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Markus Griesser: Farewell to the welfare state?
Staatstheoretische Konzepte zu Genese und Wandel des Sozialstaats

„Die Entwicklung der Sozialpolitik überschreitet den Bereich des klassischen Widerspruchs, der seine Apologeten (Wohlfahrtsstaat: Gleichheit durch Umverteilung) und seine Kritiker (Wohlfahrtsstaat: verstärkter sozial-repressiver Kontrollmechanismus) in zwei Lager teilte.“ (Buci-Gluckmann/Therborn 1982: 122)

Als sich 1875 in Gotha die beiden großen sozialistisch orientierten Parteien Deutschlands zur Sozialistischen Arbeiterpartei zusammenschließen, kritisiert Karl Marx in seinen „Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei“ u.a. die dort vollzogene Akzentuierung der Verteilungsfrage. Diese basiere nämlich auf der „vulgärsozialistischen“ Annahme einer Autonomisierung der Distributions- gegenüber der Produktionssphäre, welche in der Forderung nach „gerechter Verteilung des Arbeitsertrages“ im Rahmen einer kommunistischen Gesellschaft Niederschlag finde. Eine solche Forderung sei jedoch insofern widersinnig, als mit der Umwälzung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse das Verschwinden jenes Äquivalenzprinzips des bürgerlichen Rechtsbegriffs einhergehe, das auch dem Konzept der Verteilungsgerechtigkeit zugrunde liege. An dessen Stelle trete Marx zufolge in der voll entfalteten kommunistischen Gesellschaft die Losung: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“ (vgl. Marx 1962a: 18-22).

Ein knappes Vierteljahrhundert später, der so genannte „Reformismus-“ bzw. „Revisionismusstreit“ innerhalb der sozialdemokratischen Partei erreicht gerade seinen ersten Höhepunkt, polemisiert Rosa Luxemburg in ihrer Streitschrift „Sozialreform oder Revolution“ gegen Eduard Bernsteins „Versuch, den opportunistischen Strömungen in der Partei eine theoretische Grundlage zu geben“ (Luxemburg 1969: 92f.). Dessen auf der Revision der Marxschen Werttheorie basierende Idee, gestützt auf Genossenschaften und Gewerkschaften den Kapitalismus stufenweise in den Sozialismus hinein zu reformieren, sei nämlich nicht bloß theoretisch fragwürdig. Sie habe auch fatale Konsequenzen für die sozialdemokratische Praxis, indem sie die Sphäre der Produktion zugunsten jener der Verteilung vernachlässige. Das postulierte Ziel einer „gerecht(er)en Verteilung“ ignoriere jedoch den „naturgesetzlichen“ Zusammenhang zwischen den beiden Sphären im Kapitalismus und stütze sich zudem idealistisch auf bloße Gerechtigkeitsideen (ebd.: 64-71).

Solchen Kritiken zum Trotz entwickelte sich das Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit – im Gothaer Programm noch ein im Jenseits der kommunistischen Gesellschaft zu realisierendes Ziel, bei Bernstein bereits das im Diesseits des Kapitalismus zu erreichende Ideal[1] – in den folgenden Jahrzehnten zur Leitidee der Sozialdemokratie und materialisierte sich im Zuge der keynesianischen Wende schließlich in einem „andere[n], rein redistributive[n] `Sozialismus´“ (Buci-Glucksmann/Therborn 1982: 119). Umverteilung galt von nun an als kompensatorische Handlungsmaxime sozialdemokratischer Politik, denn „[d]ie Marktwirtschaft gewährleistet von sich aus keine gerechte Einkommens- und Vermögensverteilung“, wie es im Godesberger Programm von 1959 heißt, mit dem die SPD ihre endgültige Aussöhnung mit dem Kapitalismus besiegelte, bevor sie sich nach dem Ende des „Sozialdemokratischen Zeitalters“ mit dem programmatischen Übergang von der Verteilungs- zur Chancen- und Teilhabegerechtigkeit (vgl. Draheim/Reitz 2004) schließlich in ihrer historischen Form selbst auf der Müllhalde ideengeschichtlicher Konzepte entsorgte.

Sozialgeschichtlich jedoch haben die – zumindest rhetorisch – im Namen der Verteilungsgerechtigkeit vollzogenen Sozialreformen nicht bloß Spuren hinterlassen, sondern in einem „von oben“ initiierten Prozess der Selbstrevolutionierung/-restauration einen grundlegenden Umbau der Gesellschaft nach sich gezogen. Dieser Prozess, der sich mit Antonio Gramsci als „passive Revolution“ – „Revolution ohne Revolution“ bzw. „Revolution-Restauration“ (Gramsci 1991ff.: 102/1330) – beschreiben lässt, brachte den für die fordistische Phase der kapitalistischen Entwicklung charakteristischen „strukturelle[n] Reformismus des Sozial- und Wohlfahrtsstaates“ (vgl. Röttger 2007: 181ff.) hervor, wie er ausgehend vom späten 19. Jahrhundert innerhalb der kapitalistischen Zentren – und nicht zuletzt auf der Basis einer spezifisch-asymmetrischen Konstellation auf der Ebene von Weltmarkt und internationalem Staatensystem – durchgesetzt wurde. Mit dem in Form korporatistischer Arrangements vollzogenen (selektiven) „Einbau der Arbeiterklasse in den bürgerlichen Staat“ (ebd.: 183) einher ging die Transformation des Terrains sozialer Kämpfe, welche die revolutionären Traditionslinien in der Geschichte der ArbeiterInnenbewegung sukzessive verschüttete.

Der Radikalität dieses Wandels zum Trotz begnügte man sich vor allem in leninistischer Tradition lange Zeit mit reduktionistischen Analysen der Sozialdemokratie und mit der sektiererischen Denunziation ihres „Reformismus“ (vgl. Buci-Glucksmann/Therborn 1982: 54ff.)[2]. Erst in den Staatsdebatten der 1970er und 1980er Jahre wurde allmählich der „`epistemologische Bruch´“ (ebd.: 113) zur Kenntnis genommen, der mit der „strukturell sozialdemokratischen“ keynesianischen Wende insbesondere hinsichtlich der Beziehung zwischen ArbeiterInnenklasse und Staatsapparaten im Feld der politischen Formen vollzogen wurde (vgl. stv. Hirsch/Roth 1986: 64ff.). Im Zentrum des Interesses stand dabei häufig jene neue Form der Verdichtung sozialer Kräfteverhältnisse, wie sie sich im keynesianischen Wohlfahrtsstaat materialisiert hatte, und die infolge der wirtschaftlichen und sozialen Krisen der 1970er Jahre im Umbau begriffen war (vgl. stv. Poulantzas 2002: 214ff./239ff.).

Insofern ich nun davon ausgehe, dass dieser Umbau im Prozess der krisenhaften Abkehr vom Fordismus und von der ihm korrespondierenden Staatsform des keynesianischen Wohlfahrtsstaates nach wie vor andauert, werde ich im Rahmen dieses Textes einmal mehr die Frage des Sozialstaats, seiner Genese und seines Wandels aufwerfen. Auf der Basis des von Buci-Glucksmann und Therborn vorgeschlagenen „Perspektivenwechsels“ soll die Untersuchung sich dabei anhand von vier klassenanalytisch orientierten Ansätzen[3] aus der (Sozial-)Staatsdebatte am „Standpunkt der Arbeiterklasse in ihren Beziehungen zu den Institutionen“ (Buci-Glucksmann/Therborn 1982: 122) ausrichten. Ausgewählt wurden dabei gezielt vier äußerst heterogene Ansätze, um die Relevanz des jeweils fokussierten Faktors – nämlich die Erfordernisse industrialisierter Gesellschaften bzw. der kapitalistischen Produktionsweise sowie die Forderungen von ArbeiterInnenparteien bzw. sozialen Bewegungen – für eine materialistisch-staatstheoretische Annäherung an die Frage des Sozialstaats zu diskutieren. Darüber soll ein Beitrag geleistet werden zur aktuellen Debatte um die Zukunft des (Sozial-)Staats nach dem „Abschied“ von seiner keynesianisch-wohlfahrtsstaatlichen Gestalt sowie zu den Möglichkeiten seiner „radikalen Transformation“ (vgl. Poulantzas 2002: 283) im Sinne einer emanzipatorisch-gesellschaftsverändernden Praxis. Beginnen werde ich dabei mit den Modellen von Karl Polanyi bzw. von Wolfgang Müller und Christel Neusüss, welche in ihren Ansätzen gleichermaßen, wenn auch auf sehr unterschiedliche Art und Weise, die Bedeutung der strukturtheoretischen Dimension für eine Erklärung der „`Bewegungsgesetze´ sozialpolitischer Entwicklung“ (Offe/Lenhardt 2006: 170) herausstreichen.

1. Die Geburt des Sozialstaats aus den Erfordernissen einer industrialisierten Gesellschaft

In radikaler Abgrenzung von (neo-)klassischen, aber auch von (vulgär-)marxistischen Ansätzen im Bereich der politischen Ökonomie bemüht sich Karl Polanyi in seiner Studie „The Great Transformation“ um eine Beantwortung der Frage, wie sich im Laufe des 19. Jahrhunderts zuerst in England, später auch in Kontinentaleuropa und in den USA eine Marktwirtschaft etablieren konnte, welche bald schon ins Wanken geriet, um schließlich in den Umwälzungen der 1920er und 1930er Jahre endgültig unterzugehen. Als „Marktwirtschaft“ begreift er dabei ein „selbstregulierendes System von Märkten“ (Polanyi 1978: 71), in der die über das Gesetz von Angebot und Nachfrage gebildeten Preise das Einkommen der EigentümerInnen der einzelnen Wirtschaftsfaktoren bestimmen (ebd.: 102ff.). Eine solcherart organisierte Gesellschaft bedroht laut Polanyi jedoch insofern ihre eigenen Reproduktionsbedingungen, als sie die Verwandlung all dieser Wirtschaftsfaktoren – einschließlich des Menschen selbst und seiner Umwelt in Form von Arbeitskraft und Boden, also der „Gesellschaftssubstanz schlechthin“ (ebd.: 106) – in am Markt feilzubietende Waren impliziert. Deshalb auch sieht er „die Ursprünge der Katastrophe im Aufstieg und Fall der Marktwirtschaft“ (ebd.: 55) selbst begründet. Während nämlich die wirtschaftlichen Tätigkeiten des Menschen ihm zufolge bis dahin stets organisch in seine Sozialbeziehungen eingebettet waren (vgl. ebd.: 71ff.), kommt es laut Polanyi im Zuge der Etablierung der Institution eines selbstregulierenden Marktes zu deren Herauslösung aus dem Leben der Gemeinschaft und damit zur Auslöschung „alle[r] organisatorischen Formen des Seins“ (ebd.: 224), wie sie durch verwandtschaftliche, nachbarschaftliche, religiöse usw. Bindungen geknüpft waren. Die daraus resultierende atomistische und individualistische Reorganisation der Gesellschaft jedoch kann laut Polanyi auf Dauer keinen Bestand haben, zumal Arbeitskraft – wie auch Boden und Geld – ihm zufolge bloß fiktive Waren[4] sind und die auf dieser Warenfiktion errichteten Teilmärkte notwendigerweise eine Zerstörung der Gesellschaft zur Folge haben musste: „[K]eine Gesellschaft könnte die Auswirkungen eines derartigen Systems grober Fiktion auch nur kurze Zeit ertragen“ (ebd.: 109). Deshalb, so Polanyi, kommt es sehr bald schon zur Ausbildung von Mechanismen der „gesellschaftlichen Selbstverteidigung“ (ebd.: 247), um den seit der industriellen Revolution sich entfaltenden Expansionsdrang des Marktes in Schach zu halten und seine zerstörerischen Effekte einzudämmen. Am Ende des hier sich abzeichnenden Prozesses schließlich steht der moderne Sozialstaat als die – wie Stephan Lessenich und Ilona Ostner es formulieren – „Quintessenz dieses gesellschaftlichen Selbstschutzes“ (Lessenich/Ostner 1998: 15) gegenüber der drohenden Zerstörung durch den selbstregulierenden Markt.

Polanyi exemplifiziert diesen Prozess in erster Linie anhand der entsprechenden Entwicklungen in England, ausgehend von der Durchsetzung des Systems der Marktwirtschaft in den 1830er Jahren bis hin zu seinem schlussendlichen Zusammenbruch in den 1920er und 1930er Jahren (vgl. Polanyi 1978: 187ff.)[5]. Dabei interpretiert er die englische Geschichte dieses langen 19. Jahrhunderts als die einer „Doppelbewegung“ (vgl. ebd.: 112), welche durch zwei divergierende Organisationsprinzipien der Gesellschaft mit jeweils spezifischen institutionellen Zielen, mit der Unterstützung von unterschiedlichen gesellschaftlichen Kräften und unter Anwendung verschiedener Methoden in Gang gesetzt wurde (vgl. ebd.: 185ff.): Zum ersten nämlich vom Prinzip des Wirtschaftsliberalismus, das die Expansion der Marktwirtschaft vorantrieb, zum zweiten vom Prinzip des gesellschaftlichen Selbstschutzes, welches eben die angesprochenen Gegenbewegung in Gang setzte. Polanyi zufolge kam es dabei erst ab den 1820er Jahren zur Etablierung der drei, das erstere Prinzip fundierenden Grundsätze des Laissez-Faire – nämlich die Durchsetzung von Freihandel, Goldstandard und Arbeitsmarkt –, welche schließlich infolge der bürgerlichen Revolution in England „mit dem Eifer eines Kreuzzugs“ (ebd.: 189) in den Bereichen Arbeit (Armenrechtsnovellierung 1834), Währung (Peels Bank Act 1844) und Handel (Korngesetz 1846) umgesetzt wurden. Entgegen der liberalen Darstellung insistiert Polanyi in diesem Zusammenhang auf den „künstlichen“, das heißt politisch vermittelten Charakter dieses Prozesses, während die Gegenbewegung des gesellschaftlichen Selbstschutzes ab den 1860er Jahren sich ihm zufolge auf „natürliche“ Art und Weise, also spontan zu entfalten begann (vgl. ebd.: 195ff.). Die aus den Widersprüchen zwischen selbstregulierendem Markt und protektionistischen Selbstschutzmaßnahmen resultierenden Spannungen mündeten 1929 im Zusammenbruch der Weltwirtschaft und wurden schließlich im Rahmen von Faschismus, Sozialismus und New Deal auf je spezifische, aber verbindlich anti-liberale Art und Weise aufgelöst (vgl. ebd.: 270ff.)[6].

Welche Kräfte stehen nun Polanyi zufolge hinter dieser Schutzbewegung bzw. anders formuliert, welche Faktoren zeichnen ihm zufolge für die Genese – und den Wandel – von Sozialstaatlichkeit verantwortlich?

Wie bereits angedeutet wurde, betont Polanyi im Rahmen seiner Darstellung der Doppelbewegung im England des 19. Jahrhunderts die Bedeutung von sozialen Klassen als politischen AkteurInnen in besagtem Prozess (vgl. ebd.: 185ff.), meint er in diesen doch „das natürliche Vehikel gesellschaftlicher und politischer Veränderungen“ (ebd.: 210) zu erkennen. Für die Erklärung von längerfristigen gesellschaftlichen Transformationsprozessen wie der Genese des Sozialstaats hält er Klasseninteressen oder -kämpfe jedoch für nebensächlich, zumal er diese marxistischen Konzepte durch einen „allzu eng“, ja „rein monetär“ gefassten Interessenbegriff definiert sieht (vgl. ebd.: 211ff.). Die eigentlichen Ursachen solchen Wandels vermutet er deshalb in Faktoren, die er als der Gesellschaft externe, aber sie in ihrer Gesamtheit betreffende Kräfte bestimmt. Dies zeigt Polanyi anhand der dargestellten Doppelbewegung des 19. Jahrhunderts, in der unterschiedliche Klassenkräfte zwar auf die Expansion des Marktwesens eingewirkt haben – im Falle der KapitalistInnen befördernd, in jenem der ArbeiterInnenklasse und der LandeigentümerInnen in progressiver respektive konservativer Weise behindernd; letztlich ist der gesellschaftliche Selbstschutz ihm zufolge jedoch eine durch „zwingende objektive Gründe“ (ebd.: 204) motivierte „spontane Reaktion“ (ebd.: 207) gewesen und mithin nicht aus subjektiven Faktoren zu erklären. Die damit bezeichneten Veränderungen resultierten Polanyi zufolge nämlich aus den „Erfordernisse[n] einer Industriegesellschaft, die mit den Mitteln des Marktes nicht befriedigt werden können“ (ebd.: 212), und welche zu einer klassenübergreifenden, wenn auch unbewussten Vereinigung sozialer Kräfte zum Schutz der Gesellschaft führten. Die Schutzbewegung wurde mithin nicht von Klasseninteressen, sondern von den „Interessen der ganzen Gesellschaft in Gang gesetzt“ (ebd.: 223) und von den RepräsentantInnen dieses Allgemeininteresses, also der jeweiligen Regierung, exekutiert. Entsprechend der drei Hauptangriffspunkte von Seiten des Marktsystems auf die soziale Substanz der Gesellschaft, also die Kommodifizierung von Arbeit, Boden und Geld, sieht Polanyi auch hier, also im Schutz des Menschen, der Natur sowie der Organisation der Produktion, die drei Linien, auf denen besagte Gegenbewegung sich entfaltete (vgl. ebd.: 224ff.).

Der Prozess des gesellschaftlichen Selbstschutzes wird laut Polanyi also von strukturellen Faktoren in Gang gesetzt und sein Ergebnis, der moderne Sozialstaat, erklärt sich funktional aus den Erfordernissen der Reproduktion (industrialisierter) Gesellschaften. Die sozialen Klassen als Trägerinnen dieses Prozesses vollziehen dabei in ihren Handlungen lediglich das, was aus Strukturperspektive ohnedies notwendig gewesen wäre. Gerade im Hinblick auf seine Konzeptualisierung von sozialen und Klassenkämpfen nimmt sich das Modell Polanyis jedoch als hyperfunktionalistische Konstruktion aus, sieht er deren Einflussvermögen doch dadurch bestimmt, dass diese „für Entwicklungen eintreten, die nur scheinbar im Gegensatz zum Allgemeininteresse der Gemeinschaft stehen“ (ebd.: 252). Partikulare (Klassen-)Interessen – seien es die des Adels, des Bürgertums oder Industriearbeiterschaft – setzen sich also in einem bestimmten Stadium der Geschichte durch, weil sie „unbewußt“ (ebd.: 113) und „zufällig“ (ebd.: 252) auch das gesellschaftliche Allgemeininteresse repräsentieren. Eine Erklärung für diesen paradoxen Mechanismus, vermittels dem ein spezifisches Partikular- mit dem funktionalistisch bestimmten Allgemeininteresse in Übereinstimmung gebracht wird, enthält Polanyi jedoch vor. In teleologischer Manier erscheint ihm retrospektiv vielmehr jeder Wendepunkt in der Historie schlicht auf die Konvergenz der siegreichen Klasseninteressen mit jenen der Gesamtgesellschaft zurückführbar – ihr Sieg erklärt sich funktional aus den Erfordernissen gesellschaftlicher Reproduktion. Damit jedoch gerinnt ihm das, was von Offe und Lenhardt noch metaphorisch als „Bewegungsgesetz“ sozialpolitischer Entwicklung benannt wurde, zur geschichtsphilosophischen Essenz – und entzieht seine Konzeptionalisierung der Genese und des Wandels von Sozialstaatlichkeit gesellschaftsverändernden Bestrebungen tendenziell ihre Grundlage[7].

2. Die Geburt des Sozialstaats aus den Erfordernissen der kapitalistischen Produktionsweise

In kritischer Absetzung gegenüber der Theorie des Staatsmonopolitischen Kapitalismus (Stamokap) sowie der Spätkapitalismustheorie von Jürgen Habermas, Claus Offe u.a., welche sie gleichermaßen als neue Variationen des Revisionismus identifizieren, formulieren Wolfgang Müller und Christel Neusüss 1971 in ihrem, die so genannte Ableitungsdebatte begründenden Aufsatz „Die Sozialstaatsillusion und der Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital“ einen neuen, auf den Marxschen Analysekategorien basierenden funktionalistischen Ansatz der Sozialstaatstheorie. Entgegen der „Auffassung des Staates als einer gegenüber den Widersprüchen in der Gesellschaft mehr oder weniger selbständigen Institution“ (Müller/Neusüss 1971: 7), in welcher Müller und Neusüss die Wurzel aller revisionistischen Theorie und Praxis auszumachen glauben, bemühen sie sich deshalb um eine „Ableitung des `bestehenden Staates´ aus der `bestehenden Gesellschaft´“ (ebd.: 46) und ihren Widersprüchen (vgl. Marx 1962a: 28).

Der Ausgangspunkt der Staatsableitungsdebatte ist dabei, ähnlich wie auch schon bei Polanyi, die „Asozialität“ des Kapitalismus: „Das Kapital kann [...] von sich aus in den Aktionen der vielen Einzelkapitale die in ihm angelegte Gesellschaftlichkeit seiner Existenz nicht produzieren; er bedarf auf seiner Grundlage einer besonderen Einrichtung, die seinen Grenzen als Kapital nicht unterworfen ist“ (Altvater 1972: 7). Diese besondere, neben und außerhalb der Konkurrenz stehende Einrichtung ist der bürgerliche Staat, der als „Nicht-Kapitalist in einer kapitalistischen Gesellschaft“ (ebd.: 12) erst deren Existenz sichert. Elmar Altvater, als Redaktionsmitglied der Zeitschrift „Probleme des Klassenkampfs“ (heute: PROKLA) Anfang der 1970er Jahre in die u.a. dort ausgetragene Staatsableitungsdebatte involviert, bestimmt dabei vier Funktionen des Staates, welche ihm zufolge seitens der Einzelkapitale gar nicht ausgeübt werden können, nämlich: „(1) Herstellung allgemeiner materieller Produktionsbedingungen („Infrastruktur“); (2) Setzung und Sicherung der allgemeinen Rechtsverhältnisse [...]; (3) Regulierung des Konflikts Lohnarbeit und Kapital [...]; (4) Sicherung der Existenz und Expansion des nationalen Gesamtkapitals auf dem kapitalistischen Weltmarkt“ (ebd.: 9).

Die unter (3) genannte Funktion, welche aus dem Widerspruch des Kapitalverhältnisses resultiert, dass sich LohnarbeiterInnen und KapitalistInnen zwar auf der „Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft“ als formal gleiche und freie WarenbesitzerInnen begegnen, tatsächlich jedoch in einem Ausbeutungsverhältnis zueinander stehen, ist dabei Gegenstand der von Wolfgang Müller und Christel Neusüss formulierten Kritik der „Sozialstaatsillusion“, welche sie anhand einer Relektüre der von Marx im ersten Band des Kapitals rekonstruierten Durchsetzung des Normalarbeitstags entwickeln (vgl. Müller/Neusüss 1971: 46ff.). Wie Marx darlegt, resultiert der Kampf um die Länge des Arbeitstags aus der Unvereinbarkeit zweier Rechte, nämlich dem des Käufers (Kapitalist) und jenem des Verkäufers (Lohnarbeiter) der Ware Arbeitskraft gemäß den Gesetzen des Äquivalententauschs. Behauptet ersterer nämlich sein Recht, die erstandene Ware durch größtmögliche Verlängerung des Arbeitstags maximal nutzen zu können, so beharrt letzterer aufgrund der spezifischen Natur dieser Ware darauf, ihrem Konsum eine Grenze zu setzen und also den Arbeitstag auf eine gewisse Größe zu beschränken. Auf diesem Weg wird die Grenze des Arbeitstags zum Gegen­stand des Kampfs zwischen KapitalistInnen- und ArbeiterInnenklasse. Und da, wie Marx es formuliert, „[z]wischen gleichen Rechten [...] die Gewalt“ (Marx 1962: 249) entscheidet, tritt hier nun der Staat auf den Plan, um als eine von der bürgerlichen Gesellschaft getrennte, die Mittel physischer Gewaltsamkeit auf sich vereinigende Instanz rechtsförmig die allgemeinen Bedingungen des Warentauschs zu sichern. Die angesprochene Antinomie zweier Rechte ist Müller und Neusüss zufolge allerdings auch Konstitutionsbedingung des Doppelcharakters kapitalistischer Staaten: Einerseits bringen die aus ihr resultierenden Klassenkämpfe nämlich den Staat als „fürsorgende“ Instanz hervor, die im Interesse des Gesamtkapitals (sozial-)politisch interveniert. Andererseits konstituiert sich in diesen Kämpfen aber auch die ArbeiterInnenklasse als handelndes Subjekt, welches das Kapitalverhältnis und seinen Staat selbst aufzuheben droht und damit den Staat als „unterdrückende“ Instanz begründet. „Das Janusgesicht des Staatsapparates, `Fürsorge´ und Unterdrückung, ist notwendiger Ausdruck der Antinomie des kapitalistischen Verwertungsprozesses selbst, wie sie als Recht gegen Recht beim Tausch der Ware Arbeitskraft auftritt.“ (ebd.: 56)

Die eigentliche Ursache für die Ausbildung des „fürsorgenden Gesichts“ des kapitalistischen Staates und mithin die Wurzel aller Sozialpolitik vermuten Müller und Neusüss jedoch weniger in den hier angesprochenen Klassenkämpfen, denn vielmehr in der aus der Kurzsichtigkeit der einzelkapitalistischen Profitinteressen resultierenden Tendenz zur Selbstzerstörung des Kapitals. Auf der Basis der Marxschen Ausführungen zum Kampf um den Normalarbeitstags differenzieren Müller und Neusüss dabei zwischen zwei Bewegungen, die von den Widersprüchen der bürgerlichen Gesellschaft selbst, also quasi „naturgesetzlich“, in Gang gesetzt werden. Zum einen nämlich jene, vom erwähnten „Rechtsanspruch“ des Kapitals voran getriebene Bewegung nach maßloser Verlängerung des Arbeitstags, welche danach trachtet, selbst die physischen und sozialen „Maximalschranken“ des Arbeitstags (vgl. Marx 1962: 246) zu überrennen. Durch diese Tendenz zur Abtötung der Arbeitskraft droht der kapitalistische Verwertungsprozess jedoch seine eigenen Grundlagen zu untergraben und setzt so eine Gegenbewegung in Kraft, welche – obwohl „naturgesetzlich“ sich entfaltend – wesentlich vom Widerstand der ArbeiterInnen getragen wird und schließlich in einer gesetzlichen Beschränkung des Arbeitstags „von Staats wegen“ mündet. Laut Müller und Neusüss ist es also das Erfordernis der Sicherung der allgemeinen Reproduktionsbedingungen selbst, welches – obschon im konkreten Fall von den ArbeiterInnen als Klasse gegen den Widerstand des Kapitals durchgesetzt – „sowohl die Entstehung sozialpolitischer Funktionen des Staates wie [auch] die Ausbildung und Anerkennung von Gewerkschaften“ (Müller/Neusüss 1971: 53f.) begreifbar macht.

Die Kritik von Müller und Neusüss an der Sozialstaatillusion des Revisionismus zielt also darauf ab, in Abgrenzung zu dessen Autonomiepostulat die Entstehung des (Sozial-)Staates aus den Widersprüchen der bürgerlichen Gesellschaft selbst abzuleiten[8]. Die Entstehung und Entwicklung sozialpolitischer Funktionen wird von ihnen mithin aus den funktionalen Erfordernissen der kapitalistischen Produktionsweise erklärt, genauer aus dem Widerspruch zwischen dem langfristigen Eigeninteresse des (Gesamt-)Kapitals an einer Erhaltung von Arbeitskraft und dem kurzfristigen Interesse der Einzelkapitale an ihrer maximalen Ausbeutung, welches droht, den Kapitalismus auf lange Sicht seiner Grundlagen zu berauben. Hinzu tritt dabei die Annahme, dass es die Organisationen der ArbeiterInnenschaft sind, die in ihren Kämpfen und sozialpolitischen Forderungen an den Staat jenen „objektiven historischen Notwendigkeiten zum Durchbruch verhelfen“ (Altvater 1972: 16), die im Interesse des Kapitals ohnedies langfristig erforderlich gewesen wären.

Obwohl sich Müller und Neusüss dabei klar gegenüber Auffassungen distanzieren, welche den Staat als den mit einer „unerschöpfliche[n] Zaubertasche“ ausgestatteten „weise[n] Vertreter der Interessen des Kapitals“ (Müller/Neusüss 1971: 55) begreifen, hat das unterstellte harmonistische Verhältnis zwischen sozialpolitischen Funktionen und den Erfordernissen des kapitalistischen Verwertungsprozesses, zwischen sozialpolitischen Forderungen und dem langfristigen Interesse des Kapitals ihren theoretischen Konzepten den Vorwurf „hyperfunktionalistische[r] Konstruktionen“ (Offe/Lenhardt 2006: 172f.) eingebracht: „Was immer an Staatstätigkeit vorkommt, sobald es in die `abgeleiteten´ Kategorien eingezogen ist, erscheint es als funktional im Sinne des Ausgleichs eben jener ökonomischen Systemdefizienz, als deren Komplemente die staatstheoretischen Kategorien entwickelt wurden.“ (Vobruba 1983: 23) Dabei stellt sich die Frage, wer über das Wissen (bspw. die langfristigen Funktionserfordernisse der Kapitalverwertung betreffend) und die Fähigkeiten (bspw. zur Umsetzung dieser Erfordernisse durch geeignete sozialpolitische Maßnahmen) verfügt, um solche Koordinationsaufgaben vollbringen zu können (vgl. Offe/Lenhardt 2006: 172). Besonders deutlich tritt dieser Funktionalismus im Zusammenhang mit der theoretischen Konzeptualisierung der Rolle von politischem Handeln – im Sinne von Klassen- und anderen sozialen Kämpfen – zu Tage, scheint es im Kapitalismus doch fortwährend bloß jene „vom Interesse der Erhaltung der Kapitalverwertung selbst diktierte Notwendigkeit“ (Müller/Neusüss 1971: 49) zu sein, welche sich „unbewußt auf der Ebene der Interessenkämpfe“ (ebd.) durchsetzt.

Im Gegensatz zu Polanyi wird mit den kapitallogisch definierten Schranken, welche dem Produktions- und Reproduktionsprozess des Gesamtkapitals gesetzt sind, von den StaatsableiterInnen zwar jener Faktor benannt, der dafür verantwortlich zeichnet, dass „Interessen als allgemeine artikuliert werden können und ihre staatliche Verwaltung zu einer objektiven Notwendigkeit wird“ (Flatow/Huisken 1973: 133). Erneut jedoch exekutieren die Subjekte auch auf politischem Terrain mit ihren Forderungen und in ihren Kämpfen bloß ein aus der Kapitallogik abgeleitetes Bewegungsgesetz, welches sich hinter ihrem Rücken durchsetzt. Auf diesem Weg jedoch gerinnt menschliches Handeln, wie Georg Vobruba treffend formuliert, „zum Exekutor immer schon feststehender Funktionszusammenhänge“ (Vobruba 1983: 27). Gesellschaftsveränderung ist in Anbetracht eines solchen Strukturdeterminismus bei vielen StaatsableiterInnen deshalb auch nur noch als radikaler, aber in seinem Status mysteriös bleibender Bruch denkbar, im Zuge dessen sich eine Klasse an sich auf geheimnisvolle Weise ihres notwendig verkehrten Bewusstseins entledigt, um im Namen der Revolution die Metamorphose in eine Klasse für sich zu vollziehen (vgl. Flatow/Huisken 1973: 123ff.)[9].

Gegenüber solchen Leerstellen in der Argumentation funktionalistischer Sozialstaatstheorien haben stärker handlungstheoretisch orientierte Ansätze bei der Analyse der Genese und des Wandels von Sozialstaatlichkeit ihren Fokus von den strukturellen Erfordernissen auf die Forderungen spezifischer AkteurInnen verschoben. Zwei solche Ansätze, zum einen nämlich jener von Gøsta Esping-Andersen, zum anderen der von Frances Fox Piven und Richard A. Cloward, sollen im Folgenden kurz skizziert werden.

3. Die Geburt des Sozialstaats aus den Forderungen (sozialdemokratischer) ArbeiterInnenparteien

In kritischer Absetzung gegenüber funktionalistischen Ansätzen in der Sozialstaatsforschung – sowohl in ihren (neo-)marxistisch-strukturalistischen, als auch in ihren liberal-systemischen Ausprägungen – entwickelt Gøsta Esping-Andersen seinen eigenen, handlungstheoretisch orientierten Erklärungsansatz für die „Bewegungsgesetze“ sozialpolitischer Entwicklung. Den Ausgangspunkt für dessen Entwicklung bildet dabei Esping-Andersens Kritik der dominanten Fixierung der Sozialstaatsforschung auf Fragen des Ausgabenniveaus und die darin implizite Ignoranz gegenüber der „theoretical substance of welfare states“ (Esping-Andersen 1990: 19). Demgegenüber plädiert er – im Sinne einer „Kausaltheorie unter Einschluß der Akteursdimension“ – dafür, „von den Forderungen aus[zu]gehen, die von jenen Akteuren, die wir für die entscheidenden in der Geschichte wohlfahrtsstaatlicher Entwicklung halten, tatsächlich vertreten wurden“ (Esping-Andersen 1998: 35). Eine Sozialstaatsforschung, welche – wie Esping-Andersen – in der ArbeiterInnenklasse besagte Akteurin sieht[10], hat deshalb mit der Suche nach dem zu beginnen, was ArbeiterInnen wollen und wofür zu kämpfen sie mobilisiert werden können. Erst in einem zweiten Schritt hat sie den Beweis für die Verbindung zwischen den sozialpolitischen Maßnahmen und der Macht der ArbeiterInnenklasse zu erbringen (vgl. Esping-Andersen 1990: 108). Besagte, im vorliegenden Zusammenhang relevante Bedürfnisse und Forderungen meint Esping-Andersen dabei in erster Linie im Streben nach Dekommodifizierung zu erkennen, welche den einzelnen ArbeiterInnen eine bestimmte Unabhängigkeit gegenüber den Kräften des Marktes einräumt und so erst die Grundlage für kollektive Aktionen schafft[11]. Auf der Basis dieser Definition von Dekommodifizierung als dem zentralsten unter „denjenigen Prinzipien [...], für die historische Akteure sich bewußt eingesetzt und gekämpft haben“ (Esping-Andersen 1998: 52), macht sich Esping-Andersen auf die Suche nach den Faktoren, welche für die – je nach Sozialstaat in ihrem Niveau variierende – Durchsetzung dieses Prinzips verantwortlich zeichneten. Dabei plädiert er dafür, monokausale Erklärungsschemata aufzugeben und stattdessen auf unterschiedliche Faktoren und deren Wechselwirkung zu fokussieren. Als die drei bedeutsamsten Faktoren für die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates bestimmt er dabei den Grad der Mobilisierung von politischer Macht seitens der ArbeiterInnenklasse (Klassenmobilisierungsthese), die politischen Fraktionierungen und Bündnisse innerhalb der jeweiligen Klassenkonstellation (Klassenkoalitionsthese) sowie das „historische Erbe der Regimeinstitutionalisierung“ (ebd.: 47) (Pfadabhängigkeitsthese).

Letztgenannte, von Esping-Andersen theoretisch nicht weiter vertiefte, forschungspraktisch jedoch folgenschwere These (vgl. Borchert 1998) besagt, dass vergangene Entscheidungen, die das Einschlagen eines bestimmten Entwicklungspfads bedingten, prädeteminierend auf zukünftige Entscheidungen einwirken. Die für Esping-Andersens Regimekonzept zentrale, von ihm und Walter Korpi entwickelte Klassenmobilisierungsthese basiert dagegen auf der Annahme, dass die konkrete Gestalt von Verteilungsprozessen, sozialen Institutionen, Konflikten und Bewusstseinsständen in kapitalistisch verfassten Gesellschaften in erster Linie von der „distribution of power resources between the major collectivities or classes“ abhängt (vgl. Korpi 1983: 18ff.; Esping-Andersen 1990: 105ff.). Dabei streichen sie die Mobilisierbarkeit der ArbeiterInnenklasse an den Wahlurnen ebenso wie im Rahmen gewerkschaftlicher Organisationen als Machtressource hervor, vermittels derer die strukturelle Machtasymmetrie zwischen Lohnarbeit und Kapital (partiell) kompensiert werden kann. Dem Parlament kommt dabei insofern zentrale Bedeutung zu, als hier – in Abhängigkeit von der (Länge der) Beteiligung von ArbeiterInnenparteien an der parlamentarischen und Regierungsmacht – im Rahmen von „democratic class struggles“ (Korpi 1983) auch solche Interessen durchsetzbar sind, welche nicht im Einklang mit jenen des Kapitals stehen. Esping-Andersen zufolge fungiert dieses mithin als eine Art Transmissionsriemen der mobilisierten Macht der ArbeiterInnenklasse in sozialpolitische Maßnahmen. Allerdings ist der Sozialstaat der Klassenmobilisierungsthese zufolge nicht bloß Effekt der mobilisierten Macht der ArbeiterInnenbewegung, sondern seinerseits auch eine Machtressource, welche positiv auf die Stärke und Einheit besagter Bewegung zurück wirkt (vgl. Esping-Andersen 1998: 28ff.).

Wie Esping-Andersen kritisiert, fokussiert die Klassenmobilisierungsthese jedoch ausschließlich auf die Frage der Mobilisierung von Macht, ohne deren Strukturierung ins Auge zu fassen. Innerhalb des parlamentarischen Kontexts hängt die Strukturierung von Macht ihm zufolge dabei zentral von zwei Bedingungen ab, nämlich zum ersten von der politischen Koalitionsbildung und zum zweiten von der internen Fraktionierung der ArbeiterInnenbewegungen selbst (vgl. Esping-Andersen 1990: 110f.). Im Hinblick auf die gewerkschaftlichen Strukturen betrifft das bspw. das Verhältnis zwischen HandwerkerInnen- und Industriegewerkschaften oder die Spaltungen entlang von konfessionellen und politischen Linien (vgl. Esping-Andersen 1998: 47ff.), welche z.T. auch im politischen Formierungsprozess der ArbeiterInnenbewegung zu Parteien Niederschlag gefunden haben.

Im Zusammenhang mit der ersten Bedingung für die Machtstrukturierung hingegen ergänzt Esping-Andersen seine Klassenmobilisierungsthese um eine Klassenkoalitionsthese (vgl. ebd.: 30f.). Diese und mithin die „history of political class coalitions“ (Esping-Andersen 1990: 1) erklärt er in der Folge sogar zum „most decisive cause“ (ebd.) sozialstaatlicher Entwicklung. Betont wird dabei die Bedeutung von Allianzen zwischen der ArbeiterInnenbewegung und den Organisationen anderer Klassen(-fraktionen) für die Entwicklung des Sozialstaates, bis zum Zweiten Weltkrieg v.a. der Bauernschaft, danach in erster Linie des neuen Kleinbürgertums. Deren Bedeutung resultiert u.a. aus dem Umstand, dass ArbeiterInnenparteien kaum je über die parlamentarischen Mehrheiten verfügten, um auf sich gestellt entsprechende Sozialreformen durchzusetzen. Deshalb ist, wie Esping-Andersen resümierend feststellt, für die Herausbildung und Konsolidierung – aber auch für die Zukunftsperspektiven – eines spezifischen Sozialstaats „die Struktur von Klassenkoalitionen [...] sehr viel entscheidender, als es die Machtressourcen einer einzelnen Klasse sind“ (Esping-Andersen 1998: 49).

Zumal Esping-Andersen, anders als Korpi, im Zuge seiner empirischen Untersuchung den Fokus zu Ungunsten der sozialen umfassend auf die politischen Organisationen verschiebt (vgl. Esping-Andersen 1990: 111ff.), ist es bei ihm letztlich also die auf Seiten der ArbeiterInnenklasse mobilisierte Macht an den Wahlurnen sowie die von den darüber ins Amt beförderten Parteien verfolgte Bündnispolitik mit den politischen Organisationen anderer Klassen(-fraktionen) auf parlamentarischer Ebene, welche für die Genese und den Wandel – und mithin auch für das jeweils konkrete Gesicht – eines Sozialstaats verantwortlich zeichnet. Unterstellt wird dabei, wie gezeigt wurde, ein durch die Machtmobilisierung gewährleisteter und mehr oder weniger unvermittelter Umsetzungsprozess der „working-class interests and demands“ in konkrete „social-policy outcomes“ (vgl. Esping-Andersen 1990: 107), welcher in seiner Reinheit einzig durch die unterschiedlichen parlamentarischen Bündniskonstellationen verfälscht wird.

Sein Rekurs auf „working-class interests and demands“ aber verleiht dem Argumentationsgang Esping-Andersens den Charakter eines Zirkelschlusses: Die von ihm vorab „aus sozialdemokratischer Perspektive“ der ArbeiterInnenklasse unterstellten Interessen und Forderungen findet er am Ende in idealtypischer Form im sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaatsregime eingelöst[12]. Im Rahmen der empirischen Überprüfung seiner Hypothesen vermag er so zwar die relative Bedeutungslosigkeit demographischer und (im engeren Sinn) „ökonomischer“ Faktoren für Genese und Wandel des Sozialstaats heraus zu stellen (vgl. ebd.: 137f.), verspielt mit seinem eigentümlichen Fokus auf den politischen Faktor[13] zugleich jedoch das analytische Potenzial, welches dem Machtressourcenansatz im Hinblick auf eine Erfassung des aktuellen Stands der sozialen Kräfteverhältnisse (vgl. Gramsci 1991ff.: 1556ff.) innewohnt. Besonders deutlich tritt dies im Zusammenhang mit seiner reduktionistischen Konzeptualisierung der „ArbeiterInnenbewegung“ zutage, welche einzig in formellen Organisationen (Parteien, Verbände) zu bestehen und ihr Machtpotenzial nur über eine Regierungsbeteiligung zu entfalten scheint. Dadurch kann seine Klassenmobilisierungsthese, wie Esping-Andersen selbstkritisch einräumt, das scheinbare Paradox nicht erklären, dass der moderne Sozialstaat in der Regel nicht etwa von ArbeiterInnenparteien in dem von ihnen vertretenen Interesse eingerichtet wurde, sondern im Gegenteil in Opposition zu diesen[14]. Das führt ihn zu der – ebenso paradox anmutenden – Schlussfolgerung: „A confirmation of the working-class mobilization theory of welfare states cannot therefore begin with the beginning“ (Esping-Andersen 1990: 108), ohne dass diese ihn allerdings zur Relativierung ihres Erklärungspotenzials für spätere Phasen der Sozialstaatsentwicklung führen würde.

Letzten Endes bleibt so von Esping-Andersens Machtressourcenansatz nicht viel mehr als die Erkenntnis, dass Genese und Wandel des Sozialstaats von der Machtressourcenverteilung zwischen sozialen Gruppen und Klassen(-fraktionen) abhängig und mithin Ausdruck eines Kompromissgleichgewichts zwischen solchen kollektiven AkteurInnen ist. Wobei selbst dieses Kompromisshafte – in Walter Korpis Verweis auf die aus dem „historischen Kompromiss“ resultierenden „substantial negative consequences for wage-earner“ (Korpi 1983: 50) noch durchaus fassbar – bei Esping-Andersen harmonisch aufgelöst scheint. Für Gesellschaftsveränderung bleibt da zumindest im sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaatsregime wenig Platz – und scheinbar auch kein wirklicher Grund mehr. Andererseits freilich zeigt sich bei Esping-Andersen gerade aufgrund seiner affirmativen Distanzlosigkeit zum Gegenstand besonders deutlich, wie die subalternen Gruppen und Klassen(-fraktionen) vermittels der Staatsapparate „desorganisierend organisiert“ (vgl. Hirsch/Kannankulam 2006: 78) und in korporatistischer Form in den keynesianischen Wohlfahrtsstaat eingebaut werden, sodass dieser selbst „zum Ort [wird], wo die Bündnisse und ständigen institutionellen Kompromisse geschlossen werden“ (Buci-Glucksmann/Therborn 1982: 113).

4. Die Geburt des Sozialstaats aus den Forderungen sozialer Bewegungen

In Abgrenzung zu den in den 1960er und 70er Jahren in den USA dominanten administrativ-rechtlich, psychologistisch oder ökonomistisch orientierten Ansätzen in der Armuts- und Sozialstaatsforschung entwickeln die US-amerikanischen SozialwissenschafterInnen Frances Fox Piven und Richard A. Cloward einen eigenen, gesellschaftstheoretisch und historisch fundierten Ansatz für die Untersuchung der Genese und des Wandels von Sozialstaatlichkeit. Unter Rekurs auf „die Grunderkenntnis der dialektischen Analyse [...] – daß nämlich die Kämpfe der einfachen Menschen sowohl durch die institutionelle Ordnung geformt werden als auch gegen sie gerichtet sind“ (Piven/Cloward 1986: 7f.) – bemühen sie sich im Rahmen ihrer Untersuchung trotz einer Akzentuierung der Akteursdimension um die systematische Miteinbeziehung struktureller Faktoren. Aufgrund der Fürsorgezentriertheit des US-amerikanischen Wohlfahrtsstaates fokussieren sie dabei vor allem auf die entsprechenden, nach dem Fürsorgeprinzip organisierten Sozialsysteme – und mithin auch auf eine andere Akteursgruppe als etwa Gøsta Esping-Andersen, der zentral die nach dem Versicherungsprinzip organisierten (Renten-)Systeme im Blick hat. Damit gilt ihr Interesse einer Gruppe von Lohnabhängigen, der aufgrund von häufig inexistenten Organisations- und vor allem Vertretungsstrukturen und eines daraus abgeleiteten „Macht- und Einflussvakuums“ von den meisten (Sozial-)Staatstheorien zumindest implizit jegliche Konflikt- und Handlungsfähigkeit abgesprochen wird (vgl. ebd.: 25-60).

Piven und Cloward sehen die Sozialfürsorgesysteme dabei durch die doppelte Aufgabe der Regulation sowohl des ökonomischen als auch des politischen Verhaltens der ihnen Unterworfenen gekennzeichnet und meinen ihre Funktion mithin in der durch unterschiedliche Kriterien determinierten Verteilung von Arbeitskraft ausmachen zu können (vgl. Piven/Cloward 1977: 76). In Abhängigkeit von der Frage, ob besagte Kriterien primär durch politische oder ökonomische Notwendigkeiten bestimmt werden, kommt es Piven und Cloward zufolge dabei zur Expansion respektive Kontraktion der Sozialfürsorgesysteme. In diesem Zusammenhang gehen die beiden AutorInnen von einer „zyklische[n] Verlaufsform“ (ebd.: 102) aus, welche bedingt, dass „längere Restriktionsperioden [...] von Zeit zu Zeit durch kürzere Liberalisierungsperioden unterbrochen“ (ebd.) werden. Die Expansion der Fürsorgestrukturen, sowohl im Sinne der Einrichtung neuer Programme als auch im Sinne der Ausweitung bereits bestehender, zielt ihnen zufolge dabei auf die Eindämmung von Unruhen und mithin auf die Wiederherstellung politischer Ordnung, indem Erwerbslose durch sie absorbiert und darüber kontrolliert werden. Der gegenläufige Prozess einer Kontraktion der Fürsorgestrukturen hingegen zielt auf eine Intensivierung der Arbeitsnormen und mithin auf die Wiederherstellung der ökonomischen Ordnung, indem der Großteil der Erwerbslosen zu Existenzsicherungszwecken auf den Arbeitsmarkt verwiesen und die verbliebene Minderheit durch stigmatisierende Fürsorgepraxen als Disziplinierungselement in Dienst genommen wird (vgl. ebd.: 76)[15].

Die ursächlichen Faktoren für diese regulierenden Funktionen wie auch für ihre periodischen Schwankungen vermuten die AutorInnen dabei in spezifischen, „den kapitalistischen Wirtschaftsordnungen inhärente[n] Instabilitätsmomente[n]“ (ebd.: 76). Deren dynamischer Charakter setzt nämlich in periodisch wiederkehrenden Krisen- und Modernisierungsphasen die für gewöhnlich über Marktmechanismen gewährleistete, relativ stabile „Allokation“ der Arbeitskräfte außer Kraft und führt so zu einer massenhaften Freisetzung der Lohnabhängigen. In solchen Momenten kommt es Piven und Cloward zufolge zum Ausbau von Sozialfürsorgesystemen, vermittels welcher die Anpassung der ihnen Unterworfenen an die neuen Arbeits- ebenso wie an die ihnen entsprechenden Lebensweisen gelingen soll. Immanent ist besagten Systemen deshalb selbst in Zeiten ihrer Expansion ein staatlicherseits durchgesetzter Zwang zur Arbeit (vgl. ebd.: 80). Dabei sehen die AutorInnen allerdings keineswegs in der ökonomischen Erschütterung selbst, sowie in der durch sie hervorgerufenen „massenhaften Verelendung“ den ausschlaggebenden Faktor für die Initiierung einer Expansionsphase. Vielmehr ist diese ihnen zufolge „eine politische Reaktion auf politische Unruhen“ (ebd.: 259) und die bescheidenen Konzessionen des Staates an die Armen dienen v.a. dem Zweck, diese zu befrieden und die politische Ordnung wiederherzustellen. Bestätigung für diese These finden Piven und Cloward dabei sowohl in den sozialen Verwerfungen der Krisenperiode Ende der 1920er/Anfang der 1930er Jahre, als auch in jenen der Modernisierungsperiode in den 1950er Jahren: „Die Erfahrungen der fünfziger Jahre, wie die der frühen Depressionsjahre, belegen [...], daß keine einfache und direkte Beziehung zwischen Massenelend und Ausweitung der Sozialfürsorge besteht [...]. Rufen sie [die wirtschaftlichen Erschütterungen, Anm. MG] jedoch Unruhen hervor und produzieren damit eine politische Krise, ist die Regierung eher zu einer Verstärkung der öffentlichen Unterstützung bereit.“ (ebd.: 280) Sind die in erster Linie aus einer Schwächung der Strukturen sozialer Kontrolle resultierenden Unruhen schließlich eingedämmt und ist die politische Ordnung wiederhergestellt, wird laut Piven und Cloward die „Rückkehr zur restriktiven Phase im Zyklus staatlicher Hilfeleistung“ (ebd.: 404) eingeleitet. Von nun an erfüllen die Sozialfürsorgesysteme wieder ihre primäre, auf die Ökonomie im engeren Sinn gerichtete Funktion, „Arbeit, vor allem Niedriglohn-Arbeit, zu erzwingen“ (ebd.: 191), was in der Praxis über eine Abstimmung der Fürsorgeregelungen mit den lokalen Kapitalerfordernissen und ihrem Arbeitskräftebedarf  passiert[16].

Vermittlung findet der hier skizzierte Fürsorgezyklus Piven und Cloward zufolge durch den politisch-institutionellen Prozess, wobei sie für moderne Gesellschaften zwei zentrale Faktoren bestimmen: zum einen nämlich die Funktionserweiterung des zentralisierten Nationalstaats, zum anderen die auf Wahlen beruhenden Prinzipien repräsentativer Demokratie (vgl. ebd.: 104ff.). Die Bedeutung des ersten Faktors erklärt sich dabei aus dem Umstand, dass es aufgrund der beschränkten Reaktionsfähigkeit lokaler Institutionen in der Regel die Zentralregierung ist, welche die Expansion bzw. Kontraktion der Sozialfürsorgesysteme durch politische Interventionen bestimmt. Die Relevanz des zweiten Faktors ergibt sich daraus, dass Wahlen in repräsentativ-demokratisch organisierten Gesellschaften gleich im doppelten Sinn als Barometer der Unzufriedenheit fungieren. Einerseits äußert sich nämlich aufkommende Unruhe unter den Armen nicht bloß auf der Straße, sondern auch an den Wahlurnen, andererseits zeitigen manifeste Unruhen in der Regel gravierende Konsequenzen für das gesamtgesellschaftliche Wahlverhalten. Die Machterhaltung hängt mithin wesentlich von der Stabilität der gesellschaftlichen Institutionen ab, weshalb die Regierenden versuchen, diese durch Zugeständnisse an unzufriedene WählerInnengruppen zu garantieren. „Dieses Ziel – die politische `Reintegration´ unzufriedener Gruppen – veranlasst parlamentarische Führer die Sozialfürsorge immer dann auszudehnen, wenn wirtschaftliche Not politische Krisen hervortreibt.“ (ebd.: 107)

Die Entwicklung der Sozialfürsorgesysteme ist laut Piven und Cloward also, so lässt sich zusammenfassend festhalten, „von einander abwechselnden Perioden der Ausdehnung und Verringerung ihrer Leistungen gekennzeichnet, je nach der relativen Wichtigkeit ihrer beiden Hauptaufgaben: der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Durchsetzung von Arbeit“ (ebd.: 73). Trotz der Abhängigkeit von ökonomischen Faktoren, sind es ihnen zufolge dabei in erster Linie politische, welche den Wechsel von einer Periode zur anderen bedingen. Als zentral für die Expansion der Sozialfürsorgestrukturen bestimmen Piven und Cloward deshalb auch den „Aufstand der Armen“ (Piven/Cloward 1986), welcher vermittelt über den politisch-institutionellen Prozess materielle Zugeständnisse erzwingt. Trotz der bloß mittelbaren, wenn nicht gar gänzlich unterbundenen Präsenz der Subalternen innerhalb der Staatsapparate (vgl. Poulantzas 2002: 183f.), zeigt sich hier besonders deutlich, dass gerade deren sozialpolitische Funktionen „sowohl in ihrer Existenz als auch in ihren Rhythmen und Formen unmittelbar von der Intensität des Einsatzes des Volkes abhängen: entweder von den Auswirkungen der Kämpfe, oder aber vom Versuch von Seiten des Staates, diese Kämpfe vorzeitig zu entschärfen“ (ebd.: 215, HvMG).

Allerdings setzt die oberflächlich betrachtet rigide Unterscheidung politischer und ökonomischer Funktionszusammenhänge und der Schematismus, wie er in ihrer Konzeptualisierung der zyklischen Schwankungen zwischen Expansions- und Restriktionsphasen der Fürsorgesysteme angelegt scheint, auch das Modell von Piven und Cloward einem Funktionalismusverdacht aus. Dieser ist allerdings nur bedingt gerechtfertigt, betonen die AutorInnen doch das fortwährende, wenn auch unterschiedlich akzentuierte Ineinandergreifen der verschiedenen Funktionen und stellen klar, dass der Fürsorgezyklus keineswegs eine „bewegungsgesetzlich“ bedingte, ewige Wiederkehr des Gleichen impliziert, in deren Verlauf die gerade eben erkämpften Zugeständnisse nach dem Modell eines Nullsummenspiels in der darauf folgenden Phase wieder zurückgenommen werden. Vielmehr wohnt den in Expansionsphasen sich entfaltenden sozialen Dynamiken, wie Sanford F. Schram es formuliert, durchaus das politisch-strategische Potenzial inne, die „Politik des Überlebens“ mit einer „Politik der sozialen Veränderung“ zu verbinden: „Die Zugeständnisse, die den Mächtigen abgerungen werden, dienen als Grundlage für radikale Veränderungen und eine bessere Zukunft“ (Schram 2004: 531)[17].

Deutlich zutage tritt dieser Umstand im Zusammenhang mit der von Piven und Cloward entwickelten Krisenstrategie im Kontext der Strategiedebatten innerhalb der sozialen Bewegung der WohlfahrtsempfängerInnen der 1960er und 70er Jahre in den USA. Diese basierte auf dem Vorschlag, vor dem Hintergrund der so genannten „Ghetto-Unruhen“ in den Großstädten des Nordens eine Mobilisierungskampagne zu starten, um die Armen zur Beantragung von Fürsorgeleistungen zu bewegen. Das Ziel bestand darin, durch den massenhaften Ansturm von anspruchsberechtigten, aber bislang nicht unterstützten AntragstellerInnen das Fürsorgesystem und seine kommunalen Verwaltungen in eine institutionelle Krise zu stürzen, welche den Weg für die Einführung eines staatlich garantierten Grund- bzw. Mindesteinkommens ebnen sollte. Hier wird deutlich, dass die in Expansionsphasen errungenen Zugeständnisse vom politisch-strategischen Agieren der jeweiligen Bewegung abhängig sind bzw. davon, „ob sie die momentane Unruhe unter den Armen ausnutzte, um ein Maximum an Konzessionen als Gegenleistung für die Wiederherstellung der Ruhe zu erringen“ (Piven/Cloward 1986: 390).

Resümee

Wie die im Rahmen des vorliegenden Artikels vorgestellten strukturtheoretisch orientierten Ansätze aus der Sozialstaatsdebatte – ob auf der Basis einer empirischen Auseinandersetzung mit den historischen Erfordernissen industrialisierter Gesellschaften, oder auf jener einer theoretischen Beschäftigung mit den (kapital-)logischen Erfordernissen der kapitalistischen Produktionsweise – herausstreichen, ist der Kapitalismus, welcher im Zuge seiner Entwicklung die überkommenen sozialen Formen früherer Epochen der Geschichte gewaltsam zerstört, auf sich gestellt nicht bloß außerstande, jene Gesellschaftlichkeit zu entwickeln, welche doch erst Bedingung seiner Möglichkeit ist; er tendiert sogar fortwährend dazu, sich seiner eigenen Existenzgrundlagen zu berauben. Allerdings neigen solche Ansätze, wie gezeigt wurde, häufig dazu, aus den daraus sich ergebenden „funktionalen Erfordernissen“ gesellschaftlicher Reproduktion auf den „Funktionalismus“ der zu diesem Zweck etablierten Mechanismen zu schließen und aus der „(kapital-)gesetzlichen Bedingtheit“ historischer Entwicklungen einen vermeintlich „gesetzmäßigen Charakter“ des jeweils beschrittenen Entwicklungspfads abzuleiten. Die Art und Weise, wie zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten auf die angesprochenen Erfordernisse reagiert wird, lässt sich jedoch nicht einfach von einem wie auch immer gearteten „Bewegungsgesetz“ her bestimmen. Die jeweils beschrittenen Wege und die darüber durchgesetzten historisch-spezifischen Regulative müssen nämlich im Rahmen eines „sozialen Konstruktionsprozess[es]“ (Demirovic 2007: 186) von konkreten AkteurInnen in ihren Handlungen praktisch erzeugt und reproduziert werden; sie sind als Resultate von Klassen- und anderen sozialen Kämpfen auch unter kapitalistischen Bedingungen kontingent und in ihrem Ausgang grundsätzlich offen (vgl. Hirsch 1983)[18]. Damit wird jedoch zweifelhaft, ob die bspw. in der Staatsableitungsdebatte artikulierte Frage nach den durch die Gesetze der Kapitalverwertung gesetzten „Grenzen von Reformen“ (vgl. Gerstenberger 2007: 182) in dieser Abstraktheit überhaupt zu beantworten ist. Schließlich gibt es, wie Bob Jessop im Hinblick auf das Wechselspiel von sozialen Kämpfen und staatlichen Institutionen sowie auf dessen potentiell „dysfunktionalen“ Ausgang meint, „keinerlei Garantie dafür, dass die politischen Ergebnisse den Bedürfnissen des Kapitals dienen“ (Jessop 2007: 15)[19].

Stärker akteurszentrierte Ansätze haben deshalb auf spezifische AkteurInnen (Parteien, Verbände, soziale Bewegungen) und auf die von diesen artikulierten Forderungen fokussiert, um deren Bedeutung für die verschlungenen Pfade sozialstaatlicher Entwicklung zu ermessen. Dabei konnten sie zeigen, dass die Durchsetzung von Forderungen – also die Notwendigkeit einer politischen Bearbeitung von (Klassen-)Konflikten – sich nicht einfach funktionalistisch aus Erfordernissen – also aus der Unabdingbarkeit einer politischen Stabilisierung des Akkumulationsprozesses – ableiten lässt. Dies stellt den Staat vor die diffizile Aufgabe, „sowohl auf Forderungen wie auf Erfordernisse nach Maßgaben bestehender politischer Institutionen und der durch sie kanalisierten gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse“ (Offe/Lenhardt 2006: 173) zu reagieren. Deutlich zutage trat dieser Umstand im Kontext der Krisen der 1970er Jahre, als der keynesianische Wohlfahrtsstaat von beiden Seiten her – also sowohl durch Forderungen, die sich in den sozialen Kämpfen artikulierten, als auch durch Erfordernisse, die aus der Krise des Akkumulationsprozesses resultierten – in die Zange genommen wurde. Darüber geriet dieser schließlich selbst in die Krise, um sukzessive einer neuen Gestalt des Staates mit autoritär-etatistischen Zügen Platz zu machen, in der Nicos Poulantzas bereits Ende der 1970er Jahre „die Wahrheit“ zu erkennen meinte, „die sich aus den Trümmern des Mythos vom Wohlfahrts- und Wohlstandsstaat erhebt“ (Poulantzas 2002: 242). Vor dieser „Wahrheit“ kapitulierte, wie eingangs erwähnt, schließlich auch die Sozialdemokratie, welche mit ihrem Konzept eines rein redistributiven „Sozialismus“ erst die ideologische Grundlage des keynesianischen Wohlfahrtsstaates gelegt hatte. Dies stellte die Linke vor die bis heute evidente Herausforderung, angesichts eines neuen „Inegalitarismus der Krise“ (Buci-Glucksmann/Therborn 1982: 29) ihre Position zur alten Frage des Sozialstaats, „der alles andere, nur nicht egalitär war“ (ebd.), zu reformulieren. Doch zeigt sich der einleitend zitierte Widerspruch zwischen linken ApologetikerInnen und KritikerInnen des Sozialstaats – vielfach bis heute eingefasst durch die alte Dichotomisierung von „Sozialreform“ und „Revolution“, auf deren zweifelhaften Nutzen im Hinblick auf die politische Praxis bereits Rosa Luxemburg verwiesen hat – nach wie vor weitest gehend resistent gegenüber Versuchen seiner Überwindung. Für eine materialistisch-staatstheoretische Annäherung an den Umbau des Sozialstaats ebenso wie für eine darauf basierende Praxis radikaler Transformation erweist sich das Denken in solchen Gegensätzen mit Blick auf die für seinen Wandel verantwortlichen Faktoren aktuell jedoch mehr denn je als (Erkenntnis-)Hindernis.

E-Mail: markus.griesser@gmail.com

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[1] Niederschlag findet diese Position bereits im zweiten, von Bernstein verfassten Teil des Erfurter Programms, welches 1891 das Gothaer ablöst. Nach einem ersten, von Kautsky verfassten Teil, der als Beleg für das Umschwenken der SPD auf eine marxistische Linie gedeutet wurde, werden hier Forderungen nach konkreten Umverteilungsmaßnahmen wie der Einführung progressiver Einkommens-, Vermögens- und Erbschaftssteuern angeführt, welche in Art und Umfang über jene des Gothaer Programms weit hinaus gehen.

[2] Trotz teils fataler Konsequenzen wie der bis 1934/35 im Rahmen eines „allgemeinen Wettlauf[s] ins Verderben“ (Anderson 1979: 84) von der III. Internationale vertretenen Sozialfaschismustheorie, welche die Sozialdemokratie kurzerhand zur Hauptfeindin (v)erklärte und damit nicht unwesentlich zur Entwaffnung der ArbeiterInnenbewegung gegenüber dem Faschismus beitrug.

[3] In Abgrenzung dazu würde bspw. eine geschlechteranalytisch orientierte Annäherung an den Sozialstaat eine völlige andere Form der Perspektivierung erfordern (vgl. stv. Gerhard et al. 1988).

[4] Bei Arbeit, Boden und Geld handelt es sich insofern um fiktive Waren, als gemäß Polanyis empirischer Definition Waren Objekte sind, die eigens für den Verkauf auf Märkten erzeugt wurden, um auf diesen vermittels des Mechanismus von Angebot und Nachfrage einen Preis zu bilden. Auf eine allgemeine Auseinandersetzung mit den polit-ökonomischen Grundlagen von Polanyis Argumentation, bspw. im Hinblick auf seine Revision der Marxschen Werttheorie, muss an dieser Stelle verzichtet werden.

[5] Daneben erläutert Polanyi seine Theorie des gesellschaftlichen Selbstschutzes in Bezug auf den wichtigsten der drei Faktoren, nämlich die Arbeit (vgl. Polanyi 1978: 111), auch anhand des Beispiels der Einschränkung der Einhegungsbewegung von Seiten der Tudors und frühen Stuarts (vgl. ebd.: 60ff.) sowie anhand des Speenhamland Acts, welcher ihm zufolge die Entstehung eines selbstregulierenden Marktes für den Faktor Arbeitskraft temporär verhinderte, wodurch es gelang, das Tempo der hier sich abzeichnenden (ökonomischen) Veränderung zu drosseln und diese darüber gesellschaftlich tragbar zu gestalten (ebd.: 113ff.).

[6] Im Kontext der Debatten um die Widersprüche neoliberaler Globalisierung erfährt das hier skizzierte Konzept einer Doppelbewegung der kapitalistischen Entwicklung seit den 1990er Jahre wieder verstärkt Rezeption in politökonomischen Theorien  (vgl. kritisch Röttger 1997: 33ff.). Im deutschsprachigen Raum an prominentester Stelle ist dabei wohl Elmar Altvaters und Birgit Mahnkopfs an Polanyi orientierte Analyse der „Grenzen der Globalisierung“ zu nennen. Diese reinterpretiert das Disembedding als „eine dem kapitalistischen System eigene Tendenz“ (Altvater/Mahnkopf 2007: 91), welche einen Prozess der Herauslösung des Marktes aus der Gesellschaft in Gang setzt und mit der Globalisierung als der „`great transformation´ des späten 20. Jahrhunderts“ (ebd.: 31) in das neue Stadium eines Disembedding Global eintritt. Gleich der ihr vorangegangenen sehen Altvater und Mahnkopf jedoch auch diese Phase der kapitalistischen Entwicklung durch eine Doppelbewegung gekennzeichnet, und zwar gemäß der „Interpretationsfigur von Karl Polanyi [...]: Entbettung und Entgrenzung setzen zerstörerische Kräfte frei, die durch soziale Gegenbewegungen gestoppt werden müssen“ (ebd.: 478).

[7] Neuere, auf Polanyis Konzept der Doppelbewegung referierende Arbeiten versuchen den hier angelegten Strukturdeterminismus durch eine stärkere Akzentuierung der Akteursebene zu korrigieren. So sieht etwa Elmar Altvater im Widerstreit zwischen „dis-“ und „reembedding“-Bewegungen den Gegenstand einer „soziale[n] Auseinandersetzung um soziale und ökonomische Rechte, die immer auch gegen den Staat, um den Staat und im Staat geführt wird“ (Altvater 2006: 167). In dieser Perspektive freilich ließe sich das in einer konkreten Situation als „gesellschaftlich Allgemeines“ Anerkannte und mithin bspw. sozialpolitisch zu Bewerkstelligende nicht einfach funktionalistisch aus den Reproduktionserfordernissen dieser Gesellschaft ableiten, sondern wäre als Objekt sozialer Kämpfe in seiner Art und seinem Umfang kontingent. Zur Erklärung eines solchen „hegemonialen Ringens“ um das im Staat repräsentierte „politisch Allgemeine“ hat etwa Michael Burawoy eine an Gramsci orientierte Revision der Theorie Karl Polanyis vorgeschlagen (vgl. Burawoy 2003: 227ff.). 

[8] In der Tradition von Marx (1962a: 18ff.) und Luxemburg (1969: 69ff.) melden Müller und Neusüss darüber hinaus gegen das ihres Erachtens den revisionistischen Theorien gemeine Vertrauen in die „Möglichkeit zu umfassender und bewusster Regulierung ökonomischer, gesellschaftlicher und politischer Prozesse“ (Müller/Neusüss 1971: 12) – im Falle des Sozialstaates die „Sphäre der `Verteilung des Sozialprodukts´“ (ebd.) betreffend – Zweifel an. Der daraus resultierende redistributive Optimismus basiert ihnen zufolge nämlich auf der irrigen Annahme einer Entkoppelung besagter Sphäre von jener der Produktion, in der das Sozialprodukt mithin nach politischen Maßstäben zwischen Lohnarbeit und Kapital verteilt werden könne. Dies ignoriert laut Müller und Neusüss jedoch den folgenreichen Umstand, dass die Einkommensverteilung „lediglich ein Moment im Kapital­kreislauf“ (ebd.: 16) darstellt, weshalb der vermeintlich voluntaristisch zu verteilende „Sozialkuchen“ unter dem doppelten Zwang von Kapitalerhaltung und -akkumulation von vornherein aufgezehrt sei: „Der sogenannte Sozialstaat hat demnach gar nichts `zur Verfügung´, was er zwischen den Klassen umverteilen könnte. Seine Möglichkeiten und Maßnahmen bewegen sich [...] in der Sphäre der Umverteilung innerhalb der Klassen.“ (ebd.: 45)

[9] Um Missverständnissen vorzubeugen, sei hinzugefügt, dass die Staatsableitungsdebatte tatsächlich eine Debatte war, weshalb hier durchaus konträre Positionen vertreten wurden. Mit der artikulierten Kritik an der Ableitung sozialpolitischer Funktionen ist darüber hinaus auch noch nichts über die (Un-)Möglichkeit einer Ableitung der Form des bürgerlichen Staates ausgesagt. Zur aktuellen staatstheoretischen Debatte um die Frage der Integrierbarkeit von form- mit stärker klassenanalytisch orientierten Ansätzen, welche auch den theoretischen Hintergrund des vorliegenden Artikels bilden, vgl. stv. Hirsch/Kannankulam 2006; Demirovic 2007: 211ff.; 

[10] Dass Esping-Andersen mittlerweile die „arbeitenden“ zugunsten der „krabbelnden“ Klassen ad acta gelegt und es mit dem neuen Leitbild des Sozialinvestitionsstaates in New Labour-Kreisen zum „Star der europäischen Politikberatung“ gebracht hat, soll zumindest erwähnt werden (vgl. Lessenich 2004).

[11] Ganz Sozialdemokrat vermag Esping-Andersen die „wahren Bedürfnisse“ der ArbeiterInnen freilich besser zu deuten als diese selbst und erklärt deshalb all jene, welche nicht nach einem „modicum of `de-commodification´“ (Esping-Andersen 1990: 109) streben, kurzerhand für irrational. Warum ArbeiterInnen aber beispielsweise anstelle der von ihm postulierten „greater immunity from forces beyond their control“ (ebd.: 108) nicht gleich deren Aufhebung und mithin die (Wieder-)Aneignung der Kontrollbefugnisse über jene Kräfte anstreben sollten, lässt er allerdings unbeantwortet.

[12] Und auch die „vermittelnden Faktoren“ (Klassenmobilisierungs- und Klassenkoalitionsthese) sind empirisch u.a. aus der Geschichte des Paradefalls sozialdemokratischer Wohlfahrtsstaatlichkeit, nämlich Schwedens, abgeleitet, wo die Sozialdemokratie alleine zwischen 1932 und 1976 44 Jahre lang durchgängig an der Regierungsmacht beteiligt war und ihre parlamentarischen Mehrheiten durch Bündnisse und Koalitionen u.a. mit der Bauernliga sicherte (vgl. Buci-Glucksmann/Therborn 1982: 151ff.; Korpi 1983: 45ff.).

[13] Dieser zeichnet sich u.a. dadurch aus, dass mit der „Dekommodifizierung“ als dem vorab gesetzten Hauptkriterium von Sozialstaatlichkeit die ArbeiterInnenklasse als im Grunde einzige Akteurin sozialstaatlicher Entwicklung perspektiviert wird, während andere Klassen(-fraktionen) erst im Nachhinein hinzutreten, um behindernd oder befördernd auf die Realisierung ihrer Interessen einzuwirken; dass in Bezug auf diese Interessenrealisierung der Staat, bei Esping-Andersen weitest gehend reduziert auf das Parlament als repräsentativ-demokratischer Entscheidungsinstanz, als (klassen-)neutrales Instrument zur homologen Umsetzung von Forderungen jedweder Art und darüber hinaus als eine Art „black box“ erscheint, wo die „vorne“ eingespeisten „demands“ auf geheimnisvolle Weise in die „hinten“ ausgesonderten „social policy outcomes“ übersetzt werden; dass schließlich die Partei als geschichtslose Konstante gesetzt wird, welche über sozialstrukturelle Wandlungs-, ideologische Transformations- usw. Prozesse hinweg in ungebrochener Form Klasseninteressen repräsentiert; usw.

[14] Neuere Forschungen haben auf der Basis eines modifizierten Machtressourcenansatzes freilich zeigen können, dass die ArbeiterInnenklassenmobilisierung – in Verbindung mit anderen, politisch-institutionellen Faktoren – bereits in der sozialstaatlichen Konsolidierungsphase von ausschlaggebender Bedeutung war: „[A]ll routes to program consolidation are manifestations of working-class pressures for social amelioration even prior to extensive entry of social democratic parties into government during the 1930s.“ (Hicks et al. 1995: 344)

[15] Deshalb sind in solchen Kontraktionsphasen, wie Piven und Cloward ausführen, „[d]ie wichtigste Zielgruppe der erniedrigenden Rituale öffentlicher Wohlfahrt [...] nicht die Unterstützungsempfänger selbst [...], sondern die arbeitsfähigen Armen, die erwerbstätig bleiben. Sie sind es, an die sich das Schauspiel vom erniedrigten Pauper richtet.“ (ebd.: 237)

[16] Piven und Cloward führen das anhand der drei, ursprünglich im Rahmen des englischen Armenrechts ausgearbeiteten Prinzipien der „lokalen Verantwortlichkeit“, des „weniger Erstrebenswerten“ sowie der „Niederlassungsregelungen“ aus, welche in unterschiedlicher Form bis heute bestimmend für die Sozialfürsorgepraxis geblieben sind. So trug etwa das Prinzip des „less eligibility“, wonach die Fürsorgesätze stets unterhalb des lokal üblichen Lohniveaus anzusetzen sind, erheblich zur Sicherstellung der „Verfügbarkeit der als Arbeitskräfte benötigten Armen ungeachtet ihres Alters oder Geschlechts zu den Bedingungen der Arbeitgeber“ (ebd.: 209) bei – wie Piven und Cloward anhand der (Familien-)Sozialhilfepraxis der 1940er und 50er Jahren in den Südstaaten der USA zeigen (vgl. ebd.: 198ff.). Zusätzlich abgesichert wird dieser Zwang zur Niedriglohnarbeit ihnen zufolge durch die (Spielräume der) Administration, insofern die von dieser entwickelte „Fürsorgepraxis immer ein Stück restriktiver [ist] als das Gesetz“ (ebd.: 213).

[17] Die Ausführungen von Piven und Cloward zu dieser Frage sind freilich widersprüchlich. So erinnert bspw. ihr Resümee zu den „Restbeständen der Reform“ in Kontraktionsphasen, dass nämlich „Proteste, wenn überhaupt, nur das erreichen, was ohnehin auf der historischen Tagesordnung steht“ (Piven/Cloward 1986: 60), an die hyperfunktionalistischen Konzeptionen der StaatsableiterInnen.

[18] Auf diesen Umstand wurde vor allem im Kontext der französischen Regulationstheorie nachdrücklich verwiesen. So bestimmt etwa Alain Lipietz den stets ungewissen Prozess der Ausbildung solcher regulativen Geflechte aus Institutionen, Netzen und Normen, welche die Reproduktionbedingungen der Kapitalakkumulation über einen längeren Zeitraum hinweg garantieren, als „geschichtliche Fundsache“ (Lipietz 1985: 114).

[19] Was freilich auch in der Staatsableitungsdebatte, wie Elmar Altvaters Analyse der Stagflation der 1970er Jahre als eine durch keynesianisches Krisenmanagement staatlicherseits produzierte Erscheinungsform der Krise exemplarisch zeigt (vgl. Altvater 1972: 30ff.), keineswegs von allen Debattierenden a priori unterstellt wurde.

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ISSN 1814-3164 
Key title: Grundrisse (Wien, Online)

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