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Robert Foltin: Reelle Subsumption des Lebens unter das KapitalDieser Artikel ist ein Abschnitt aus einem größeren Text mit dem Arbeitstitel „Körper der Multitude“. In einem ersten Teil geht es um die Produktion von Körper und Geschlecht sowie der Beziehung zwischen verschiedenen Arten der Arbeit (oder der Tätigkeit). Dabei wird die „Produktivität“ für die kapitalistische Verwertung nur am Rande behandelt. Das ist das Thema dieses Artikels[1]. In den „Resultaten des unmittelbaren Produktionsprozesses“ führt Marx (1969) die Unterscheidung zwischen formeller und reeller Subsumption der Arbeit unter das Kapital ein (vgl. Birkner / Foltin 2006, S. 89). Formelle Subsumption ist die Verwandlung von ehemaligen Handwerker_innen (aber auch Bäuer_innen und Sklav_innen) in entlohnte Arbeiter_innen, typischerweise in der Manufaktur (Marx 1969, S. 46ff). Der Arbeitsprozess unterscheidet sich noch nicht von dem in der vorkapitalistischen Produktionsweise. Die reelle Subsumption der Arbeit bedeutet die Organisation der Arbeit durch das Kapital in der großen Fabrik, die entsprechenden Produktionsmittel, insbesonders die Maschinerie werden durch die Unternehmer_innen zur Verfügung gestellt. Das Kapital ist nicht mehr nur Dirigent, sondern der Organisator der Arbeit, das Verhältnis zwischen Kapital und Proletariar_innen wird nicht allein durch den Lohn (oder andere, nicht nur monetäre Mittel) hergestellt, sondern durch die direkte Anordnung der Produktion in der Fabrik. Im Gegensatz zur Manufaktur erscheinen die Produkte in der großen Fabrik nicht mehr als Ergebnis der lebendigen Arbeit, sondern des Kapitalismus. Besonders durch den Taylorismus, die Zerlegung der Arbeitsschritte am Fließband, erfüllt sich der Traum der Unternehmer_innen, dass die Produktion vermeintlich ohne störende Proletariar_innen funktioniert. Die in der Fabrik vergesellschaftete Arbeit erscheint als Teil der kapitalistischen Maschinerie. Während die formelle Subsumption eine Autonomie im Arbeitsprozess zuließ, damit auch Vorstellungen von Selbstverwaltung, so bedeutete die reelle Subsumption die Reduktion der Arbeiter_innen zu einem Anhängsel der Maschinen. Die vollkommene Enteignung des Wissens und Könnens der so genannten Massenarbeiter_innen am Fließband (die „Degradierung zum Affen“) ließ keine Identifikation mit der Arbeit mehr zu, die Arbeiter_innen kämpften nicht mehr um die Arbeit, sondern gegen die Arbeit. Der Kapitalismus hat die Tendenz, immer größere Bereiche der Welt und des Lebens zu unterwerfen. Da es kein räumliches Außen mehr gibt, verändert sich die Intensität der Unterwerfung in bereits eroberten Gesellschaften. Wir leben in einer Phase des Übergangs, die auch als Verschiebung von der formellen zur reellen Subsumption des Lebens analysiert werden kann. Immer größere Massen von lebendiger Arbeit wurden und werden zu Lasten der bäuerlichen Bevölkerung der Fabrikdisziplin unterworfen, in den ersten zwei Dritteln des 20 Jahrhundert in den Industriestaaten, jetzt auch immer mehr im Trikont. Aber auch immer größere Bereiche des Lebens unterliegen der „Fabrikgesellschaft“. In der „Arbeit des Dionysos“ beschreiben Negri / Hardt (1997, S. 116ff) die Verschiebung hin zur reellen Subsumption in Bezug auf die „Zivilgesellschaft“ (sichtbar als Parteien und Gewerkschaften, aber auch in den Strukturen der „Neuen Sozialen Bewegungen“): zur Zeit des „fordistischen“ Wohlfahrtsstaates bestanden politische Parteien und Gewerkschaften, aber auch Bürger_inneninitiativen, Vereine, Kirchen etc. in einer relativen Autonomie gegenüber dem Staat, waren nur „formell subsumiert“. Sie hatten die Funktion eines Transmissionsriemens zwischen Staat und Gesellschaft, indirekt auch zwischen Kapital und Gesellschaft. Die Bevölkerung wurde in die herrschenden Strukturen integriert, zugleich konnten die verschiedenen sozialen Gruppen die staatliche Organisation über die Zivilgesellschaft beeinflussen. Der aktuelle Diskurs über „Neoliberalismus“ und eine angebliche Krise der Staatlichkeit erfasst die Veränderungen nicht wirklich. Es ist nicht der Staat, der verschwindet, Repression und Kontrolle sind stärker denn je. Es ist eher so, dass die Zivilgesellschaft (und nicht der Staat) ans Ende ihrer Bedeutung gekommen ist (vgl. Negri / Hardt 1997, S. 117). Der Einfluss von Parteien, Gewerkschaften, Kirchen und Vereinen hat sich verringert, ideologisch wird das „individuelle Selbst“, das sich verkaufen muss, propagiert. Zivilgesellschaftliche Organisationen sollen nicht mehr bloß dem Kapitalismus zuarbeiten, sondern sollen sich darüber hinaus selbst kapitalistisch organisieren. Der Kapitalismus greift jetzt direkt auf die lebenden und arbeitenden Individuen zu. Diese Transformationen auf gesellschaftlicher Ebene lassen sich auch als Übergang von der Disziplinargesellschaft zur Kontrollgesellschaft analysieren, wie Deleuze (1992) anhand von Foucault zeigt. In der Disziplinargesellschaft geht es darum, dass die Individuen, Klient_innen in Schule, Kaserne, Familie, Gefängnis, Psychiatrie genormt/geformt werden, sich in relativer Einheitlichkeit anpassen müssen. Die ganze Lebenszeit wird erfasst, Menschen bewegen sich aus der Familie in die Schule, aus der Schule in die Kaserne, in die Fabrik, zum Schluss endet mensch im Krankenhaus oder im Altersheim. Daneben funktionieren die Institutionen Gefängnis und Psychiatrie, um Außenseiter_innen wieder zu normalisieren. In den Institutionen wird Kommunikation zwischen Klient_innen unterdrückt oder behindert, sie werden gezwungen, über ein kontrollierendes, beobachtendes Zentrum zu kommunizieren. Das Leben ist durch Institutionen unterteilt, so wie auch der Raum und die Zeit der Klient_innen, Arbeiter_innen etc.(Birkner / Foltin 2006, S. 91). Die Institutionen geben normierte Menschen an die Gesellschaft zurück, normalisierte Arbeitskräfte, die Massengüter konsumieren sollen und sich in der Familie reproduzieren. Die Krise der Institutionen der Disziplinargesellschaft durch die Revolten von 1968 und danach bedeutete keine Auflösung, sondern die Ausbreitung von diesen auf die ganze Gesellschaft. In der Kontrollgesellschaft hat das Eindringen und Akzeptieren des Lebens (Kommunikation, Kooperation, soziale Kontakte und Beziehungen) in die Institutionen als Gegenstück die Ausdehnung der Institutionen auf die ganze Gesellschaft. Das Gefängnis wird zur allgemeinen Überwachung, die Schule zu lebenslangem Lernen, die Psychiatrie in vielen Teilen in Selbsthilfegruppen ausgelagert. Die Institutionen werden immer mehr von Instrumenten der Disziplinargesellschaft, die normierte Personen an die Gesellschaft zurückgeben, zu Kontrollpunkten, von denen sie die ganze Gesellschaft überziehen (Birkner / Foltin 2006, S. 91). Nicht mehr die Institutionen der Disziplinargesellschaft formen die Individuen, sondern das unternehmerische und eigenverantwortliche Selbst ist es, das „verantwortlich“ ist, nicht nur für Arbeit und Konsum, sondern auch für Bildung und Gesundheit. Der Kapitalismus scheint das ganze Leben zu organisieren. Auch wenn wir es sind, die lebendige Arbeit, unser Leben und unsere Beziehungen, die die Gesellschaft erzeugen, den Zusammenhang scheint der Kapitalismus herzustellen. Die Entwicklung hin zur reellen Subsumption, zur immer intensiveren Verwertung findet etwa in der Produktion von Wissen statt wie auch in der Produktion von Körper und Geschlecht. Es ist ein Durchgang durch (staatliche) Institutionen hin zu einem eigenverantwortlichen kapitalistischen Selbst. Vor dem (industriellen) Kapitalismus gab es das Alltagswissen der Bäuer_innen, der Handwerker_innen etc. und eine schmale Elite, die „wissenschaftliches“ Wissen produzierte. Mit der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft entstand der Anspruch eines „dritten Standes“ zum weiteren Ausbau des Wissens, es blieb aber ein bürgerliches gesamtgesellschaftliches Wissen, das sich um geniale Einzelne gruppierte. Die Massen blieben ungebildet, für die Fabriken war hauptsächlich die Ausbeutung der Handarbeit und der Körperkraft interessant. Der Wunsch nach allgemeiner Bildung („Schulpflicht“) entstand aus den Wünschen der Unterklassen in Zusammenhang mit den bürgerlichen Revolutionär_innen, die formal gleiche Bedingungen einforderten. Der Fordismus brachte gleichzeitig einen Qualifizierungs- und einen Dequalifizierungsschub. Im Taylorismus werden die einzelnen Arbeitsgänge zerlegt, die Arbeiter_innen müssen nur noch wenige Handbewegungen ausführen, die leicht zu erlernen sind. Parallel steigt aber die notwendige Zahl der Ingenieur_innen und Verwalter_innen in der Fabrik, außerdem wird die Büroorganisation ausgedehnt und die Zahl der angestellten Mitarbeiter_innen steigt. Die Weiterentwicklung Richtung Dienstleistungs- oder Wissensgesellschaft mit Informatisierung und Computerisierung bedeutet neuerlich Qualifizierung auf der einen Seite, etwa für Programmierer_innen, aber auch die Vermehrung unqualifizierter Arbeiten, etwa der einfachen Dateneingabe oder der kommunizierenden Callcenter - Angestellten. Die Art des Wissens und die Notwendigkeit seiner Produktion haben sich massiv verändert: Vom elitären Einzelgenie des 19. Jahrhunderts ist nicht mehr viel übrig geblieben, das Kapital braucht andere Intellektuelle als damals, eben etwa Ingenieur_innen, die eine möglichst kurze Ausbildung haben und schnell zu verwerten sind. Die Komplexität der Maschinen erfordert mehr Zusammenarbeit. Wurden früher Erfindungen aufgegriffen, wenn die gesellschaftliche Entwicklung dafür reif war (vgl. Braverman 177, S. 26), agierte im Fordismus der Staat als Gesamtkapitalist, der die elitäre Universitätsbildung gewährleistete und auch Grundlagenforschung finanzierte. Nach der Massenuniversität wird die intellektuelle Entwicklung im „Neoliberalismus“ vermehrt unmittelbar vom Kapital organisiert, ob nun direkt in der Firma oder in den kapitalgesponserten Fachhochschulen. Aber auch die meisten entqualifizierten Arbeiten setzen eine gewisse Grundbildung des Lesens und Schreibens voraus, was jetzt die Schulbildung bis in große Teile des Trikonts trägt. Auch sexuell Arbeiten[2] wird dem Kapitalismus untergeordnet (Lorenz / Kuster 2007): Nr. 3: Sexuelle Arbeit ist doppelt produktiv: sie produziert Produkte/Dienstleistungen und sie produziert ein vergeschlechtlichtes, verkörpertes, begehrendes Subjekt (S. 153). Nr. 7: Der produktive Charakter sexueller Arbeit wird […] häufig nicht anerkannt und auch nicht entlohnt (S. 154). Die Erfassung der Körper, des Begehrens, des Sexes und des Geschlechts durch den Kapitalismus erfolgt ebenso zuerst einmal durch die entsprechenden Institutionen im Reproduktionsbereich: Kindergärten, Altersheime, Krankenhäuser, besonders aber durch die Familie. Auch wenn der Staat bereits über Diskurse regelnd in die Familie eingreift, so handelt es sich noch immer um eine maßgeblich selbstorganisierte Struktur. Hohe Löhne und Sozialleistungen im Fordismus fördern den Konsum und sind Kompensation für entqualifizierte und teilweise unerträgliche Arbeitsbedingungen. Die Kleinfamilie hat die Funktion, erholend und ausgleichend zu wirken und nicht zuletzt auch einen Ausgleich zwischen der Forderung nach schnellem Konsum in der Freizeit und längerer Planung zur Anschaffung langlebiger Konsumgüter zu schaffen (vgl. Lüscher 1988, S. 187ff). Die Ernährung und Erziehung der Kinder, die Versorgung und Stabilisierung der männlichen Arbeitskraft, die Produktion von Leben werden im fordistischen Familiensystem in die Reproduktion von Arbeitskraft verwandelt und als notwendiger Bestandteil der Reproduktion des Kapitalismus strukturiert (vgl. Foltin 2005, S. 44). Konzentrierte sich die Produktion der Geschlechter, die sexuelle Arbeit bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts auf die Familie, so beginnt sich das jetzt zu ändern. Über den Konsum sind schon andere Begehrensformen (etwa Lesben und Schwule) sichtbar geworden und konstituierender Teil der kapitalistischen Verwertung, sexuell Arbeiten findet immer mehr außerhalb von Institutionen statt, auch an bezahlten Arbeitsplätzen. War der Zugriff auf den Körper zuerst noch formend, disziplinierend, normierend, so wird das in die individuelle Eigenverantwortung verlagert. Fitness und Körperbewusstsein, Eigenverantwortung für Gesundheit und Krankheit werden wichtiger als eine Einpassung in eine normierende Institution. In Zusammenhang mit der Zunahme und Hegemonie der immateriellen Arbeit (die Produkte sind immateriell wie Wissen und Kommunikation), wird in Hardt (2004) die „affektive Arbeit“ als Teil der immateriellen Arbeit diskutiert, die Produkte sind „… ein Gefühl des Behagens, des Wohlergehens, der Befriedigung, der Erregung oder der Leidenschaft, auch der Sinn für Verbundenheit oder Gemeinschaft“ (Hardt 2004, S. 182). Darunter sind die „Arbeiten“ von der Fürsorge bis hin zu persönlichen Dienstleistungen gemeint, aber es fehlt in dieser Analyse das parallele Erfassen der Erzeugung von Subjektivitäten, eben die Produktion von Weiblichkeit und Männlichkeit wie auch des entsprechenden patriarchalen Unterdrückungsverhältnisses. Die affektive Arbeit erfasst nur den Teil der sexuellen Arbeit, der über das Subjekt, die Subjektivität hinausgeht. Während im Fordismus ein relativ großer Teil der Bevölkerung andauernde und stabile Subjektivitäten entwickelte („Arbeiter_innen“, „Hausfrauen“), wurde das in der Folge immer unsicherer, prekärer. Identitäten werden immer mehr vom Kontext beeinflusst und auch dieser Kontext ist unbeständiger. Kuster (2006, S. 14) beschreibt das an ihrer eigenen Existenz und der eines Mitarbeiters bei der Produktion eines Filmes: einmal nimmt sie (als Frau) die Position einer „Assistentin“ ein, ein anderes mal ist sie „eigentliche Filmemacherin“ und der Mitarbeiter der interviewte „Flüchtling“. Dieses „Durchqueeren“ (in Lorenz / Kuster 2007 „Durchqueren“) verschiedener Identitäten ist charakteristisch für die „neoliberalen“ Verhältnisse, bietet aber in seiner Ambivalenz zugleich Freiheit(en) wie auch Unterwerfung unter kapitalistische Verhältnisse. Um postfordistische Lebens- und Arbeitsweisen zu erklären, die sich in allgemeiner Prekarisierung und Zunahme affektiver und sexueller Arbeiten kundtun, verwendet Virno (2005, S. 61ff) die Begrifflichkeiten von Aristoteles, der die „menschliche Erfahrung“ in die drei Bereiche Arbeit, politisches Handeln und Intellekt einteilt. Immer mehr Arbeiten werden „virtuos“ und ähneln „persönlichen Dienstleistungen“.Typisch für diese „Produktionsweise“ ist der Zusammenfall der drei Elemente und charakteristisch dafür ist die Virtuos_in, die Interpret_in eines Musikstückes oder eine Redner_in. Das Produkt ist dabei kein Werk, sondern eine Performance. Die Arbeit fällt mit dem öffentlichen Auftritt (typisch für die Politik) zusammen. Die „Partitur“, die die entsprechende Arbeit, die Performanz anleitet, ist dabei das allgemeine Wissen, von Virno anhand einer Anmerkung in den „Grundrissen“ General Intellect genannt (vgl. unten). Schon von seinem Ausgangspunkt her übersieht Virno (mit Aristoteles) entscheidende Faktoren der Konstitution der Gesellschaft. Die „menschlichen Erfahrungen“ Arbeit, Politik und Intellekt existieren nur in Abgrenzung zu ihren Gegenstücken: der (unbezahlten) Haus- und Beziehungsarbeit, dem Leben im privaten Raum und dem Körper. Was bedeutet das Zusammenfallen der „männlichen“, der „zentralen“ Elemente mit den unsichtbar gemachten, den ausgeschlossenen? Die postfordistischen Arbeits- und Lebensverhältnisse bewirken ja auch ein Verschwimmen der Grenzen zwischen bezahlter („produktiver“) und unbezahlter Arbeit, wie zwischen privat und öffentlich. Und die Virtuos_in kann nur mit „Körpereinsatz“ auftreten, der Körper wird nicht nur wie in der Arbeit vernutzt, sondern spielt in seiner (häufig weiblichen) Ausformung eine entscheidende Rolle. Für die Virtuos_in ist das Produktionsmittel das Wissen, das Können, der auf der Bühne präsente Körper, der in der individuellen Konsumtion „erzeugt“, vervollständigt, verbessert wurde, vom Lernen, über Stimmtraining bis hin zur Körperpflege. Lorey (2007, S. 8) charakterisiert anhand von prekär lebenden und arbeitenden Künstler_innen, Akademiker_innen etc. diese Formen der Subjektivierung. Individuelle Reproduktion und Generativität, die Produktion des Lebens individualisiert sich und verlagert sich nun zum Teil „in“ die Subjekte selbst hinein. Es geht um Regeneration jenseits der Arbeit, auch durch Arbeit, aber immer noch sehr häufig jenseits von angemessen bezahlter Lohnarbeit. Es geht um (Selbst-)Erneuerung, um ein Aus-sich-selbst-Schöpfen, sich selbst aus eigener Kraft wieder herstellen: eigenverantwortlich. Die Selbstverwirklichung wird zur reproduktiven Aufgabe für das Selbst. Das ist „sexuell Arbeiten“ auch als Herstellung von Heterosexualität und Geschlecht. Der Übergang von der formellen zur reellen Subsumption findet für die verschiedenen Bereiche jeweils über institutionelle Strukturen statt, mit dem Staat oder mit der Familie. Der Nationalstaat oder seine Institutionen agieren als ideeller Gesamtkapitalist, der das Ganze im Blick hat. Ein weiteres Beispiel dafür ist die Antwort auf kulturelle Widerständigkeiten in der Nachfolge von 1968. Es gibt den charakteristischen Ablauf: als Antwort auf kulturelle Kämpfe etablieren sich Projekte, manchmal bereits abhängig vom Markt, häufig aber gering subventioniert und unterstützt durch (staatliche) Institutionen und verbunden mit Selbstausbeutung. In der weiteren Entwicklung wird (kapitalistische) Evaluierung verlangt und die Projekte unterliegen dem Zwang der Unterwerfung unter die Verwertung. Ob jetzt für Wissen und Bildung, Körper und Sex oder Kunst und Kultur, immer größere Bereiche werden zuerst den Institutionen unterworfen, dann der kapitalistischen Organisation. Die Subsumption des Lebens unter das Kapital zuerst als Disziplinierung und Kontrolle und dann als Verwertung und Selbstkontrolle. Mit der Wertung als kapitalistisches Selbst wird auch die Produktion von Subjektivität aufgewertet und damit die sexuelle Arbeit. In heutigen postfordistischen Arbeits- und Lebensverhältnissen ist die reelle Subsumption allerdings eine andere als zur Zeit der Unterwerfung der lebendigen Arbeit unter die Maschinen der großen Industrie. Die Enteignung des Wissens und der Fähigkeiten der Arbeiter_innen betrifft „das ganze Leben“. Dieses ganze Leben behält aber auch Elemente der Autonomie, das Verhältnis zur Maschine verändert sich: war diese für die Facharbeiter_innen der Manufakturperiode als Werkzeug eine erweiterte körperliche Möglichkeit als verlängerter Arm (formelle Subsumption) und wurden in der großen Industrie die Arbeiter_innen von der Maschine dominiert, so ist die heutige Situation der individuellen Besitzer_innen von Handys und Computern beides zugleich: die „Maschine“, etwa als Wissen oder Körperlichkeit, ist Werkzeug unter der Kontrolle der Arbeitenden, wobei die individuelle und kollektive Autonomie größer ist, als es den Facharbeiter_innen je möglich war (darum spricht Virno von neuerlicher „nur formeller Subsumption“ Colectivo Situaciones / Virno 2006, S. 10). Umgekehrt sind aber die Arbeiter_innen noch mehr abhängig von den Maschinen, ein Leben ohne Internet oder sonstigen Kommunikationsmittel ist nicht mehr möglich. Und diese Kommunikationskanäle sind kapitalistisch organisiert, vom Internet bis hin zur Mobiltelefonie. Und auch die Kontroll- und Überwachungsmöglichkeiten durch Staat und Kapital sind intensiver als es gegenüber den Fließbandarbeiter_innen je sein hätten können. Das Gleiche gilt, wenn der Körper als Werkzeug der sexuellen Arbeit betrachtet wird, wie in der affektiven Arbeit als Teil der immateriellen Arbeit diskutiert. Es gibt soviel Autonomie und Selbstkontrolle wie noch nie, die Einzelnen hatten noch nie soviel potentielle Entscheidungsfreiheit in Bezug auf ihre Lebensformen, eine körperliche Vielfalt ist möglich, die nur immer wieder an die Grenzen der Verwertung stößt. Zugleich aber hat es noch nie einen so intensiven Zugriff auf den Körper und das Leben durch den Kapitalismus gegeben. Die Arbeitsbedingungen der in Haus- und Betreuungsarbeit beschäftigten Migrantinnen sind teilweise unerträglich. Die tägliche Körperproduktion ist besonders für Frauen anstrengend und aufwändig, das Lächeln der Kundenbetreuerinnen und Bedienungen ist künstlich und gequält. Der Körperkult in der Öffentlichkeit kaum auszuhalten. Der Körper ist mehr dem Kapitalismus unterworfen denn je, die Ausbeutung dringt tiefer ein, als mensch es sich früher hat vorstellen können. Der Kapitalismus ist abhängig vom Wissen, vom Intellekt, von den Beziehungen, den Gefühlen, von den Subjektivitäten, er ist abhängig von der Autonomie und Unabhängigkeit der Körper und der Leben. Um die Ausbeutung zu gewährleisten, muss das alles gefördert werden. Zugleich wird es aber immer sofort der Verwertung unterworfen, was die Autonomie und Unabhängigkeit wieder einschränkt. Ein Beispiel ist der widersprüchliche Umgang mit Wissen und Kreativität: einerseits muss das freie Fließen gefördert werden, durch die potentielle Unendlichkeit geht aber die Möglichkeit der Verwertung gegen Null. Darum Einschränkungen und die Erzeugung von künstlichem Mangel durch Copyright-Gesetze. Auch die Vielfalt der Körper, des Begehrens, der Beziehungen wird anerkannt, solange es der Verwertung unterliegt. Nicht kommerzielles Leben wird sofort eingeschränkt, begrenzt, privatisiert. Ein Beispiel ist die Säuberung öffentlicher Plätze von auffälligen Individuen, die als kommerzielle Subkulturen sehr wohl existieren dürfen. Und diese Widersprüche produzieren immer wieder Revolten, die Negation, den „Schrei“ (Holloway 2002). Wir, die Multitude produzieren den Kapitalismus, aber wir leiden auch am herrschenden System. Es geht darum, in den unterschiedlichen Kämpfen dem Kapitalismus seine eigene Melodie vorzuspielen und dadurch die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen. Im und gegen den Kapitalismus. E-Mail: r.foltin@aon.at Literatur Atzert, Thomas / Müller, Jost (2004): Immaterielle Arbeit und imperiale Souveränität. Analysen und Diskussionen zu Empire. Münster: Westfälisches Dampfboot. Birkner, Martin / Foltin, Robert (2006): (Post-)Operaismus. Von der Arbeiterautonomie zur Multitude. Geschichte & Gegenwart, Theorie & Praxis. Eine Einführung. Stuttgart: Schmetterling Verlag. Theorie.org. Boudry, Pauline / Kuster, Brigitte / Lorenz, Renate (1999): Reproduktionskosten fälschen! Heterosexualität, Arbeit und Zuhause. Berlin: b_books. Braverman, Harry (1977): Die Arbeit im modernen Produktionsprozeß. Frankfurt / New York: Campus. Colectivo Situaciones / Virno, Paolo (2006): Die Reife der Zeit: Zur Aktualität der Multitude. In: grundrisse 20, S. 6-11. Deleuze, Gilles (1992): Foucault. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Foltin, Robert (2005): Fordismus und Familiensystem. In grundrisse 16, S. 41-47. Hardt, Michael (2004): Affektive Arbeit. In: Atzert / Müller: Immaterielle Arbeit und imperiale Souveränität, S. 175-188. Holloway, John (2002): Die Welt verändern ohne die Macht zu übernehmen. Münster: Westfälisches Dampfboot. Kuster (2006): Die eigenwillige Freiwilligkeit der Prekarisierung. In: grundrisse 18, S. 12-15. Lorenz, Renate / Kuster, Brigitta (2007): sexuell arbeiten, eine queere perspektive auf arbeit und prekäres leben. Berlin: b_books. Lorey (2007): VirtuosInnen der Freiheit. Zur Implosion von politischer Virtuosität und produktiver Arbeit. In: grundrisse 23, S. 4-10. Lüscher, Rudolf M. (1988): Henry und die Krümelmonster. Versuch über den fordistischen Sozialcharakter. Tübingen: Konkursbuchverlag. Marx (1969): Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses. Frankfurt am Main: Verlag neue Kritik. Negri, Antonio / Hardt, Michael (1997): Die Arbeit des Dionysos. Berlin: Edition ID-Archiv. Virno (2005): Grammatik der Multitude. Wien: Turia+Kant. [1] Im an den Artikel anschließenden Teil wird es um Widerständigkeiten gehen, die „Subjekte“ begründen, von der Arbeiter_innenklasse bis hin zu unterschiedlichen Begehrensformen (nicht nur Schwule und Lesben), die um Anerkennung kämpfen. In einem weiteren Teil geht es dann um die Ausarbeitung des Nicht-Subjekts „Multitude“ als im Werden begriffenes Ensemble „gesellschaftlicher Individuen“, die ihr Gemeinsames im „General Intellect“, dem allgemeinen Wissen, und in der Vielfalt der körperlichen und nicht-körperlichen Beziehungen finden. Den Schluss bilden Spekulationen, inwiefern aktuelle nicht repräsentierbare Kämpfe über den Kapitalismus hinausweisen. [2] Der Begriff der „sexuellen Arbeit“ wird in Boudry et.al. (1999) und Lorenz / Kuster (2007) herausgearbeitet. Dabei geht es um die Produktion von (heterosexuellen) Beziehungen und (nicht nur) geschlechtlicher Subjektivität (die tagtägliche Herstellung von „Frauen“ und „Männern“). Das passiert auf verschiedenen Ebenen, einmal als Arbeitsteilung zwischen „zu Hause“ und „in der Arbeit“, weiters in der geschlechtlichen Zuschreibung von Arbeiten im Allgemeinen. Aber auch innerhalb von (Lohn)Arbeitsprozessen, am Fließband weniger als in Dienstleistungsberufen, wird etwa durch Rollenverteilungen oder Flirtverhalten zwischen Verkäuferinnen und Kund_innen Heterosexualität und Geschlecht nicht nur bestätigt, sondern produziert. |
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