenings und Performances und kollektive Organisierungen in KünstlerInnen-Gruppen oder zu einzelnen Ausstellungen. Hierzu zählen beispielsweise das Guerilla Art Collective Project, das 1970 in San Diego unter dem Titel Ship to… mit Fleisch gefüllte Plastiksäcke auf den Universitätscampus legte und damit gegen den Vietnam-Krieg ebenso protestierte wie neue Formen der Intervention in den öffentlichen Raum vorbereitete. Oder die Guerilla Art Action Group (GAAG), die im New Yorker Museum of Modern Art 1970 vor Picassos Guernica eine Andacht für die in Vietnam ermordeten Kinder hielt. Auch die kollektiven Organisierungen innerhalb oder am Rande des entstehenden second wave-Feminimus´ wie Women Artists in Revolution oder Women´s International Terrorist Conspiracy from Hell (WITCH) (vgl. Jones/Butler 2007: 134) sind für die explizit politisch auftretenden Gruppen ebenso gute Beispiele wie die „Internationale Bewegung des Signalismus“ in Belgrad, die zwar keinen Politikaktivismus im eigentlichen Sinne betrieben hat, aber – „entschlossen, Verbindung zur Welt aufzunehmen“ (Ćosić 2007: 30) – für den eher kollektivistischen und internationalem Esprit steht. Die vierte Ausdrucksweise der Guerilla-Form findet sich dann in noch weiter gefassten kulturellen Praktiken, die nicht mehr direkt an das Kunstfeld gebunden sind, aber durchaus dort ihre Motivationen herholen. Der Filmemacher Andreas Veiel beispielsweise erzählt von dem Einfluss, den der Film „Die Schlacht um Algier“ (1966) von Gillo Pontecorvo, in dem es um den guerillaförmigen Widerstand gegen das französische Kolonialregime geht, auf den Style von Andreas Baader (wohlgemerkt vor seiner Terroristenkarriere) hatte. (Vgl. Runge/Veiel 2007: 7) Auch wenn solche Adaptionen popkultureller Zeichen die Kategorie selbst ins uferlose auszudehnen drohen, kommt doch in manchen von ihnen sicherlich das zum Ausdruck, was Dutschke und Krahl im Anschluss an Herbert Marcuse die „Guerilla-Mentalität“ genannt haben. Es geht weniger darum, den Fehler mancher Cultural Studies-Fans zu wiederholen und das Hören bestimmter Platten oder Tragen bestimmter Kleidung gleich für Widerstand zu halten. Eher umgekehrt äußert sich die Guerilla-Form u. a. in den Effekten, die solche Produkte bzw. Praxisformen zeitigen können. (Oder noch anders gesagt: Welcher linksradikale Werdegang ist denkbar, ohne eine Reihe von Auslösern, zu denen – neben der scharfen Analyse, ist klar – auch gehört, zu einem bestimmten, in diesem Falle richtigen Zeitpunkt die richtige Zeitschrift in die Hand bekommen, den richtigen Film gesehen oder mit den richtigen Leuten gefeiert zu haben?) form follows… Um jene vielfältigen kollektiven Aktionen und individuellen politischen Akte, die die Überlappungen zwischen dem künstlerischen Feld und den sozialen Bewegungen der späten 1960er in vielen Ländern prägten zu verstehen, kann die Guerilla-Form möglicherweise eine Erklärungshilfe sein. Als eine Art kulturelles Muster, das einerseits deutliche Zeichen verlangt und andererseits bereits auf kollektiven Strukturen beruht, ist sie zumindest ein Versuch, den Widerspruch zwischen tätiger Entscheidung (für die kollektive Organisierung oder politische Aktionen) und der nicht durchschauten „Verobjektivierung sozialer Beziehungen“ (Hirsch 2001: 104) jener Jahre produktiv zu umgehen – oder gar aufzulösen. Sie kann zudem als Folie fungieren, auf der die nationalstaatlichen Narrative, die die „68er Jahre“ nach wie vor beherrschen, durch den Fokus auf transnationale Effekte überwunden werden kann. Und sie trägt möglicherweise dazu bei, die rein feldimmanenten Erklärungen für sozialen Protest und/oder die BetrachterInnen zur Positionierung zwingende, Institutionen kritisierende und geniales Schöpfertum ablehnende künstlerische Formen durch die Aufmerksamkeit für deren gegenseitiges Durchkreuzen zu erweitern. Literatur: Aly, Götz 2008: Unser Kampf. 1968 – ein irritierter Blick zurück, Frankfurt a. M. (S. Fischer Verlag). Bourdieu, Pierre 2001: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt a. M. (Suhrkamp Verlag). Camnitzer, Luis 2007: Conceptualism in Latin American Art: Didactics of Liberation, Austin (University of Texas Press). Carson, Clayborne 2004: Zeiten des Kampfes. Das Student Nonviolent Coordinating Committee (SNCC) und das Erwachen des afro-amerikanischen Widerstands in den sechziger Jahren. Aus dem Amerikanischen von Lou Marin, Nettersheim (Verlag Graswurzelrevolution). Ćosić, Bora 2007: Ein Pferd mit acht Beinen. Häretiker und Träumer – Rückblick auf die phantasiebegabte jugoslawische Moderne 1945-1992, in: in: Neue Zürcher Zeitung, 20./21. Oktober 2007, Zürich, S. 30, http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/literatur_und_kunst/ein_pferd_mit_acht_beinen_1.571742.html (05.01.2007) Dutschke, Rudi 1968: o. T., in: Bergmann, Uwe, Rudi Dutschke, Wolfgang Lefevre und Bernd Rabehl (Hg.): Rebellion der Studenten oder die neue Opposition, Reinbek (Rowohlt Verlag), S. 63, hier zit. n. http://www.glasnost.de/hist/apo/DutschkeTschombe.html (03.01.2008) Dutschke, Rudi und Hans-Jürgen Krahl 1992: Organisationsreferat, in: Redaktion diskus (Hg.): Küss den Boden der Freiheit. Texte der Neuen Linken, Berlin/Amsterdam (Edition ID Archiv), S. 252-258. Ebbinghaus, Angelika 2008: Die Bewegungen der 68er – Eine Einführung, in: dies. (Hg.): Die 68er. Schlüsseltexte der globalen Revolte, Wien (Promedia Verlag), S. 9-36. Fanon, Frantz 1981: Die verdammten dieser Erde, Frankfurt a. M. (Suhrkamp Verlag). Godfrey, Tony 2005: Konzeptuelle Kunst, Berlin (Phaidon Verlag). Guevara, Ernesto Che 1967: Schaffen wir zwei, drei, viele Vietnam, in http://www.infopartisan.net/archive/1967/266738.html (05.01.2008) Guevara, Ernesto Che 2003: Die Freiheit muß in jeder Region Amerikas erkämpft werden! Ansprache anlässlich der Eröffnung des 1. Kongresses der Lateinamerikanischen Jugend (Juli 1960), in: ders.: Schriften zum Internationalismus. Ausgewählte Werke in Einzelausgaben, Bd. 4, Hgg. von Horst-Eckart Gross, Bonn (Verlag Pahl-Rugenstein), 2. Aufl., S. 12-46. Heiser, Jörg 2007: Plötzlich diese Übersicht. Was gute zeitgenössische Kunst ausmacht, Berlin (Claassen Verlag). Hierlmeier, Josef Moe 2002: Internationalismus. Eine Einführung in die Ideengeschichte des Internationalismus – von Vietnam bis Genua, Stuttgart (Schmetterling Verlag). Hirsch, Joachim 2001: Die Internationalisierung des Staates. Anmerkungen zu einigen aktuellen Fragen der Staatstheorie, in: ders., Bob Jessop und Nicos Poulantzas (Hg.): Die Zukunft des Staates, Hamburg (VSA Verlag), S. 101-138. Jones, Amelia und Connie Butler 2007: History Makers. Amelia Jones talks to Connie Butler about the upcoming exhibition `WACK!, Art and the Feminist Revolution´, in: Frieze. Contemporary Art and Culture, Issue 105, London, March 2007, 133-139. Kastner, Jens 2006: Künstlerischer Internationalismus und Institutionskritik, in: transform multilingual webjournal, 1/2006, „do you rember institutional critique?“, Wien, http://transform.eipcp.net/transversal/0106/kastner/de (05.01.2008) Kastner, Jens und David Mayer (Hg.) 2008: Weltwende 1968? Ein Jahr aus globalgeschichtlicher Perspektive, Wien (Mandelbaum Verlag). Kraushaar, Wolfgang 2005: Rudi Dutschke und der bewaffnete Kampf, in: ders., Jan Philipp Reemtsma, Karin Wieland: Rudi Dutschke, Andreas Baader und die RAF, Hamburg (Hamburger Edition), S. 13-50. Lippard, Lucy R. 2007: Time Capsule, in: Bradley, Will und Charles Esche (Hg.): Art and Social Change. A Critical Reader, London (Tate Publishing), S. 408-421. Marx, Karl 1973: Das Kapital I, MEW 23, Berlin (Dietz Verlag). Ruhrberg, Bettina 1997: in: Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, Ingvild Goetz und Christiane Meyer-Stollund (Hg.): Arte Povera. Arbeiten und Dokumente aus der Sammlung Goetz 1958 bis heute, München (Kunstverlag Ingvild Goetz), S. 17-27. Runge, Heike und Andreas Veiel 2007: Die RAF hatte etwas sehr Deutsches. „Die frühen Jahre“ heißt der Titel eines Dokumentarfilmprojekts über Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Bernward Vesper, an dem Andreas Veiel zurzeit arbeitet. Ein Gespräch über Ikonen des Widerstands, Feindbilder und Filme, die niemals gedreht wurden, in: Jungle World, dschungel, Nr. 51/52, Berlin, 20./27. Dezember 2007, S. 6-11. Sack, Adriano 2007: Der graue Panther, in: MONOPOL. Magazin für Kunst und Leben, Berlin, Nr. 11/2007, S. 44-52. Schwarz, Dieter 2007: „Auch wenn die Form vergeht, ihre Wurzel ist ewig“. Zwischen Präsenz und Darstellung – das Werk des italienisch-schweizerischen Künstlers Mario Merz, in: Neue Zürcher Zeitung, 3. Februar 2007, Zürich, http://www.nzz.ch/2007/02/03/li/articleEUSGC.html (05.01.2008) [1] Zur globalhistorischen Sichtweise auf „1968“ vgl. Ebbinghaus 2008 und Kastner/Mayer 2008. [2] Ruhrberg (1997: 17) macht darauf aufmerksam, dass im Falle von Arte Povera sich nicht eine Gruppe von KünstlerInnen zusammengeschlossen und einen Namen gegeben habe, sondern es ein Kunstkritiker war, der diese – dann notwendiger Weise nicht ganz eindeutig bestimmbare – Zusammenfassungsleistung vollbracht hatte. Germano Celant versammelte unter diesem Begriff 1967 einige Künstler für eine Ausstellung in Genua. [3] Es ist beileibe nicht die einzige Differenz, die Götz Aly in seinem viel besprochenen Abrechungspamphlet einebnet, wenn er zwischen Schüssen und Taten nicht mehr unterscheidet und schreibt, in einem „Sendschreiben an die engere Gemeinde“ habe Dutschke „den dunklen Ton des Hasspredigers“ angeschlagen: „Dort raunte er von der `Propaganda der Schüsse´ und legte den herben Ernst-Jünger-Sound auf: `Der Kampf allein bringt die Herstellung des revolutionären Willens.´“ (Aly 2008: 95). [4] Der Bewegungschronist Wolfgang Kraushaar (2005: 46ff.) zieht aus dem Aufruf zu „schlechthinniger Irregularität“ eine Schlussfolgerung, die nicht nur all die KunsthistorikerInnen überraschen sollte, die sich allgemein um eine kunstfeldimmanente Beschreibung bemühen. Kraushaar (2005: 50) schreibt: „Wer also die Wurzeln des bewaffneten Kampfes weiter zurückverfolgen will, der kommt nicht umhin, einer Spur nachzugehen, die aus dem Traditionsstrom der europäischen Post-Avantgarde, genauer dem Situationismus, hervorgegangen ist.“ Die SituationistInnen, in verschiedensten Sammelausstellungen der letzten Jahre meist ihres Marxismus ebenso entkleidet wie ihrer Effekte auf soziale Bewegungen, bekommen hier also als Vorbereitung nicht etwa dessen vorgehalten, wofür man sie im Kunstfeld pries (Kunst im öffentlichen Raum, radikale Geographie, ephemerer Urbanismus, etc.), sondern des bewaffneten Kampfes. Guy Debord ein Prototerrorist, wer hätte das gedacht. [5] Der Kunstgeschichtsschreibung entgehen gerade diese Zusammenhänge von „Kunst“ und „Bewegung“ häufig. „Witzig war das nicht und besonders anspruchsvoll auch nicht“ meint beispielsweise Jörg Heiser, einer der Chefredakteure der Kunstzeitschrift frieze, über Roslers Arbeit, ohne den für sie wesentlichen Zusammenhang mit sozialen Bewegungen zu berücksichtigen. Diesen Konnex belegt aber nicht nur der Inhalt, sondern auch der Publikationskontext: Erste Bilder der Serie waren um 1970 als Beiträge zu einer Zeitschrift namens Goodbuy to all that neben einem Artikel des „Angela Davis Comitee in Defense of Women Prisoners“ erschienen. „Aber“, so Heiser weiter, „Bringing the war home“ habe „mustergültig John Haertfields Technik der Untergrabung von Autorität durch `enttarnende Bildmontage´ (…) in die politischen Auseinandersetzungen der sechziger Jahre“ (Heiser 2007, 64) übertragen. [6] Mag sein, dass Dieter Schwarz (2007) Recht hat und Mario Merz sich trotz des offensichtlich geliehenen Titels mit „Che fare?“ nicht auf Lenins bekanntes Buch (1902) bezieht, sondern bloß auf die von Schwarz angebotene seichte Allgemeinformel, „dass der Moment der Entscheidung prekär und die Zukunft offenbleibt“. Gerade dann ist es ein gutes Beispiel, weil die Guerilla-Form eben nicht ein Verhältnis von Ursache und Wirkung behauptet, sondern einen Effekt anzeigt. Denn auch wenn Merz sie nicht mit gemeint hat, also unabhängig von der Intention des Künstlers, liegt die Assoziation zu Lenins Untertitel, den „brennende(n) Fragen unserer Bewegung“ im Jahr 1968 nicht gerade fern. Dass in „Che fare?“ auch Materialien kontrastiert, die Neonleuchte, in der die Worte geformt sind, und der Lehm, auf dem sie liegen, und damit Metaphern geschaffen werden für Tradition und Moderne, Natur und Technik, Land und Stadt, etc., ist ja deshalb nicht ausgeschlossen. |
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