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Jens Kastner & Elisabeth Tuider: Zentrale RandBewegungen.
Zur Konstitution von Gewalt an der Schnittstelle von Geschlecht, Sexualität, Ethnizität.

 

Si Adelita quisiera ser mi esposa,
Si Adelita fuera mi mujer,
Le comparía un vestido de seda
Y la llevaría a pasear el cuartel.
...

Si Adelita se fuera con otro

La seguiría su huella sin cesar,

Si por mar en un buque de guerra.

Si por tierra en un trén militar

...

Si acaso yo muero en campana

Y mi cadaver en la tierra va a quedar,

Adelita, por Dios te lo ruego

Que por muerte tu vayas a llorar.

 

Wenn Adelita meine Ehefrau sein möchte,
Wenn Adelita meine Frau wäre,
dann würde ich ihr ein Seidenkleid kaufen
und mit ihr im Quartier ausgehen.

Wenn Adelita mit einem anderen mitgeht,

dann verfolge ich sie zu Land und zu Wasser.
Auf dem Meer, in einem Kriegsschiff;
und auf dem Land in einem Militärzug.

Wenn ich trotzdem beim Feldzug sterben
und mein Körper im Boden bleiben sollte,
Dann, Adelita, bitte ich Dich um Gott,
dass Du um meinen Tod weinst.

Als eine der legendärsten soldaderas[1] der mexikanischen Revolution wird „La Adelita“[2] in den Volksliedern und Balladen, den corridos, bis heute besungen und in der Literatur verehrt (vgl. z. B. Mariano Azuela González (1942). Sie steht für den Mut, die Kraft und die Kampfbereitschaft der mexikanischen Frauen und gilt auch Teilen der feministischen Bewegung als Symbol. Denn im Zuge der Mexikanischen Revolution (1910-1920) haben Frauen gegen die traditionellen Regeln der weiblichen Zurückgezogenheit verstoßen: als soldaderas waren sie – durchaus in der Erfüllung ihrer familiären Rolle und weniger aus emanzipatorischen Gründen – an den Kämpfen und in der Revolution präsent. Als Kämpferinnen, Begleiterinnen und Geliebte der mexikanischen Revolutionshelden fanden die soldaderas ruhmvollen Eingang in die nationale mexikanische Mythologie. Die soldadera wurde zu einem Teil des kollektiven Gedächtnisses und der nationalen Identität (vgl. Potthast 2003: 276f.), wobei aber v. a. ihre mütterliche, unterwürfige Seite hervorgehoben wird. Denn die mexikanische Revolution wird im Grunde als Tat „wahrer, ehrhafter Männer“ glorifiziert (vgl. Lang 2002a: 27) – und damit auch die mangelnde praktische Umsetzung politischer Ziele z.B. nach sozialer Gerechtigkeit gekonnt vertuscht. Konstitutiver Bestandteil von Männlichkeit war bereits im postrevolutionären Diskurs die Gewalt. In der Konsolidierung der mexikanischen Nation spielte Gewalt eine entscheidende Rolle (vgl. Lang 2002a: 21-26) und schon in der Nationenbildung war Gewalt mit Männlichkeit (maskulinidad) / Mannhaftigkeit (hombría) strukturell verwoben. Der zugrunde liegende Herrschaftscode der Dominanz basierte auf der Beherrschung der Frau und der Bereitschaft, Gewalt anzuwenden. Männlichkeit, Gewalt und politische Macht wurden aber auch – auf der symbolischen Ebene – zu nationalen Eigenschaften erhoben, sie sind Bestandteil der nationalen Identität (vgl. Monsiváis 1986), d. h. als das neue Nationalgefühl der Mexicanidad mit dem macho mexicano verwoben wurde, wurde Alltagsgewalt im Geschlechterverhältnis positiv konnotiert. Gewalt und „das Idiom der Mannhaftigkeit“ institutionalisierten sich im Staat und spielen dort bis heute eine wichtige Rolle: So blieb die männerbündische caudillaje[3] das grundlegende Muster politischer Interaktionen im postrevolutionären Mexiko und auch in der Staatspartei der PRI (Partido Revolucionario Institucional).

Parallel zur  Bildung der mexikanischen Nation kam es zu (neuen) Ausschließungen, unter anderen der Indigenas und der Frauen. Letztere hatten qua Geschlecht in dieser männlich sexuierten nationalen Identität keinen Platz. Frauen wurden vielmehr als Trägerinnen und Bewahrerinnen der Tradition konzipiert, ihr Platz war der in der Familie. Die „mexikanische Frau“, selbstlos, duldsam und gehorsam, galt – ebenso wie die „mexikanische Familie“ – als nationales Emblem. „Gewalt“ wurde erst mit den erstarkenden feministischen und Frauenbewegungen Mexikos in den letzten 25 Jahren thematisiert. Gewalt war aber nicht nur das zentrale feministische Thema, sondern auch ein wesentliches Element des mexikanischen Modernisierungsprozess. Aber, wer spricht über Gewalt und wer spricht über welche Aspekte von Gewalt? Wie wird Geschlecht, Ethnizität und Sexualität im Gewalt bzw. Anti-Gewaltdiskurs konzipiert bzw. berücksichtigt oder auch nicht? Und welche Auslassungen beinhaltet dahingehend auch der feministische Diskurs?

Wir werden in unserem Beitrag zeigen, dass gerade durch die Thematisierung von direkter, physischer Gewalt sowohl im Rahmen der feministischen aber auch der zapatistischen Bewegungen in Mexiko ein bis dahin unthematisiertes Terrain besetzt wurde. Andererseits wurden damit aber auch neue Auslassungen produziert. Denn die spezifischen Gewalt-Erfahrungen von lesbischen und indigenen Frauen spielen im feministischen Mainstream-Diskurs keine Rolle, indigene und lesbische Frauen sind darin nicht präsent.

Ausgehend von der These, dass soziale Bewegungen an den gesellschaftlichen Rändern auf zentrale soziale Mechanismen aufmerksam machen, möchten wir einerseits den Begriff der symbolischen Gewalt (nach Pierre Bourdieu) wieder stark machen. Symbolische Gewalt äußert sich nicht nur in Mexiko für Frauen u. a. als „Unsicherheitsregime“ (Birgit Sauer 2005: 203). Andererseits werden wir Gewalt nicht nur an der Kategorie Geschlecht bzw. „Frau“ festmachen, sondern Geschlecht und Gewalt am Kreuzungspunkt mit Ethnizität und Sexualität reflektieren. Symbolische Gewalt wird auch am Widerstand lesbischer Frauen und der Frauen in der zapatistischen Bewegung sichtbar.

Zugrunde liegt unseren Überlegungen eine konstruktivistische Lesart von Gewalt, in der wir Gewalt als die Summe derjenigen Praktiken definieren, die in einer Gesellschaft in einer bestimmten historischen Situation als – körperlich und psychisch – verletzend und (meist) illegitim gelten und ökonomische Ausbeutung, kulturelle Exklusion sowie politische und soziale Marginalisierung zur Folge haben, fördern und/oder reproduzieren. Sexualisierte Gewalt weist dabei auf die Geschlechterkomponente der Opfer und Täter, d. h. auf die strukturell eingelassenen vergeschlechtlichten und sexualisierten Machtverhältnisse, hin.

1. Feminismus in Mexiko

Vor dem Hintergrund einer jahrzehntelangen Alleinherrschaft der PRI und ihrem System eines ausgeprägten Klientelismus haben Frauen seit den 1970er Jahren versucht, sich gegen den allmächtigen Vater Staat abzusetzen (vgl. Küppers 2000:24). Die UN-Weltfrauenkonferenz, die 1975 in Mexiko stattfand, lieferte wichtige Impulse zur Aktivierung v. a. der städtischen Frauen und der akademischen Diskurse. Parallel dazu organisierten sich die Frauen der Basis und der ArbeiterInnenklasse im gemeinsamen, marxistisch inspirierten Kampf mit Männern gegen die imperialistische Ausbeutung.

Im Zuge des so genannten Modernisierungsprozesses fanden das Thema und die Infragestellung von „Gewalt gegen Frauen“ auch deutlichen Niederschlag in der Politik der Regierung. Das offizielle Aufgreifen feministischer Belange gelang im Kontext der bewegungsdynamischen Vorbereitung zur Abwahl der 70 Jahre regierenden PRI. Bereits 1988 kam es unter der Präsidentschaft von Salinas de Gortari  zur Umsetzung frauenspezifischer Anliegen, hauptsächlich im Bereich der familiären Gewalt.[4]

Lang resümiert, dass „(d)er Reformeifer der Regierung unter de Gortari im Bereich der Gewalt gegen Frauen (…) so ausgeprägt (war), dass er den Feministinnen vorübergehend die Initiative aus der Hand nahm und diese zum großen Teil auf die von oben vorgegebenen Maßnahmen nur noch reagieren konnten“ (Lang 2002b: 15). Aber nicht nur in die staatliche Argumentation haben die feministischen Forderungen Eingang gefunden. Umgekehrt haben auch mexikanische Feministinnen Ende der 1990er das Vokabular des neoliberalen Diskurses aufgegriffen und strategisch genutzt. Die Interessen des Staates und des Marktes wurden zitiert, um Gewalt gegen Frauen als Hindernis für die ökonomische Entwicklung und die Demokratie Mexikos auszulegen.[5] Denn eine demokratische Gesellschaft könne nicht auf autoritären und despotischen Familienstrukturen aufbauen. In diesem Perspektivenwechsel[6] waren Frauen nicht mehr als Opfer sondern als Staatsbürgerinnen konzipiert. Als solche sollten sie aktiv die Modernisierung Mexikos und damit seine Beteiligung in der internationalen Politik und Wirtschaft mit gestalten. (Vgl. Tuider 2004a)

Während feministische Aktivitäten in den 1970er Jahren marginalisiert und minimal organisiert waren, können sie heute auf Institutionalisierung und Professionalisierung blicken. Dabei wurden aber die feministischen Bewegungen aufgesogen, ohne tiefer gehende Veränderungen nach sich zu ziehen. Stattdessen kann mit Küppers (2000: 31) von einem „feministischen Assistentialimus“ gesprochen werden. Feminismus in Mexiko stellt heute eher einen Beruf im Rahmen einer NGO denn eine soziale Protestbewegung dar. Lang (2002b: 15) spricht von einer „kleine[n], heterogene[n] frauenpolitische[n] Elite“, die dabei an Einfluss gewann, der aber der Bezug zur politischen Basis verloren ging. Mit der Implementierung der Anti-Gewalt-Programme und -Gesetze wurden auch die unterschiedlichen Lebenslagen von Frauen nivelliert und vor allem – wie im folgenden Abschnitt dargelegt wird – gewisse Kämpfe marginalisiert.

2. Auslassung I: Indigene Frauen und zapatistische Kämpfe

Mit der Professionalisierung ging ein Verlust der radikalen Forderungen und der marxistischen Grundsätze einher. Während „Frauen“ unterschiedlicher sozialer Gruppen vormals als gemeinsame Kämpferinnen agierten, werden heute v. a. Unterschichtsfrauen und indigene Frauen wegen mangelnder Qualifikation aus der Mitarbeit in den NGOs ausgeschlossen. Von Verbündeten mutierten sie zu Empfängerinnen von Hilfsprogrammen. Nun sind sie die Klientinnen der feministischen Programme. Damit verfestigte sich auch die Differenz unter Frauen entlang der Achsen Klasse und Ethnizität, aber auch entlang von Sexualität. Die mexikanische Soziologin Margara Millán stellt in einem Interview das Verhältnis von Feminismus und indigenen Frauen folgendermaßen dar:

„In Mexiko gibt es eine sehr stark ausgebildete feministische urbane Tradition, die die Rechte der Frauen im Terminus der Frauenemanzipation vorgetragen hat. Dieser sehr homogene Feminismus hat ein starkes Geschlechter-Bewusstsein beinhaltet und in die patriarchalen Geschlechterverhältnisse interveniert. Es war und ist aber schwierig für ihn, kulturelle Differenzen oder die Differenz aufgrund von Klasse zu beachten. So kam es zwar zu Arbeiten über indigene Frauen, aber kaum zu Versuchen, den Dialog mit indigenen Frauen zu etablieren.

In zweierlei Hinsicht entpuppt sich der mexikanische Feminismus dabei als ethnozentrisch: Zum einen gibt es eine feministische Richtung, die die indigenen Frauen als Unterentwickelte ansieht und indigene Frauen an den Ort der Armut und der Marginalisierung situiert. Zum anderen gibt es einen Diskurs, der das feministische Bewusstsein der indigenen Frauen „erwecken“ und sie aus ihrer Situation befreien will. Denn sie müssen lernen, wie Schuhe getragen werden und dass sie sich waschen müssen.“ (Millán in Tuider 2004b: 516)

Das versteckte Kulturkonzept des mexikanischen Feminismus wird eben so wenig thematisiert und problematisiert wie die Querverbindungen zwischen Geschlecht, „Rasse“, Kultur und Klasse. Stattdessen wird die Gleichheit von Frauen und infolgedessen der für alle gültige Weg zur Emanzipation betont. Inhalt in Bewegung und Theorie ist vorrangig das asymmetrische, gewalthältige Geschlechterverhältnis, dessen Verschränkung mit der ethnischen Zugehörigkeit und/oder sexuellen Orientierung kaum thematisiert wird. Zu kritisieren sind dabei sowohl die Auslassungen der spezifischen Lebenssituationen indigener und lesbischer Frauen und deren spezifischen Gewalterfahrungen, als auch die Marginalisierung ihrer Kämpfe – gesamtgesellschaftlich und im Rahmen des Feminismus. Aus dem Interview mit Margara Millán (vgl. Tuider 2004b) dazu:

„Ein wichtiges Moment in der Auseinandersetzung zwischen Feminismus und Zapatismus war, als einige wichtige Teile des mexikanischen Feminismus sich generell gegen Krieg und damit gegen die zapatistische Bewegung als bewaffnete Bewegung ausgesprochen haben. Die militärischen Strukturen wurden als patriarchal und phallozentrisch und damit konträr zum Feminismus stehende angeklagt.

Aber für die zapatistischen Frauen, die bereit waren zu sterben, weil sie ihre Art zu leben als unwürdig empfanden, war der Vorwurf einer phallozentrischen Logik beizutreten, sehr schwierig. Dieser mexikanische „Hauptstadtfeminismus“, der sein Nein zum Krieg, sein Nein zum Militär verkündete, ließ den indigenen Frauen, die stolz auf ihr Amt und ihre Beteiligung im Kampf waren, keinen Raum, sich in diesem pazifistischen Feminismus wieder zu finden.

Auch nachdem sich der Zapatismus von einer Waffen- zu einer „Diskursguerilla“ verändert hatte, blieben die militärischen Strukturen erhalten und das war und blieb der kritische Punkt. Zusätzliches ungelöstes Problem ist dabei, dass aus dem Feminismus zwar das „Nein zum Krieg und zur bewaffneten Option des Zapatismus“ kam, aber kein „Nein zum Krieg des mexikanischen Staates gegen den Zapatismus“.“ (Millán in Tuider 2004b: 519)

Die  zapatistischen Frauen veranschaulichen eine Form des Feminismus, der einer spezifischen Problematik entspringt. Durch die Artikulation und das Auftreten der zapatistischen Frauen musste der Feminismus als weitläufiges, plurales Projekt, im Hinblick auf Ein- und Ausschlüsse neu konzipiert werden. Bis heute bezeichnen sich die indigenen Frauen aber nicht als Feministinnen sondern als Zapatistas, weil sie sich mit den feministischen Frauen, die einer anderen sozialen Klasse, einer anderen ökonomischen und kulturellen Situation angehören, nicht identifizieren.

3. Widerstand als Indikator für zentrale soziale Mechanismen

Als die Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) mit Beginn ihres Aufstands am 1.1.1994 die chiapanekische Provinzmetropole San Cristobal de las Casas einnahm, wurde die Guerilla-Aktion von Ana Maria, einer indigenen Frau, angeführt. Auffallend an der zapatistischen Bewegung war die von Beginn an hohe Beteiligung junger, indigener Frauen in den militärischen Reihen, den Märschen, in den Unterstützungsbasen und den Kooperativen.[7] Aber bereits im März 1993, d. h. ein knappes Jahr vor dem ersten öffentlichen Erscheinen der Guerilla, wurde in den mit den RebellInnen sympathisierenden Gemeinden das „Revolutionäre Frauengesetz“ erlassen. Darin werden „mit aller Schärfe Fragen von Modernität, Tradition und Demokratie“ (Millán 2000: 208) problematisiert.[8] Ein Jahrzehnt der Selbstorganisation indigener Frauen gipfelte in einem Programm, das als „Aufstand vor dem Aufstand“ (Topitas 1994) und als „der vielleicht größte Erfolg der EZLN“ (Rovira 1997) bezeichnet worden ist. Denn die Revolutionären Frauengesetze haben weitreichende soziale Prozesse ausgelöst und langsam einsetzende Veränderungen bewirkt.

„Durch die sehr direkten Forderungen, die einfach wirken mögen, hinterfragen die zapatistischen indigenen Frauen die Grundlagen der patriarchalen Ordnung in den Gemeinden. Sie zeigen auch die Ebenen auf, wo die Gemeinde mit dem mexikanischen Staat und der ihm inhärenten ökonomischen und kulturellen Rationalität zusammenstößt, und verorten gleichzeitig ihren spezifischen Raum als Frauen innerhalb dieser Konfrontation mit der Regierung.“ (Millán 2000: 204)

Der basale Inhalt der Gesetze – Recht auf freie Partnerwahl, Recht auf körperliche Unversehrtheit etc.[9] – vermittelt nicht nur einen Eindruck davon, unter welchen (ungeheuerlichen) Umständen indigene Frauen vor dieser Bewegung zu leben hatten. Die Inhalte des Revolutionären Frauengesetzes können auch als Indikator für symbolische Gewalt dienen. Denn die Frauengesetze weisen auf das unhinterfragte Funktionieren patriarchaler Strukturen hin, die – wie eingangs dargestellt – immer eine bestimmte Verbindung von Männlichkeit und Gewalt beinhalten.

4. Auslassung II: Lesbische Frauen und homosexuelle Kämpfe

„Überall auf der Welt werden Menschen wegen ihrer sexuellen Orientierung mißhandelt, vergewaltigt, inhaftiert, gefoltert und ermordet.“ (AI 2000: 7) Die Sexualität eines Menschen kann zu spezifischen Gewalterfahrungen führen: Während z. B. in Nicaragua (vgl. AI 2000: 46-47) noch immer eine explizit antihomosexuelle Gesetzgebung vorzufinden ist und im Iran die Tötung von Lesben erlaubt ist, ist Homosexualität in Mexiko nicht illegal.[10] Aber ebenso wie in Chile und in Argentinien ist in Mexiko eine Bestrafung wegen des „Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung“ gesetzlich verankert. Gewalttätige Übergriffe auf Lesben, Schwule und Transgenders gibt es von staatlichen und nicht-staatlichen Organisationen, Sicherheitskräften und in der Familie. Oft wird von polizeilicher Willkür in Form von Razzien an Szene-Treffpunkten berichtet. Das polizeiliche Eingreifen wird dann als Vorgehen gegen „unmoralisches Verhalten“ gerechtfertigt (vgl. AI 2000).

Das Closet zu verlassen und – im wahrsten Sinne des Wortes – Gesicht zu zeigen, kann dabei je nach geographischer Einbettung zu gewalttätigen Übergriffen oder „nur“ zu hassvollem Sprechen (hate speech) führen. Denn homophobe Unterdrückung und Diskriminierung ist immer auch abhängig von der ethnischen und Klassenzugehörigkeit und dem geographischen Ort. Es ist in Mexiko also nicht gleichbedeutend, ob eine Lesbe oder ein Schwuler in der Hauptstadt oder im ländlichen Süden des Landes lebt.[11] Eine „Fería del Amor“ (2004) – mit zahlreichen Ständen zu HIV und Aids, Familienplanung und Schwangerschaftsabbruch, Jugend & Sexualität, innerfamiliäre Gewalt und lesbischer Mutterschaft – sowie der „marcha lesbica“ (2003 und 2004)[12] und die „encuentros lésbico feminista latinoamericano y del caribe“ sind – anders als in den meisten ländlichen Regionen Mexikos wie auch in vielen Vierteln der Hauptstadt – im Zentrum von Mexiko Stadt ebenso möglich wie der Besuch homosexueller Clubs und Bars in der Zona Rosa.[13] 

Die seit den 1980er Jahren veröffentlichten Zeitschriften wie „Del otro lado”, „Las Amantes de la Luna“ (seit 1992), die an der UAM herausgegebene „Ollinhuitzicalli” – sind wesentliche Sprachrohre der Homosexuellenbewegungen.[14] Ihr explizites Anliegen ist es, Information und Netzwerke über die regionalen und nationalen Grenzen hinweg zu schaffen. In diesem Prozess der visibilidad geht es auch darum zu zeigen, dass Homosexualität nicht nur ein weißes Gesicht hat, sondern Teil der Geschichte lateinamerikanischen Frauen ist.[15] Während in den 1990er Jahren für lesbische Aktivistinnen hauptsächlich eine Bestandsaufnahme zur Situation lesbischer Frauen in Mexiko und Lateinamerika im Vordergrund stand, hat sich das Hauptinteresse Ende der 1990er/Anfang des Jahrhunderts verschoben: Vorträge, Workshops, Videoproduktionen und Märkte dienen Präsentationszwecken, Ziel ist es für die Situation lesbischer Frauen zu sensibilisieren und gegen Lesbophobie anzugehen. Ebenso wie im feministischen Diskurs wird dabei der Begriff der ciudadania gewendet in „ciudadania sexual“ (conciencia latinoamericana 09/2001: 13).[16] Dabei wird an das Konzept der Menschenrechte, an das Recht auf Gesundheit, auf freie Entscheidung und auf Sicherheit angeknüpft.

Je nach eigener politischer Verortung z. B. als „lesbische Feministinnen“ oder als „radikal autonome Lesben“ werden Bündnisse mit anderen Gruppen eingegangen und Veranstaltungen initiiert. Autonomie und die Unabhängigkeit von politischen Parteien sowie die Kritik an den patriarchal-machistischen Strukturen der Schwulenbewegungen werden z. B. von Mariana Ocaña (2003: 5), Mitarbeiterin der Zeitschrift LezVoz für eine autonome Lesbenbewegung gefordert. Andere Gruppen, z. B. „Las Amantes de la Luna“ sind erst im Kontext einer sich etablierenden schwulen Zeitschrift entstanden. Die Zusammenarbeit lesbischer, schwuler und feministischer Gruppen zu den Themen Geschlecht, Frauen, sexuelle Diversität, Gewalt und Prävention trägt also sowohl identitäts- als auch bündnispolitische Züge. Und es ist letztlich auch eine Frage bzw. Notwendigkeit der mangelnden finanziellen Unterstützung sowohl von Seiten des Staates als auch ausländischer NGOs warum und wie sich Kooperationen ergeben.

Fassen wir nun die wichtigsten Punkte der mexikanischen Frauenbewegungen zusammen, so lässt sich feststellen, dass

  • indigene Frauen zu Klientinnen der feministischen Programme gemacht und die Kämpfe der zapatistischen Frauen dabei negiert oder abgewertet werden;

  • - das Thema Homosexualität innerhalb der feministischen Bewegungen kaum eine Rolle spielt;

  • - Gewalt an Frauen vorwiegend in heterosexuellen Beziehungen thematisiert wird; 

  • - der Fokus auf familiäre oder häusliche Gewalt lesbische Lebenswelten kategorisch ausschließt. Indigene Frauen fallen zwar in die fokussierte Kategorie, ihre besonderen Lebensumstände (vom frühen Aufstehen über die Vielfachbelastung bis zur strukturellen Unmöglichkeit zur Selbstständigkeit) werden aber kaum berücksichtigt.

  • - der gesetzliche Fokus auf direkte physische Gewalt einerseits feministische Forderungen durchsetzte, andererseits aber neue Ausblendungen produziert: die Erfahrungen und Kämpfe indigener und lesbischer Frauen.

  • - indem der Schwerpunkt auf den physischen Gewaltaspekt gelegt wird, physische und institutionelle Strukturen vernachlässigt werden.

4. Auslassung III: Strukturelle Gewalt

Der Fokus auf direkte physische Gewalt und die daraus folgende Schaffung rechtlicher Straftatbestände (Erweiterung der Definition von Vergewaltigung, sexuelle Belästigung, etc.) ist ein Erfolg feministischer Bewegungen bzw. Forderungen und macht konkrete Anklagen möglich. Andererseits lenken diese Erfolge aber auch ab von der strukturellen Gewalt, denen Frauen – in ganz unterschiedlichen Ausmaßen und Formen, je nach sozialer Lage, ethnischer Zugehörigkeit und/oder sexueller Präferenz – ausgesetzt sind.

Plädoyer für einen weiten Gewaltbegriff angesichts neoliberaler Realitäten

Der französische Soziologe Pierre Bourdieu (2005) hat in „Die männliche Herrschaft“ darauf hingewiesen, dass die soziale Ungleichheit zwischen den Geschlechtern durch „symbolische Gewalt“ gestützt, aufrechterhalten und reproduziert wird.[17] Er meint damit, dass die besondere Form der symbolischen Gewalt nicht auf Repression oder auf bewusster Zustimmung beruht, sondern sie fußt auf habituellen Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsschemata. Symbolische Gewalt sei folglich nur zu begreifen, indem man „die Alternative von Nötigung (durch Kräfte) und Zustimmung (zu Gründen), von mechanischem Zwang und willentlicher, freier, überlegter, ja kalkulierter Unterwerfung überwindet.“ (Bourdieu 2005: 70)

Weil auch Leidenschaften und Emotionen auf einer „somatisierten sozialen Beziehung“ (Bourdieu 2005: 72) beruhen, sind sie nicht durch bewusste Willensakte allein aufzuheben. Bourdieu wendet sich hier ein weiteres Mal gegen jene Politik, die ausgehend von Marx´ und insbesondere von Lukács Rede vom „falschen Bewusstsein“ auf die „Bewusstwerdung“ der Unterdrückten zielt und hofft. Denn die symbolische Herrschaft sei weniger eine bewusste Konstruktion als vielmehr der Effekt eines Vermögens, Dispositionen und Wahrnehmungsschemata zu schaffen, die für sie empfänglich machen und sie in das Innerste der Körper einprägen. „Das Fundament der symbolischen Gewalt liegt ja nicht in einem mystifizierten Bewußtsein, das es nur aufzuklären gälte“, so Bourdieu, „sondern in Dispositionen, die an die Herrschaftsstrukturen, ihr Produkt, angepaßt sind.“ (Bourdieu 2005: 77) Allein die Umgestaltung der Produktionsbedingungen der Dispositionen könne demnach eine gesellschaftliche Veränderung herbeiführen.

Auch wenn in Bourdieus Modell die Möglichkeiten vielleicht als zu gering eingeschätzt werden, diese Produktionsbedingungen der Dispositionen zu verändern – sprich widerständige Praktiken zu entwickeln –, ist doch sein Beharren auf der Dimension symbolischer Gewalt von großer Bedeutung für das Verständnis gegenwärtiger Geschlechterverhältnisse. Denn Bourdieu verdeutlicht, dass Gewalt in die psychischen und sozialen Strukturen einer Gesellschaft eingelassen ist, ihr „Unbewusstes“ ausmacht. [18] In einer zeitdiagnostischen Sicht bezieht sich auch die Politikwissenschaftlerin Birgit Sauer auf Bourdieu. Sie betont, dass Bourdieu ebenso wie Michel Foucault angesichts der vielfältig wirksamen Politiken der Privatisierung eine „Restrukturierung symbolischer Gewalt“ (Sauer 2005: 203) als zentralen Aspekt des neoliberalen Umbaus des Staates ausmacht. Auch wenn diese Mechanismen, die von Foucault als Gouvernementalisierung des Staates beschrieben werden und auf die ökonomische Selbststeuerung der Individuen zielen, nicht unbedingt grundsätzlich neu sind, zumindest für Frauen nicht, stellt Sauer neue „Unsicherheitsregime“ (Sauer 2005: 203) heraus. Diese Unsicherheitsregime haben laut Sauer auch „neue geschlechtsspezifische Gewaltsignaturen“.

Sauer widmet sich grundsätzlich der Transformation von Gewalt bzw. Gewaltstrukturen in der Moderne. Gewaltabwehr und Sicherheit vor Gewalt, die der Staat garantieren sollte, seien für Frauen nie durchgesetzt worden. Die Frauenforschung habe gezeigt, dass das staatliche Gewaltmonopol die Beziehungen von Männern schützt und regelt. Aber das staatliche Gewaltmonopol sichert Frauen nicht gegen die Gewalt und Abhängigkeit, denen sie durch das herrschende Geschlechterverhältnis ausgesetzt sind. „Die systematische Unsicherheit der Frauen ist eine dem Staate immanente Form von Gewalt.“ (Sauer 2005: 199) Grundlage der Argumentation ist, dass schon im keynesianischen Wohlfahrtsstaat Frauen nicht nur qua Geschlecht benachteiligt waren, sondern das „Frausein“ auch als Risiko konstruiert wurde, das von sozialstaatlichen Arrangements angeblich nicht abzusichern war. Modell für Selbstbestimmung war immer der Mann, Frauen wurden als abhängig und schützenswert bestimmt. Die Zuständigkeit für diesen Schutz musste der Staat erst gegen die Gruppe der Väter und Ehemänner durchsetzen: Die Durchsetzung des Gewaltmonopols bis in den vermeintlich privaten Bereich des Hauses (in dem der „Familienvorstand“ herrscht), muss also in Bezug auf Gewalt als Errungenschaft gewertet werden. Sauer diskutiert die Umstrukturierung des fordistischen Nationalstaates hinsichtlich ihrer geschlechtsspezifischen Gewaltpotenziale. Ihre These ist dabei, „dass die aktuellen [neoliberalen] Veränderungen von Staatlichkeit dazu beitragen, die im keynesianischen Wohlfahrtsstaat in Teilen zurückgedrängten geschlechtsspezifischen Gewaltverhältnissen wieder in den Alltag von Frauen einbrechen zu lassen.“ (Sauer 2005: 200) Sauer gebraucht dabei ausdrücklich einen weiten Gewaltbegriff, der nicht nur körperliche Versehrung betrifft, sondern auch soziale, reproduktive und politische Unsicherheiten erfasst. Ihrem Verständnis folgend können wir nun Gewalt als in die „Organisation und Ordnung von Gesellschaft, also in Staat und Politik, (…) eingelagert und abgesichert“ (Sauer 2005: 201) erfassen.[19] Ausschluss, Marginalisierung und Benachteiligung sind dabei Formen institutioneller Gewalt, von denen Frauen in besonderer Weise betroffen sind. In Mexiko betrifft dies besonders auch die Lebenssituation indigener und lesbischer Frauen; Ihre Kämpfe werden – wie wir dargestellt haben – auch innerhalb emanzipatorischer Bewegungen wenig berücksichtigt.

5. Die Zentralität der Bewegungen an den Rändern

Die von Birgit Sauer so genannten „Unsicherheitsregime“ sind einerseits als neue, durch neoliberale Politiken ausgelöste Form der strukturellen Gewalt gegen Frauen zu verstehen, basieren andererseits aber auch auf der Reaktivierung alter, traditioneller Unsicherheiten. Ausgehend von speziellen gesellschaftlich marginalisierten Positionen – nämlich ethnischen und geschlechtlichen – machen die Kämpfe indigener und lesbischer Frauen auf beide Ebenen dieser allgemeinen strukturellen Gewalt aufmerksam. Das soll im Folgenden kurz an vier Punkten ausgeführt werden, die Sauer als zentrale Gewaltsignaturen der Unsicherheitsregime ausmacht:

1. Der neue Gesellschaftsvertrag, der durch die Transformation des „Sicherheits- zum Wettbewerbsstaat“ (Joachim Hirsch) entsteht, basiert wie der alte auf der unbezahlten Arbeit von Frauen. „Die neoliberale Deregulierung, Entstaatlichung bzw. Privatisierung von sozialer Sicherheit lösen staatlich institutionalisierte Gewaltverhältnisse nicht auf, sondern rekonfigurieren sie im Kontext eines marktradikalen und wettbewerbszentrierten Diskurses, neuen Formen unterlassener Sicherheit und mithin von Gewalt […].“ (Sauer 2005: 204) Die Nicht-Umsetzung der geforderten Selbstregierung wird mit Ausschluss bestraft. Die Kämpfe der indigenen Frauen in der EZLN beziehen sich direkt auf diesen Aspekt der unbezahlten Arbeit – Punkt zwei des Revolutionären Frauengesetzes lautet: „Die Frauen haben das Recht zu arbeiten und das Recht auf einen gerechten Lohn“ – so wie auch lesbische Aktivistinnen durch ihre Ablehnung des klassischen Familienmodells diesen Aspekt des Unsicherheitsregimes implizit anprangern.

2. Es kommt zu einer „Rekonfiguration von geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung im Verdichtungsfeld von Klasse und Ethnizität“ (Sauer 2005: 205), weil Frauen als „Unternehmerinnen ihrer selbst“ (Pühl 2003) einer mehrfachen Überbelastung ausgesetzt sind. Die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse betrifft Frauen in besonderer Weise, die Ausbreitung von Teilzeitbeschäftigungen verhindert selbstbestimmtes Leben, weil zusätzliche Einkommen notwendig werden. Hinsichtlich der Situation in Mexiko ist Sauer hier insofern zu ergänzen, als dass vormals typisch weibliche Aufgaben von Herd-Heim-Kinder oftmals an die ethnisierte Bedienstete abgegeben werden und sich so ein Verhältnis von „Herrin und Magd“ (vgl. Young 2000) in der Schicht der emanzipierten Mittelschichtsfrauen (re)etabliert.[20] Indem der fünfte Artikel des Revolutionären Frauengesetzes das Recht auf gesundheitliche und ernährungsmäßige Mindestversorgung einklagt, wird aus der Position der ethnisch anders Markierten zugleich deren spezifische – die hier sogar Sauer etwas aus den Augen zu verlieren scheint –, als auch die allgemeine Prekarität von Frauen thematisiert.

3. Die Aushöhlung der sozialen Sicherungssysteme untergräbt das staatliche Gewaltmonopol in intimen Beziehungen erneut, d. h. Frauen werden wieder abhängiger und oft in gewaltgeprägten Beziehungen gehalten bzw. in diese zurückgedrängt. Die Rückverteilung der Verantwortung für Sicherheit in private Hände personalisiert auch die Verfügungsgewalt über die Sicherheit. Die basisdemokratische, kollektive Organisierung der indigenen Gemeinden stellt ein Gegenmodell zur Privatisierung der Sicherheit dar, das entscheidend von indigenen Frauen mitgetragen wird. Lesbische Politiken haben sich von jeher gegen die auf weibliche Abhängigkeit beruhenden Beziehungsstrukturen gewandt und damit das soziale „soziale Sicherungssystem: Ehemann“ wesentlich kritisiert.

4. Die Gesetze gegen häusliche Gewalt, die in den letzten Jahren erlassen worden sind, schätzt Sauer als äußerst ambivalent ein: Sie verschieben das staatliche Handeln auf das Nach der physischen Gewalt, anstatt Vorsorge zu betreiben, und gliedern sich somit ein in eine „Aufwertung polizeilicher Macht“ (Sauer 2005: 206). „Die Skandalisierung von Männergewalt gegen Frauen wird so instrumentalisierbar für den kontrollierenden und disziplinierenden und sein Machtmonopol durchsetzenden Staat.“ (Sauer 2005: 206) In diesem Diskurs habe die Idee des Empowerment von Frauen keinen Platz, Frauen bleiben Opfer. Auch in der Rede von „häuslicher Gewalt“ (statt von Gewalt gegen Frauen zu sprechen) zeigt sich eine Negation der Herrschaftsstrukturen in den Geschlechterverhältnissen.

Mit dem von den Frauen in den zapatistischen Gemeinden durchgesetzten Alkoholverbot wurde die Problematik der „häuslichen Gewalt“ entpersonalisiert und als gesellschaftliches Problem von Gewalt gegen Frauen benannt, das nur durch kollektive Regelungen zu bewältigen ist.[21] Auch hier verweisen die Kämpfe indigener Frauen also auf strukturelle Gewalt gegen Frauen. Hingegen sind Gewaltangriffe aufgrund sexueller – aber auch geschlechtlicher – Nonkonformität nicht nur in Mexiko weder in Gesetzestexten noch in den Sozialen Bewegungen ein Thema. Lesbischer Aktivismus ist deswegen auch ein Kampf gegen Homo- und Lesbophobie, und mithin oftmals auch ein Kampf gegen die heteronormativen gesellschaftlichen Strukturen.

Schlussbemerkungen

Freiheit von diversen Gewaltformen in öffentlichen und in privaten Räumen fungiert seit der 4. Weltfrauenkonferenz in Peking als die zentrale Forderung der internationalen Frauenbewegung. In der Umsetzung der damit einhergehenden, auch für die lateinamerikanischen Frauenbewegungen zentralen, Empowermentstrategie verschob sich aber der Fokus von der „Selbstbestimmung der Frau“ auf „Frauen als Individuen“ und ihre „aktive Partizipation“ geriet zur diskursiven Notwendigkeit. Die 1990er sind, so Pühl und Schultz (2001: 108), „von einem liberalistischen Rückzug feministischer Forderungen auf die Maxime der individuellen Selbstbestimmung geprägt“. Die Kosten der Konsenspolitik zeigten sich in erster Linie an der Übernahme kritischer Begriffe aus Sozialen Bewegungen in die politische Rhetorik wie beispielsweise des Empowerment-Begriffs, der „weichgespült und seiner herrschaftskritischen Substanz entkernt wurde“ (Wichterich 2003: 79). Empowert, bewusstseinsgeschult, kompetenzerweitert und zu politischen AkteurInnen gemacht, sind die GewinnerInnen die mittelschichtsgeprägten NGO-Feministinnen; die VerliererInnen eine wachsende Mehrheit „ökonomisch Untauglicher“, die ihre Freiheiten nicht zu nutzen verstünden und es vermeintlich an Initiative und Flexibilität fehlen lassen: vor allem indigene, aber auch lesbische Frauen. Diskriminierung und die Erfahrung von Gewalt erscheint darin als individuelles und selbst verschuldetes Problem.

Gegen diesen, von etablierten Feministinnen übernommenen Diskurs der Individualisierung und Privatisierung haben sich in den vergangenen Jahren sowohl lesbische als auch indigene Aktivistinnen formiert. In ihren Kämpfen geht es allerdings nicht nur um ihre eigenen, „partikularen“ Anliegen, sondern sie verweisen – wie wir hoffentlich zeigen konnten – auf generelle und keineswegs aufgelöste Formen struktureller Gewalt.

E-Mail: e.tuider@web.de, petzos@yahoo.de

Literatur:

Al (Dinkelberg, Wolfgang, Eva Gundermann, Kerstin Hanenkamp und Claudia Koltzenburg) 2000 (Hg.): Das Schweigen brechen. Menschenrechtsverletzungen aufgrund sexueller Orientierung, 2. Auflage, Berlin.

Azuela González, Mariano 1942: Los de abajo: Novela de la Revolución Mexicana. New York

Bourdieu, Pierre 2005: Die männliche Herrschaft, Frankfurt a. M.

Conciencia latinoamericana 2001: Sexualidades, México, Vol. XIII, No. 3.

Kastner, Jens 2005: Staat und kulturelle Produktion. Ethnizität als symbolische Klassifikation und gewaltgenerierte Existenzweise, in: Schultze, Michael, Jörg Meyer, Britta Krause und Dietmar Fricke (Hg.): Diskurse der Gewalt – Gewalt der Diskurse, Frankfurt a. M./ Berlin/ Bern/ Brüssel/ New York/ Oxford/ Wien, S.113-126.

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Lang, Miriam 2005: Der Fortschritt ist ein Schneckenhaus. Die vor zwei Jahren von der südmexikanischen Guerilla EZLN gegründeten regionalen Autonomiezentren gelten als wichtigste Errungenschaft des zapatistischen Kampfes, sie sind auch Vorbilder für andere indigene Gruppen. Wie funktioniert die Selbstverwaltung im lakandonischen Urwald?, in: Jungle World, Nr. 31, 03.August 2005, S. 28-31.

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Pühl, Katharina 2003: Der Bericht der Hartzkommission und die `Unternehmerin ihrer selbst´: Geschlechterverhältnisse, Gouvernementalität und Geschlecht, in: Pieper, Marianne und Encarnación Gutiérrez Rodríguez (Hg.): Gouvernementalität und Subjektivität, Frankfurt a. M./New York, S. 111-135.

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Wichterich, Christa 2003: Femme global. Globalisierung ist nicht geschlechtsneutral. Attac Basis Texte 7, Hamburg.

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Internet- und Interviewquellen:

www.sergay.com.mx/redseguridad.shtm

http://www.npla.de/poonal/p134.htm  (Poonal. Deutsche Ausgabe des wöchentlichen Pressedienstes lateinamerikanischer Agenturen, Nr. 134 vom 14.03.1994

Les VOZ. La revista lésbica de México, para todas las mujeres. Vol.II, No.26, 2003

Interview mit Cecilia Riquelme, Begründerin von „Las Amantes de la Luna“, in Mexiko Stadt am 18. August 2004.

 

[1] Die Bezeichnung „soldadera“ ist auf das spanische „soldada“ also den Lohn oder Wehrsold zurückzuführen.

[2] Es ist nicht gesichert, ob Adelita tatsächlich existierte oder nur eine Legende ist. Ihr richtiger, bürgerlicher Name war wahrscheinlich Altagracia Martinez und obwohl sie aus der Oberschicht von Mexiko-Stadt stammte, sympatisierte sie trotzdem mit der Revolution. Unabhängig davon wird die Bezeichnung Adelita heute als Synonym für alle soldaderas angewandt.

[3] Caudillaje leitet sich vom Spanischen caudillo, Oberhaupt oder Heerführer, ab. Die caudillaje bezeichnet in Lateinamerika nicht nur im engeren Sinne die Machtmechanismen der Militärdiktaturen in den 1970er Jahren, sondern auch in einem weiteren Verständnis sämtliche durch männerbündische Strukturen und auf einen dominanten Patriarchen ausgerichteten politischen Kulturen.

[4] 1991 wurde die juristische Definition von Vergewaltigung erweitert, das Strafmaß erhöht sowie der Straftatbestand der sexuellen Belästigung eingeführt. 1996 und 1997 wurden spezielle Gesetze gegen Gewalt in der Familie erlassen und Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe gestellt. Um die Jahrtausendwende kam es dann auf zivilrechtlicher Ebene zur Reformation der Scheidungsverfahren und der Schutzmaßnahmen für misshandelte Frauen. Im Zuge dessen wurden Therapie- und Beratungszentren sowie ein Frauenhaus (in Mexiko Stadt) eingerichtet. (vgl. Lang 2001: 118 sowie Lang 2002: 88-89)

[5] Gemäß dem Motto: Das Private ist Politisch!

[6] Nicht nur der Kampf zwischen Männern und Frauen, sondern die Diskussion um Demokratie und Staatbürgerschaftskonzepte, der Weg zu Chancengleichheit, Partizipation und Demokratie standen im Mittelpunkt.

[7] Auffallend ist, dass die paritätische Verteilung auf der Basisebene, z. B. bei der Beteilung an den Consultas (1995, 1999), den nationalen Befragungen, die von der EZLN-Basis hinsichtlich der Zustimmung zu ihren Zielen unternommen wurden, und dem Intergalaktischen Treffen (1996) weitestgehend funktioniert. Auf der Führungsebene hingegen sind von den 23 KommandeurInnen nur vier Frauen. Dennoch scheint gerade innerhalb der militärischen Struktur der Guerilla der Frauenanteil immer noch wesentlich höher als in den 2003 neu geschaffenen zivilen Verwaltungseinheiten, den Juntas de Buen Gobierno (Räte der Guten Regierung). Der Sprecher der EZLN, Subcomandante Marcos (2004) erklärte im zweiten Teil seines Textes „Ein Video lesen“, „dass ein Mangel, den wir schon seit langer Zeit mit uns herumschleppen, die Stellung der Frauen betrifft. Die Einbeziehung der Frauen an den Aufgaben der Organisation ist immer noch gering, und in den autonomen Räten und den JBG praktisch nicht vorhanden. Während der Prozentsatz der Frauenbeteiligung an den Geheimen Revolutionären Indigenen Komitees zwischen 33% und 40% liegt, sind es in den autonomen Räten und den Juntas der Guten Regierung durchschnittlich weniger als 1%.“ Ein Jahr später hat sich dieser Anteil offenbar schon etwas erhöht (vgl. Lang 2005).

[8] „Die zehn Punkte des Revolutionären Frauengesetzes sind normative Rechte der Frauen. Sie beziehen sich auf verschiedene Ebenen: das Recht auf politische Partizipation und auf die Übernahme politischer Posten innerhalb der Organisation (...) [und] (...) innerhalb der Gemeinden, das Recht auf  Arbeit, Bildung und Gesundheit, das Recht auf physische Integrität und das Recht, über ihren eigenen Körper zu entscheiden.“ (Millán 2000: 205)

[9] Auf Deutsch beispielsweise nachzulesen unter http://www.npla.de/poonal/p134.htm (12.03.2007)

[10] Die Definition als „Gefahr für die Gesellschaft“ ermöglicht in Venezuela polizeiliches Aufgreifen und Gefängnis; Die „Bewahrung der öffentlichen Ordnung“ dient auch in Kolumbien als Vorwand Todesschwadronen zur limpieza social (Säuberung der Gesellschaft) loszuschicken.

[11] Obwohl auch in Mexiko Stadt jeden 3. Tag ein Schwuler umgebracht wird (vgl. www.sergay.com.mx/redseguridad.shtm)

[12] An der ersten Lesbendemo in Mexiko Stadt – „nur für Frauen“ – haben ca. 2500 Frauen teilgenommen (vgl. Ocaña 2003: 6)

[13] Dies ist das Fazit eigener Forschungen in den jeweiligen Landesteilen, aber auch Ergebnis aus den ExpertInneninterviews, v.a. mit Interview mit Cecilia Riquelme, Begründerin von „Las Amantes de la Luna“, in Mexiko Stadt am 18. August 2004.

[14] 1996 entstand die eher separatistische agierende lesbische Zeitschrift „les voz“, deren Untertitel Programm ist: „solo mujeres para mujeres“.

[15] Vgl. Interview mit Cecilia Riquelme, Begründerin von „Las Amantes de la Luna“, in Mexiko Stadt am 18. August 2004.

[16] Weil sexuelle Identitäten, Orientierungen, Optionen und Praktiken als zentral für das individuelle wie kollektive Leben betrachtet werden, fordern (lesbisch-queere) Feministinnen eine Explizitheit der Sexualität bei Menschenrechten und Konzepten der BürgerInnenschaft.

[17] Bourdieu räumt zunächst zwei Missverständnisse hinsichtlich seines Begriffs der symbolischen Gewalt aus: Erstens versteht Bourdieu das Adjektiv „symbolisch“ nicht als Gegensatz zu „real“, meint damit auch keine rein „geistigen“ Angelegenheiten und verharmlost deshalb auch nicht die physische Gewalt (sondern ergänzt die Wahrnehmung dieser). Zweitens versucht er gerade nicht, den Mythos des „ewig Weiblichen“ fortzuschreiben, da er die patriarchalen Herrschaftsstrukturen als „das Produkt einer unablässigen (also geschichtlichen) Reproduktionsarbeit“ (Bourdieu 2005: 65) ausmacht, an der Institutionen wie auch einzelne AkteurInnen beteiligt sind.

[18] Zur strukturellen Dimension von Gewalt in Bezug auf Ethnizität vgl. Kastner 2005.

[19] „Um die Vielfältigkeit von Bedrohungs- und Unsicherheitsverhältnissen von Frauen analytisch in den Blick zu bekommen, scheint mir ein `weiter´ Gewaltbegriff unabdingbar: Ökonomische Unsicherheit und Ausbeutung durch geschlechtlich segregierte Arbeitsmärkte, niedrige Frauenlöhne und Benachteiligung im System sozialer Sicherheit, soziale Unsicherheit durch die gesellschaftliche Abwertung von Fürsorgearbeit, reproduktive Unsicherheit durch Abtreibungsbeschränkungen oder Pränataldiagnostik sowie politische Unsicherheit durch Ausschluss und Marginalisierung sind Formen struktureller und institutioneller Gewalt gegen Frauen.“ (Sauer 2005: 200f.)

[20] Dabei gehen wir von einem Verständnis von „Ethnizität als Existenzweise“ (Kastner 2005: 121) aus, die einen real vorhandenen und, wie in diesem Falle, ökonomische und soziale Marginalisierung perpetuierenden Effekt symbolischer Klassifikation bezeichnet.

[21] In den von den Zapatistas kontrollierten Gemeinden in Chiapas haben die Frauen als Konsequenz aus der häufigen Verbindung von Alkoholgenuss und Gewalt ein striktes Verbot von Alkohol und anderen Drogen durchgesetzt.

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