|
Elisabeth Steger: „Ein WIRKLICH netter Mensch zu sein, ist eine immens politische Angelegenheit“. Eine Entgegnung „Wenn also von Produktion die Rede ist, ist immer die Rede von Produktion auf einer bestimmten gesellschaftlichen Entwicklungsstufe – von der Produktion gesellschaftlicher Individuen“ (Marx).Von der Produktion gesellschaftlicher Individuen ... d.h. es ist die Rede von der Produktion, die von gesellschaftlichen Individuen getätigt wird, gen. subiectivus, und im gleichen Atemzug von der Produktion gesellschaftlicher Individuen selbst, gen. obiectivus. Im speziellen Fall der Theorieproduktion ist es dann so, dass man1 nicht nur an Theorien bastelt, wenn man an Theorien bastelt, sondern man bildet sich auch selbst dabei, bildet sich aus, entwickelt sich, theoretisch UND praktisch. Paolo Virno wiederum bezieht sich in seiner Schrift „Die Grammatik der Multitude“ auf diesen Marxschen Begriff des gesellschaftlichen Individuums und schreibt dort auf Seite 110, dass „gesellschaftlich“ mit präindividuell und „Individuum“ mit Endergebnis des Individuationsprinzip übersetzt werden muss: „Insofern man unter präindividuell die Sinneswahrnehmung, die Sprache, die Produktivkräfte zu verstehen hat, könnte man auch sagen, dass das „gesellschaftliche Individuum“ dasjenige ist, das offen seine eigene Ontogenese, seine Bildung zur Schau stellt.“ Und an diesem Punkt, durch den Begriff der Ontogenese wird eine Verschiebung sichtbar. Ontogenese meint also die individuelle Entwicklung der Sinneswahrnehmung, der Sprache und der Produktivkraft - ist aber auch ein Begriff der Biologie, der die Entwicklung des Individuums von der Eizelle zum geschlechtsreifen Zustand meint. Es geht also um Bio- Politisches. Und somit wird der Fokus auf den leiblichen Menschen gelegt. Es geht hier nur am Rand um die Produktion eines Werkes und auch nicht um Reproduktion als Fortpflanzung der Geschlechter, sondern um das Sich-Selbst-Produzieren. Paolo Virno nennt dies das „Zur-Schau-Stellen“ im Sprechen, Handeln und Wahrnehmen. Wir befinden uns also im Zirkus oder den Zirki der Multitude. Und die SchaustellerInnen bieten ihre Kunststückerln einem Publikum dar. Wo sonst könnten wir auch ansetzen, wenn wir etwas verändern wollen (wenn wir das wollen) als bei unseren Sprachen und Körpern? Und mit diesem (sicherlich spärlichen) theoretischen Rüstzeug zum Begriff des Individuums (ich möchte hiermit aber auch keine Abhandlung zum Begriff des Individuums produzieren), leite ich über zum „autonomen Lehrstück“ des Gabriel Kuhn, zur Arbeit „Jenseits von Staat und Individuum – Individualität und Autonome Politik“. Meine Gestimmtheit als neugieriger Mensch bringt mich dazu, mich mit Büchern zu beschäftigen, die ich ohne diese Gestimmtheit, und würde ich nicht im informellen Austausch an den Rändern eines Kollektivs stehen, wahrscheinlich nicht lesen würde. In eine Zeitschriften- Redaktion flattern diverse Publikationen – und so kam auch Gabriel Kuhns Buch hereingeschneit und wollte gelesen werden. Den ursprünglichen Adressaten mangelte es an der Zeit, dies zu tun. So tat ich es. Und dieses „es“ könnte man wohl auch ganz einfach als Arbeit am Kollektiv bezeichnen (und dass ich das somit für mich selbst auch tue ist logisch). Das im März 2007 veröffentlichte Buch Kuhns entstand ursprünglich Mitte der 90er Jahre als Universitätsarbeit – im Grunde ist das auch schon das Wichtigste, was man über dieses Buch wissen muss - und es wurde vom Autor 10 Jahre später Kompromisse findend überarbeitet. Zum Einen wollte Kuhn dadurch seinem Text etwas vom „spätpubertär- rotzigen Ton“ nehmen, an einigen Stellen entschied sich der Autor jedoch dagegen Änderungen vorzunehmen, z.B. dort, wo seine „zu optimistische Rezeption poststrukturalistischer Theorie“ erkennbar bleiben sollte, dort wo die „popkulturellen Referenzen theoretische Progressivität verbürgen sollen“ und ebenso dort, wo er aus der „Risikogesellschaft“ von Ulrich Beck zitiert, und das tut er recht oft (Seite 8). Der Fußnotentext innerhalb des Buches und die Bibliographieliste am Ende sind sehr umfangreich - nicht weniger als 241 Bücher werden als Lektüren angeführt. Hinzu kommt bei Kuhn eine Filmographie- und eine Diskographieliste. Da dem Buch auch ein aktuelles Nachwort angefügt ist, in welchem eine bemerkenswert selbstkritische Haltung zu Tage tritt, können wir getrost darauf verzichten, das, was „zweifellos fehlt“, nämlich die „analytischen Vertiefungen“ zu bemängeln (Seite 158). Alles was uns zu tun bleibt, ist vielleicht das, was Gabriel Kuhn so beschreibt: wir sind „aufgefordert, Techniken diskursiver Intervention zu entwickeln, die die intellektuellen Einsichten der Diskursanalyse lebenspraktisch relevant werden lassen.“ (Seite 118). Und unter Lebenspraxis verstehe ich – vielleicht im Gegensatz zu Kuhn – nicht nur eine Lese- und Schreibpraxis, eine Musikhör- Praxis und Filmschau- Praxis, sondern auch eine Praxis des Dialogs und der Begegnung. Paolo Virno´ s Grammatik der Multitude, die mit ihren Teilen zum Individuationsprinzip hier vielleicht im engen inhaltlichen Zusammenhang stehen kann, weshalb auch Eingangs bereits deutlich darauf hingewiesen wurde, ist leider nicht auf Kuhns Literaturliste zu finden. Die Grammatik erschien natürlich erst vor kurzem, also kann man dem Autor eine solche Lücke kaum zur Last legen. Kuhns skeptische Bemerkungen hinsichtlich Giorgio Agambens Buch „Die kommende Gemeinschaft“ und im speziellen der darin „abstrakt angelegten Theorie zur Kollektivität oder Gemeinschaft“ („Ein Agambenscher Zugang zur Thematik mag für andere fruchtbringend sein, für mich ist er es jedoch nicht.“, Seite 148) legen außerdem fast den Schluss nahe, dass auch Virnos Dechiffrierung des Marxschen Begriffes des Gesellschaftlichen Individuums mit Hilfe der Schriften des französischen Philosophen Gilbert Simondon und von Duns Scotus für Kuhns pragmatisch angelegtes Theoriekonzept unbrauchbar sein würde. Aber wer weiß? Es liegt im übrigen für die Leserin, die auf Belehrungen oder genauer gesagt auf belehrenden Ton eher weniger Wert legt, eigentlich der ganze Haken an der Kuhnschen Theorie bzw. der darin vorherrschenden didaktischen Sprache. Die 168 Seiten von „Jenseits von Staat und Individuum“ sind sehr übersichtlich in zwei Hälften gegliedert: die ersten 88 Seiten werden einer „Genealogie, Bestandsaufnahme und Kritik“ des gegenwärtigen Gesellschaftszustands gewidmet, dem „neuzeitlichen Individualismus“, wie Kuhn ihn nennt, und sie leiten mit dem lapidaren Satz: „Wem all das nicht behagt, darf weiterlesen. Von nun an soll es darum gehen, wie dies zu überwinden ist“ zur zweiten Hälfte über, zu einer Skizze „antiindividualistischer Individualität“, ein Begriff Kuhns, mit dem er das Entwickelnswerte zu fassen versucht und der uns eben in seiner Eigenschaft als Oxymoron an den Begriff des „gesellschaftlichen Individuums“ Karl Marx erinnert. Kuhn verwendet das Adjektiv „neuzeitlich“ übrigens synonym mit „modern“. Es soll hier nicht über den Begriff „modern“ oder „Moderne“ philosophiert werden. Ich neige aber dazu, Gabriel Kuhns Theorie als postmoderne Theorie zu bezeichnen und beziehe mich, wenn es um den leidigen Begriff der Postmoderne geht auf das Buch „Schnittstellen – Das Postmoderne Weltbild“ von Gerhard Johann Lischka, Schweizer Philosoph und Schriftsteller, der in seinem Buch schreibt: „In der Postmoderne gibt es durch die Vielfalt der Geschichte(n) und der Ausdrucksmöglichkeiten eine Verfransung ehemals einheitlicher Stilvorstellungen und Ideologien zugunsten einer Reichhaltigkeit von Weltbildern, die sich bis zum individuellen Stil hin verzetteln.“ (ebendort Seite 6) Als Ausgangspunkte seiner Anleitungen zu einem autonomen/kollektiven Leben wählt Gabriel Kuhn zwei (Jungen-) Geschichten: die des Motorcycle Boy aus dem Film Rumble Fish von Francis Ford Coppola aus dem Jahr 1985 und die Figur des Silver Surfer, eines „edlen Helden“ und seinen Abenteuern, die einem 60er Jahre Comic des Duos Stan Lee und Jack Kirby entstammt. Beim Lesen auf Seite 16 angekommen haben ich meinen Bleistift gezückt und mir dabei vorgenommen alle weiteren Stellen zu markieren, die mir „für alle geschrieben, die das Denken eines jungen Mannes und die Entwicklung desselben studieren möchten“ erscheinen würden. Ich war nach den ersten Seiten überzeugt davon, es würden viele solcher Stellen folgen. Gabriel Kuhn wirft zunächst den Blick zurück auf „den Einzelnen“ in vorneuzeitlichem Kontext. Nach dem Satz „Es gibt zahlreiche Indizien dafür, dass den Einzelnen in der europäischen Kulturgeschichte schon lange vor dem 15. Jahrhundert in bestimmten gesellschaftlichen Zusammenhängen – zum Teil beachtliche – Aufmerksamkeit zukommt“ (Seite 26 ) kam mir dann Sappho in den Sinn, und ihre Gedichte, in denen sie über „sich selbst“ nachdenkt, ungefähr 500 Jahre vor Beginn christlicher Zeitrechnung. (Nanni Balestrini sprach 2006 im Rahmen eines Kunst- Projekts in Wien mit dem Titel „Alter Ego“ vom Verständnis von Individuum/Kollektiv im Altertum, und stellte fest, dass die Stimme des antiken Dichters/ der Dichterin als Stimme eines Kollektivs zu verstehen sei). Aber damit bewegt man sich bereits einen Schritt weiter „zurück“, als dies Kuhn tut. Sappho möge auch lieber „selbst“ sprechen, mit einem Gedicht, in dem sie ihre Frauenwelt der Männerwelt programmatisch gegenüberstellt. Man hat dem Gedicht den Titel „Das Schönste“ gegeben: „Die einen sagen: eine Truppe von Reitern, andere wieder: Fußvolk oder eine Flotte von Schiffen sei auf der dunklen Erde das Schönste – ich aber sage: das, was ein jeder lieb hat.“ Und wenn wir in diesem Sinn hier im Text fortfahren möchten, macht es tatsächlich keinen Sinn mehr auf Kuhns Genealogie, in der sich an Italo-Westernhelden und anderen (hauptsächlich männlichen) Geschichtsverirrungen und Verwirrungen abgearbeitet wird, einzugehen. An dieser Stelle sei das ursprüngliche Konzept meiner Buchbesprechung verworfen, in welchem ich versuchte auf einzelne Punkte in der linearen Abfolge von Kuhns Genealogie ebenso linear einzugehen. Es sei festgestellt, dass ich den Marxschen Begriff des gesellschaftlichen Individuums für vollkommen ausreichend halte, um die gelebten Widersprüche in den singulären/kollektiven Leben der Menschen zum Ausdruck zu bringen. Man kann getrost auf zungenbrecherische Begriffe verzichten, wenn in der Geschichte der politischen Sozialwissenschaften bereits prägnante, knappe und klare Ausdrucksweisen vorhanden sind. Oder anders gesagt: „Es mag paradox erscheinen, aber ich glaube, die Marxsche Theorie könnte (ja, sollte) heute als eine realistische und komplexe Theorie des Individuums verstanden werden, als rigoroser Individualismus, als eine Theorie der Individuation.“ (Paolo Virno, Grammatik der Multitude, Seite 110) Gabriel Kuhn schreibt meist sehr konkret. Man kann sein Bemühen um eine an Lebenspraxis orientierte Theorie anerkennen und trotzdem der Meinung sein, dass dieses bemühte Konkrete sehr leicht in eine platte Sprache kippt, die möglicherweise diejenigen Leserinnen verstimmen wird, welche selbst an lebenspraktischen Transformationen des herrschenden Wahnsinns im WIK2 arbeiten. Mir selbst erging es auf jeden Fall so bei der Lektüre. Zuletzt seien aber die sieben Punkte erwähnt, mittels derer Kuhn seine Skizze anti- individualistischer Individualität entfaltet, weil es nicht schaden kann, hier, im Rahmen der Zeitschrift Grundrisse, einem von mehrheitsösterreichischen Männern dominierten Kollektiv (denn von eben solchen wurden die Grundrisse gegründet) auf die sieben magischen Punkte eines jungen Anti-Faschisten hinzuweisen. Die Emigrantin, die hier schreibt, tut dies nicht zuletzt deshalb, weil sich ein Aspekt darunter findet, der ihres Erachtens nach von Kuhn nicht zur Genüge in seiner Bedeutung reflektiert wurde, wahrscheinlich nicht reflektiert werden konnte. Diese sieben Punkte sind: 1. Individuelle Verantwortlichkeit: Dies bedeutet nach Kuhn „unser Handeln permanent zu reflektieren“ (Seite 96) 2. Selbstrespekt: „Dabei ist freilich eine ethische Aktivität gemeint, eine Aktivität im Gestalten eines sozialen Lebensraums“ (Seite 96) 3. Selbsterkenntnis: „Ganz einfach gesagt: Es geht darum, uns selbst gegenüber ehrlich zu sein. Diese Ehrlichkeit uns selbst gegenüber ... ist die Selbsterkenntnis ... sie ist Grundlage notwendiger Selbstreflexion“. (Seite 98) 4. Kreativität – Nun, dies ist der Punkt, den Kuhn anhand von 5 Zeilen glaubt abhandeln zu können. Und damit kann er meiner Meinung nach nur fehl gehen. 5. Schutz vor Totalisierung: Hier zitiert Kuhn Max Stirner, und somit den „Einzelnen“ als den „unversöhnlichen Feind der Allgemeinheit“, den Feind „jeder Fessel“. 6. Pluralität: „In einem Kollektiv gibt es eine Bandbreite verschiedener Arbeiten, die zu tun, und Rollen, die einzunehmen sind.“ meint Gabriel Kuhn. Und dafür sei Individualität von Nöten. (Seite 99) In meinem Kollektiv- Fall könnte man sagen, dass die Zeitschrift Grundrisse bisher sicherlich davon profitierte, dass Elisabeth Steger über ein ordentliches Maß an individueller Selbsterkenntnis verfügt, d.h. sie spielte verschiedene Rollen und tat verschiedenste Arbeiten (ohne offiziell Redaktionsmitglied zu sein wohlgemerkt!) 7. Soziale Dynamik: Kuhn versteht darunter ein „Eingehen der Einzelnen auf die Veränderungen ihrer Existenzbedingungen“ im Gegensatz zur passiven Determinierung als Subjekt durch die Staatsmächte. (Seite 101) Dieser siebente Punkt nimmt bei Kuhn den meisten Raum ein. Und es wäre daher ungerecht, wenn ich nicht selbst in meiner zugegebenermaßen etwas eigenartigen, eigenwilligen Buchrezension, meiner Entgegnung, wie ich diesen Text nenne, näher auf diesen siebenten Punkt eingehen würde. Der deklarierte Antifaschist Kuhn verfällt meines Erachtens leider oft demselben Fatalismus, den er selbst anprangert, wie z.B. an dieser Stelle: „Gerade heute, wo sich ALLES dem verantwortungs- und prinzipienlosen Konsumrausch hingibt, wäre es fatal, diese Bedingung preiszugeben“ (Seite 102). Die Bedingung, die Kuhn meint, ist die Bedingung der „entschlossenen Konsequenz im kompromisslosen Verfolgen gefestigter Werte und starker Prinzipien“. Merkwürdigerweise bleibt Kuhn hier recht abstrakt, fordert im Anschluss daran „gefestigte, starke und konsequente“ Individuen (Seite 102). Mir bleibt, dies kommentierend und damit abschließend, eigentlich nur die Freude hier mit einem Zitat zu enden, mit einem Gedicht von Frau Eva Löwenthal, einer antifaschistischen Widerstandskämpferin und Freundin aus Wien, die ich ein Stück ihres Lebensweges begleiten konnte. Sie verbrachte die letzten Lebensjahre im Sanatorium Maimonides, dem Alters- und Pflegeheim der jüdischen Kultusgemeinde Wien, wo ich seit 2001 als private Betreuerin tätig bin: Sprache des Flusses E-Mail: waldnaab @ klingt.org Literatur: Gabriel Kuhn, „Jenseits von Staat und Individuum – Individualität und Autonome Politik“, Unrast – Verlag Münster 2007 Marion Giebel, „Sappho in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten“ rororo bildmonographien 1980 Fischer Stiege/Alter Ego, Kunst- Projekt im Öffentlichen Raum, Gertrude Moser - Wagner DVD Wien 2006 Eva Löwenthal, „Rauchblumen blühen nicht“, Heimatland Verlag, Wien 1983 Gerhard Johann Lischka, „Schnittstellen - Das Postmoderne Weltbild“, Benteli Verlag Bern 1997 Paolo Virno, „Grammatik der Multitude – Die Engel und der General Intellect“, Turia + Kant 2006 Karl Marx, „Vorwort und Einleitung von Zur Kritik der Politischen Ökonomie”, MEW Band 13, Berlin |
|