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„Was kümmert es uns, dass die
Geschichtsschreiber das Leben der Könige
Phillippe
Kellermann: Über den aufrechten Gang im Vorgestern 0. Einleitung „Wir kennen nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte“, heißt es an einer Stelle bei Marx und Engels (1845, 18). Die Bedeutung der Geschichte lag bei ihnen vor allem darin, in ihr jene geschichtlichen Bewegungsgesetze aufzuzeigen, die dann später im Marxismus-Leninismus unter dem Label ’historischer Materialismus’ kanonisiert wurden. Unterfüttert mit der im Manifest geäußerten Vorstellung, nach der die Geschichte „aller bisherigen Gesellschaft (...) die Geschichte von Klassenkämpfen“ sei (Marx/Engels 1970, 42), gerieten nicht nur die jeweiligen Produktionsverhältnisse und Produktivkräfte in den Blick, sondern auch die Kämpfe, die innerhalb der gesellschaftlichen ensembles ausgetragen wurden. Unter der Fragestellung, welches die fortschrittlichen, das jeweilige System sprengenden Kräfte gewesen waren, erarbeitete sich ’die Linke’ eine Ahnengalerie, an die anzuknüpfen oder deren Kämpfe zu vollenden sie sich als Aufgabe gestellt hatte. Ergebnisse waren z.B. Engels’ Arbeit Der deutsche Bauernkrieg (1850) oder Kautskys mehrbändige Reihe über Vorläufer des neueren Sozialismus (Ende 19.Jh.). Aber nicht nur Marxisten, auch Anarchisten wandten ihren Blick zurück, um nach Vorfahren Ausschau zu halten. So beispielsweise Max Nettlau in seinem Buch Vorfrühling der Anarchie (1925). War man in all diesen Arbeiten darum bemüht, im Vergangenen Anschlussfähiges zu suchen, so scheinen im Gegensatz dazu heute viele Linke eher bemüht, alle Brücken zum Gestern und Vorgestern abzubrechen. Beispielhaft ist die Auseinandersetzung mit der Arbeiterbewegung, die unter Labeln wie „Weltanschauungsmarxismus“ (Heinrich) oder „Arbeiterbewegungsmarxismus“ (Kurz) vehemente Kritik erfahren hat. Nun ist diese Kritik keineswegs unberechtigt. Problematisch scheint mir nur, dass von manchen überhaupt nicht mehr die Frage nach Heterogenität und Kontext einer solchen Bewegung gestellt wird. Mit dem Gestus, dass man heute sowieso alles besser wisse, werden auch die progressiven Tendenzen im Vergangenen völlig außer Acht gelassen. Dabei steht aber nicht nur die Erinnerung an Kämpfe der letzten 100 Jahre auf dem Spiel. Auch die Zeit davor gerät aus dem Blick. Dabei gab es auch im Vorgestern Hoffnungen, Sehnsüchte, Wünsche und Kämpfe; Versuche einer als zutiefst ungerecht empfundenen Situation gegenüberzutreten und diese zu bezwingen. Im Folgenden möchte ich von drei Personen erzählen, die im 16.Jahrhundert solche Kämpfe in unterschiedlicher Weise geführt haben. Thomas Müntzer im heiligen römischen Reich deutscher Nation (I.), Bartolomé de Las Casas in den Kolonien der Neuen Welt (II.) und Sebastian Castellio im von Calvin dominierten Genf (III.).[1] Sie in ihrer Geschichtlichkeit ernst nehmend, soll am Beispiel dieser Drei gezeigt werden, dass es, erstens, Hoffnungen auf und Kämpfe um eine gerechte Welt schon vor der modernen bürgerlichen Gesellschaft gegeben hat, und zweitens, von welchen Gedanken diese Hoffnungen und Kämpfe getragen wurden, auch wie radikal diese in mancher Hinsicht waren. Ekkehart Krippendorff hat von der „produktive[n] Erinnerung an Haltungen des aufrechten Gangs“ (1999, 7) gesprochen und, getragen von der alten Hoffnung der Humanisten, geschlussfolgert, dass „indem wir Leistungen anderer und früherer zu bewundern vermögen“ wir uns selbst steigern, „da wir sie uns zum Vorbild nehmen“ (ebd.22). Auch wenn ich diese Hoffnung nicht teile, und die folgenden Personen auch nicht unreflektiert als nachzuahmende Vorbilder präsentieren möchte, bin ich der Meinung, dass sie vor dem Vergessen bewahrt werden sollten. I. Thomas Müntzer (~1489-1525): Reformation, Bauernkrieg und die Verwirklichung des Reichs Gottes auf der Erde. „Das Volk wird frei werden, und Gott wird allein der Herr darüber sein“ Müntzer. Hochverursachte Schutzrede„Die Verneinung des Jenseits hat die Bejahung des Diesseits zur Folge; die Aufhebung eines besseren Lebens im Himmel schließt die Forderung in sich: Es soll, es muss besser werden auf der Erde; sie verwandelt die bessere Zukunft aus dem Gegenstand eines müßigen, tatlosen Glaubens in einen Gegenstand der Pflicht, der menschlichen Selbsttätigkeit.“ (Feuerbach zit.n. Harich 1998, 38) Thomas Müntzer, um den es zuerst gehen soll, hätte diese Ansicht Feuerbachs wohl befremdet. War es doch gerade sein religiöser Glaube, der ihn dazu trieb, einen diesseitigen Kampf zu führen, an dessen Ende das erhoffte Reich Gottes auf Erden verwirklicht werden sollte. Man nimmt an, dass Müntzer[2] im Dezember 1489 in Stolberg im Harz geboren wurde. Über seine Jugend ist wenig bekannt, seine Eltern scheinen aber über einen gewissen Wohlstand verfügt zu haben. Nach seinem Studium in Frankfurt/Oder und Leipzig und seiner Weihung zum Priester, finden wir Müntzer mitten im reformatorischen Geschehen der „Sturmjahre der Reformation“ wieder. Schon früh sieht auch er sich, wie Luther, u.a. mit Fragen des Ablasses konfrontiert und scheint sogleich positiv auf die beginnende reformatorische Bewegung reagiert und diese mitgetragen zu haben. 1517 war das Jahr, in dem Luthers ursprünglich für eine theologische Disputation verfassten Thesen zum Ablass verbreitet wurden und das Fass zum Überlaufen brachten. Schon lange gärte im Volk der „Pfaffenhass“, gerichtet auf eine verweltlichte, in Luxus schwelgende Kirche, die dem Ideal der Frömmigkeit, also einer überzeugend vorgelebten Lebensweise in der Nachfolge Christi, nicht nachkam. Parallel dazu hatten sich die ökonomischen und besonders die politisch-rechtlichen Verhältnisse durch den Aufstieg der Kurfürsten und die dadurch in Bedrängnis geratenen niederen Feudalgewalten, die deshalb zu einer rigideren Auspressung übergingen, für den „gemeinen Mann“[3] größtenteils verschlechtert. Drückend hohe Abgaben sowie der Verlust politischer Selbstbestimmung auf Gemeinde- und lokaler Ebene erregten weithin Unmut. Überdies setzte eine soziale Differenzierung in Stadt und Land ein, in deren Folge es zu einer zunehmenden Polarisierung vor allem innerhalb der Stadtbevölkerung aber auch in den Dörfern kam.[4] Die Kirche wiederum war als rechtlich unabhängige (bzw. nur an Rom gebundene) Institution, die darüber hinaus über gewaltige Ländereien verfügte, manchem auf Souveränität bedachten Kurfürsten und städtischen Rat ein Dorn im Auge. Ihre ausbeuterische Praxis machte sie zudem auch bei den unteren Schichten verhasst, sodass sie insgesamt zunehmend an Glaubwürdigkeit verlor. Ob in Jüterbog oder Zwickau, überall wo Müntzers Wirken überliefert ist, sehen wir ihn als kämpferischen Mann gegen den Klerus. Es ging ihm aber nicht nur um den Klerus allein, sondern auch darum, im Sinne einer „treffliche[n], unüberwindliche[n] zukünftige[n] Reformation“ (1990, 78) alle weltlichen Verhältnisse dem Evangelium gemäß zu gestalten. Seine weitreichenden Hoffnungen werden deutlich, als er sich nach seiner Vertreibung aus Zwickau nach Böhmen, dem Heimatland der hussitischen Ketzerbewegung, begibt und dort in seinem sogenannten Prager Manifest formuliert: „in eurem Lande wird die neue apostolische Kirche angehen, danach überall“ (ebd.22). Doch auch aus Prag wird Müntzer vertrieben. Das Manifest zeigt darüber hinaus, wie Müntzer auf die historische Situation – gerade war im Reich das Wormser Edikt verabschiedet worden – reagiert: mit zunehmender Radialisierung. Erste apokalyptische Töne werden vernehmbar und eine eigene theologische Denkweise erkennbar, die sich in dem Satz „Thomas Müntzer will keinen stummen, sondern einen redenden Gott anbeten“ zusammenfassen lässt (ebd.23). Als Müntzer im Frühjahr 1523 eine Anstellung als Prediger in Allstedt antritt, hat er endlich Gelegenheit, seine weitreichenden Vorstellungen zur Reform des Gottesdienstes umzusetzen. Alles Geschehen im Gottesdienst wird verdeutscht und die Gemeinde konsequent am Geschehen beteiligt. Hierarchien und der durch die lateinische Sprache genährte Aberglaube des Volkes sollen abgebaut werden. Diese Reformen (die übrigens die weitgehendsten Neuerungen zu dieser Zeit waren) und sicher auch die charismatische Ausstrahlung Müntzers sorgen für einen großen Andrang von Gläubigen. Sogar aus den katholischen Nachbargemeinden kommen die Leute scharenweise. In der aus rund 700 Einwohnern bestehenden Kleinstadt versammeln sich zur Sonntagspredigt mehr als 2000 (!) Menschen. Müntzers Anziehungskraft führt zu ernsten Auseinandersetzungen mit den katholischen Obrigkeiten der Umgebung, die dazu übergehen, ihren Untertanen den Besuch zu verbieten und sie auf dem Weg nach Allstedt zu überfallen. Müntzer setzt sich zwar für deren gute Behandlung ein und droht den Obrigkeiten, hält aber die mit ihm in Kontakt stehenden Sympathisanten noch ausdrücklich von Gewaltanwendung ab. Noch sind seiner Meinung nach die Menschen nicht reif genug dafür, Gottes Werk zu vollstrecken. Dies sollte sich erst mit dem Bauernkrieg ändern. Als sich auch in Allstedt die Lage zuspitzt, sieht sich Müntzer gezwungen, eines Nachts über die Stadtmauer zu fliehen. Nach weiterem Wirken in den städtischen Kämpfen in der freien Reichsstadt Mühlhausen/Thüringen kommt er auf dem Rückweg von einer Reise nach Nürnberg zum Jahresende 1524 in Süddeutschland mit den in Aufstand befindlichen Bauern in Kontakt. Goertz fasst die folgenden Ereignisse kurz zusammen: „In Windeseile verbreitete er [der Aufstand] sich, wie ein Flächenbrand, in nördliche Richtung. Der Oberrhein, der Schwarzwald und das Elsass, die Ufer des Bodensees, das Allgäu, Franken, das Neckartal und der Odenwald standen in Aufruhr. In der Karwoche erreichte er Fulda, drang ins Werratal ein und bewegte sich nach Thüringen fort, auf Mühlhausen zu. Schlösser gingen in Flammen auf, Klöster wurden geplündert und zerstört“ (Goertz 1989, 148).[5] Unmengen an Flugblättern zirkulierten[6] – berühmt die Forderungen der Aufständischen in den Zwölf Artikeln.[7] Tausende standen, in „christlichen Vereinigungen“ versammelt, unter Waffen und übernahmen in größeren Territorien zeitweilig die Macht.[8] Müntzer, der durch den Aufstand darin bestärkt wird, dass es nun Gottes Kampf zu kämpfen gilt, eilt nach Mühlhausen zurück und unternimmt ebenfalls Aktionen gegen die lokalen Obrigkeiten. In Frankenhausen kommt es im Mai zum Zusammentreffen mit vereinten adligen Kräften. Während im Lager der Aufständischen noch über die Situation und ein Angebot der Fürsten beraten wird, fallen diese überraschend über den Haufen her. Es kommt zu einem riesigen Abschlachten. 6000 Menschen werden sofort niedergemetzelt oder auf der Flucht in die Stadt niedergemacht – nicht zufällig heißt dieser Weg seitdem ’Blutrinne’.[9] Für Luther, der sich auf die Seite der Obrigkeiten stellt, haben sich diese damit sogar ums Evangelium verdient gemacht.[10] Müntzer wird aufgegriffen und festgenommen, danach verhört und gefoltert. Tage später wird er – zusammen mit seinem Mühlhausener Mitstreiter Pfeiffer – im Feldlager zwischen Görmar und Mühlhausen geköpft, ihre Häupter auf Spieße gesteckt und als Mahnung zur Schau gestellt. Worum ging es Müntzer? Es sollte die Verbindung von Mensch und Gott wiederhergestellt werden und ein gottgenehmes Leben im Dienste der Brüderlichkeit gelebt werden. Voraussetzung für letzteres aber war der Zugang zu Gott. Nur durch die Auserwählten konnte die Herankunft des Gottesreiches vorbereitet werden, „denn der Herr nimmt die Schwachen auf, um die Gewaltigen vom Stuhle zu stoßen“ (1990, 219). Wie aber konnte der von Gott durch die Sünde abgefallene Mensch wieder zu Gott finden? Der Katholizismus antwortete auf diese Frage mit der hierarchisch abgesicherten Lehrautorität. Dagegen hatte Luther darauf bestanden, dass allein das Wort der Bibel (sola scriptura-Prinzip), nicht aber eine ’von oben’ (also dem Papst) privilegierte Person den Zugang zu Gott vermitteln konnte. Müntzer kann sich mit beiden Auffassungen nicht anfreunden. Vielmehr radikalisiert, subjektiviert er den Lutherschen Ansatz, indem er betont, dass nicht die Schrift, sondern das Hören auf das Wirken des Heiligen Geistes in uns zu Gott führe. Wer diesen Geist, der potentiell zu allen spricht (Goertz 1967, 48), zu hören vermag, gehört für Müntzer zu den Auserwählten. Dass man den Geist überhaupt zu hören beginnt, wird für ihn wesentlich bestimmt durch das Leiden an der Welt und der Abkehr von der kreatürlichen, herrschaftlich verfassten Welt. Da Müntzer davon ausgeht, dass man mit dem Erfassen des Geistes prozesshaft sein Leben radikal verändert und sich dem christlichen Vorbild annähert, ist die Lebensweise gleichsam Möglichkeit, zu überprüfen, ob jemand nur behauptet, den Geist zu hören, oder ihn tatsächlich erfahren hat. An dieser Stelle verbindet sich Theologisches und Politisches, da es vor allem die unteren Schichten sind, die leiden, während die oberen Schichten durch ihre Herrschsucht und Habgier der kreatürlichen Welt verhaftet sind. Nun predigt Müntzer aber keineswegs die Hinnahme des Leidens in – wie er es Luther vorwirft – „beschissene[r] Demut“ (1990, 137). Vielmehr sieht er die Zeit gekommen, in der sich die Welt dem Ende zuneigt und die Leidenden, also die Auserwählten, das Reich Gottes auf der Erde errichten, bzw. vorbereiten. Dass die gegenwärtigen Verhältnisse aufgrund ihrer strukturellen Defizite dafür grundlegend geändert werden müssen, sieht Müntzer deutlich: „Sieh zu: Die Grundsuppe des Wuchers, der Dieberei und Räuberei sind unsere Herren und Fürsten, sie nehmen alle Kreaturen zum Eigentum; die Fische im Wasser, die Vögel in der Luft, das Gewächs auf Erden, alles muss ihr eigen sein (Jes.5). Darüber lassen sie dann noch Gottes Gebot unter die Armen ausgehen und sprechen: ‚Gott hat geboten: du sollst nicht stehlen!‘ Das dient ihnen aber nicht. Wenn sie nun alle Menschen nötigen, den armen Ackermann, Handwerksmann und alles, was da lebt, schinden und schaben (Mich.3) - und wenn er sich am Allergeringsten vergreift, so muss er hängen -, dann sagt denn der Doktor Lügner [gemeint ist Luther]: ‚Amen‘ Die Herren machen es ja selber, dass der arme Mann ihnen feind wird. Die Ursache des Aufruhrs wollen sie nicht wegtun, wie kann das auf die Dauer gut werden? Wenn ich das sage, muss ich aufrührerisch sein, wohl hin!“ (ebd.127/128) Müntzer selbst hat zu dem von ihm erhofften künftigen Reich wenig gesagt. In dem kurz vor seinem Tod in Gefangenschaft erpressten Bekenntnis wird er zitiert: „Ist ir artigkel gewest und habens uff dye wege richten wollen: Omnia sunt communia, und sollten eynem idern nach seyner notdorft ausgeteylt werden nach gelegenheyt.“ (1968, 548) Ist das Gottesreich aufgerichtet, sind die Menschen, so kann man folgern, in Gleichheit vereint und das Leiden verliert seine theologische Funktion. Müntzers Ausfälle gegen die kreatürliche Welt sind also nicht blinder Hass auf alles Weltliche im wörtlichen Sinn – ein Hass, der nur durch einen kollektiven Selbstmord zu stillen wäre – vielmehr zielt er gegen eine herrschaftlich verfasste Welt, der das vollendete christliche Reich im Diesseits gegenübergestellt wird (Wolgast 2006, 10). Wie Müntzer sagte: „Das Volk wird frei werden, und Gott wird allein der Herr darüber sein“ (1990, 141). Wenn für Teile des Alten Testaments gilt, dass die „’Unterwerfung’ unter Gott die Unterwerfung unter Menschen hier gerade verhindert“ (Haude 1999, 152), so können wir auch Müntzers Ausspruch in eben dieser Weise verstehen.[11] II. Bartolomé de Las Casas (1484-1566): Von der Verteidigung der Indios und dem Recht auf politische Selbstbestimmung. „Das Geschrei soviel vergossenen Menschenblutes steigt schon zum Himmel. Die Erde selbst kann es nicht mehr ertragen, dass sie so sehr von Menschenblut getränkt ist. Ich glaube, dass schon die Engel des Friedens weinen, ja Gott selbst vergießt Tränen.“ „Wohlan, wer den Müntzer gesehen hat, der mag sagen, er habe den Teufel leibhaftig gesehen in seinem höchsten Grimme“, hatte Luther geschrieben (zit.n. Goertz 1987, 186). Aber Müntzer war nicht der einzige, der beschuldigt wurde, mit dem Teufel in Kontakt zu stehen. Ähnliches widerfuhr dem Dominikanermönch Bartolomé de Las Casas. In einer Denkschrift nach seinem Tod heißt es: „Ich glaube, wenn es sich um göttliche Liebe gehandelt hätte, hätte sie ihn [Las Casas] anders geführt und andere Wirkung gezeitigt; vielmehr war es der Teufel aus der Finsternis, der den Anfang dieser Täuschung setzte.“ (Anonymus 1997, 442) Was für den Autor der Schrift eine „Täuschung“ war, war für Las Casas wahres christliches Handeln im Geiste der Nächstenliebe. Zu sehr hatte er aber mit seinem Handeln das koloniale Projekt Spaniens in der ’Neuen Welt’ in Frage gestellt, als dass man ihn in Frieden hätte sterben lassen können. Die Punkband SLIME singt über die Eroberung Amerikas von „Raub und Mord im Schatten des Kreuzes“. Damit trifft sie jedoch nicht die ganze Wahrheit. Denn es war eine Gruppe Geistlicher, die als erste das grausame Verhalten der Kolonisten kritisierten. Und einer von ihnen war Bartolomé de Las Casas. Geboren wird Las Casas[12] 1484 in Sevilla. In seiner Jugend erlebt er die triumphale Rückkehr Columbus’ von seiner ersten Reise. Wie sein Vater, der Columbus auf der zweiten Reise begleitet hatte, macht sich auch Las Casas später auf den Weg in die ’Neue Welt’. Auf Haiti 1502 angekommen, führt der spätere Indiofreund das normale, grausame Kolonistenleben. Er beteiligt sich an Kämpfen gegen die Indios, erhält Land, Indiosklaven als Arbeitskräfte und richtet sich ein. Bald darauf kehrt er aus unbekannten Gründen nach Europa zurück und lässt sich dort zum Priester weihen. Nach seiner Rückkehr nach Amerika nimmt er zunächst weiter an ’Missionen’ teil und ist nach wie vor Profiteur des sogenannten encomienda-Systems[13]. Nach und nach scheinen ihn aber Zweifel beschlichen zu haben. 1514 schließlich kommt es seinen eigenen Angaben zufolge während der Lektüre der Heiligen Schrift zu seiner ’Bekehrung’. In einer Predigt greift er daraufhin die versammelte Kolonialgesellschaft an. Er tut sich nun mit einer Gruppe Dominikanermönche zusammen, die sich als kolonialkritisches Kollektiv formiert hatte. Deren erster öffentlicher Eingriff war die eindrucksvolle Predigt von Antonio Montesino am Adventssonntag 1511 gewesen. Schonungslos wurde das herrschende System angeklagt, wie Las Casas berichtet: „»Diese Stimme«, sagte er, »[tut euch kund], dass ihr alle der Grausamkeit und Tyrannei wegen, die ihr gegen diese unschuldigen Menschen gebraucht, in Todsünde seid und in ihr lebt und sterbt.« (1995a, 226) Der Predigt folgte ein Sturm der Entrüstung. Von allen Seiten wurde die kleine Gruppe der Mönche angefeindet. Dennoch wurde durch sie eine Debatte über die Ausgestaltung des Kolonialsystems und dessen Rechtmäßigkeit angestoßen, und Vorstellungen von friedlicher Missionierung standen als Alternative im Raum. Im Kampf für diese Alternative und die Rechte der Indios ist Las Casas sein Leben lang unentwegt auf Reisen (sieht man einmal von der Zeit im Kloster nach seinem Eintritt in den Dominikanerorden ab). Zwischen Neuer und Alter Welt pendelnd versucht er, sich bei der spanischen Krone für die Rechte der Indios einzusetzen und sie zum Eingreifen in die Verhältnisse in Übersee zu bewegen. Dabei hofft er auch, die vielfältigen Interessensgegensätze zwischen Krone und Kolonisten ausnützen zu können. Grob vereinfacht bestanden diese darin, dass die Krone nicht nur verhindern wollte, dass sich die Kolonisten als neue Adelsschicht (und damit als Konkurrenten um die Macht) in der Neuen Welt konstituierten, sondern sie wollten auch die Verfügungsmacht über die ökonomischen Ressourcen ausüben. Darüber hinaus konnte der Krone nichts an der immensen Abschlachtung und „Vernutzung“ der Indios gelegen sein, wollte man doch nicht Herr über ein Gebiet ohne Bevölkerung sein. Allerdings war die Krone allein schon aufgrund der Entfernung kaum in der Lage sich dauerhaft durchzusetzen. Dieser Interessensgegensatz erklärt auch, warum den Mönchen überhaupt Gehör geschenkt wurde, denn diese ließen sich als Korrektiv gegen das Treiben der Kolonisten verwenden. Einen gewissen, aber nur kurzen Erfolg erreicht Las Casas mit der Verabschiedung der „Neuen Gesetze“ (1542). In die Geschichte eingegangen ist die Disputation von Valladolid (1550/51), während derer sich Las Casas und sein großer Widersacher Juan Ginés de Sepúlveda um die Fragen nach den rechtlichen und ethischen Grundlagen der Kolonisation stritten.[14] Dem Dominikaner ging es nie um abstrakte theoretische Frage- und Problemstellungen. Als unmittelbar eingreifendes Denken ordnen sich seine Schriften, wie auch sein Leben, dem Kampf für die Rechte der Indios unter. Und noch auf seinem Sterbebett macht er sich Gedanken um ganz konkrete Verbesserungen. Berühmt geworden ist Las Casas durch seinen Kurzgefassten Bericht über die Verwüstung Westindiens, in dem er mit eindringlichen Worten die „Blutbäder und Metzeleien“ (1995b, 63) der Kolonisten beschreibt und anprangert. Interessant sind aber auch die wenig wahrgenommenen, noch radikaleren Spätschriften. Wie lässt sich nun in Kürze das Denken Las Casas’ umreißen? Erstens wendet er sich vehement gegen ein kriegerisches Interventionsrecht, dass sich durch das Argument des ’gerechten Krieg’ zu legitimieren versucht. Stattdessen plädiert er für eine friedliche Missionierung, die, dem Vorbild Christi folgend, nur durch vorgelebtes Beispiel und der Macht der Überzeugung verbreitet werden darf. Keinerlei Zwang wird hier akzeptiert.[15] Dem liegt der Optimismus zugrunde, dass jeder Mensch nach Gott suche und sich das Christentum als überzeugendstes Angebot durchsetzen werde.[16] Zweitens besteht er, davon ausgehend, dass alle Menschen als Ebenbilder Gottes frei und vernünftig geschaffen seien, auf einem politischen Selbstbestimmungsrecht der Indios. Dies gilt sowohl für das weltliche wie auch das geistliche Regiment. „Alle Ungläubigen, welcher Sekte oder Religion sie auch immer angehören und welcher Sünde sie auch schuldig sein mögen, haben gemäß natürlichen und göttlichen Rechtes und auch nach dem sogenannten Völkerrecht völlig zu Recht die Herrschaft über die Dinge inne, die sie erworben haben, ohne einen anderen zu schädigen. Und mit dem gleichen Recht besitzen sie auch ihre Fürsten- und Königtümer, ihre Stände, Amtswürden, ihre Jurisdiktion und Herrschaftsrechte.“ (1997a, 279/280) Als Maßstab eines gerechtfertigten Rechtsanspruch über die Indios bestimmt Las Casas einen radikal gefassten Gesellschaftsvertrag. So müssten alle Indios in Konsensentscheidung (!) eine Herrschaft der Spanier akzeptieren, damit diese Rechtmäßigkeit erlangen könne.[17] Dabei besteht Las Casas darauf, dass diesem Vertrag eine freie Entscheidung zugrunde liegen müsse. Und da dies aufgrund der dauerhaft ausgeübten Gewalt der Spanier nicht mehr zu erwarten sei, heißt es: „Unsere Könige haben allen Grund, jede Hoffnung fahrenzulassen, sie möchten jemals das [höchste] Fürstenamt über jene Gebiete in Ruhe und ohne Gewissensbisse innehaben, selbst wenn jene Völker ihre Zustimmung bekunden; denn es kann ja immer die Rechtsvermutung bestehen, sie täten das unter dem Zwang einer überaus berechtigten Furcht“ (1996b, 295). Die Konsequenz ist eindeutig und wieder einmal denkbar scharf formuliert: Während die „Spanier nicht auch nur im mindesten daran denken dürfen, Krieg zu führen, so tritt ein, dass die Einwohner jenes westindischen Erdkreises, und zwar wirklich alle [!], aufgrund unserer Missetaten, wie ich gesagt und aufgrund der Übel, die sie ganz ohne Schuld durch uns erlitten, das Recht haben, uns den Krieg zu erklären – nicht nur zur Selbstverteidigung und zur Wiedererlangung ihrer Freiheit, Güter und Herrschaft, sondern auch um das Unrecht und die Schädigung, die ihnen angetan worden, zu rächen und ihre Peiniger zu verfolgen, bis ihr Name von der Erde getilgt ist – ja, einen ewigen Krieg [...]; wir aber haben keinerlei Recht, ihnen auch nur irgendwie zu schaden.“ (ebd.298)[18]
III. Sebastian Castellio (1515-1563): Das wahre Christentum zeigt sich im Unterdrückten. Einen Menschen töten heißt niemals eine Lehre verteidigen, sondern: einen Menschen töten. Sebastian Castellio Schlägt man die Bibel bei Matthäus 13,24ff. auf, so hört man von folgendem Gleichnis, das Jesus erzählt haben soll: „Mit der neuen Welt Gottes ist es wie dem Mann, der guten Samen auf seinen Acker gesät hatte: Eines Nachts, als alles schlief, kam sein Feind, säte Unkraut zwischen den Weizen und verschwand. Als nun der Weizen wuchs und Ähren ansetzte, schoss auch das Unkraut auf. Da kamen die Arbeiter zum Gutsherrn und fragten: >Herr, du hast doch guten Samen auf deinen Acker gesät, woher kommt das ganze Unkraut?< Der Gutsherr antwortete ihnen: >Das hat einer getan, der mir schaden will.< Die Arbeiter fragten: >Sollen wir hingehen und das Unkraut ausreißen?< >Nein<, sagte der Gutsherr, >wenn ihr es ausreißt, könntet ihr zugleich den Weizen mit ausreißen. Lasst beides wachsen bis zur Ernte! Wenn es so weit ist, will ich den Erntearbeitern sagen: Sammelt zuerst das Unkraut ein und bündelt es, damit es verbrannt wird. Aber den Weizen schafft in meine Scheune.“ Für Thomas Müntzer war die Sache klar: „Die Zeit der Ernte aber ist alleweg da“ (1990, 114) und der Kampf gegen die Gottlosen konnte beginnen. Las Casas reagierte völlig anders: „Christus hat nur geboten, dass sein Evangelium allen Menschen ohne Unterschied verkündet und gepredigt werde und dass es dem freien Willen eines jeden überlassen bleibe, ob er glauben wolle oder nicht; und die Strafe für die, die nicht glauben wollen, war keine körperliche oder diesseitige, sondern (...) die behielt er sich für sein Letztes Gericht vor.“ (zit.n. Luño 1994, 188) War man aber erst einmal zum Glauben in freien Stücken übergetreten, hatte man sich bei Las Casas der Oberhoheit der Kirche zu unterwerfen und Ketzer durften demnach verfolgt werden.[19] Grob lässt sich sagen: Was Las Casas für die Indios, das tat Sebastian Castellio für die vermeintlichen Ketzer, indem er obige Stelle des Matthäus-Evangeliums auf die Ketzerproblematik übertrug und das Recht zu strafen Gott allein zusprach. Castellio[20], aus bäuerlichen Verhältnissen stammend, hatte die Möglichkeit zu studieren. Von Calvins Institutio begeistert, folgt er diesem in dessen neue Wirkungsstätte Genf. Während Calvin sich in der Stadt mehr und mehr durchzusetzen beginnt, gerät Castellio mehr und mehr in Opposition zu einer als unchristlich empfundenen neuen Kirche. Schließlich wird er aus Genf verbannt und wendet sich nach Basel. Nicht nur, aber auch als Reaktion auf die Verbrennung Michel Servets in Genf, verfasst Castellio aus dem Exil seine Anklageschriften gegen Calvin und eine sich – angeblich aus Glaubensgründen – immer gewalttätiger gebärdende Gegenwart. Es kommt zu wahren Flugschriftenkriegen zwischen Castellio, befreundeten Mitstreitern und den Genfern. Schließlich stirbt Castellio, womöglich gerade noch, bevor auch ihn der Arm der calvinistischen Orthodoxie erreicht hätte. Castellio geht es um ein sich in unmittelbarer Praxis zu bewährendes Christentum, nicht um eine eng gefasste Lehre. Es geht ihm um eine Haltung, die derjenigen Christi folgt und sich unter dem Begriff der Nächstenliebe zusammenfassen lässt. Davon abhängig, wieweit sich diese im täglichen Leben zeigt, lässt sich ihm zufolge der Wert einer Lehre bestimmen. „Aus ihren Früchten kann man leicht beurteilen, welche ‚secta’ die beste sei. Es ist diejenige, deren Anhänger wirklich an Christus glauben, ihm gehorchen und sein Leben nachahmen, ob sie sich nun Papisten, Lutheraner, Zwinglianer, Anabaptisten oder irgend etwas anderes nennen.“ (zit.n. Guggisberg 1997, 119/120) In den Lehrstreitigkeiten seiner Zeitgenossen kann er dagegen nur „Hochmut“ (Castellio 1984, 90) erkennen, durch den das Eigentliche vernachlässigt wird. Deutlich verweist er auf die mörderischen Konsequenzen einer unnötigen Hochschätzung theoretischer Fragen und der damit einhergehenden Selbstsicherheit: „Wenn ihr sie [die Trinität] nicht gekannt hättet, hättet ihr nie einen Menschen lebendig verbrannt.“ (Castellio zit.n. Guggisberg 1997, 130) Gesetzt den Fall, man wäre in einer Streitfrage im Recht, folge daraus erst recht, das Vorbild Christi nachzuahmen und sich barmherzig zu zeigen: „Sind wir weiser als jene, so lasst uns auch besser und barmherziger sein. Denn dies ist gewiss: Je besser einer die Wahrheit kennt, desto weniger neigt er dazu, andere zu verurteilen. Solches zeigt schon das Beispiel Christi und der Apostel. Wer jedoch andere mit Leichtigkeit verurteilt, zeigt gerade dadurch, dass er nichts weiß, da er die andern nicht erdulden kann.“ (Castellio 1984, 96)[21] Castellio spannt dabei den Bogen so weit, dass er sogar Juden und Moslems mit einschließt: „Die Juden oder Türken sollen daher nicht die Christen verdammen, aber die Christen ihrerseits sollen die Türken oder Juden auch nicht verachten, sondern sie vielmehr belehren und durch wahre Frömmigkeit und Gerechtigkeit gewinnen.“ (ebd.97) Einher geht dies mit einer scharfen Kritik von blindem Autoritätsgehorsam gegenüber vermeintlich göttlichen Führern: „Es gibt keine größere Verblendung, die den Menschen befallen kann, als die, einem blinden Führer zu folgen und sich zu scheuen, an ihm zu zweifeln. Man kann sich fragen, ob man an unseren Vorgängern mehr die Ungerechtigkeit oder die Unklugheit kritisieren soll. Sie forderten, dass man ihre Auslegungen als Orakelsprüche annehme, und sie haben in ihren Nachfolgern eine Art religiöser Furcht erweckt, die diese daran hinderte, Fragen zu stellen, geschweige denn Zweifel zu äußern.“ (Castellio zit.n. Guggisberg 1997, 261) Und mahnend heißt es: „Oh Gott, Vater des Lichts, wende dieses Unglück ab (...)! Und du, Nachwelt, bekämpfe es; nimm uns als Beispiel und vermeide es, dich menschlichen Auffassungen kritiklos anzuschließen und sie nicht mehr an der Vernunft der Sinne sowie der Heiligen Schrift zu messen. Und ihr, Gelehrte, meidet dieses Unglück, nehmt euch nicht so wichtig und lasset davon ab, eure Autorität durch die körperliche und seelische Gefährdung so vieler Menschen zu bestätigen.“ (ebd. 262)[22] Vor diesem theoretischen Hintergrund stellt Castellio die Frage nach der Behandlung von Ketzern. In einem so einfachen wie eindringlichen Satz kommt Castellio auf den Punkt: „Einen Menschen töten heißt niemals eine Lehre verteidigen, sondern: einen Menschen töten.“ (Castellio zit.n. Zweig 2006, 213) Das Denken Castellios ist bei alledem nicht zu trennen von der Durchsetzung des Protestantismus, besonders des Calvinismus in Genf, der auf geradezu unglaubliche Weise die Praktiken des ehemaligen Gegners übernommen hatte, wie es die Verbrennung Servets eindrucksvoll demonstrierte. Diesem historischen Umschlag von ehemals Verfolgten zu nun selbst Verfolgenden gilt Castellios vehemente Kritik. In einer Kirchenversammlung hatte er schon früh diese Entwicklung offen kritisiert: „Er [Paulus] hat Verfolgung durch andere erlitten, wir aber verfolgen Unschuldige.“ (Castellio zit.n. Guggisberg 1997, 41) Thomas Müntzer hatte davon gesprochen, dass nur der Verlassene den Heiligen Geist vernehmen könne. In seiner Kritik an der inquisitorischen Praxis des Calvinismus in Genf verweist auch Castellio darauf, dass die Wahrheit „von unten“ komme. Der folgende, die Darstellung abschließende Ausschnitt lässt sich mit ein wenig Abstraktionskraft vielleicht auf sämtliche progressiven Bewegungen anwenden, die sich in das jeweils herrschende ’System’ integrierten und wurden, was sie einst bekämpft hatten. In seiner Schrift Über die Ketzer, ob man sie verfolgen soll schreibt Castellio: „Wenn jedoch einige von den Autoren, die ich zitiert habe, anderswo oder später anderes geschrieben oder sich anders verhalten haben oder dies in Zukunft tun werden, dann wollen wir trotzdem bei ihrer ersten Meinung bleiben, weil sie in Zeiten der Bedrängnis geäußert wurde, wenn die Menschen eher die Wahrheit schreiben, und weil sie mit der Sanftmut Christi besonders gut übereinstimmt. (...) Denn es geschieht meistens, dass die Menschen, wenn sie als Mühselige und Beladene das Evangelium erstmals annehmen, über die Dinge der Religion recht denken, weil die Armut besonders empfänglich ist für die Wahrheit Christi, der auch arm war. Wenn aber die gleichen Menschen später zu Reichtum und Macht gelangen, lassen sie im Glauben nach, und diejenigen, welche sich vorher zu Christus bekannt haben, bekennen sich jetzt zu Mars und setzen die Gewalt an die Stelle der Frömmigkeit.“ (Castellio 1984, 94)[23] IV. SchlussDrei Personen, drei Niederlagen. Weder Müntzer, noch Las Casas, noch Castellio konnten sich durchsetzen. Aber, wie Montaigne in einem seiner Essays schreibt: „Die Tapfersten sind manchmal die Glücklosesten. So gibt es triumphale Niederlagen, die es mit jedem Sieg aufnehmen können.“ (Montaigne 1998, 114) philippe.kellermann @ gmx.de V. Literatur. Anonymus (1997): ’Die Denkschrift von Yucay.’ In. Bartolomé de Las Casas. Werkauswahl. Band 3/2. Herausgegeben von Mariano Delgado. S. 439-474. Paderborn/München/Wien/Zürich. Blickle, Peter (1983): Die Revolution von 1525. Zweite, neu bearbeitete und erweiterte Auflage. München/Wien. Blickle, Peter (2000): Die Reformation im Reich. 3.umfassend überarbeitete und ergänzte Auflage. Stuttgart. Brendler, Gerhard (1989): Thomas Müntzer. Geist und Faust. Berlin (Ost). Castellio, Sebastian (1984): Über die Ketzer, ob man sie verfolgen soll (1554). Auszug. In. Guggisberg (Hg.). Religiöse Toleranz. Dokumente zur Geschichte einer Forderung. S.89-99. Stuttgart. Delgado, Mariano (1994a): ’Las Casas’ Weg, Werk und Wirkung.’ In. Bartolomé de Las Casas. Werkauswahl. Band 1. Herausgegeben von Mariano Delgado. S.11-33. Paderborn/München/Wien/Zürich. Delgado, Mariano (1994b): ’Glaubenstradition im Kontext. Vorraussetzungen, Verdienste und Versäumnisse lascanischer Missionstheologie.’ In. Bartolomé de Las Casas. Werkauswahl. Band 1. Herausgegeben von Mariano Delgado. S.35-57. Paderborn/München/Wien/Zürich. Delgado, Mariano (1996): ’Universalmonarchie, translatio imperii und Volkssouveränität.’ In. Bartolomé de Las Casas. Werkauswahl. Band 3/1. Herausgegeben von Mariano Delgado. S. 161-179. Paderborn/München/Wien/Zürich. Engels, Friedrich (1989): Der deutsche Bauernkrieg. 16.Auflage. Berlin. Goertz, Hans-Jürgen (1967): Innere und äußere Ordnung in der Theologie Thomas Müntzers. Leiden.Goertz, Hans-Jürgen (1987): Pfaffenhass und groß Geschrei. Die reformatorischen Bewegungen in Deutschland. 1517-1529. München. Goertz, Hans-Jürgen (1989). Thomas Müntzer. Mystiker, Apokalyptiker, Revolutionär. München. Guggisberg, Hans R. (1997): Sebastian Castellio (1515-1563). Humanist und Verteidiger der religiösen Toleranz im konfessionellen Zeitalter. Göttingen. Harich, Wolfgang (1998): Zur Kritik der revolutionären Ungeduld. Eine Abrechnung mit dem alten und dem neuen Anarchismus. Berlin. Haude, Rüdiger (1999): ’Das richterzeitliche Israel: eine anarchistische Hochkultur. In. Haude/Wagner. Herrschaftsfreie Institutionen. Studien zur Logik ihrer Symbolisierungen und zur Logik ihrer theoretischen Leugnung. S.143-166. Baden-Baden.Kautsky, Karl (1947): Vorläufer des neueren Sozialismus. Band 2. Der Kommunismus in der deutschen Reformation. Berlin. Kobelt-Groch, Marion (1993): Aufsässige Töchter Gottes. Frauen im Bauernkrieg und in den Täuferbewegungen. Frankfurt am Main/New York. Krippendorff, Ekkehart (1999): Die Kunst, nicht regiert zu werden. Ethische Politik von Sokrates bis Mozart. Frankfurt am Main. Landauer, Gustav (1998a): ’Die Zwölf Artikel des Sozialistischen Bundes’. In. Ders. Aufruf zum Sozialismus. S.145/146. Berlin. Landauer, Gustav (1998b): Aufruf zum Sozialismus. Berlin. Las Casas, Bartolomé (1996b): ’Traktat über die Schätze Perus.’ In. Werkauswahl. Band 3/1. Herausgegeben von Mariano Delgado. S. 275-316. Paderborn/München/Wien/Zürich. Las Casas, Bartolomé (1997a): ’Traktat über die zwölf Zweifelsfälle.’ In. Werkauswahl. Band 3/2. Herausgegeben von Mariano Delgado. S. 261-426. Paderborn/München/Wien/Zürich. Las Casas, Bartolomé (1997b): ’Traktat über die königliche Gewalt’ In. Werkauswahl. Band 3/2. Herausgegeben von Mariano Delgado. S. 191-249. Paderborn/München/Wien/Zürich. Luño, Antonio-Enrique Pérez (1994): Die klassische spanische Naturrechtslehre in 5 Jahrhunderten. Berlin. Luther, Martin (1974): ’Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern’. In. Wehr (Hg.). Thomas Müntzer. Schriften und Briefe. S.206-210. Frankfurt am Main. Marin, Lou (1998): Ursprung der Revolte. Albert Camus und der Anarchismus. Heidelberg. Marx/Engels (1845): Die deutsche Ideologie. In. MEW 3. Marx/Engels (1970): Manifest der Kommunistischen Partei. 34.Auflage. Berlin. Montaigne, Michel de (1998): ‘Über die Menschenfresser’. In. Montaigne. Essays. S.109-115. Frankfurt am Main. Müntzer, Thomas (1968): Schriften und Briefe. Kritische Gesamtausgabe. Gütersloh. Müntzer, Thomas (1990): Schriften, Liturgische Texte, Briefe. Ausgewählt und in neuhochdeutscher Übertragung herausgegeben von Rudolf Bentzinger und Siegfried Hoyer. Berlin (Ost). Nettlau, Max (1993): Geschichte der Anarchie. Band 1. Der Vorfrühling der Anarchie. Seine historische Entwicklung von den Anfängen bis zum Jahre 1864. Münster. Vogler, Günter (1989): Thomas Müntzer. Berlin (Ost). Wallerstein, Immanuel (2007): Die Barbarei der anderen. Europäischer Universalismus. Berlin. Wolgast, Eike (2006): Der gemeine Mann bei Thomas Müntzer – und danach. Mühlhausen. Als historische Romane sind darüber hinaus zu den hier behandelten Themen/Personen empfehlenswert: Blissett, Luther (2003): Q. München/Zürich. (zu Thomas Müntzer und den Täufern) Schneider, Reinhold (1957): Las Casas vor Karl V. (zu Bartolomé de Las Casas) Zweig, Stefan (2006): Castellio gegen Calvin oder: Ein Gewissen gegen die Gewalt. Frankfurt am Main. (zu Sebastian Castellio) [1] Diese Eingrenzung ist exemplarisch und soll nicht so verstanden werden, als dass es dies nur im 16.Jahrhundert und dort nur diese drei Personen gegeben hätte. Das Denken der drei Personen kann dem knappen Platz entsprechend nur sehr verkürzt und schematisch dargestellt werden. Auch auf Widersprüchlichkeiten und Problematisches kann, wenn überhaupt, dann nur am Rande hingewiesen werden. Ich hoffe dies damit rechtfertigen zu können, dass es hier sowieso nur darum gehen kann einen ersten Eindruck zu vermitteln. [2] Zur Biographie siehe z.B. Vogler 1989; Brendler 1989; Goertz 1989. [3] Der „gemeine Mann ist der Bauer, der Bürger der landsässigen Stadt, der von reichsstädtischen Ämtern ausgeschlossene Städter, der Bergknappe“ (Blickle 1983, 195). Darauf, dass dabei auch immer die „gemeine Frau“ und deren Engagement mitbedacht werden muss, verweist Kobelt-Groch 1993. [4] Zu den Ursachen von Reformation und Bauernkrieg, siehe: Blickle 1983; Goertz, 1987; Blickle 2000. [5] Während Marx und Engels im Manifest überheblich vom „Idiotismus des Landlebens“ sprachen (Marx/Engels 1970, 48), stellte Engels kurze Zeit später mit Blick auf den Bauernkrieg fest: „Es gab eine Zeit, wo Deutschland Charaktere hervorbrachte, die sich den besten Leuten der Revolutionen anderer Länder an die Seite stellen können, (...), wo deutsche Bauern und Plebejer mit Ideen und Plänen schwanger gingen, vor denen ihre Nachkommen oft genug zurückschaudern.“ (Engels 1989, 29) [6] Die Rede ist von 10.000 Flugschriftenausgaben mit einer Gesamtauflage von 10 Millionen Exemplaren für den Zeitraum von 1500 bis 1530 (Höhepunkt zwischen 1517 und 1527) (Blickle 2000, 87/88). [7] Zu den Zwölf Artikeln siehe Blickle 1983; Goertz 1987. Es ist wohl kein Zufall, dass der Sozialistische Bund Gustav Landauers sein Programm Anfang des 20.Jahrhunderts ebenfalls in zwölf Artikeln niederlegte (Landauer 1998a). [8] All dies zeigt nicht nur, dass die im Bauernkrieg hergestellte Öffentlichkeit viel größer war, als beim vergleichsweise elitären und abgeschlossenen Zirkelgeschwätz der Aufklärer. Auch zeigt es, dass, was die Menge der am Aufstand beteiligten Personen angeht, sich der Bauernkrieg mit den neuzeitlichen Revolutionen messen kann. Welche Massen sich hier in Bewegung gesetzt hatten, zeigt die von zeitgenössischen Quellen angegebene Zahl von 70.000 bis 100.000 getöteten Aufständischen. [9] Im Übrigen nicht das einzige Massaker im Bauernkrieg. Als ein weiteres Beispiel sei nur Leipheim genannt, wo im April 1525 1000 fliehende Bauern ermordet wurden (Goertz 1987, 175). Die Bauernhaufen hingegen waren hauptsächlich defensiv ausgerichtet und forderten Adlige immer wieder auf, sich den Haufen anzuschließen, freilich nur, wenn sie bereit waren, auf ihre Privilegien zu verzichten und sich als Brüder in die Bündnisse zu integrieren. Ein Adliger dazu: „Der Bauern brüderliche Liebe ist mir ganz zuwider. Ich habe mit meinen natürlichen und leiblichen Geschwistern nicht gern geteilt – geschweige denn mit Fremden und Bauern.“ (zit.n. ebd.179) [10] In Luthers berüchtigter Schrift Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern heißt es: „Solche wunderliche Zeiten sind jetzt, dass ein Fürst den Himmel mit Blutvergießen verdienen kann, (und zwar) besser als andere mit Beten.“ (Luther 1974, 210) [11] Zu diskutieren wären bei näherer Beschäftigung z.B. 1.) ob Müntzer sich als Prediger in einer privilegierten Position als Auserwählter gesehen hat. 2.) Wie verträgt sich bei ihm das Plädoyer für die Pfaffenwahl durch die Gemeinde und das Selbstverständnis als Prophet? 3.) Wie unterscheidet Müntzer Gottlose und Auserwählte und inwieweit resultieren hieraus möglicherweise totalitäre Politikformen? [12] Zur Biographie siehe Delgado 1994. [13] Bei den encomiendas (Anvertrauungen) handelte es sich darum, dass dem Kolonisten Land und Arbeitskräfte zugewiesen wurden, die zwar formal freie Vasallen waren, in der Praxis aber wie Sklaven behandelt und brutal „vernutzt“ wurden. Vor allem diese „Tyrannei“ (Las Casas 1996a, 514) bekämpft Las Casas später unerbittlich. [14] Gerade vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Diskussionen um ’humanitäre Interventionen’ ist diese Disputation von einigem Interesse. Dass diese Auseinandersetzung auch für gegenwärtige Diskussionen von Interesse ist, betonte kürzlich Wallerstein 2007. [15] So sollen die Indios um Erlaubnis gefragt werden, ob man bei ihnen predigen könne. Es dürfe auch kein Indio dazu gezwungen werden, sich die Predigten anzuhören. (z.B. 1996b, 278ff.) [16] In säkularisierter Form heißt es beim Anarchisten Gustav Landauer: „nichts in der Welt hat so unwiderstehliche Gewalt der Eroberung wie das Gute“ (1998b, 13). [17] Insgesamt geht Las Casas’ Argumentation erstaunlich weit in Richtung einer Theorie der Volkssouveränität, fassbar in dem Satz: „Das Volk ist Wirkursache der Könige.“ (1997b, 205) Für manchen gilt er gar als „Demokrat avant la lettre“ (Delgado 1996, 163). [18] Problematisch am Denken Las Casas’ und im Weiteren zu diskutieren wäre z.B., dass Las Casas scharf zwischen Rechten von Heiden und Rechten von Ketzern trennt. Hat man nämlich erst einmal die Taufe empfangen, unterstellt man sich auch der Rechtshoheit der katholischen Kirche, ist dem Gehorsam gegenüber dieser verpflichtet und kann ansonsten als ’Ketzer’ bestraft werden. Andererseits scheint sein Spätdenken sogar die Möglichkeit entwickelt zu haben, diese Unterscheidung in Frage zu stellen, auch wenn er diese Konsequenz selbst nicht gezogen hat. Weiter wird immer wieder darauf hingewiesen, dass Las Casas die Einführung schwarzer Sklaven befürwortet hätte (um die Indios zu entlasten). So richtig dies ist, so deutlich muss darauf hingewiesen werden, dass er dies später bitterlich bereut hat und unmittelbare Konsequenzen darauf gezogen hat. Er schreibt diesbezüglich, dass „für sie [die Schwarzen] (...) dasselbe Recht [gilt] wie für die Indios“ (1995a, 278). Siehe zu alledem auch Delgado 1994b. [19] Inwieweit Las Casas diese Frage überhaupt deutlich entwickelt hat, weiß ich nicht - auch nicht, mit welcher Konsequenz. Man darf nicht vergessen, dass die Ketzerproblematik nicht sein eigentliches Thema war. Er agierte ja auch nicht in den Glaubenskämpfen im Europa dieser Zeit. [20] Zur Biographie siehe Guggisberg 1997. [21] In diesem Geist wird Albert Camus 400 Jahre später in der Auseinandersetzung mit Merleau-Ponty um den sogenannten Realsozialismus sagen: „Es ist besser sich zu irren und niemanden umzubringen, als recht zu haben auf einem Berg von Leichen.“ (Camus zit.n. Marin 1998, 64) [22] Das Wissen darüber, dass aus einem objektiven Wahrheitsanspruch zu schnell Ungerechtigkeit entsteht und erst der Fokus auf das praktische Verhalten eine offene, gleichberechtigte Kommunikation möglich macht, teilt Castellio mit der schwedischen Hardcoreband SEPARATION: „What is it? What do you see? What does it take to make you show it me? So you’ve got the truth and nothing but it? Well, the question is: will I believe? You’ve got your version, so go ahead, impress me. Just keep in mind that the decision is mine to make.“ [23] Was Castellio angeht, lassen sich an ihm vor allem die Probleme jeder Toleranzforderung diskutieren. Interessant wäre zu fragen, inwiefern Gemeinsamkeiten zwischen Castellio und den in Frankreich aktiven politiques und Theoretikern der Souveränität (Bodin) bestehen, deren Denken nicht gerade emanzipatorischen Gehalt hatte. |
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