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Tom Waibel: Wortfluchten.
Vom Risiko über keinen absoluten Standard zu verfügen

Die folgenden Überlegungen sind von einem Essay inspiriert, der - mehr als 20 Jahre nach seiner Präsentation als Vortrag mit dem Titel Macht, Begehren, Interesse - nun erstmals vollständig übersetzt vorliegt: Gayatri Chakravorty Spivak, Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, übersetzt von Alexander Joskowicz und Stefan Nowotny, mit einer Einleitung von Hito Steyerl, Wien: Turia u. Kant 2008 (Bd. 6 der Reihe: Es kommt darauf an. Texte zur Theorie der politischen Praxis). Die sorgfältig gestaltete Ausgabe ist ein - leider nicht alltägliches - Beispiel für übersetzerische Sensibilität und editorische Aufmerksamkeit für im deutschen Sprachraum unterbelichtete Themen postkolonialer Kritik. Die Publikation macht nicht nur die lang ersehnte Übersetzung von Spivaks kontroversiell diskutiertem Text zugänglich, sie bietet darüber hinaus Auszüge aus einem Gespräch mit der Autorin, das sich um die Vermittlung ihrer pointierten Thesen bemüht und enthält eine kenntnisreiche Kontextualisierung des Essays durch die Übersetzer. Hito Steyerls einleitende Reflexionen loten kritisch Möglichkeiten aus, die Spivaks Text einer aktuellen Lektüre zu eröffnen vermag; sie markiert damit einige jener Spuren, denen ich - abseits einer Rezension der empfehlenswerten Veröffentlichung - im Folgenden nachgehen werde.[1] Meine Überlegungen konzentrieren sich auf drei Fragestellungen: zunächst soll ermittelt werden, was sich durch die Verschiebung der Frage nach dem politischen Subjekt (wer sind die Subalternen?) hin zur Frage nach politischer Subjektivierung (wie funktioniert Subalternisierung?) gewinnen lässt, dann soll untersucht werden, ob es möglich ist, das Nicht-Sprechen der Subalternen zu übersetzen, um zuletzt darüber nachzudenken, welche Folgen sich aus diesen Fragen für die politische Praxis feststellen lassen.

I. Subaltern werden

Die Rezeption von Spivaks Text und die Auseinandersetzung mit den Subaltern Studies, auf die sich die Autorin kritisch bezieht, ist von der Debatte darüber markiert, wer die Subalternen wohl sind. Spivak hält im Interview Die neuen Subalternen fest: „Die Subaltern Studies beziehen sich auf die unterste Gesellschaftsschicht, die nicht notwendigerweise von der Kapitallogik allein hervorgebracht wird.“[2] Auch wenn hier und andernorts immer wieder davon die Rede ist, dass die Subaltern Studies marxistische Kritik verändern und erweitern, gibt es einen konstanten Bezug auf Gramsci, der den Begriff der „Subalternen“ geprägt hat. Spivak im erwähnten Interview: „Der inhaftierte Antonio Gramsci verwendete das Wort anstelle von ‚Proletarier‘, um die Gefängniszensoren zu umgehen. Aber der Begriff eröffnete, wie es Wörter eben tun, bald einen Ort und übernahm die Aufgabe, das zu analysieren, was ein von der Kapitallogik hervorgebrachter ‚Proletarier‘ nicht abdecken konnte. [...] Gramsci hat nicht versucht, Subaltern zu definieren.“[3] Identitätslogische Spekulationen darüber, wer sich wohl hinter der begrifflichen Maske der Subalternen verberge, erhalten ihren Reiz nicht zuletzt von der Idee, dass wenn das - widerständige, antagonistische, klassenmäßige, vom Kapital unterdrückte und hervorgebrachte - Subjekt erst einmal bekannt würde, es mit der Kapitalherrschaft bald vorbei wäre. Sehen wir demnach, ob sich die Subjekte der Marxschen Analyse der Klassenzusammensetzung des Kapitals auf die „Subalternen“ beziehen lassen. Offensichtlich entsprechen sie nicht dem Proletariat als dem revolutionären Subjekt par excellence des 19. und 20. Jahrhunderts: erklärt uns doch Spivak unmissverständlich, subaltern bezeichne etwas, das „ein von der Kapitallogik hervorgebrachter ‚Proletarier‘ nicht abdecken konnte.“ Warum? Folgen wir Marx, so bringt das Kapital die ProletarierInnen in einem Abstraktionsprozess hervor, in dem die ‚konkrete‘ Arbeit, die sich in einer bestimmten und nicht austauschbaren Tätigkeit realisiert, in die allgemeine Form von ‚abstrakter‘ Arbeit überführt wird, der die besondere Art der Tätigkeit beliebig ist und für die Prozesse von Spezialisierung und Bindung an spezifische Arbeit störend wirken. Für den Proletarier gilt: „Andrerseits ist der Arbeiter selbst absolut gleichgültig gegen die Bestimmtheit seiner Arbeit; sie hat als solche nicht Interesse für ihn, sondern nur soweit sie überhaupt Arbeit und als solche Gebrauchswert für das Kapital ist.“[4] In den Bewegungen der Subalternen ist eine solche Gleichgültigkeit gegenüber der ‚Bestimmtheit‘ der Arbeit nicht zu entdecken. Ein beträchtlicher Teil von Subalternen betreibt Subsistenzwirtschaft, doch worin auch immer ihre konkrete Tätigkeit bestehen mag, sie ist generell am Rande des kapitalistischen Verwertungsprozesses situiert und der Widerstand gegen die Abstraktion von Arbeit und der Bezug auf bestimmte, nicht austauschbare Arbeitsformen hat entscheidenden Anteil an subalternen Mobilisierungen. Die Subalternen sind, um an die Marxsche Begrifflichkeit aus dem Elend der Philosophie[5] zu erinnern, weder eine „Klasse für sich selbst“, da sie noch nicht im gemeinsamen Kampf „zusammengefunden“ haben, ja sie sind noch nicht einmal als eine „Klasse an sich“ konstituiert, als eine gesellschaftliche Gruppierung, die unter ähnlichen sozialen und ökonomischen Bedingungen leben, sich aber noch nicht über ihre Verhältnisse verständigen, bewusst werden und darüber „zusammenfinden“ würden. Ein besonderes gesellschaftliches Segment, das diesen (an Kant erinnernde) Kategorisierungen entgeht, findet Marx im - rundweg verächtlich gemachten - Lumpenproletariat; sollten die Subalternen ihnen entsprechen?[6] Die Wortbedeutung „von minderem Rang“ lässt so etwas immerhin vermuten. Im Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte wird das Lumpenproletariat beschrieben: „Neben zerrütteten Roués mit zweideutigen Subsistenzmitteln und von zweideutiger Herkunft, neben verkommenen und abenteuernden Ablegern der Bourgeoisie Vagabunden, entlassene Soldaten, entlassene Zuchthaussträflinge, entlaufene Galeerensklaven, Gauner, Gaukler, Lazzaroni, Taschendiebe, Taschenspieler, Spieler, Maquereaus, Bordellhalter, Lastträger, Literaten, Orgeldreher, Lumpensammler, Scherenschleifer, Kesselflicker, Bettler, kurz die ganze unbestimmte, aufgelöste, hin- und hergeworfene Masse, die die Franzosen la bohème nennen“[7]. Ungeachtet dessen, wie viele Subalterne von den globalisierten Kapitalverhältnissen kriminalisiert werden, ohne danach zu fragen, was diese Ansammlung an Ressentiments über marxistische Ordnungsliebe selbst aussagen mag und ohne die Trefflichkeit der Auswahl verhöhnter Tätigkeiten zu untersuchen (sind doch etwa die „Lastträger“ in den so genannten Kuli-Aufständen zu wichtigen gesellschaftlichen Akteuren gegen die britische Kolonialherrschaft in Indien geworden), unterscheidet ein wesentlicher Zug die Charakterisierung des Lumpenproletariats von den Subjekten der Subaltern Studies. Während diese entscheidend von kolonialen (und postkolonialen) Ungleichheiten markiert sind, erscheinen jene durchwegs als (Neben-)Produkte industrialisierter Metropolen. Bleiben demnach als mögliche Identifikationsfiguren nur mehr die von Marx in derselben Abhandlung genannten „Parzellenbauern“.[8] Von ihnen wird gesagt, sie „bilden eine ungeheure Masse, deren Glieder in gleicher Situation leben, aber ohne in mannigfache Beziehung zueinander zu treten. Ihre Produktionsweise isoliert sie voneinander, statt sie in wechselseitigen Verkehr zu bringen. Die Isolierung wird gefördert durch die schlechten französischen Kommunikationsmittel und die Armut der Bauern.“[9] Ähnliche soziale und ökonomische Verhältnisse trafen wohl auch für die pauperisierten Bauern des italienischen Südens zu, denen Gramsci seine Überlegungen zur „inneren Kolonialisierung“ Italiens widmete,[10] aber auch diese Bestimmung vermag die Bedeutung der Subalternen im Kontext der Postkolonialen Studien nicht abzudecken. Hier sind es nicht länger nur „schlechte [...] Kommunikationsmittel“, die die Verständigung der „ungeheueren Masse“ verhindern, vielmehr sind es strukturelle Kommunikationsbedingungen, die das zur-Sprache-kommen der Subalternen unmöglich machen. Wenn Spivak kategorisch feststellt: „Die Subalterne kann nicht sprechen“,[11] so ist das keineswegs mangelnder Kommunikationsinfrastruktur (etwa nicht vorhandene Internetanbindung etc.) geschuldet, sondern Ausdruck einer viel grundsätzlicheren Unmöglichkeit. Hito Steyerl präzisiert die gesellschaftlichen Verhältnisse, die Subalterne zum Nicht-Sprechen verurteilen: „Die Ordnung der Diskurse erlaubt die Artikulation bestimmter Sachverhalte nicht, da sie selbst auf diesem Schweigen beruht.“[12] Aus diesem Grund sind die Subalternen auch nicht mit aktuellen Konzepten von „Prekariat“ oder „Multitude“ gleichzusetzen: „Subaltern“ bezeichnet jene, die aufgrund der bestehenden gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse nicht gehört werden (und einzig aus diesem Grund nicht sprechen können). Wer Gehör und damit Sprache findet, hört auf subaltern zu sein. Subalternität beschreibt demnach kein Wesen, sondern eine Funktion und die Auseinandersetzung mit den Subalternen gewinnt gesellschaftspolitische Schärfe und Veränderungspotential, wenn sie nach den Mechanismen fragt, die Subalternität produzieren.

Ich möchte das Potential einer solchen Verschiebung der Problematik vom Subjekt hin zur Subjektivierung an einem konkreten Beispiel darstellen, das auch zu zeigen vermag, dass die Mechanismen der Subalternisierung nicht zwangsläufig außerhalb von „westlichen“ Gesellschaften zu suchen sind, sondern gesellschaftliche Verhältnisse von Ein- und Ausschluss unabhängig von geographischem Ort oder symbolischer Zuschreibung reproduzieren. Das Beispiel mag überraschen, denn es betrifft den selten sprachlosen Bert Brecht, dem sich wenig Anlass zur Klage bot, nicht gehört zu werden. Seine Hymnen an Partei und Arbeiterklasse sind lautstarke Zeichen für seine Sprachmächtigkeit und seine Fähigkeit sich Gehör zu verschaffen. Wenn ich dennoch ausgerechnet hier auf Mechanismen des Subaltern-Werdens hinweise, so deshalb, um zu unterstreichen, dass der Begriff der Subalternisierung an gesellschaftskritischem Potential gewinnt, wenn er als politisch motivierte Analysekategorie von historischen, politischen, kulturellen und diskursiven Aspekten eines unabgeschlossenen Kolonialdiskurses Verwendung findet. Zugleich zeigt das Beispiel auch, dass sich Subjekt und Objekt von Subalternisierung bisweilen überkreuzen, ohne sich gegenseitig auszuschließen, aufzuheben oder auszulöschen: Derselbe, der im Folgenden über seine Sprachlosigkeit schreibt, unterhielt jahrelang eine florierende Schreibfabrik, die den darin tätigen Frauen ihrer Autorinnenschaft beraubte und sie zu namenlosen Arbeiterinnen am Wort des Meisters degradierte. Subalternisierung ist von Genderverhältnissen ebenso durchzogen, wie jeder andere Mechanismus von Diskurs und sozialem Ausschluss. Bezeichnenderweise schreibt Brecht in seinem US-amerikanischen Exil Ende 1944 nicht etwa an die Öffentlichkeit, sondern an seinen Sohn:

„Ich muss gleich sagen: Ich habe nicht die geringste Hoffnung, die amerikanische Umgangsprache je zu erlernen. Es fehlt mir gewiss nicht die Neigung und schon gar nicht der äußere Antrieb. Es ist etwas anderes, das mir fehlt. Ich versuche schon seit einiger Zeit, mich in der Landessprache auszudrücken. Dabei habe ich festgestellt, dass ich bei Diskussionen nicht das sage, was ich sagen will, sondern das, was ich sagen kann. Und das sind, wie man sich denken kann, sehr verschiedene Dinge. Man könnte vermuten, dieser verwirrende Zustand sei ein vorübergehender, etwas mehr Studium könne Erleichterung schaffen. Das ist leider nicht zu erhoffen. Mir mangeln nicht die Worte allein, noch die Kenntnis des Satzbaus allein. Mir fehlt vielmehr ein ganz bestimmter Habitus, den zu erlernen ich einfach nicht die Möglichkeit sehe. Mit einigem Fleiß könnte ich vielleicht im Laufe der Zeit den Gedanken, dass mir auf gewissen amerikanischen Bildern der Himmel und die Bäume wie Geschminkte vorkommen, wie auf die Produktion von möglichst viel sex appeal bedachte Wesen, in amerikanischen Sätzen ausdrücken. Aber die Haltung, in der ich so etwas sagen müsste, um nicht schon durch eben die Haltung Anstoß zu erregen, werde ich niemals lernen. Ich müsste lernen, ein ‚nice fellow‘ zu werden.“[13]

Es ist sicherlich erstaunlich einen so paradigmatischen Europäer wie Brecht, der genauso selbstsicher chinesische oder südamerikanische Ausbeutungsverhältnisse anprangert, wie er den europäischen Faschismus oder die Verwertungslogik des Kapitals benennt, in einem solchen Prozess der Provinzialisierung zu sehen. Und doch: der von ihm beschriebene Ausschlussmechanismus ist jenem verwandt, den die Subalternisierte in Delhi, Kinshasa oder im equatorianischen Hochland erlebt. Wenn es ihr gelingt eine „nice fellow“ zu werden und damit unter Beweis stellt, dass sie den dominanten Habitus erlernt hat, wird es ihr vermutlich auch möglich in irgendeiner lokalen NGO für andere Subalterne zu sprechen. Sprache interessiert in diesem Zusammenhang weniger als reglementierte linguistische Funktion, sondern vielmehr als diskursives politisches Werkzeug, das im Kampf um Hegemonie eingesetzt wird. Wenn in dieser Hinsicht die Subjektivierung den begrifflichen Ort des Subjekts zu übernehmen vermag, so bedeutet das - um mit Bifo zu sprechen, „dass wir uns nicht auf die Identität konzentrieren, sondern auf den Prozess des Werdens.“[14] Es geht darum festzustellen, welche spezifischen Machtverhältnisse es einem Individuum in welchem geographischen und politischen Kontext ermöglichen, sich in einer bestimmten Logik zu beschreiben, zu erklären, auszudrücken und sich damit auf einen Subjektivierungsprozess einzulassen.

II. Subalternität übersetzen

Besteht irgendeine Aussicht darauf, das Nicht-Sprechen der Subalternen zu übersetzen?

Und: ist das überhaupt eine sinnvolle Frage? Betrachten wir zunächst die Kapitallogik selbst unter der Perspektive der Übersetzung. Es ist eine bekannte Tatsache, dass die kapitalistische Warenwirtschaft aufgrund der Dynamik von tendenziell sinkenden Profitraten zu ständiger Expansion gezwungen ist. In dieser Ausbreitung werden fortwährend Menschen, Dinge und gesellschaftliche Formationen inkorporiert, indem deren Differenzen kapitalisiert werden, um in einen warenförmigen Austausch zu treten. Die kapitalistische Form der Globalisierung ist durchaus kein neues Phänomen, sondern in der Kapitallogik selbst angelegt. Karl Marx stellt in den Grundrissen fest: „Die Tendenz, den Weltmarkt zu schaffen, ist unmittelbar im Begriff des Kapitals selbst gegeben. Jede Grenze erscheint als zu überwindende Schranke.“[15] Dieser Ausbreitungsprozess lässt sich durchaus als eine Form von permanenter Übersetzung lesen: Der „Moloch“ Kapital gleicht einer rastlosen Übersetzungsmaschine, die beständig gesellschaftliche Antagonismen, individuelle Widerständigkeiten und/oder soziale Differenzen unter die einheitliche Sprache des Werts subsumiert. Dabei muss festgehalten werden, dass sich die kapitalistische Übersetzungsmaschine unterschiedslos ökonomischer und nicht-ökonomischer Mittel bedient. Wenn zur Schaffung und Aufrechterhaltung des Arbeitsmarktes, einer notwendigen Voraussetzung für die kapitalistische Warenwirtschaft, die Anwendung von ökonomischem Druck (sinkende Löhne, Verteuerung des Warenangebots, Intensivierung des Arbeitsdrucks etc.) nicht mehr ausreichen, wird jederzeit auf außerökonomische Zwangsmittel (unrechtmäßige Enteignung, Arbeitszwang, betrügerische Kontrakte etc.) zurückgegriffen. Marx bezeichnet diese außerökonomischen Zwangsmittel im Kapital sarkastisch die „idyllischen Methoden der ursprünglichen Akkumulation“ und nennt einige davon: „Der Raub der Kirchengüter, die fraudulente Veräußerung der Staatsdomänen, der Diebstahl des Gemeindeeigentums, die usurpatorische und mit rücksichtslosem Terrorismus vollzogene Verwandlung von feudalem und Claneigentum in modernes Privateigentum, es waren ebenso viele idyllische Methoden der ursprünglichen Akkumulation. Sie eroberten das Feld für die kapitalistische Agrikultur, einverleibten den Grund und Boden dem Kapital und schufen der städtischen Industrie die nötige Zufuhr von vogelfreiem Proletariat.“[16] Es ist entscheidend sich zu vergegenwärtigen, dass diese „idyllischen Methoden“ keineswegs zum antiquierten Arsenal des Frühkapitalismus zählen. Insbesondere die kolonialistische Ausbreitung stößt auf unterschiedliche soziale und ökonomische Regulative (eine Vielheit von Produktions- und Tauschformen, die Marx kurzerhand auf den Begriff „asiatische Produktionsweise“ reduziert), die das Kapital dazu veranlassen, seine „idyllischen Methoden“ jederzeit zu reaktivieren. Sandro Mezzadra drückt den Sachverhalt so aus: „Ursprüngliche Akkumulation und Übergang (das, was Marx die ‚Frühgeschichte des Kapitals‘ nannte) sind die Gespenster, die das Kapital auf der höchsten Stufe seiner historischen Entwicklung heimsuchen.“[17] Diese Gespenster, die das Kapital „heimsuchen“, sind keineswegs ephemere Erscheinungen im Kapitalprozess, sondern haben vielmehr entscheidenden Anteil an jenen Mechanismen, die menschliche Arbeit in abstrakte Arbeitskraft übersetzen, um damit für die einheitliche Sprache des Werts ein allgemeingültiges Tauschelement zu schaffen. Marx definiert die Arbeitskraft als „Inbegriff der physischen und geistigen Fähigkeiten, die in der Leiblichkeit, der lebendigen Persönlichkeit eines Menschen existieren“,[18] und das führt Dipesh Chakrabarty zu der Feststellung, „dass die Arbeit, die in der kapitalistischen Suche nach einem gemeinsamen Maßstab für menschliche Aktivität abstrahiert wird, das Leben ist“.[19] Halten wir also fest, dass die kapitalistische Übersetzungsmaschine die menschliche Arbeitskraft und das Leben selbst einer gewaltsamen Transformation unterwirft, um sie als warenförmige Artikulation in einer (globalen, universalen) Sprache des Werts verfügbar zu machen. Aus dieser Perspektive ist es nahe liegend der eingangs gestellten Frage eine abschlägige Antwort zu erteilen. Weshalb sollte es für die Kritik am Kapitalismus ein lohnendes Ziel darstellen, das Nicht-Sprechen der Subalternen zu übersetzen und damit Differenzen zur hegemonialen Wertsprache erneut kommensurabel zu machen? Judith Butler findet für diese Problematik klare Worte: „Es kommt nicht darauf an, ein gewalttätiges Regime so weit auszudehnen, dass es auch die Subalterne einschließt. Tatsächlich ist sie bereits in dieses einbezogen, und es ist just die Art ihres Einschlusses, die in der Gewalt ihrer Auslöschung wirkt.“[20] Sicherlich geht es darum, die Machtverhältnisse und Ausbeutungsmechanismen zu dekonstruieren, die die Subalternen zum Schweigen bringen und nicht darum, ihr Nicht-Sprechen in den Habitus der „nice fellows“ zu übersetzen, um es noch einmal in der vorgestellten Brechtschen Begrifflichkeit zu formulieren. Gibt es keine Perspektive, von der aus die Frage nach der Übersetzbarkeit der Subalternen Sinn gewinnen würde? Bisher haben wir den Übersetzungsprozess ausschließlich von der Seite der Kapitallogik betrachtet, jetzt kommt es darauf an, die Problematik von der Seite der Widerstandsprozesse zu beleuchten, die sich der Expansion des Kapitals entgegen stellen und dessen politische Geographie verschieben. Diese Widerstandsprozesse setzen dem Kapital vielfältige Verweigerungsformen entgegen, mit dem Ziel, die lebendige Arbeit vor der Unterordnung unter die abstrakte Arbeitsnorm zu bewahren und damit das Leben vor der Einspeisung in die Übersetzungsmaschine des Kapitals zu retten. Hier begegnen wir der produktiven Macht der Subjektivierung wieder, die am Ende des ersten Abschnitts freigelegt wurde: Sie sind Realisierungsprozesse einer Vielfalt menschlicher Fähigkeiten, die sich auch und gerade außerhalb der direkten Übersetzungsgewalt des Kapitals entfalten.[21] Im Allgemeinen ist das Problem der Übersetzbarkeit der vielfältigen (und partiellen) Kämpfe und Subjektivierungspraktiken im Herzen der Möglichkeit einer politischen Theorie der Multitude angesiedelt worden.[22] Wie aber lässt sich dem Problem angesichts der Subalternen begegnen, von denen wir bereits gesehen haben, dass sie durchaus nicht dasselbe sind wie die Multitude? Anders gefragt, wie kann eine Übersetzung aussehen, die anti-kolonialistisch verfährt und in der Lage ist, die Grenzen hegemonialer Sprache aufzuzeigen? Encarnación Gutiérrez Rodríguez stellt eine weit reichende Warnung vor diese Problematik: „Das Projekt der Übersetzung ist ein ambivalentes Projekt, denn sogar wenn es die Möglichkeit der Übertragung verspricht, basiert es fundamental auf ihrer Unmöglichkeit.“[23] Wenn im Sprechen die Sprache dazu aufgeboten wird, nicht etwa die Welt selbst, sondern „einen bestimmten Bezug zur Welt auszudrücken“,[24] ist es hilfreich sich an die Hinweise Walter Benjamins zu erinnern und die Aufmerksamkeit vom sprachlichen Inhalt hin zur sprachlichen Form zu verlagern.[25] Analog zur oben beschriebenen Verschiebung der Frage nach dem Sein des (subalternen) Subjekts hin zur Frage nach dessen Werden geht es einer solchen Übersetzung weniger um die Inhalte sprachlicher Identität (Herkunft und/oder Genealogie), als vielmehr um die Form der jeweiligen sprachlichen Praxis. Derrida begreift aus dieser Perspektive Übersetzung als vollständig transitorische Bewegung. In jedem Fluss von Übersetzung existiere demnach eine „unhörbare Differenz“, ein nicht repräsentierbares Supplement - Derrida nennt es „différance“ - die durch keinen wie auch immer gearteten Begriff verständlich gemacht werden kann.[26] Damit ist er vermutlich auf einen jener Bereiche gestoßen, in dem die Allmacht der kapitalistischen Übersetzungsmaschine endet und das Risiko beginnt über keinen absoluten Standard zu verfügen und damit auch die Möglichkeit, die Grenzen der eigenen Identität in der Arbeit an einer Sprache zu erweitern, die weder Besitz noch Ware ist. Für Gayatri Spivak beginnt hier eine Verlockung: „Dies ist letztendlich eine der Verführungen der Übersetzung. Es ist eine einfache Nachahmung der Verantwortung gegenüber der Spur des Anderen im Selbst.“[27] Angesichts der Gefahr, durch die Übersetzung die „leise Stimme der Anderen“ in den Kolonialprozess hegemonial einzuverleiben, erscheint dieses Unternehmen nicht besonders „einfach“, doch das sollte uns nicht davon abhalten in Boris Budens fröhlichen Aufruf einzustimmen: „Übersetzung ist unmöglich. Fangen wir also an.“[28]

III. Politiken der Subalternität

Im Verlauf der Überlegungen sind bereits einige Implikationen, die die Auseinandersetzung mit den Subalternen für die gegenwärtige politische Praxis haben kann, zur Sprache gekommen. Abschließend möchte ich noch auf einen anderen Aspekt dieser Frage eingehen; Spivak selbst ist in ihrem Text Can the Subaltern Speak zumindest in negativer Hinsicht unmissverständlich: „die Subalternen zu ignorieren“, schreibt sie, „bedeutet, das imperialistische Projekt weiterzuführen.“[29] Aber heute, mehr als zwanzig Jahre nach der Verfassung des Essays muss das Verständnis von Subaltern überdacht werden. In einem Interview aus dem Jahr 2000 markiert Spivak die Richtung einer solchen begrifflichen Neufassung: „Er/Sie [der/die Subalterne] ist nicht mehr vom Zugang zum Zentrum abgeschnitten. Das Zentrum, das von den Bretton Woods Agenturen und der Welthandelsorganisation (WTO) repräsentiert wird, ist insgesamt an der ländlichen und indigenen Bevölkerung interessiert als eine Quelle von auf den Handel bezogenem geistigem Eigentum, den TRIPs.“[30] Zweifellos hat die Ausbeutung der genetischen Ressourcen des Planeten die so genannten Subalternen in doppelter Hinsicht zum Ziel der Biopiraterie gemacht: einerseits die Körper der Subalternen selbst als Reservoir von genetischer Information (die WTO unterstützt freigiebig Projekte zur weltweiten Erfassung des indigenen Genpools) und andererseits das Wissen der Subalternen über Agrikultur und Pflanzenmedizin, das zur Verkürzung von langwierigen und kostenintensiven Laborexperimenten ausgebeutet wird. Ob dieses gesteigerte Interesse an den Subalternen aber dazu geführt hat, dass sie jetzt „nicht mehr vom Zugang zum Zentrum abgeschnitten“ sind, ist mehr als fraglich. Auch wenn ich diese Ansicht keineswegs teile, zeigt die Debatte um die Patentrechte von biologischem und intellektuellem Eigentum im Zusammenhang mit der Frage nach Subalternität vor allem dies: wie wenig die Rede vom „Leben“, die ich im vorliegenden Text recht allgemein aufgegriffen habe, pathetisch oder metaphorisch gemeint ist. Mit genetischem Design und genetic engineering scheint sich das Kapital eine Übersetzungsmaschine angeeignet zu haben, mit der Bausteine des Lebens selbst untereinander austauschbar werden. Der Widerstand dagegen kann sich aber nicht in essentialistischen Forderungen im Namen der Subalternen artikulieren. Freiheit, Gleichheit und Selbstbestimmung, die ihrerseits davon bedroht sind subaltern zu werden, können auch kaum im Namen der Universalität eingefordert werden. Zu oft hat man sich ihrer bedient, um kolonialistische und rassistische Begriffe des „Menschen“ (bzw. in der dominanten sexistischen Variante durch die Gleichsetzung von Mensch und „Mann“) festzuschreiben. Eher können Freiheit und Gleichheit noch als Spuren (im Sinne von Derrida) begriffen werden, um die Möglichkeiten von nicht-kapitalistischer Subjektivierung zu markieren. Auch Spivak hat sich zwischenzeitlich von ihrer Formel vom „strategischen Gebrauch des Essentialismus“ verabschiedet und in ihren eigenen subalternen Studien eine neue gefunden: „das Lernen von unten lernen.“[31] Das eignet sich nicht gut für einen „großen“ politischen Slogan und erinnert stark an die Maximen der aufständischen Selbstverwaltung der ZapatistInnen. Aber in Zeiten großer Anforderungen sind die Konzepte zur Veränderung wohl zwangsläufig klein und minoritär, weil sie sich darauf besinnen vom Einzigartigen und Unbeweisbaren zu lernen. „Hoffnungslos? Vielleicht. Aber ohne das vermag nichts die Trennungen aufzuheben, die die Aufklärung in den Kolonien installiert hat und die noch immer das beste Legat der Subalternen verschließen.“[32]

E-Mail: tjomki@gmail.com


[1] Eine aktuelle Buchbesprechung findet sich etwa bei: Nikita Dhawan, Kulturrisse, in: Translate Web-Journal, http://translate.eipcp.net/publications/spivak/rezensionnikita/

[2] Gayatri Chakravorty Spivak, The New Subaltern. A Silent Interview, in: Mapping Subaltern Studies and the Postcolonial, Vinayak Chaturvedi (Hg.), London: Verso 2000, S. 324.

[3] Ibid.

[4] Karl Marx (1857-1858), Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin: Dietz Verlag 1983, Bd. 42, S. 218. Diese Präzisierungen folgen einer Anregung von Karl Reitter im Rahmen einer Diskussion im Grundrisse-Kollektiv. Die Problematik der ‚Abstraktion’ von Arbeit wird im II. Abschnitt des vorliegenden Textes wieder aufgenommen.

[5] Karl Marx (1846-47), Das Elend der Philosophie, Berlin: Dietz Verlag 1972, Bd. 4, S. 63 - 182.

[6] Gerald Raunig stellt diese Frage in seiner demnächst erscheinenden Untersuchung über Maschinen als soziale Bewegung in Bezug auf das Prekariat. Vgl.: Gerald Raunig, Tausend Maschinen. Eine kleine Philosophie der Maschine als sozialer Bewegung, Wien: Turia u. Kant 2008 (voraussichtlich im April; die folgenden Überlegungen sind an sein originelles Verfahren im 6. Kapitel Abstrakte Maschinen angelehnt.)

[7] Karl Marx (1852), Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, Berlin: Dietz Verlag 1960, Bd. 8, S. 111-207. Marx polemisiert hier gegen die bezahlten Söldner, die zur blutigen Niederschlagung des Aufstands von 1848 verdingt worden waren. Die (substantialistische) Lektüre dieser Passage hat in der marxistischen Tradition zu einer schroffen Ausgrenzung der so genannten Lumpenproletarier geführt. (Dieser Hinweis verdankt sich nicht zuletzt einer anregenden Debatte im Grundrisse-Kollektiv).

[8] Die Debatte über die ‚Parzellenbauern’ wurde bereits in einer früheren Ausgabe der Grundrisse eröffnet. Vgl.: Gerald Raunig, Das Monster Prekariat, in: Grundrisse. Zeitschrift für linke Theorie und Debatte 21: Frühling 2007, S. 42-48, http://www.grundrisse.net/grundrisse21/gerald_raunig.htm

[9] Karl Marx (1852), a.a.O.

[10] Vgl. etwa: Antonio Gramsci (1928), Einige Gesichtspunkte der Frage des Südens, in: ders., Zu Politik, Geschichte und Kultur. Ausgewählte Schriften, Frankfurt a.M.: 1980.

[11] Gayatri Chakravorty Spivak, Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien: Turia u. Kant 2008, S. 106.

[12] Hito Steyerl, Die Gegenwart der Subalternen, in: Gayatri Spivak, Can the Subaltern Speak, S. 12.

[13] Bert Brecht, Die Amerikanische Umgangssprache, in: Schriften 1926-1956, Jubiläumsausgabe Bd. 6, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 507. Nach Auskunft von Helene Weigel ist der Text, von dem der Auszug stammt, für seinen damals zwanzigjährigen Sohn Stefan geschrieben (vgl.: ibid., S.755).

[14] Franco Berardi Bifo, Was heißt Autonomie heute? Rekombinantes Kapital und das Kognitariat, in: http://eipcp.net/transversal/1203/bifo/de

[15] Karl Marx (1857-1858), a.a.O, S. 321.

[16] Karl Marx (1867), Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Berlin: Dietz Verlag 1987, Bd. 1, S. 760f.

[17] Sandro Mezzadra, Leben im Übergang. Zu einer heterolingualen Theorie der Multitude (wird demnächst im Translate Web-Journal des eipcp veröffentlicht).

[18] Karl Marx (1867), a.a.O., S.181.

[19] Dipesh Chakrabarty, Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton/Oxford: Princeton University Press 2000, S. 60.

[20] Judith Butler, Restaging the Universal: Hegemony and the Limits of Formalism, in: Butler, Laclau, Zizek, Contingency, Hegemony, Universality: Contemporary Dialogues on the Left, London/New York: Verso 2000. Eine auszugsweise Übersetzung von Butlers Essay unter dem Titel Das Universale auf die politische Bühne bringen. Hegemonie und die Schranken des Formalismus findet sich in: Jungle World, Subtropen 6/10/2001, in: http://www.nadir.org/nadir/periodika/jungle_world/_2001/41/sub01a.htm

[21] Vgl. dazu etwa: Jason Read, The Micro-Politics of Capital. Marx and the Prehistory of the Present, Albany/New York: State University of New York Press 2003, S. 153.

[22] Vgl. etwa: Michael Hardt u. Antonio Negri, Multitude. Krieg und Demokratie im Empire, Frankfurt/New York: Campus 2004, insbesondere Kap. II.3: Die Spuren der Multitude.

[23] Encarnación Gutiérrez Rodríguez, Positionalität übersetzen. Über postkoloniale Verschränkungen und transversales Verstehen, in: http://translate.eipcp.net/transversal/0606/gutierrez-rodriguez/de

[25] Vgl.: Walter Benjamin, Über die Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, in: ders., Sprache und Geschichte, Ditzingen: Reclam 1992.

[26] Vgl.: Jacques Derrida, Die Différance, in: ders., Randgänge der Philosophie, Wien: Passagen 1988. Die „Entdeckung“ der „différance“ ist auch ein untrügliches Indiz dafür, dass wir die traditionelle Vorstellung von Übersetzung als einfachen Transkodierungsprozess von A nach B längst verlassen haben.

[27] Gayatri Ch. Spivak, , The Politics of Translation, in: Barrett u. Phillips (Hg.), Destabilizing Theory. Contemporary Feminist Debates, Stanford, 1992, S. 177.

[28] Boris Buden, Übersetzung ist unmöglich. Fangen wir also an, in: http://eipcp.net/transversal/1206/buden/de

[29] Gayatri Chakravorty Spivak, Can the Subaltern Speak, a.a.O., S. 84.

[30] Gayatri Chakravorty Spivak, The New Subaltern, a.a.O., S. 326.

[31] Ibid., S. 333.

[32] Ibid., S. 338.

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