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Dragomir Olujić: »Unsere Bewegung war pro-jugoslawisch« Dragomir Olujić zählte zur Kerngruppe der Protagonisten der jugoslawischen Studentenbewegung. Er wurde 1948 in der Vojvodina geboren. Olujić begann 1967 in Belgrad Politische Wissenschaften zu studieren. Nach den Protesten im Juni 1968 engagierte er sich in der studentischen Neuen Linken und wurde dabei mehrmals verhaftet. In den späten 1980er und während der 1990er Jahre engagierte sich Olujić in der antinationalistischen Opposition gegen den Krieg. Heute lebt er als freier Journalist in Belgrad. Das Interview wurde am 22. 6. 2007 in Belgrad von Boris Kanzleiter geführt. Was ist am 2. Juni 1968 genau passiert, als der Protest an der Belgrader Universität ausbrach? Ganz in der Nähe der großen Studentenwohnheimanlage in Novi Beograd, der so genannten Studentenstadt (Studentski grad), war damals eine Jugendarbeitsbrigade untergebracht, die dort am Bau der Autobahn Belgrad – Zagreb arbeitete. In diesen Tagen wurde die so genannte »Karawane der Freundschaft« vorbereitet. Das war eine Musikveranstaltung, bei der verschiedene Sänger auftraten. Das Konzert tourte durch ganz Jugoslawien. Die Organisatoren der »Karawane der Freundschaft« hatten für den Abend des 2. Juni ein Konzert in der Studentenstadt geplant, bei dem sich Studenten und die Mitglieder der Jugendbrigade gemeinsam vergnügen sollten. Aber dazu sollte es nicht kommen. Der Wetterbericht hatte für den Abend Regen angekündigt. Die Organisatoren haben das Konzert in den Kinosaal der »Arbeiteruniversität« verlegt, die sich ganz in der Nähe befand. Aber dort hatten viel weniger Leute Platz. Die Gratiskarten wurden nur an die Mitglieder der Arbeitsbrigade verteilt. Die Studenten wurden nicht über die Änderung des Programms informiert. Als am Abend viel mehr Leute auf das Konzert wollten als dort Platz war, begann am Eingang des Kinosaales eine Schlägerei. Eine oder zwei Polizeipatrouillen kamen. Aber sie konnten das Handgemenge nicht beenden. Ganz im Gegenteil: die Rauferei wurde immer heftiger. Mittlerweile ging es gar nicht mehr um das Konzert. Das Problem war jetzt, dass die Polizei brutal auf die Studenten einschlug, ohne irgendwelche Unterschiede zu machen. Das wurde auch im Radio der Studentenstadt bekannt gegeben. Die Leute waren empört. Immer mehr Studenten gingen auf die Straße. Ein mittlerweile angerückter Wasserwerfer der Polizei wurde gekidnappt. Die Polizei zog sich etwas zurück und positionierte sich an einer Bahnunterführung, wo sie weiter verstärkt wurde. Diese Unterführung war das Nadelöhr durch das man gehen musste, wenn man in Richtung Innenstadt wollte. Als die Studenten dort ankamen, griff die Polizei erneut sehr brutal mit Schlagstöcken an. Daraufhin zogen wir uns um etwa ein Uhr oder halb zwei nachts in die Studentenstadt zurück und begannen damit, Versammlungen abzuhalten, welche bis zum frühen Morgen dauerten. Auf diesen spontanen Versammlungen entwarfen wir unsere ersten Forderungskataloge, das so genannte »Drei plus Vier Programm« oder »Proglas« (Aufruf). Eine Forderung war natürlich, dass sich die Polizei zurückziehen soll und wir friedlich in der Innenstadt demonstrieren können. Wir wollten vor dem Parlament eine Stellungnahme der Regierung zum brutalen Polizeieinsatz fordern. Am Vormittag des 3. Juni machten wir dann tatsächlich den zweiten Versuch einer Demonstration in der Innenstadt. Aber an der Bahnunterführung waren jetzt massive Polizeieinheiten stationiert. Sie standen so dicht, dass keine Nadel auf den Boden hätte fallen können, wie man so schön sagt. Dort war auch Veljko Vlahović, einer der führenden Parteiideologen in dieser Zeit. Er genoss auch unter den Studenten großes Ansehen, hatte er doch als Internationalist im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft. Während des Zweiten Weltkriegs war er Chef des »Radio Jugoslawien«, das von Moskau aus in das von Deutschen besetzte Jugoslawien sendete. Vlahović war ein Mythos. Neben Vlahović war auch Miloš Minić dort, einer der führenden serbischen Politiker der Zeit. Neben ihnen standen auch noch der Bürgermeister Branko Pesić sowie andere Politiker. Mit diesen Funktionären begannen die Sprecher der Demonstration zu verhandeln. Auf Seiten der Studenten führte Vladimir Mijanović das Wort. Ein junger und militanter Typ aus der Herzegowina. Er hatte alle diese harten Eigenschaften, welche mit den Bewohnern dieses Landstriches verbunden werden. Die Politiker boten uns an, dass wir eine Delegation in das Parlament schicken könnten. Aber damit hatten wir schon Erfahrung. Eine solche Delegation würde ein paar Stunden lang von einem Büro ins nächste geführt und dort von drittklassigen Funktionären abgespeist werden. Am Ende des Tages wäre dann praktisch nichts passiert. Die Delegation der Studenten insistierte daher auf die Demonstration. Und wieder war die Reaktion der Polizei ein brutaler Übergriff. Die Polizisten schlugen einfach auf alle ein, die sie erwischen konnten. Selbst Miloš Minić wurde verprügelt, als er sich schützend vor eine junge Frau stellte. Viele Polizisten waren aus der Provinz herangekarrt worden und kannten die Politiker nicht. Minić wurde so zum »Kollateralschaden«, wie man das heute wohl nennen würde. In der Zwischenzeit hatten sich aber auch an den Fakultäten in der Innenstadt viele Studenten versammelt. Ein Streik mit der Dauer von sieben Tagen wurde proklamiert. Diese zeitliche Beschränkung haben wir ganz bewusst vorgenommen. Wir hatten ja schon gewisse Erfahrungen, und vor allem Vladimir Mijanović war ein geborener Organisator, der wusste, dass wir die Energie, welche der Streik erforderte, nicht auf lange Dauer aufbringen konnten. An jeder Fakultät wurden Aktionsausschüsse gebildet. Aber das Zentrum des Streiks war an der Philosophischen Fakultät. Rund um diese Fakultät mit ihrem wunderschönen Innenhof lagen noch eine Reihe anderer Fakultäten. Von der Philosophischen Fakultät gingen die Impulse auf die anderen Fakultäten aus. Nur um ein Beispiel zu nennen: Ich studierte an der Fakultät für Politische Wissenschaften. Milojko Pantić, später ein berühmter Sportkommentator, war an der Philosophischen Fakultät, als dort der Schauspieler Stevo Žigon einen Monolog des Robespierre aus Büchners »Dantons Tod« über die Verkommenheit des Adels rezitierte, und diese mit Anspielungen auf die Parteibürokratie in Jugoslawien spickte. Pantić hörte wie alle anderen ganz begeistert Stevo Žigons »Robespierre« an. Dann wiederholte er dieses Schauspiel selbst in der Fakultät für Politische Wissenschaften. Die Studenten waren ganz aus dem Häuschen. Viele kannten aber Büchner, das Drama und diesen Monolog überhaupt nicht. Sie dachten, es wäre Pantićs Dichtung! In der Philosophischen Fakultät wurde ein »Konvent« abgehalten. Nicht zufällig erinnert das Wort an die Französische Revolution. Jeder konnte dort Reden halten. Redner und Publikum waren in einem konstanten Dialog. Es wurde Bravo gespendet, applaudiert, gepfiffen und gebuht, je nachdem wie dem Publikum die Rede gefiel. Auf diesem »Konvent« sind historische Dinge geschehen. Die Professoren der Philosophischen Fakultät haben aus dem Stegreif Reden gehalten und die politische Situation analysiert. Einige dieser brillanten Reden wurden später in der Zeitung »Student« veröffentlicht. Geführt wurde der Konvent von Dragoljub Mićunović, der dabei sein außerordentliches Talent für die Politik zeigte. Wie habe ich das alles persönlich erlebt? Ich habe an der Fakultät für Politikwissenschaften studiert. Ich hatte schon einige politische Erfahrung gesammelt, aber ich war erst im ersten Studienjahr und neu an der Universität. Während des Streiks war ich in einer Brigade, die außerhalb der besetzten Fakultäten Essen besorgen sollte. Das war gar nicht so leicht, denn um die Fakultäten standen überall Polizeikordone. Hinter den Polizeiabsperrungen standen viele neugierige Beobachter, einfache Bürger. Mit unserer Brigade sind wir aus der Philosophischen Fakultät über die Hausdächer der umliegenden Gebäude regelmäßig aus der Umzingelung entwischt. In den Geschäften der Innenstadt haben uns viele Leute gratis mit Lebensmittel und Getränken versorgt, die wir dann in die Fakultät gebracht haben. Mit einem Bäcker hatten wir zum Beispiel die Vereinbarung, dass er uns immer zu einer bestimmten Uhrzeit an einem bestimmten Platz erwartet und mit Brot, Burek und Joghurt versorgt. Ein anderer Bäcker gab uns mengenweise Baklava. Aus den spontanen Protesten in der Nacht vom 2. zum 3. Juni wurde innerhalb weniger Studenten eine organisierte politische Bewegung. Was waren die zentralen Forderungen? Am zweiten Tag des Streiks wurde an der Philosophischen Fakultät ein »Politisches Aktionsprogramm« entworfen, das dann auch von allen anderen Fakultäten angenommen wurde. Auch wenn heute oft andere Dinge behauptet werden, zeigt der Text doch deutlich, dass an erster Stelle die sozialen Forderungen standen. Vor allem ging es um eine Revolte gegen die »Rote Bourgeoisie«, so nannten wir die Parteibürokratie. Wir haben gegen Arbeitslosigkeit demonstriert, welche sich damals in Jugoslawien immer weiter ausbreitete und vor allem die Jugend betraf. Wir wollten die Abschaffung aller Privilegien. Wir forderten auch die Ausweitung der Selbstverwaltung und mehr Kompetenzen für die Arbeiterräte. Der zweite Forderungskomplex setzte sich aus politischen Forderungen zusammen. Zum ersten Mal wurden in der Öffentlichkeit gewisse Formen der Pluralisierung des politischen Systems gefordert. Es wurde zwar noch nicht von einem Mehrparteiensystem gesprochen, aber das wäre eine Konsequenz aus der Erfüllung der Forderungen gewesen. Die ganze Tendenz der Forderungen ging in die Richtung von mehr Partizipation im politischen System, der Kultur und so weiter. Ein dritter Forderungsbereich kreiste um das Problem der Medien. Wir forderten Pressefreiheit. Die Medien standen in dieser Zeit sowohl unmittelbar als auch mittelbar unter Parteikontrolle, was natürlich einer Zensur der Presse gleichkam. Zum Beispiel wurden während des Streiks zwei Sonderausgaben des »Student« verboten. In diesem Fall gelang es uns aber, die Zensur zumindest teilweise zu umgehen. In der Druckerei arbeitete der Vater des Studentenaktivisten Milan Nikolić. Die Arbeiter in der Druckerei waren auf unserer Seite. Sie haben – ohne das Wissen der Geschäftsführung – einen großen Teil der Auflage in unsere Hände geleitet, selbst wenn die Verbreitung verboten war. Andere Forderungen bezogen sich auf den Polizeieinsatz. Wir forderten die Bestrafung der verantwortlichen Funktionäre. Ein letztes Segment der Forderungen zielte auf die Reform der Universität und ihre Demokratisierung. Aber auch hier war die soziale Dimension stark. Es wurde die Förderung der Studenten aus Arbeiter- und Bauernfamilien gefordert. Denn Studien hatten schon vor dem Streik gezeigt, dass sie, gegenüber Studenten aus Familien von Verwaltungsangestellten, Akademikern und Funktionären, wesentlich schlechtere Studienmöglichkeiten hatten. Es ging als um Chancengleichheit durch die Verbesserung von Stipendien und Krediten für Studenten aus Arbeiter- und Bauernfamilien. Der Streik der Studenten im Juni 1968 war die erste offene und massenhafte Protestbewegung in Jugoslawien nach der Konsolidierung der Macht der Kommunisten nach dem Zweiten Weltkrieg. Wie hat die Parteiführung auf die Ereignisse reagiert? Es gab ganz unterschiedliche Reaktionen. Der Präsident des Universitätskomitees des Bundes der Kommunisten, Žarko Bulajić, ein Professor an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften, stand praktisch ohne Einschränkungen auf der Seite der Studenten. Ganz anders dagegen der Rektor Dragan Ivanović. Er hätte uns am liebsten standrechtlich erschossen. Und das hat er öffentlich gesagt. Es ist sehr interessant, die Reaktionen der einzelnen Leute im Zusammenhang mit ihrer Biografie zu sehen. Dragan Ivanović war schon bei den Partisanen im Zweiten Weltkrieg als harter Brocken und arroganter Kerl bekannt. Vom Typus her war er ein stalinistischer Kommissar. Er war Physikprofessor. In seinen wissenschaftlichen Arbeiten kann man sehen, wie er von einem dogmatischen »Dialektischen Materialismus« geleitet wurde. Aber dann gab es zum Beispiel Svetozar Vukmanović Tempo. Er war einer der talentiertesten operativen Kader der Kommunistischen Partei vor dem Krieg und bei den Partisanen. Im Krieg war er ein enger Vertrauter Titos. Vor, während und nach dem Krieg übernahm er wichtige operative Arbeiten. Zum Beispiel das Drucken und die Verbreitung der Parteizeitung »Proleter« in der Illegalität. Im Krieg war er so etwas wie ein jugoslawischer Che Guevara. Im Grunde verfolgte er eine »fokistische« Strategie[1], so wie sie später die kubanischen Revolutionäre propagierten. Tito hat Tempo beispielsweise nach Tuzla in Bosnien geschickt, um dort den Partisanenaufstand zu organisieren. Dann wurde Tempo nach Makedonien, Griechenland und Albanien geschickt. Überall hatte er die Aufgabe, die Partisanen zu organisieren. Dieser Svetozar Vukmanović Tempo – mittlerweile Chef der jugoslawischen Gewerkschaften – wurde von seinem Sohn während des Streiks im Juni 1968 gefragt, was er machen solle. Tempo antwortete ihm, er solle zu seinen Kommilitonen gehen. Tempo verfolgte den Streik sehr genau und bezog dazu auch Position. In der Parteiführung war er derjenige, der das größte Verständnis für uns zeigte. Er sagte zu seinen Genossen, dass es vor allem die Fehler der Partei gewesen seien, welche zum Streik geführt hätten. Viele andere Spitzenpolitiker wie der Slowene Edvard Kardelj oder der serbische Funktionär Stevan Doronjski forderten dagegen den Einsatz der Panzer. Ich denke, die dominante Stimmung in der Führung war zumindest am Beginn des Streiks eher dahingehend gerichtet, repressive Maßnahmen gegen die Studenten ergreifen zu müssen. Aber Tito hat am Ende anders entschieden. Der Protest gewann schnell eine jugoslawische Dimension. Nur einen Tag nach dem Ausbruch der Bewegung in Belgrad kam es auch in Zagreb, Sarajevo und Ljubljana zu Aktionen der Studenten. Wie sahen die Beziehungen zwischen den Studenten in den unterschiedlichen Städten aus? Es gab, ganz unabhängig vom Streik, eine relativ entwickelte Kommunikation zwischen den Studenten der verschiedenen Republiken. Zum Beispiel studierten viele Jugendliche aus Split an der Dalmatinischen Küste in Kroatien an der Belgrader Universität. Studenten aus Belgrad studierten in Ljubljana und so weiter. Es war einfach so, dass einige Fakultäten in Ljubljana besser waren als beispielsweise in Belgrad. Viele Architekturstudenten sind an die Universität in Ljubljana gegangen, weil diese Fakultät dort auf Weltniveau war. Elektrotechnik war dagegen in Belgrad stark, Physik in Zagreb. Es gab also schon aufgrund dieser Mobilität der Studenten enge Verbindungen zwischen den Städten. Ab 1961 gab es auch eine andere Dimension. Damals kam es bei einer Demonstration gegen die Ermordung von Patrice Lumumba in Belgrad zu Auseinandersetzungen zwischen Studenten und der Polizei. Danach wurde auch auf politischer Ebene der Kontakt zwischen den Universitäten verstärkt. Ein erster Höhepunkt waren die Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg im Dezember 1966, welche mehr oder weniger zeitgleich in den verschiedenen Universitätszentren stattfanden und in Belgrad wieder zu Auseinandersetzungen mit der Polizei führten. Nach diesen Demonstrationen wurde es völlig normal, dass Studenten aus den verschiedenen Städten an Veranstaltungen in jeweils einer anderen Stadt teilnahmen. Nur Skopje blieb aus irgendeinem Grund außen vor. Vor allem nach dem Juni 1968 wurde diese Kommunikation immer intensiver. Wir sind immer in Gruppen von einem Dutzend Leuten in andere Städte gefahren und haben dort andere studentische Aktivisten getroffen. Bei diesen Treffen wurde natürlich immer viel gefeiert. Um konkret beim Juni 1968 zu bleiben: Während des Streiks wurden Delegationen von Studenten aus Belgrad in andere Städte geschickt. Aus anderen Städten kamen Delegationen nach Belgrad. Eine ganz interessante Randnotiz ist folgende: In Zagreb wurde von Parteikadern verbreitet, die protestierenden Studenten in Belgrad seien nationalistische Tschetniks. Damit sollte eine Solidarisierung verhindert werden. Eine Delegation aus Zagreb nach Belgrad bestand ausgerechnet unter anderem aus Dražen Budiša und Ante Rumora. Beide wurden 1971 zu Führern der kroatisch-nationalistischen »Massenbewegung« (Maspok).[2] Im Juni 1968 konnten sie sich in Belgrad aber davon überzeugen, dass die Proteste nichts mit Nationalismus zu tun hatten. Sie waren völlig überrascht von der offenen Atmosphäre. Zurück in Zagreb dementierten sie die Berichte über den angeblichen Nationalismus der Belgrader Studenten. Die konkreten Forderungen im Juni 1968 waren stark auf die Probleme in Jugoslawien ausgerichtet. Aber die Proteste hatten auch ihren globalen Kontext. Welchen Einfluss übten die internationalen Studentenproteste der Zeit aus? Wir hatten hier in Jugoslawien eine Gruppe von kritischen Philosophen, die schon auf einem Kongress in Bled 1960 die so genannte »Widerspiegelungstheorie« des dogmatischen Sowjetmarxismus verworfen haben. Zur Sommerschule auf der Adriainsel Korčula kamen seit 1963 Philosophen aus der ganzen Welt, nicht nur Marxisten – Herbert Marcuse, Erich Fromm, Jürgen Habermas und viele andere. 1964 begann die Zeitschrift »Praxis« zu erscheinen, in der Erich Bloch, Georg Lukács und andere, international angesehene und undogmatische Marxisten publizierten. Von »Praxis« aus begann ein neues, modernes soziales Denken auch in andere Zeitschriften einzudringen. Zum Beispiel in »Pogledi« aus Sarajevo, »Pregled« aus Split und »Naše teme« aus Zagreb, was sogar ein Parteiorgan war. Gemeinsam mit diesen Zeitschriften sind auch wir Studenten aufgewachsen. Viele von uns sind auch auf die Sommerschule auf Korčula gefahren. Das war eine richtige Kommune. Tagsüber wurde gearbeitet und diskutiert, abends und nachts gefeiert. Informationen über die weltweiten Ereignisse haben wir einerseits über die Presse bekommen, die breit über die internationalen Proteste berichtete. Andererseits gab es aber auch direkte internationale Kontakte. Unsere Professoren aus der »Praxis«-Gruppe sind beispielsweise viel im Ausland unterwegs gewesen. Sie haben immer Koffer voller Bücher mit linker Literatur zurückgebracht. Als die Proteste in Berkeley, Berlin und so weiter begannen, reagierten wir natürlich darauf. Es entstand eine Atmosphäre, in der es ganz normal erschien, dass so ein Protest auch hier beginnen müsste. Als der Chefredakteur des »Student« kurz vor dem Streik in einer Kolumne die Frage stellte: »Bereiten die Studenten noch etwas anderes vor als die Prüfungen?«, war das nicht bloß ein Zufall. Sie haben schon erwähnt, dass der Einfluss bestimmter kritischer Professoren sehr wichtig war für die Entstehung der Studentenbewegung. Wie sahen die intellektuellen und persönlichen Beziehungen zwischen diesen Professoren und den aktivistischen Studenten aus? Die Professoren um die Zeitschrift »Praxis« waren Ausnahmeerscheinungen. Von den meisten Professoren an der Universität wurde ein didaktisches System aus den Mittelschulen angewandt. Man musste das Lehrbuch lesen. Bei der Prüfung musste man auf drei Fragen antworten. Und das war es. Bei den Professoren aus dem Umfeld der »Praxis« war es ganz anders. Die Prüfung musste man mit vielfältiger, auch ausländischer Literatur vorbereiten. Die Seminare wurden bestimmten Themen gewidmet. Zum Beispiel Branko Pavlović, der antike griechische Philosophie unterrichtete, beleuchtete das ganze Semester – sagen wir – den Terminus »Logos«. Alle verschiedenen Bedeutungen des Terminus wurden detailliert erklärt und diskutiert. Dabei kamen Studenten aus allen Semestern und verschiedener Fachbereiche zu seinen Seminaren. Was man heute auch immer von Mihailo Marković halten kann, damals war er ein ausgezeichneter Professor. Er ließ die Studenten Vorträge vorbereiten und halten, und während des Vortrages setzte er sich so hin wie die anderen Zuhörer. Anschließend folgte eine Diskussion auf gleicher Augenhöhe. Das motivierte ungemein, zumal er eine wirklich imposante Persönlichkeit war. Ähnlich war es mit Professor Miladin Životić, der moderne Philosophie unterrichtete. Das waren spannende Vorträge, in denen die unterschiedlichsten Thesen und Hypothesen vorgestellt wurden. Oder bei Professor Veljko Korać, dessen Vorträge voller phänomenaler ironischer Anekdoten steckten. Er war voller Lebenserfahrung. Seine Seminare waren richtige Happenings. Er kam mit der Gitarre in die Vorlesung und sang beispielsweise über den Terminus »Praxis«. In diesen Seminaren saßen die Studenten, wo sie wollten. Es gab keine Sitzordnung, wie das sonst üblich war. Die Studenten sind aufgestanden und im Saal herumgelaufen, während sie sich mit den Professoren gestritten haben. Das Seminar war niemals mit dem Glockenschlag beendet. Viele Teilnehmer blieben noch einige Zeit im Seminarraum und setzten die Diskussion fort, manchmal auch noch im Innenhof der Fakultät. Die Stimmung erinnerte an die mythologisierten Beschreibungen aus dem alten Griechenland mit Aristoteles und so weiter, der diskutierend durch die Akademie gewandelt ist. Zu manchen Professoren hatten wir eine wirklich persönliche Beziehung. Als wir in Zagreb waren, tauchten wir einmal um Mitternacht vor dem Haus von Gajo Petrović auf, weil wir in den umliegenden Kneipen alles Geld ausgegeben hatten. Wir klingelten. Seine Frau schaute durch den Spion in der Tür, ließ uns herein und rief: »Gajo, hier sind deine kleinen Rabauken!« Die abendlichen Diskussionen wurden oft zu Partys. Es war einfach eine Gemeinschaft, die auf einem intellektuellen Einverständnis beruhte, aber auch persönliche Beziehungen umfasste. Außerhalb der Seminare standen wir mit unseren Professoren auf »Du«. Dabei ging es immer sehr humorvoll zu. Ich erinnere mich, wie wir mit einer Gruppe von Studenten 1972 oder 1973 zusammen mit den Professoren Danko Grlić und Milan Kangrga, zwei brillanten undogmatischen marxistischen Philosophen, eines Tages auf einer Wanderung bei Bled in Slowenien waren. Wir hechelten einen steilen Bergpfad zu einer mittelalterlichen Festungsanlage herauf, als Danko Grlić zu Milan Kangrga völlig aus der Puste sagte: »Kangrga, das ist eine der seltenen Sachen, an denen der Sozialismus nicht schuldig ist«. Wir brachen zusammen vor Lachen. Interessant scheint mir, dass sich diese kritische Intelligenz an den Universitäten auch innerhalb der Organisation des Bundes der Kommunisten und des offiziellen Studentenbundes befunden hat. Einige der Praxis-Professoren waren sogar relativ wichtige Funktionäre im BdK an der Universität. Wie sahen die Beziehungen zwischen kritischer Intelligenz und Partei beziehungsweise Studentenbund aus? Das jugoslawische politische System war ein merkwürdiges Konglomerat aus Elementen von direkter, partizipativer und repräsentativer Demokratie, sowie der Diktatur einer Partei und der speziellen Rolle Titos als autoritärem Übervater. Je näher die Strukturen an der Basis waren, desto größer waren die Möglichkeiten, in ihnen etwas Eigenständiges zu entwickeln. Von einer politisch-systemischen Sicht aus hatten alle diese Organisationen, der Bund der Kommunisten, die Gewerkschaften, der Studentenbund, der Jugendbund und so weiter eine relative Autonomie. Diese Organisationen konnten bis zu einem gewissen Grad genutzt werden für selbständige Initiativen von Gruppen und Einzelnen. Am leichtesten war dies im Studentenbund. In der Aufbruchsstimmung in der studentischen Jugend konnten in dieser Organisation viele Aktionen entwickelt werden. Aber auch in den Parteiorganisationen an der Universität war einiges möglich. Die große Versammlung gegen den Vietnamkrieg im Dezember 1966, welche dann in Auseinandersetzungen mit der Miliz eskalierte, wurde beispielsweise von einer Parteigruppe an der Universität organisiert. Damals war Aleksander Kron an der Spitze der Parteiorganisation der Philosophischen Fakultät, und von ihm ging die Initiative aus. Er wurde dann aus dem Bund der Kommunisten ausgeschlossen und widmete sich später, trotz seines politischen Talents, hauptsächlich der Mathematik. Als wir nach dem Streik 1968 entscheiden mussten, wie es weiter gehen sollte, entwickelten wir die Strategie, aus dem Studentenbund eine komplett unabhängige Organisation zu formen. Das wurde 1972 mit der praktischen Auflösung des Studentenbundes durch die Partei beantwortet. Die Parteiorganisation an der Philosophischen Fakultät in Belgrad wurde bereits im Juli 1968 ausgeschlossen. Wenn man die Studentenproteste aus heutiger Perspektive betrachtet, lassen sich verschiedene Etappen oder Phasen ausmachen. Welche Entwicklungen bereiteten den Streik im Juni 1968 vor und was folgte auf ihn? Erste Anzeichen für die Studentenbewegung zeigten sich schon am Beginn der Sechzigerjahre. In diesen Jahren zeigten sich ernste Probleme und Widersprüche in der Entwicklung des Gesellschaftssystems. Die alte Methoden und Strukturen, die in den Fünfzigerjahren das gewaltige »extensive« wirtschaftliche Wachstum möglich gemacht hatten, waren jetzt verbraucht. Neue Methoden und Strukturen mussten gefunden werden. Die verschiedenen sozialen Gruppen und Schichten in der Gesellschaft brachten ganz unterschiedliche Antworten auf die neuen Herausforderungen hervor. 1962 kam es zu einer wirtschaftliche Krise und fiskalischen Umstellungen. 1963 wurde die neue Verfassung erlassen, in der aus der »Föderativen Volksrepublik Jugoslawien« die »Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien« wurde. 1965 wurde die so genannte »Gesellschafts- und Wirtschaftsreform« eingeleitet. Im Gegensatz zu anderen »sozialistischen« Ländern in Osteuropa, in denen zu dieser Zeit einige marktwirtschaftliche und in einem gewissen Maße kapitalistische Elemente eingeführt wurden, wurde in Jugoslawien eine wirklich strukturelle Reform durchgeführt, die allerdings viele Widersprüche enthielt. In der Tschechoslowakei hat Ota Šik versucht, marktwirtschaftliche Elemente mit einer zentralistischen, dirigistischen Planwirtschaft zu kombinieren. Das hat natürlich nicht funktioniert. In Jugoslawien war die Reform nicht allein auf die Wirtschaft beschränkt. Hier verfolgte die Parteiführung an Beginn der 1960er Jahre eine Strategie der gesellschaftlichen Liberalisierung, Demokratisierung und Modernisierung. Aber es tauchten auch hier viele neue Probleme auf: eine hohe Arbeitslosigkeit, die Auswanderung von Arbeitskräften, eine starke soziale Differenzierung, die »rote Bourgeoisie«, Korruption und so weiter. Das waren die Phänomene, gegen die wir später demonstriert haben. Gleichzeitig öffnete sich in den Sechzigerjahren das Feld der Kulturproduktion. Tabuthemen wurden angesprochen. Zum Beispiel wurden literarische Texte zum Gefangenlager Goli Otok veröffentlicht, in dem in den 1950er Jahren tausende politische Häftlinge interniert waren. Das Thema der zwangsweisen und gewaltsamen Kollektivierung in der Landwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg wurde angesprochen. Auch das Thema der Arbeiterstreiks, die ja schon ab Ende der Fünfzigerjahre stattfanden. Die ganzen Themen, über die die Soziologie und Politologie nicht sprechen durften, wurden von Künstlern aufgegriffen. Am meisten im Film und der Literatur. Die Kultur war der erste Sektor, der sich freier artikulieren konnte. Schon nach dem Bruch Titos mit Stalin 1948 gab es hier Liberalisierungstendenzen. Erst nach dem Sturz des Innenministers und Geheimdienstchefs Aleksandar Ranković im Sommer 1966 folgte die politische Liberalisierung. In kultureller Hinsicht gab es von allen Trends, die es in der Welt gab, auch in Jugoslawien ein bisschen. Vom ästhetischen Minimalismus in der Literatur der 1960er Jahre zum poetischen und kritischen Realismus im Film. Die Orte, an denen diese modernen kulturellen Trends rezipiert wurden, waren auch die Orte, an denen sich die kritischen Studenten gesammelt haben. Theateraufführungen, Kinovorführungen und Diskussionsveranstaltungen wurden am Ende der 1960er Jahre zu wirklichen Happenings. Das war ein wichtiger Hintergrund der Studentenproteste. In welcher Hinsicht markierte der Streik im Juni 1968 den Beginn einer neuen Etappe? Im Politischen Aktionsprogramm wurden im Juni 1968 die Forderungen nach weiterer Demokratisierung, aber auch mehr sozialer Gerechtigkeit zusammengefasst. Jetzt folgte die Frage, wie wir diese Forderungen durchsetzen könnten. Eine Idee war, wie ich schon angedeutet habe, den Studentenbund praktisch in eine politische Oppositionspartei zu transformieren. Gleichzeitig setzte auf der einen Seite ein Prozess der Radikalisierung ein, und auf der anderen Seite ein Prozess des Auseinanderlaufens. Ich glaube, Rudi Dutschke hat mal gesagt, dass man die Spontaneität nicht hundert Jahre lang aufrechterhalten kann. Es ging um die Definition von realen Zielen – und den realen Mitteln, um sie zu erreichen. Die Bewegung verlor an Masse, aber radikalisierte sich in organisatorischer und politischer Hinsicht. Ein Problem war die Reaktion der politischen Führung auf die Proteste vom Juni 1968. Tito übernahm in populistischer Manier einen Teil der Forderungen. Noch während des Streiks wurde der Mindestlohn für Arbeiter um hundert Prozent erhöht. In den so genannten »Smernice« (Richtlinien), einem programmatischen Dokument der Parteiführung, das direkt im Anschluss an den Streik proklamiert wurde, wurde ein Teil unserer sozialen Forderungen aufgenommen. Vor allem in der Provinz und bei schlecht informierten Teilen der Bevölkerung wurde das positiv aufgenommen, obwohl real nicht viel passierte, um die Forderungen auch umzusetzen. Gleichzeitig wurden die Studenten aber als Krawallmacher denunziert und dämonisiert. Wenn ein Student in die Provinz kam, wurde er als gefährliches Element betrachtet. Wir versuchten dieser Tendenz entgegen zu arbeiten. Ich habe zum Beispiel in Sivac, meinem Heimatdorf in der Vojvodina, im Sommer 1968 eine Art Jugendklub gegründet, in dem wir den ganzen Tag kulturelle Veranstaltungen durchführten. Auf diese Weise haben wir versucht, unsere Ideen zu verbreiten. Ein wesentlicher Teil der Radikalisierung waren die Auseinandersetzungen um die studentischen Medien. Es gab den Versuch der Partei, die Zeitung »Student« zu verbieten bzw. die Redaktion auszuwechseln. Viermal wurde Ende 1969 eine Delegiertenversammlung des Studentenbundes in Belgrad abgehalten, um die Redaktion des »Student« abzusetzen. Jedes Mal hat die Partei versucht, die Delegierten in ihrem Sinn zusammenzusetzen. Aber jedes Mal ist der Versuch gescheitert. Dabei geschahen interessante Dinge. Der Chef des Universitätskomitees der Kommunisten, Branko Pribićević, hat im Verborgenen einem glänzenden, aber politisch nur wenig engagierten Studenten, Djordje Malavrazić, angeboten, neuer Chefredakteur zu werden. Bei der vierten Delegiertenversammlung wurde also Malavrazić als offizieller Kandidat vorgeschlagen. Dann meldete sich Malavrazić zu Wort. Branko Pribićević erwartete nun eine Rede in seinem Sinn. Aber Malavrazić sagte nur: »Ich bin damit nicht einverstanden.« Das war ein Skandal. Malavrazić ist heute übrigens Chefredakteur von Radio Belgrad 2. 1970 führten wir einen 22-tägigen Hungerstreik zur Unterstützung der Bergarbeiter in Kakanj durch. Es gab die ganze Zeit eine Kooperation mit bestimmten Gruppen von Arbeitern und arbeitenden Jugendlichen, die uns unterstützten. Die Partei versuchte, unseren Hungerstreik zu diskreditieren, aber sie konnte wenig dagegen machen. Am Ende wurden alle Forderungen der streikenden Bergarbeiter erfüllt. Wir haben jede Möglichkeit genutzt, die Bewegung zu verbreitern und zu radikalisieren. Um 1970 herum begannen wir auch kleine revolutionäre Untergrundgruppen zu formieren. Ich hatte Kontakte zu anderen Studenten wie Pavluško Imširović und Milan Nikolić, die sich am Trotzkismus orientierten und versuchten, Netzwerke mit ähnlich orientierten Leuten in Zagreb und Rijeka zu knüpfen. Ich war schon früher vom Trotzkismus fasziniert gewesen. In meiner Jugendzeit in Sivac hatte ich einen Teilnehmer der Oktoberrevolution in Russland 1917 kennen gelernt, der dort als Schmied arbeitete. Das war natürlich außerordentlich! Ein Teilnehmer der Oktoberrevolution als einfacher Arbeiter und nicht als hoher Funktionär der Partei! Von diesem Mann wurde erzählt, dass er ein Trotzkist gewesen sei. Das hatte mich damals neugierig gemacht und ich suchte in den folgenden Jahren immer wieder nach Literatur, die ich nach und nach auch fand. Nach dem Streik im Juni 1968 kamen aus dem Ausland Aktivisten verschiedener trotzkistischer und anarchistischer Gruppen, die nach Kontakten in Jugoslawien suchten. Der trotzkistische Historiker Pierre Broué kam illegal nach Belgrad. Der trotzkistische Wirtschaftswissenschaftler und Professor in Brüssel Ernest Mandel kam sogar ganz legal zu offiziellen Veranstaltungen. Milan Nikolić, der später wegen »Trotzkismus« verhaftet wurde, hatte ihn 1970 zusammen mit dem Universitätskomitee des Bundes der Kommunisten zu Vorträgen im Studentischen Kulturzentrum (SKC) und sogar dem Stadtkomitee des Bundes der Kommunisten eingeladen. Mandel war auch mehrmals auf der Sommerschule auf Korčula. 1971 lernte ich eine Studentin aus Frankreich kennen, die aus Paris für ihre Postdiplomarbeit nach Belgrad gekommen war und ebenfalls Trotzkistin war. Durch sie konnte ich dann Kontakte zu internationalen trotzkistischen Organisationen aufbauen, die wir jahrelang aufrechterhielten. Wie entwickelte sich in der Zeit der Radikalisierung neben diesen Versuchen der politischen Organisierung die studentische Kulturszene weiter? Gab es eine Alternativ- oder Subkultur? Für uns war das Leben in der Kommune in gewisser Hinsicht ganz normal. In den Studentenwohnheimen hatten wir Vier- oder Fünfbettzimmer. Was ist das, wenn nicht eine Kommune?! Daneben gab es aber auch richtige Kommunen. Zum Beispiel in der Wohnung von Danilo Udovički. Sein Vater war ein hoher Parteifunktionär, der Präsident des Verbandes der antifaschistischen Spanienkämpfer. Das heißt, Danilo hatte eine eigene Wohnung. Dort wohnte er zusammen mit seinen Freundinnen und Freunden. So ähnlich war es in der Wohnung bei Ilija Moljković oder Vladimir Mijanović. In dieser Zeit am Ende der 1960er bis Mitte der 1970er Jahre haben unsere Treffen oft einen Kommunecharakter gehabt. Aber man könnte sagen, dass es vielleicht »reisende Kommunen« waren, denn so viele Wohnungen, in denen Studenten zusammen leben konnten, gab es nicht. Fast jeden Abend haben wir uns mit 20, 30 oder mehr Leuten irgendwo getroffen. Es waren spontane Partys ohne Ankündigung und Planung. Wir schliefen dann dort, wo wir gerade waren. Es herrschte dabei die Stimmung, dass jeder machen konnte, was er wollte, und die anderen sich dabei nicht gestört fühlten. Eine andere Seite der jugendlichen Subkultur war die Ankunft der Drogen in Jugoslawien. Im Keller der Philosophischen Fakultät gab es in einem alten Stollen zum Beispiel einen Klub. Der Raum war vielleicht 200 Meter lang, aber nur fünf Meter breit. Dort standen Stühle und Tischchen. Das war ein »cooler« Ort, wie man heute sagen würde. Wenn man da rein kam, hatte man sofort den Rauch von verschiedenen Drogen in der Nase. Die Drogen sind mit unserer Generation aufgetaucht. Uns politische Aktivisten hat das aber nicht so sehr interessiert. Es waren andere Jugendliche, die Drogen konsumierten. Diese Leute nutzen aber die Räume, welche wir in gewisser Weise mit unserem politischen Aktivismus geschaffen hatten. Was für uns politische Aktivisten dagegen wichtig war, das war der Rock n’ Roll. Aus unserer Perspektive waren wir alle auf eine bestimmte Art Rocker. Der Rock n’ Roll war ein bedeutendes Phänomen, das sich damals in unserem Land breit gemacht hat und geblieben ist. In der Rockmusik konnte sich unter den Jugendlichen damals fast jeder wiederfinden. Kommen wir noch einmal auf den zeitlichen Verlauf der Studentenbewegung zurück. Mit der Radikalisierungsphase nach dem Juni 1968 kam es zunehmend auch zu Repressionen gegen die Aktivisten. Wie ging das vor sich? Die Repressionswelle setzte direkt nach dem Streik im Juni 1968 ein. Die Parteiausschlüsse im Juli 1968 habe ich schon erwähnt. Bald kam es auch zu ersten Inhaftierungen. Einige Aktivisten wie Bozidar Borjan, Bube Rakić, Zoran Minderović wurden wegen »Erregung öffentlichen Ärgernisses« und ähnlichen erfundenen Delikten zu kurzen Haftstrafen verurteilt. Der erste, der eine wirklich ernste Gefängnisstrafe antreten musste, war Vladimir Mijanović 1970. Später, 1972 und 1973, gab es dann verschiedene große Prozesse, z. B. gegen das so genannte trotzkistische Trio, Milan Nikolić, Pavluško Imširović und Jelka Klajić, aber auch gegen Danilo Udovički, den Filmemacher Lazar Stojanović und so weiter. Interessant bei der ganzen Verhaftungswelle ist, dass diese in einer Zeit stattfand, in der mit Latinka Perović und Marko Nikezić zwei so genannte »liberale« Politiker den Bund der Kommunisten in Serbien führten. Aber auch sie wurden nach der Repression gegen den »Kroatischen Frühling« Ende 1971 im Herbst 1972 von Tito abgesetzt. Wann wurden Sie zum ersten Mal verhaftet? Und was war der Kontext? Ich wurde 1969 zum ersten Mal verhaftet. Der Vorwand war lächerlich. Damals durften in den Wohnheimen in der Studentenstadt männliche Studenten nur donnerstags und sonntags in den Frauenblock offiziell zu Besuch kommen. An den anderen Tagen sind wir aber einfach über die Fassaden geklettert. Eines Nachts war ich »illegal« bei meiner Freundin, als es eine Razzia gab und ich erwischt wurde. Ich wurde in die große Polizeistation in der Straße des 29. November gefahren und dort bis zum Morgen verhört. Am Vormittag kam dann ein Polizeiinspektor und fing noch einmal an, mich zu verhören. In der Zwischenzeit waren die anderen Studenten, die bei der Razzia verhaftet worden waren, freigelassen worden. Der Polizeiinspektor fragte mich nun nach meinen politischen Aktivitäten und es wurde mir klar, warum ich der einzige war, der nicht gehen durfte. Es stellte sich heraus, dass es kein Zufall war, dass sie gerade in unserem Zimmer eine Razzia durchgeführt hatten. In der Studentenstadt gab es zu diesem Zeitpunkt eine Gruppe von – heute würde man sagen – Hooligans, mit der die Polizei dort die Situation zu kontrollieren versuchte. Diese Hooligans hatten mich als politischen Unruhestifter angeschwärzt. Ich wurde zu 20 Tagen Gefängnis und einer Geldstrafe verurteilt. Aber sie haben mich dann schon nach drei Tagen wieder raus gelassen. Die drei Tage im Zentralgefängnis waren für mich sehr interessant. Der Kontakt zu den Taschendieben, Räubern, Obdachlosen und Prostituierten eröffnete mir einen neuen Blick auf die Marginalisierten. Später hatte ich genügend Gelegenheiten, diese Erkenntnisse zu vertiefen. Insgesamt saß ich über 20 Mal im Gefängnis und verbracht dort zusammengerechnet über zwei Jahre. Wie haben die Aktivisten der Bewegung diese Haftstrafen erlebt? War es eine politische Niederlage, eingesperrt zu sein? Das war natürlich bei jedem ein anderes Erlebnis. Generell würde ich sagen, dass die meisten von uns damit gerechnet haben, eines Tages für ihre politische Aktivität ins Gefängnis zu kommen. Zwei Jahre Gefängnis, drei Jahre Gefängnis, fünf Jahre Gefängnis, das war etwas, mit dem wir gerechnet haben. Es war uns klar, dass wir verhaftet würden, dass wir ausspioniert würden, dass wir keine Arbeit bekommen würden und so weiter. Das war der Preis. Man konnte sich entscheiden, ob man diesen Preis bezahlen wollte oder nicht. Wir waren uns bewusst, dass die Repression auf uns wartete, und konnten das Gefängnis und die Schikanen daher besser ertragen. Es gab aber auch Leute, die davon überrascht waren. Ihnen ging es dabei natürlich viel schlechter. In meinem Fall hat die Repression viel mehr als mich meine Freunde, Nachbarn und die Familie getroffen. Als ich 1973 eine Arbeit bei Radio Belgrad fand, wollte dort, außer einer jungen Kollegin, niemand etwas mit mir zu tun haben. Die anderen hatten Angst. Wenn ich zu Besuch in mein Heimatdorf gefahren bin, kam dort schon vor mir immer derselbe Typ vom Geheimdienst UDB an und setzte sich in ein bestimmtes Café. Milosavljević hieß er und war ein Verwandter von Jovanka Broz, Titos Frau. Sobald dieser Milosavljević in Sivac auftauchte, wussten die Leute schon, dass ich zu Besuch kam. Erst später habe ich nach und nach erfahren, was alles mit den Leuten passierte, die ich in Sivac kannte oder die dort mit mir zu tun hatten. Viele waren immer wieder schikaniert und von Geheimdienstleuten befragt worden. Dabei kam es zu absurden Situationen. Leute wurden nach mir befragt, mit denen ich in meinem Leben nur einmal gesprochen habe, und das, als ich noch in der Schule war. Niemand kam daher zu uns ins Haus, wenn ich zu Besuch war. Die Leute machten einen Bogen um mich. Als mein Vater starb, hatte er eigentlich das Recht auf einen Ehrengrabstein aufgrund seiner Vergangenheit als verdienter Partisan im Krieg. Aber das wurde ihm verweigert. Heute dagegen will davon niemand mehr etwas wissen. Jetzt sind immer alle, die mich damals isoliert haben, besonders freundlich und interessiert. Trotz der Verhaftungen und Einschüchterungsversuche, die sich 1972 und 1973 verstärkten, haben die Studenten immer wieder Versuche unternommen, politisch wieder in die Offensive zu kommen. Welche Aktionen waren hier von Bedeutung? Von einigen Leuten wird 1972 als Endpunkt der Studentenbewegung bezeichnet. Ich halte das für falsch. Damals wurde nach der 3. Parteikonferenz des BdKJ zwar der Studentenbund praktisch aufgelöst, bzw. in den Jugendbund überführt und so seiner Autonomie beraubt. Aber die Basisorganisationen des Studentenbundes an den Philosophischen Fakultäten haben diese Vereinigung nicht akzeptiert. Wir haben weiterhin als unabhängiger Studentenbund gearbeitet. Es gab die Ideen des Marschs durch die Institutionen und so weiter. Die letzte große Aktion, die wir als der Zusammenschluss der Studentenbünde an den Philosophischen Fakultäten in Jugoslawien machten, war die Resolution von Beginn 1974. Das war eine pro-jugoslawische und radikalsozialistische programmatische Resolution, mit der wir in die politische Debatte intervenieren wollten. Die Resolution wurde gerichtlich verboten. Sechs der Initiatoren wurden verhaftet, darunter auch Zoran Djindjić. Es waren aber 500 Delegierte, die diese Resolution beschlossen hatten. Im November 1974 organisierten wir dann noch einmal eine große Versammlung an der Philosophischen Fakultät in Belgrad, zu der Delegierte auch aus Ljubljana, Zagreb und Sarajevo kamen. Am Ende dieser Versammlung hat der Student Vladimir Palančanin das gerichtliche Urteil zum Verbot der Resolution vom Januar 1974 vorgelesen. Darin wurde die Resolution ausführlich zitiert. Zwei Tage später wurde dann Palančanin verhaftet, weil er das Urteil des Gerichtes vorgelesen hatte! Wir diskutierten, was wir machen sollten. Die Idee einiger Leute war, einen Streik für die Freilassung von Palančanin zu organisieren. Im Fakultätsausschuss des Studentenbundes wurde darüber beraten. Es kam zu einem heftigen Streit, ob ein Streik möglich wäre oder nicht. Letztlich fand er nicht statt. Das war das Ende. Als ein paar Wochen später, Ende Januar 1975, die acht »Praxis«-Professoren von der Universität geschmissen wurden, waren wir nicht mehr in der Lage, Proteste zu mobilisieren. Anfang 1975 wurde innerhalb von ein paar Monaten eine große Anzahl der früheren Studentenaktivisten in die Armee eingezogen. Wer nicht im Knast saß, war jetzt beim Militär. An der Fakultät war von der alten Generation vom Juni 1968 nun praktisch keiner mehr übrig. Das vorläufige Ende einer im offenen politischen Raum agierenden Studentenbewegung 1974/75 war allerdings nicht das Ende des politischen Engagements vieler ihrer Protagonisten. Wie haben die Netzwerke von Aktivisten, die zwischen 1966 und 1974 geknüpft wurden, später weiter agiert? 1976 wurden wir wieder aus der Armee entlassen. Andere sind aus dem Gefängnis zurückgekommen. Die meisten von uns, außer Milan Nikolić und mir, hatten keine Arbeit. Aber auch bei uns war das problematisch. Ich wurde 1973 zunächst von Radio Belgrad angestellt, wie ich schon erzählt habe. Aber nach drei Monaten wurde ich aus politischen Gründen wieder entlassen. Dann verklagte ich Radio Belgrad. Nach zwei Jahren erklärte das Gericht, dass ich zwar »politisch unfreundlich« gesinnt sei, aber dass dies kein Grund sei, warum ich nicht angestellt werden könnte. Ich konnte also meine Stelle antreten. Pavluško Imširović arbeitete im Auslieferungslager bei Coca Cola. Vladimir Mijanović und einige andere Leute schlossen sich zusammen und arbeiteten als Handwerker und renovierten Wohnungen. Irgendwie schlugen wir uns durch. Als ehemalige Studenten der Philosophischen Fakultät waren uns die Türen aber meistens verschlossen. Die meisten von uns hatten ihre politische Auffassung nicht geändert. Wir suchten nach Wegen, wie wir etwas zusammen unternehmen konnten. Damals begannen in Polen die so genannte »Fliegende Universität« und das »Komitee zur Verteidigung der Arbeiter« (KOR) von Jacek Kuron und so weiter. In der ČSSR regte sich ebenfalls die Dissidentenszene. In dieser Situation diskutierten wir unsere Erfahrungen vom Juni 1968. Wir lasen, was die Kommunisten vor dem Zweiten Weltkrieg in der Illegalität unternommen hatten. Ende 1976 entschieden wir dann, die so genannte »Offene Universität« oder »Freie Universität« zu gründen. Wir wollten damit eine Struktur schaffen, mit der wir Kommunikation und Handlungsfähigkeit unter uns und anderen Oppositionellen schaffen konnten. Das erste Treffen der Offenen Universität fand am 19. Dezember 1976 in der Wohnung von Vladimir Mijanović statt. Der Ablauf der Treffen war jedes Mal ähnlich. Nach dem Prinzip von Pro und Contra wurde ein bestimmtes Thema von zwei unterschiedlichen Referenten vorbereitet. Nach den zwei kurzen Einleitungsvorträgen folgte eine Diskussion von drei oder vier Stunden. Am Ende wurden Schlussfolgerungen aus der Diskussion gezogen und Fragen gestellt, was das nun für uns bedeutete. Es ging natürlich nicht nur um die Debatte an sich, sondern auch um politisches Handeln. Aus dem Kreis der Teilnehmer der Treffen wurde eine neue Form des Handelns entwickelt. Wir begannen Petitionen zu schreiben, in denen wir uns zu bestimmten Themen äußerten und versuchten, damit an die Öffentlichkeit zu kommen. Die erste Petition wurde im Dezember 1981 gegen den Militärputsch in Polen formuliert. Wir versuchten sogar, eine Demonstration bei der Polizei offiziell anzumelden. Die nahm uns aber auf der Stelle fest. So saß ich am Neujahr 1981/82 mal wieder im Gefängnis. Die »Offene Universität« begann 1976 mit der Initiative von ehemaligen Aktivisten der Studentenbewegung. Aber später hat sich der Kreis ausgeweitet. Wie hat sich das Projekt entwickelt? Auch die acht Belgrader Professoren der »Praxis«-Gruppe, welche 1975 suspendiert worden waren, hatten einen informellen Zirkel gegründet. Mit ihnen begannen wir bald zusammenzuarbeiten. Aber auch neue, junge Studenten stießen dazu. Anfang der Achtzigerjahre begannen einige Studenten an der Universität zu fragen, was eigentlich in den Siebzigerjahren alles passiert war. Diese Leute kamen zu uns. So sind innerhalb der Offenen Universität mit der Zeit drei so genannte »Schulen« entstanden, die sich jeweils für sich getroffen haben, aber untereinander in Kontakt standen. Die »Schule« der suspendierten Professoren, die »Schule« der Achtundsechziger-Aktivisten und die »Schule« der jungen Studenten. Die Mitglieder der ersten beiden »Schulen« haben dann Vorträge bei der dritten »Schule« gehalten und so weiter. Manchmal gab es auch gemeinsame Treffen. Aber das alles hat sich ja in privaten Wohnungen abgespielt, die auch noch ziemlich klein waren. Normalerweise kamen etwa 30 Leute zu einem Treffen. Manchmal standen wir uns aber auch auf den Zehen, so eng war es. Aus der »Offenen Universität« heraus bestanden natürlich Kontakte in alle Richtungen der oppositionellen und dissidenten Szene. 1983 begannen wir auch mit Milovan Djilas, mit dem wir schon seit 1968 in Kontakt waren, zusammenzuarbeiten.[3] Am 20. April 1984 sollte Djilas in meiner Wohnung seinen ersten Vortrag in unserem Kreis halten. Das Thema lautete »Kommunistische Partei und nationale Frage« in der Zeit, als Djilas noch selbst an der Macht war, also speziell der Partisanenzeit. Der Vortrag fand auch tatsächlich statt, aber es war der letzte in der »Offenen Universität«. Die Polizei startete eine spektakuläre Großaktion und verhaftete uns alle, knapp 30 Leute, darunter auch Djilas und den Anwalt Srđa Popović. Die meisten der Verhafteten wurden relativ schnell wieder auf freien Fuß gesetzt. Radomir Radović, ein 33-jähriger Arbeiter, der sich im Aufbau unabhängiger Gewerkschaftszellen engagierte, wurde kurz nach der Haftentlassung am 30. April tot aufgefunden. Bis heute sind die Umstände seines Todes ungeklärt. Wir sind aber sicher, dass er vom Geheimdienst umgebracht wurde. Der Prozess, welcher 1984 gegen die so genannten »Belgrader Sechs« stattfand, war ein Wendepunkt für die gesamte Oppositionsszene in Jugoslawien. Was ereignete sich? Angeklagt wurden, nach der Razzia am 20. April 1984, Vladimir Mijanović, Miodrag Milić, Gordan Jovanović, Pavlusko Imširović, Milan Nikolić und ich, weil wir uns in »konterrevolutionärer« Absicht seit 1977 zusammengeschlossen hätten. Wir wurden als »Belgrader 6« bezeichnet. Vier der sechs Angeklagten – Mijanović, Imširović, Nikolić und ich – waren alte Achtundsechziger. Der Prozess erregte große Aufmerksamkeit, sowohl in Jugoslawien als auch international. Vor allem die Beteiligung von Djilas an der ganzen Geschichte hatte natürlich Bedeutung. Schon kurz nach der Verhaftung war es zu heftigen internationalen Protesten gekommen. Alle möglichen Staatsoberhäupter von Bertini in Italien bis zu Reagan in den USA kritisierten die jugoslawischen Behörden. Viele Botschafter in Belgrad wurden aktiv. Die internationalen Medien berichteten. Amnesty International nannte das Verfahren den »letzten Schauprozess«. Der Prozess wurde für die Behörden zu einem Fiasko. Zu jedem Prozesstag kamen hunderte Schaulustige. Es gab Proteste von Studenten an der Universität. Oppositionelle aus Ljubljana, Zagreb und anderen Städten solidarisierten sich. In Belgrad wurde der Prozess zu einem Kristallisationspunkt für die oppositionelle Szene. Vladimir Mijanović und Pavluško Imširović traten in den Hungerstreik. Letztlich wurden wir Anfang 1985 praktisch freigesprochen. Der Verlauf des Prozesses zeigte, wie weit der Staat bereits Legitimität und Kontrollfähigkeit verloren hatte. In dieser Zeit weitete sich die dissidente Szene schnell aus. Wenn Sie heute auf die ganze Zeit seit 1968 zurückblicken, wie würden Sie aus dieser Perspektive die Rolle der Studentenbewegung für die Entwicklung Jugoslawiens bewerten? Worin besteht die historische Bedeutung der Studentenbewegung? Ich denke, dass die Studentenbewegung ganz wesentlich zur Delegitimierung des politischen Systems beigetragen hat. Ich glaube, dass das eigentlich unbestreitbar ist. Auf der anderen Seite hat die Studentenbewegung das Regime in gewisser Weise zur Veränderung seiner Politik gezwungen. Allerdings war diese Entwicklung überhaupt nicht in unserem Sinn. Unsere Bewegung war pro-jugoslawisch und radikal sozialistisch. Als Reaktion auf die Herausforderung durch die Studentenproteste verstärkte das Regime dagegen die Tendenzen des Partikularismus. Die sozialen und politischen Fragen, welche wir aufgeworfen haben, wurden durch die Partei ins Nationale gewendet. Am deutlichsten wurde das im »Kroatischen Frühling«. Eine dritte Ebene ist der kulturelle Sektor. Ich denke, dass die Studentenbewegung hier einen lang anhaltenden, positiven Einfluss ausgeübt hat. Die Protestbewegung hat ein kreatives und kritisches Potential entfaltet, das viele Tabus gebrochen hat. Auf einer vierten Ebene, glaube ich, haben wir von einer neuen Beziehung zur Sexualität bis zur Mode erheblich zu einem Wandel im alltäglichen Lebensstil beigetragen. E-Mail: Boris.Kanzleiter@gmx.net Anmerkungen: [1] Fokismus: Guerillastrategie, welche von den kubanischen Revolutionären propagiert wurde. Ausgehend von der Eröffnung eines „Fokus“ des bewaffneten Kampfes durch eine kleine Gruppe von Revolutionären sollte sich die Bewegung verbreitern. Theoretisch verarbeitet wurde die Strategie durch Régis Debray in seinem Buch »Revolution in der Revolution. Bewaffneter Kampf und politischer Kampf in Lateinamerika« (1967). [2] Die »Massenbewegung« (Maspok) von 1970/71 wird auch als »Kroatischer Frühling« bezeichnet. Initiiert wurde sie von der Führung des Bundes der Kommunisten Kroatiens, die sich bereits seit Ende der Sechzigerjahre zunehmend um ein nationales Programm gruppiert hatte und beklagte, die kroatische Republik würde in Jugoslawien strukturell diskriminiert. Während Tito die kroatische Parteiführung unter Savka Dabčević-Kučar zunächst in ihrem Kampf für mehr Dezentralisierung unterstützte, entwickelte sich der »Kroatische Frühling«, wie die Bewegung später genannt wurde, in der zweiten Hälfte von 1971 zu einer ernsten Krise. Radikale nationalistische Zirkel hatten wachsenden Einfluss auf die Situation gewonnen, die außer Kontrolle zu geraten drohte. Ende November/Anfang Dezember 1971 eskalierte die Bewegung in einen einwöchigen Streik an der Zagreber Universität. Die Initiatoren der Proteste um die nationalistischen Studentenführer Dražen Budiša und Ivan Zvonimir Čičak forderten mehr nationale Selbstbestimmungsrechte für Kroatien. Eine zentrale Forderung war, dass Kroatien über die Deviseneinnahmen aus dem Tourismus an der Dalmatinischen Küste selbst verfügen können müsse. Die Studenten forderten auch einen eigenen Sitz Kroatiens in den Vereinten Nationen. Das Regime reagierte mit einem Repressionsschlag. Ausgehend vom 12. Dezember 1971 wurden mehr als 550 Personen verhaftet. Die Führung des kroatischen BdK und hunderte Mitglieder wurden aus der Partei ausgeschlossen. [3] Milovan Djilas (1911 – 1995) war der im Westen bekannteste jugoslawische Dissident. Als Partisanenkommandeur war Djilas im Zweiten Weltkrieg einer der engsten Vertrauten Titos. Nach dem Krieg bekleidete Djilas zunächst hohe Partei- und Staatsämter. 1954 setzte er sich in einer Artikelserie im Parteiorgan »Borba« kritisch mit dem absoluten Machtanspruch der Partei und der Rolle ihrer Funktionäre auseinander. Nachdem die Texte in der Partei zunächst positiv aufgenommen worden waren, wurde Djilas aus der Parteiführung ausgeschlossen. Djilas setzte seine Kritik allerdings fort und veröffentlichte 1958 sein Hauptwerk »Die neue Klasse«, in dem er den Sozialismus in Jugoslawien und der Sowjetunion als eine Klassenherrschaft unter der Kontrolle der Parteibürokratie analysierte. Von 1956 bis 1961 und 1962 bis 1966 saß Djilas im Gefängnis. 1968 zeigte er sich solidarisch mit der Studentenbewegung. Bis zum seinem Tod blieb Djilas in Belgrad als kritischer Intellektueller präsent. |
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