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Paul Pop:
Ist Sex
subversiv?
Linke Theorien der sexuellen Befreiung und Gender-Dekonstruktion
Teil 2: Von der feministischen Sex-Debatte zum postmodernen
Gender-Trouble
Am 13.September 1968
flogen auf einer Delegiertenkonferenz drei Tomaten auf grinsende Männer am
Vorstandtisch des SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund). Die männlichen
Genossen hatten offensichtlich der Rede von Helke Sander vom „Aktionsrat zur
Befreiung der Frau“ nicht ernsthaft genug zuhören wollen. Dieser Tomatenwurf
wird weithin als der Beginn der zweiten oder neuen Frauenbewegung in Deutschland
angesehen. Unter dem Motto „Befreit die sozialistischen Eminenzen von ihren
bürgerlichen Schwänzen“ organisierten sich nun die Frauen innerhalb der neuen
Linken und wandten sich gegen „sozialistischen Bumszwang“ und „Orgasmusterror“.
Frauen stellten die Arbeitsteilung innerhalb der neuen Linken und der Kommunen
in Frage. Im Umfeld der APO (Außerparlamentarische Opposition) versuchte die
Kinderladen-Bewegung eine Alternative zur herkömmlichen Kleinfamilie zu
schaffen. Organisierten sich die Frauen anfangs noch gemeinsam mit den Männern
und formulierten ihre Kritik im freudo-marxistischen Framework, so entstand in
Folge auch in Deutschland der Feminismus als eigenständige Theorie und Bewegung.
In diesem Artikel sollen
zunächst einige Theorien zur Sexualität des Feminismus dargestellt werden.
Während die „Anti-Sex“-FeministInnen im heterosexuellen Geschlechtsverkehr
hauptsächlich eine Unterdrückungspraxis der Frauen durch die Männer sahen,
sprachen die libertären FeministInnen der Sexualität durchaus noch
Befreiungspotential zu. Für eine vollkommen neue Sichtweise von Sexualität
sorgte dagegen Michel Foucault, indem er Sexualität als Konstruktion aus dem
19.Jahrhundert entlarvte und sich gegen die Repressionshypothese von Wilhelm
Reich wandte. Anknüpfend an Foucault entwickelte sich seit den 80er Jahren ein
postmoderner Feminismus, der das Weltbild der zweiten Frauenbewegung stark in
Frage stellte und sich der Dekonstruktion von Geschlecht als solches zuwandte.
Dieser Artikel gibt eine
Übersicht über wichtige Fragen und Theoriestränge in der Sex-Debatte von 1968
bis heute. Wie schon im ersten Teil des Artikels, erschienen in grundrisse
Nr.20, werden die zentralen Thesen einiger wichtiger Werke dargestellt und
eingeordnet. Die Auswahl soll weder einen Kanon darstellen noch ist sie
repräsentativ. Natürlich ist der Artikel auch nicht unbeeinflusst von der
Tatsache, dass ihn ein heterosexueller Mann geschrieben hat, der in der
marxistischen Linken politisiert wurde. Am Ende des Artikels wird versucht, die
Frage „Ist Sex subversiv?“ zu beantworten.
I. Feministische Diskurse:
Befreiung der Frau von patriarchalem Sex und Kleinfamilie
Unter sexueller Befreiung verstehen 1968 die meisten Linken
nicht eine qualitative Veränderung des Sexes und eine Infragestellung der
Geschlechteridentitäten, sondern eine quantitative Ausweitung der
heterosexuellen Sexualkontakte (Schwenken 1999). Zwar tritt man in Allgemeinen
für die Befreiung der Frau ein, die Machtverhältnisse in den eigenen Reihen
werden aber kaum thematisiert. Als die Frauen nun die patriarchalen Strukturen
in den linken Organisationen in Frage stellen, suchen sie nach theoretischen
Bezugspunkten und lesen wieder Engels „Der Ursprung der Familie, des
Privateigentums und des Staates“ oder August Bebel „Die Frau und der
Sozialismus“. Feministinnen wie Firestone (1987) oder Mitchell (1976) glauben,
durch eine kritische Leseart von Freud eine Kritik am Patriarchat formulieren zu
können, während andere wie Millet (1982) die Psychoanalyse für eine zutiefst
frauenfeindliche Theorie halten. Wieder entdeckt wird auch Simone de Beauvoirs „Enzyklopädie
des Feminismus“: „Das andere
Geschlecht: Sitte und Sexus der Frau“ von 1949. Ein anderer wichtiger
Bezugspunkt ist das „women liberation movement“ aus den USA.
Firestone: Der
kybernetisch-feministische Kommunismus
Meiner Meinung nach ist „Frauenbefreiung
und sexuelle Revolution“ von Shulamith Firestone eine der interessantesten und
radikalsten feministischen Schriften der 70er Jahre. Deshalb möchte ich dieses
Buch in Bezug auf die Sex-Debatte ausführlicher vorstellen. Es erschien 1970 in
den USA und galt dort lange als das Manifest der Frauenbewegung. Später wurde es
auch in Deutschland zum Klassiker. Das Buch beginnt mit einem Zitat von
Friedrich Engels und stammt aus einer Zeit als der Feminismus noch einen starken
Bezug zum Marxismus hatte. Firestone umreißt ihr Programm der feministischen
Revolution so: „Und genau wie am Ende einer sozialistischen Revolution nicht nur
die Abschaffung von ökonomischen Klassenprivilegien, sondern die Aufhebung der
Klassenunterschiede selbst steht, so muss die feministische Revolution, im
Gegensatz zur ersten feministischen Bewegung, nicht einfach auf die Beseitigung
männlicher Privilegien, sondern der Geschlechtsunterschiede selbst zielen:
genitale Unterschiede zwischen den Geschlechtern hätten dann keine
gesellschaftliche Bedeutung mehr“. Anstelle der Hetero-Homo-Bisexualität würde
dann eine „polymorphe Perversion“, sprich Pansexualität, treten. „Die
Reproduktion der Art allein durch ein Geschlecht zugunsten beider Geschlechter
würde durch künstliche Fortpflanzung ersetzt werden (oder zumindest eine freie
Entscheidung für oder gegen diese Möglichkeit erlauben)... Die Arbeitsteilung
hätte ein Ende durch die Abschaffung von Arbeit überhaupt (durch die
Kybernetik). Die Tyrannei der Familie wäre zerschlagen“ (Firestone 1987: S.19).
Firestones Vorstellungen sind deutlich von Marcuse beeinflusst, aber auch von
Kybernetik-Utopien jener Zeit (Erklärung von Kybernetik siehe
http://de.wikipedia.org/wiki/Kybernetik).
Firestones „kybernetischer Kommunismus“ bedarf allerdings einer Übergangsphase,
in der es ein garantiertes Grundeinkommen vom Staat für alle gibt: „Dieses feste
Einkommen würde ganz von selbst, wenn es gleichmäßig an Männer, Frauen und
Kinder, ungeachtet ihres Alters, ihrer Ausbildung, ihres Status oder ihrer
Geburt, gezahlt wird, auf einen Schlag das gesamte ökonomische Klassensystem
egalisieren“ (ebenda: S.256f.).
Auffällig an Firestones
Buch ist, dass 1970 noch nicht die Männer die Hauptgegner sind, sondern die
Familie. In der biologischen Kleinfamilie sieht Firestone den Hort der
Unterdrückung von Frauen und Kindern und die Quelle psychologischer,
ökonomischer und politischer Unterdrückung in der Gesellschaft überhaupt.
Ähnlich wie Wilhelm Reich erklärt Firestone das Scheitern der russischen
Revolution: „Die russische Revolution hat versagt, eine klassenlose Gesellschaft
zu schaffen, weil sie nur einen halbherzigen Versuch gemacht hat, die Familie
und die sexuelle Unterdrückung abzuschaffen“ (ebenda: S.231). Anstelle der
Familie sollen Wohngemeinschaften von ca. 10 Erwachsenen plus Kinder treten, die
einen Vertrag für das Zusammenleben von sieben bis 10 Jahren schließen, sprich
„eine Zeitspanne die notwendig ist, damit die Kinder in einer stabilen Struktur
aufwachsen“ (ebenda: S.252). In diesen Wohngemeinschaften sollen sich alle um
die Kinder kümmern. Aus einer biologischen Elternschaft darf deshalb kein
Besitzanspruch bezüglich der Kinder abgeleitet werden. Gefällt es den Kindern in
einer Wohngemeinschaft nicht, so können sie in eine andere wechseln. Erwachsene
haben allerdings erst nach sieben bis zehn Jahren das Recht vor einem Gericht
die „Scheidung“ von der Wohngemeinschaft durchzusetzen (ebenda: S.255).
Die Kinderfrage liegt
Firestone besonders am Herzen. Im Kapitel „Nieder mit der Kindheit“ versucht
sie, die Kindheit als soziale Konstruktion der Neuzeit zu entlarven, die die
Kinder entmündigt und von den Erwachsenen abhängig gemacht habe. Durch die
Theorien von der Schwäche und Unschuld der Kinder würden diese von der
Erwachsenenwelt abgesondert und ihre Sexualität unterdrückt werden. Sie fordert
deshalb: „Alle Institutionen, die die Geschlechter trennen oder Kinder von der
Gesellschaft der Erwachsenen ausschließen, müssen zerstört werden. (Nieder mit
der Schule!)“ (ebenda: S.227). Nach der Abschaffung des Begriffs der Kindheit
sollen alle Kinder die vollen ökonomischen, sexuellen und politischen Rechte wie
Erwachsene genießen. „Das Kind wird weiterhin intime Liebesbeziehungen anknüpfen
können, oder an der Stelle enger Bindungen zu einer vorgegebenen ‚Mutter’ oder
einem ‚Vater’, wird das Kind diese Bindung zu Personen eigener Wahl, unabhängig
von deren Alter oder Geschlecht, aufbauen können“ (ebenda: S.261). In den
Wohngemeinschaften, die die Kleinfamilie ersetzen sollen, verliert nach
Firestone das Inzest-Tabu seine Funktion. „So gesehen könnten die Erwachsenen
ohne das Inzest-Tabu nach einigen wenigen Generationen zu einer natürlichen
polymorphen Sexualität zurückfinden (...). Beziehungen mit Kindern würden soviel
genitale Sexualität beinhalten, wie es dem Kind möglich ist – wahrscheinlich
erheblich mehr, als wir jetzt glauben –, doch weil die genitale Sexualität nicht
mehr Brennpunkt einer Beziehung ist, wäre das Fehlen eines Orgasmus kein
ernsthaftes Problem“ (ebenda: S.262). Solche Formulierungen würden heute
vielleicht strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen. Firestones Ideen sind
1970 stark von den Diskursen der anti-autoritären Erziehung geprägt. Heute
stellen die meisten Feministinnen nicht die sexuelle Befreiung der Kinder,
sondern den Schutz der Kinder vor sexuellen Übergriffen der Männer in den
Vordergrund. Wie Reich konstruiert Firestone eine Natürlichkeit der Sexualität,
in diesem Fall eine polymorphe Pansexualität, von deren Standpunkt aus sie die
genitale Sexualität kritisiert. Beide Natürlichkeitspostulate werden vom
postmodernen Feminismus stark kritisiert.
An Firestones Text wird
deutlich, dass der Versuch, eine Utopie im Detail zu beschreiben, schon 30 Jahre
später die LeserInnen erschaudern lässt. Vor allem der technische Aspekt ihrer
Utopie erscheint aus heutiger Sicht grotesk und das Wort Kybernetik werden viele
noch nicht einmal kennen. Ihr völlig unkritisches Eintreten für künstliche
Fortpflanzung erscheint heute unverständlich. Firestone geht von einer recht
naiven Neutralität der Technik aus: Sind die Wissenschaften einmal dem
bürgerlichen Patriarchat entrissen, können sie im kybernetischen Kommunismus für
die Befreiung der Frau eingesetzt werden. Polemisch ausgedrückt:
„Stammzellenforschung in Frauenhand ist sicher“.
Ähnlich wie beim
orthodoxen Marxismus-Leninismus erscheint die Befreiung als Automatismus. Die
Familie ersetzt bei Firestone das Privateigentum als Hauptgegner. Ist die
Familie erst einmal zerschlagen, verschwindet alle Unterdrückung. Neue Formen
von Abhängigkeiten werden kaum thematisiert. Sich von einer Wohngemeinschaft
erst nach sieben bis zehn Jahren scheiden lassen zu können, erscheint mir mehr
als „Gefängnis“ als die heutige bürgerliche Ehe, die in einem Drittel der Fälle
schon nach einigen Jahren zerfällt. Schon Simon de Beauvoir wendet sich in ihrem
Klassiker „Das andere Geschlecht“ gegen einen Automatismus der Befreiung:
„Außerdem bedeutet die Abschaffung der Familie nicht zwangsläufig die Befreiung
der Frau: das Beispiel Spartas und das des Naziregimes beweisen, dass die Frau,
auch wenn sie unmittelbar dem Staat unterstellt ist, deshalb von Männern nicht
weniger unterdrückt werden kann“ (de Beauvoir 2005: S.83). Sicher schwebt
Firestone keine Staatstyrannei vor, aber die Auflösung der Familie kann wieder
zu neuen Herrschaftsformen über Frauen und Kinder führen.
Der radikale Feminismus: Koitus
als Herrschaftsinstrument des Patriarchats
Ein zentrales Anliegen der feministischen
Bewegung in den 70er Jahren ist die Trennung von Sexualität und Fortpflanzung.
Unter der Parole „Mein Bauch gehört mir“ fordern die Frauen das Recht auf
Selbstbestimmung über ihren eigenen Körper. Die Frau soll selbst entscheiden,
ob, wann und wie viele Kinder sie bekommt („Ob Kinder oder keine, entscheiden
wir alleine.“) Die vollständige Legalisierung der Abtreibung war deshalb eine
wichtige Forderung. Trotz dieses Konsenses gibt es in der feministischen
Bewegung aber auch große Differenzen.
In den 70er Jahren erleben
die USA die so genannten „Sexkriege“ unter den FeministInnen. Die Spaltung
verläuft zwischen der Anti- und Prosexfraktion, beziehungsweise den radikalen
und libertären Feministinnen (siehe Ferguson 1984). Grob gesagt, betrachten die
radikalen Feministinnen heterosexuelle Beziehungen als patriarchal strukturiert,
in denen der Mann der Unterdrücker und die Frau die Unterdrückte ist. Kate
Millet stellt in ihrem einflussreichen Werk „Sexus und Herrschaft“ die These
auf, dass Sexualität ein politisches Instrument ist und der Koitus dem
Patriarchat zur Unterdrückung und zur Demütigung der Frau diene. Diese Fraktion
der FeminstInnen stellt die Vergewaltigung als das Unterwerfungsinstrument der
Frau in den Mittelpunkt. Radikale Feministinnen fordern in der Regel ein Verbot
von Pornographie (Stichwort: „Pornographie ist die Theorie, Vergewaltigung die
Praxis“) und Prostitution. Außerdem greifen sie Sadomasochismus (SM) als
frauenfeindliche Praxis an.
Im Gegensatz dazu sehen
die libertären Feministinnen in der Sexualität auch Befreiungspotentiale.
Anstatt bestimmte sexuelle Praktiken wie den Koitus abzulehnen, bestünde die
Befreiung der Frau für sie gerade darin, alles zu tun, was ihr Spaß macht und
sie befriedigt (Ferguson 1984: S.109). Die libertären Feministinnen sind in der
Regel gegen ein Verbot von Prostitution und Pornographie. Im Gegenteil, die
Legalisierung von Prostitution soll die Arbeitsbedingungen der SexarbeiterInnen
verbessern und sie gesellschaftlich anerkennen. Pornographie ist nicht per se
schlecht, sondern könne auch dazu genutzt werden, um die monogame,
heterosexuelle Zwangspartnerschaft in Frage zu stellen.
Im Zentrum der Kritik der radikalen
Feministinnen steht der „Mythos vom vaginalen Orgasmus“. Anne Koedt verfasste
den gleichnamigen Text für die 1. Nationale Frauenbefreiungskonferenz in den USA
1968. Wie schon in Teil 1 meines Artikels erwähnt, wird für Sigmund Freud ein
Mädchen zur sexuell gesunden Frau, wenn es ihr gelingt, das Lustzentrum von der
Klitoris in die Vagina zu verlegen. Die Klitoris sah Freud als Pedant zum Penis,
während er die Vagina als eindeutig weiblich definierte. Gestützt auf einige
wissenschaftliche Untersuchungen versucht Koedt diese Annahme als Mythos zu
entlarven. Frauen würden nur durch die Stimulierung der Klitoris und nicht der
Vagina zum Orgasmus kommen. Männer verteidigten den Mythos, weil die Vagina die
beste Stimulation für den Penis ist, sie die Frauen dominieren wollen und Angst
davor haben, sexuell überflüssig zu werden. Nur beim Vorspiel würden die Männer
die Klitoris stimulieren, um die Vagina geschmeidig zu machen. Das folgende
Eindringen in die Frau lässt diese aber dann unbefriedigt zurück. Frauen, die
eigentlich völlig gesund seien, wird von Medizinern und Psychologen eingeredet,
dass sie frigide und verklemmt seien, weil sie keinen vaginalen Orgasmus
bekommen. Koedt wendet sich auch gegen Frauen, die behaupten, einen vaginalen
Orgasmus zu haben. „Diese falsche Annahme wird durch zwei Faktoren
hervorgerufen. Einerseits dadurch, dass Frauen das Zentrum des Orgasmus falsch
lokalisieren, und anderseits dadurch, dass Frauen die eigene Erfahrung der
sexuellen ‚Normalität’ anpassen wollen“ (Koedt 1988: S.83).
Auch Alice Schwarzer
attackiert in dem Klassiker der deutschen Frauenbewegung „Der kleine Unterschied
und seine großen Folgen“ von 1975 den Mythos vom vaginalen Orgasmus. Andrea
Trumann (2002) zählt Alice Schwarzer zu den Gleichheitsfeministinnen, die außer
der Gebärfähigkeit zwischen Frauen und Männern keine biologischen Unterschiede
anerkennen. Schwarzer schreibt: „Denn Biologie ist nicht Schicksal, sondern wird
erst dazu gemacht. Männlichkeit und Weiblichkeit sind nicht Natur, sondern
Kultur. Sie sind die in jeder Generation neu erzwungene Identifikation mit
Herrschaft und Unterwerfung. Nicht Penis und Uterus machen uns zu Männern und
Frauen, sondern Macht und Ohnmacht“ (Schwarzer 2001: S.179). Die Frau definiert
Schwarzer damit in erster Linie über ihre Opferrolle. Die großen Folgen des
kleinen biologischen Unterschieds beschreibt sie in ihrem Buch bezogen auf die
Sexualität. Durch Interviews und Gesprächen mit Frauen kommt Schwarzer zu dem
Ergebnis, dass zwei Drittel von ihnen durch die männliche Sexualpraxis der
Penetration frigide gemacht worden sind. Wie Koedt behauptet Schwarzer, dass es
keinen vaginalen Orgasmus gäbe. Masturbierende Frauen berührten sich fast immer
nur von außen, also an der Klitoris.
Um beim Sex Spaß zu haben,
sei für Männer und Frauen der Koitus überflüssig und durch andere Sexpraktiken
könnten außerdem ungewollte Schwangerschaften verhindert werden, so Schwarzer.
Als Fazit zieht sie: „Nur der Mythos vom vaginalen Orgasmus (und damit die von
der Bedeutung der Penetration) sichert den Männern das Sexmonopol über die
Frauen. Und nur das Sexmonopol sichert den Männern das private Monopol, das das
Fundament des öffentlichen Monopols der Männergesellschaft über die Frauen ist“
(Schwarzer 2001: S.206). Nicht alle Feministinnen teilen damals die Fixierung
auf die Klitoris. Von Marcuse beeinflusste TheoretikerInnen wie Firestone treten
eher für die Erotisierung des ganzen Körpers ein. Schwarzers Texte lesen sich
häufig so, als hätte sie bei orthodoxen ML- Traktaten das Wort „Klasse“ gegen
„Männer“ ausgetauscht: Männergesellschaft, Männerwirtschaft, Männerjustiz,
Männerherrschaft oder Geschlechterkampf. Herrschaftsverhältnisse erscheinen so
in erster Linie als persönliche Machtverhältnisse zwischen Mann und Frau und
nicht als Strukturen oder Mechanismen, die unabhängig vom Willen der Menschen
diese beherrschen.
In Deutschland gelingt es
Schwarzer mit ihrer Zeitschrift „Emma“ und Artikel in der bürgerlichen Presse
den Feminismus weit über die Grenzen der Bewegung hinaus in die Öffentlichkeit
zu tragen. Natürlich ist es wichtig, auf die Klitoris als wichtiges Organ
weiblicher Lust hinzuweisen und bei Männer und Frauen ein Bewusstsein dafür zu
schaffen, dass es außer der Penetration noch viele andere sexuelle Praktiken
geben kann. In Frauenselbsthilfegruppen gibt es damals Frauen, die zum ersten
Mal ihre Klitoris und Vagina gemeinsam im Spiegel betrachten. Auch heute hat das
Thema noch Aktualität, da Millionen von Frauen, hauptsächlich in Afrika, durch
die Beschneidung ihrer Klitoris sexuell verstümmelt werden. Was aus meiner Sicht
an den Thesen von Koedt und Schwarzer problematisch ist, ist die dogmatische
Gegenüberstellung von Klitoris und Vagina, die das freudsche Schema einfach nur
umkehrt. Damit wird die Debatte auf einen Körperteil zugespitzt. Auch bei der
Penetration kann die Klitoris stimuliert werden. Manche Frauen bekommen durch
Penetration leicht einen Orgasmus, andere nicht. Die Erfahrungen von einem Teil
der Frauen werden bei Schwarzer stark zu einem einheitlichen Subjekt „die Frau“
verallgemeinert.
Die Kritik an der
Vagina-Fixierung der Männer ist damals in der Linken soweit verbreitet, dass in
den alternativen Aufklärungsbüchern von Günter Amendt steht, dass für die
meisten Männer Geschlechtsverkehr nichts anderes als die Fortsetzung der Onanie
mit anderen Mitteln sei (Amendt 1982: S.126). Ich kann mich auch noch an
Diskussionen mit männlichen AntifaschistInnen Mitte der 90er Jahre erinnern, die
die Missionarsstellung als frauenfeindliche Praxis verurteilten und daher als
politisch inkorrekt ablehnten. Feministinnen wie Eve Ensler (2002) spitzen heute
die Frage nicht mehr auf Vagina oder Klitoris zu, sondern kämpfen gegen die
Stigmatisierung der weiblichen Geschlechtsorgane in der Gesellschaft. Ihr Buch
„Vagina Monologe“, für welches sie Frauen aus verschiedenen Kulturkreisen zu
ihrem Verhältnis zur Vagina interviewte, wurde zum Welterfolg.
II. Foucault und die Kritik an
der Repressionsthese
Was für die zweite
Frauenbewegung völlig selbstverständlich ist, stellt eine neue Generation von
FeministInnen seit den 80er Jahren wieder in Frage. Der neue Bezugspunkt werden
die Theorien von Foucault. Die foucaultsche Wende in der Sex-Debatte soll
zunächst dargestellt werden, bevor ich wieder zur Kritik an den Vorstellungen
der zweiten Frauenbewegung zurückkomme.
Die Befreiung der Lüste und des
Körpers von der „Sexualität“
Eine völlig neue Wende
bekommt die Debatte um die Sexualität mit Michel Foucaults Buch „Der Wille zum
Wissen – Sexualität und Wahrheit I“, das 1976 erschien. Foucault versucht zu
widerlegen, dass Sexualität im bürgerlichen Zeitalter zu einem Tabuthema und
unterdrückt wurde. An dieser Repressions-These würden viele besonders hartnäckig
festhalten, weil damit der Glaube an eine Befreiung durch Sex verbunden sei.
Stattdessen versucht er Sexualität als Konstruktion der Diskurse des 18. und 19.
Jahrhundert zu entlarven, dessen Ziel die biopolitische Regulierung der
Bevölkerung sei. Große Teile der Schrift sind oft indirekt gegen die Theorien
von Wilhelm Reich gerichtet.
Im 18. und 19. Jahrhundert
sei es im Gegenteil ständig um Sex gegangen. Zum einen begann der Staat seine
Untertanten als Bevölkerung wahrzunehmen, dessen Geburtenrate, Sterblichkeit,
Lebensdauer und Fruchtbarkeit oder Gesundheitszustand zum Gegenstand der
staatlichen „Bio-Politik“ wurde (Foucault 1983: S.31). Der Staat muss nun
wissen, wie es um den Sex seiner Bürger steht und der/die Einzelne lernen, seine
Bedürfnisse zu kontrollieren. In den medizinischen Diskursen folgten die
Einkörperung von Perversionen und die Spezifizierung der Individuen. Im
Mittelalter wurden diverse sexuelle „Ausschweifungen“ noch unter Sodomie
zusammengefasst, nun die einzelnen „Perversionen“ genau kategorisiert. „Der
Homosexuelle des 19.Jahrhunderts ist zu einer Persönlichkeit geworden, die über
eine Vergangenheit und eine Kindheit verfügt, einen Charakter, eine Lebensform
(...). Der Sodomit war ein Gestrauchelter, der Homosexuelle ist eine Spezies“
(ebenda: S.47). Die Durchleitung des/der Einzelnen durch die Wissenschaft wird
immer perfider und der katholische Beichtzwang wird auf die Bereiche Familie,
Schule, Justiz und Gesundheitswesen übertragen, wo man Rechenschaft über seine
Krankheiten, Probleme oder Träume ablegen muss (ebenda: S.62).
Foucault entwickelt in
dieser Schrift einen neuen Macht-Begriff. Macht ist für ihn nicht etwas, was man
hat oder nicht, sondern sie breitet sich über die Diskurse überall hin aus. Der
Widerstand ist nicht ein Ort der Verweigerung der außerhalb des Machtnetzwerkes
steht (ebenda: S.96). Vor dem Hintergrund dieser Theorie wendet sich Foucault
gegen die Vorstellung, die natürliche Sexualität der Macht entgegen zu stellen.
„Das Machtverhältnis ist immer schon da, wo das Begehren ist: es in einer
nachträglich wirkenden Repression zu suchen ist daher ebenso illusionär wie die
Suche nach einem Begehren außerhalb der Macht“ (ebenda: S.83).
Die Hysterisierung des
weiblichen Körpers, die Pädagogisierung des kindlichen Sexes, die Sozialisierung
des Fortpflanzungverhalten oder Psychiatrisierung der perversen Lust produzieren
erst ein Sexualitätsdispositiv und unterwerfen den Sex einer immer
ausgepfeilteren Kontrolle (ebenda: S.104f.). Die Vorstellung einer
Einheitlichkeit von Sexualität macht ihre allseitige Kontrolle erst möglich.
„Einmal hat es der Begriff ‚Sex’ möglich gemacht, anatomische Elemente,
biologische Funktionen, Verhaltensweisen, Empfindungen und Lüste in einer
künstlichen Einheit zusammenzufassen und diese fiktive Einheit als ursächliches
Prinzip, als allgegenwärtigen Sinn und allerorts zu entschlüsselndes Geheimnis
funktionieren zu lassen (...) (ebenda: S.148f). Foucault möchte daher den Körper
von dieser Konstruktion von Sexualität befreien. „Man muss sich von der Instanz
des Sexes frei machen, will man die Mechanismen der Sexualität taktisch
umkehren, um die Körper, die Lüste, die Wissen in ihrer Vielfältigkeit und
Widerstandsfähigkeit gegen die Zugriffe der Macht auszuspielen. Gegen das
Sexualitätsdispostiv kann der Stützpunkt des Gegenangriffs nicht das
Sex-Begehren sein, sondern der Körper und die Lüste“ (ebenda: S.151).
Die Idee Foucaults, die
singulären Bedürfnisse gegen die Konstruktion der Universalität der Sexualität
zu mobilisieren, muss im Zusammenhang mit seinem späteren Konzept von Widerstand
gesehen werden. Deleuze fasst in seinem Buch „Foucault“ das Widerstandskonzept
seines Kollegen so zusammen: „Unterhalb des Universellen gibt es Spiele von
Singularitäten, Aussendungen von Singularitäten, und die Universalität oder
Ewigkeit des Menschen sind nur Schatten einer singulären und transitorischen
Verbindung, getragen von einer historischen Sicht“ (Deleuze 1992: S.126). Diese
Satz könnte auch von Nietzsche stammen, auf den sich Deleuze auch mehrfach im
Text bezieht. Die Intellektuellen konnten sich vom 18.Jahrhundert bis zum Ende
des 2.Weltkrieges noch als Sachverwalter des Allgemeinen aufspielen. Laut
Foucault habe sich die Rolle der Intellektuellen gewandelt. Sie könnten jetzt
besser an den Kämpfen teilnehmen, da sie transverbal geworden sind. Ausgangpunkt
für den Widerstand gegen die Bio-Macht sollte daher auch nicht mehr der Mensch,
sondern das Leben und der Körper sein (ebenda: S.129).
Butler weist in ihrer
Kritik an Foucault auf dessen Widersprüche bei der Unterscheidung zwischen der
universellen Sexualität und den singulären Lüsten hin. Für ihn sei die Kategorie
Sexus unweigerlich regulativer Art. „Foucault ruft hier die Trope der
vordiskursiven, libidinösen Mannigfaltigkeit auf, die im Grunde eine Sexualität
‚vor dem Gesetz’ voraussetzt, eine Sexualität, die nur darauf wartet, von den
Fesseln des ‚Sexus’ befreit zu werden.“ Butler sieht hier eine Parallele zu
Marcuse, der einen schöpferischen, ursprünglichen und bisexuellen Eros von der
genitalen Sexualität befreien wollte (Butler 2003: S.146). Zugleich besteht
Foucault aber offiziell darauf, dass Sexualität und Macht deckungsgleich sind
und dass wir nicht glauben dürfen, die Macht zu verneinen, wenn wir den Sexus
bejahen. Jede Sexualität, die vor oder außerhalb des Diskurses stehen würde,
würde sich stets innerhalb des Diskurses einordnen, „der die Sexualität erst
hervor bringt und anschließend diese Produktion durch die Konfiguration einer
mutigen, rebellischen Sexualität ‚außerhalb’ des Textes selbst verschleiert“
(Butler 2003: S.149). Nicht nur der Sexus, sondern auch Körper und Lust sind
keine natürlichen Kategorien, die vor dem Diskurs schon existieren, so Butler.
Foucaults Schrift richtet
sich auch gegen die These von Reich und Marcuse, in der bürgerlichen
Gesellschaft würde die Sexualität unterdrückt, um alle Energien der Menschen in
die Arbeit zu lenken. Für Marcuse ist diese Hypothese zentral, um zu begründen,
dass erst die Reduzierung der Arbeitszeit auf ein Minimum zur Resexualisierung
der Körper führen würde. Eine These sei, dass nur in der Frühphase des
Kapitalismus alle Kräfte in körperliche Arbeit gesteckt werden sollten. Die
zweite Phase bräche mit dem Spätkapitalismus an, in der die Ausbeutung der
Lohnarbeit keinen gewaltsamen und psychischen Zwang mehr erforderlich macht,
stattdessen würde eine vielfältige Kanalisierung, eine repressive Sublimierung,
ausreichen.
Foucault nennt folgende
Argumente gegen die These der Notwendigkeit der Sexualunterdrückung für die
Lohnarbeit: „Wenn aber die Politik des Sexes im wesentlichen nicht das Gesetz
des Verbotes zur Wirkung bringt, sondern einen ganzen technischen Apparat, wenn
es sich vielmehr um die Produktion der ‚Sexualität’ handelt als um die
Repression des Sexes, dann muss eine solche Periodisierung aufgeben, muss man
die Analyse vom Problem der ‚Arbeitskraft’ entkoppeln (...) (Foucault 1983:
S.113). Außerdem hatten die Techniken und Debatten zur Disziplinierung des Sex
den Ursprung in den Eliten des Bürgertums (ebenda: S.118). „Nicht um eine
Unterdrückung am Sex der auszubeutenden Klassen ging es, sondern um den Körper,
die Stärke, die Langlebigkeit, die Zeugungskraft und die Nachkommenschaft der
‚herrschenden’ Klassen“ (ebenda: S.121). Was Blut für den Adel war, stellte Sex
für das Bürgertum dar. Durch ihre „Ahnentafeln“ versuchten die Bürger
nachzuweisen, dass es in ihren Familien keinen Inzest gab und keine Krankheiten
weiter vererbt wurden.
Um den Körper und die
Gesundheit des Proletariats machte sich das Bürgertum zunächst überhaupt keine
Gedanken – es vermehrte sich sowieso. Erst Mitte des 18.Jahrhunderts erfolgten
laut Foucault große Kampagnen für die Moralisierung der Unterschicht. Erst der
ökonomische Druck, qualifizierte Arbeiter für die Schwerindustrie zu
rekrutieren, Epidemien in den Arbeitervierteln und Bevölkerungsbewegungen zu
kontrollieren, habe zu dem Bewusstsein geführt, auch den Körper des Proletariats
unter Kontrolle zu stellen (durch Schulen, Wohnungsbaupolitik, öffentliche
Hygiene, Fürsorge- und Versicherungsanstalten sowie die allgemeine
Medizinisierung der Bevölkerung). Das Proletariat zögerte zunächst bei der
Übernahme des Sexualdispositivs des Bürgertums. Nicht weiter genannte Personen
werden von Foucault kritisiert, dass sie nun glauben würden, zwei einander
entsprechende Heucheleien kritisieren zu können: die Moral des Bürgertums, weil
es seine Sexualität leugnet und das Proletariat, das die eigene Sexualität
verwirft, weil es die Ideologie des Bürgertums übernimmt. „Auf diese Weise
verkennt man den Prozess, in dem sich das Bürgertum in anmaßender politischer
Selbstaffirmation mit einer geschwätzigen Sexualität ausgestattet hat, die das
Proletariat lange Zeit abgewiesen hat, bis sie ihm schließlich aufgezwungen
worden ist“ (ebenda: S.124f). Das Sexualdispositiv führte nicht überall zu
denselben Effekten. Man müsse daher sagen, dass es eine Klassensexualität des
Bürgertums gäbe. „Oder vielmehr dass die Sexualität in ihrem historischen
Ursprung bürgerlich ist und dass sie in ihren sukzessiven Verschiebungen und
Übertragungen zu spezifischen Klasseneffekten führte“ (ebenda: S.125).
Foucault kommt also zu
einem völlig anderen Ergebnis als Reich. Für Reich ist die Unterdrückung der
natürlichen Sexualität bürgerlichen Ursprungs. Für Foucault hingegen ist die
Konstruktion der Sexualität bürgerlich. Zur Universalität habe erst die
Psychoanalyse dem Sex verholfen. Zum Beispiel habe die Psychoanalyse das
Inzestverbot als absolut universelles Prinzip für alle Menschen und alle
Kulturen bestimmt (ebenda: S.126). Reich hat laut Foucault das Konzept
„Sexualität“ nie in Frage gestellt. „Die Tatsache, dass sich so viele Dinge im
sexuellen Verhalten der abendländlichen Gesellschaft ändern konnten, ohne dass
sich eine der von Reich daran geknüpften politischen Versprechungen oder
Bedingungen verwirklich hat, beweist zur Genüge, dass diese ‚Revolution’ des
Sexes, dieser ganze ‚antirepressive’ Kampf nicht mehr – aber auch nicht weniger,
und es ist nicht wenig – als eine taktische Verschiebung und Wendung im großen
Sexualitätsdispositiv bedeutete“ (ebenda: S.128). „Die Ironie des Dispositivs:
es macht uns glauben, dass es darin um unsere ‚Befreiung’ geht“ (ebenda: S.153).
Gegen die
Normalisierung: Foucaultsche Kritik am feministischen Sexdiskurs
In „Der Wille zum Wissen“ (Teil 1) geht zwar
Foucault mit keinem Wort auf den Feminismus ein, andere knüpfen aber an seiner
Theorie an, um die feministische Sex-Debatte der 70er Jahre kritisch zu
reflektieren. Schon auf den ersten Blick wird klar, dass auch die FeministInnen
der zweiten Frauenbewegung von einer Repressionsthese ausgehen. Es wird nicht
mehr die Unterdrückung der bürgerlichen Gesellschaft gegen die natürlichen
Triebe gestellt, sondern die Unterdrückung der authentischen, weiblichen
Sexualität durch die patriarchale Gesellschaft und die Männer kritisiert. Auch
bei Schwarzer oder Firestone ist die Sexualität Ausgangspunkt der Befreiung –
diesesmal der Frau.
Andrea Bührmann formuliert basierend auf
Foucaults Machttheorie eine grundsätzliche Kritik an den Sex-Diskursen der neuen
Frauenbewegung. Sie bezieht ihre Kritik auf „Klassiker“ wie Firestone,
Schwarzer, Millet und Greer (1971). In der Entwicklung der Debatte arbeitet
Bührmann folgende Diskursfiguren heraus: Die Infragestellung der „normalen“
männlichen Sexualität („Schwanzficken“), die Einordnung der Sexualität als
Dienstleistung der Frau in der Beziehung, die Skandalisierung der männlichen
Gewalt und schließlich die Kriminalisierung des männlichen Sexualverhaltens
(„Alle Männer sind potentielle Vergewaltiger“ usw.). Ihr Hauptvorwurf lautet:
„Durch die Übernahme dieses Modell der biologischen Zweigeschlechtlichkeit
stellen FeministInnen letztlich neben die als patriarchal angeprangerte
Normalisierung von Frauen eine feministische Normalisierung der Frauen“ (Bührmann
1995: S.210). Die FeministInnen konstruieren in ihren Diskursen eine
authentische Frau und eine authentische weibliche Sexualität, die der vom
Patriarchat deformierten, „real existierenden“ Frau entgegengestellt würde. Die
harmonische Konstruktion der Zwei-Geschlechtlichkeit in den Humanwissenschaften
würden die Feministinnen dramatisieren, aber nicht in Frage stellen. Ganz im
Geiste Foucault versucht Bührmann nicht die Thesen der FeministInnen empirisch
zu widerlegen, sondern die Machtverhältnisse aufzuzeigen, die durch die Diskurse
geschaffen werden. „Gleichzeitig aber wird die empirisch vorfindbare Frau durch
die Authentizitätsnorm abgewertet, weil sie als deformierte, eben ‚weibliche’
Frau gilt. Die Sexualitätsdebatte wirkt so weniger entgrenzend und befreiend,
sondern vielmehr eingrenzend und normalisiert. Denn über die Verherrlichung der
authentischen Frau in der Sexualitätsdebatte werden die empirischen Frauen an
den Rand gedrängt, weil sie im Vergleich zur authentischen Frau nur als durch
einen Mangel charakterisiert erscheinen“ (ebenda: S.210). Diese
Authentizitätsnorm betrifft die gesamte Lebensweise.
Einer besonders scharfen Kritik unterzieht
Bührmann den Frauenselbsterfahrungsgruppen, die in den 70er Jahren in den USA
und auch der BRD zu Tausenden entstanden. In diesen Gruppen redeten Frauen über
ihre Sexualität, Körper oder den Alltag mit den Männern. Es ging darum, sich
durch gemeinsame Selbsterfahrung von der Ideologie des Patriarchats zu befreien.
In den Frauenselbsterfahrungsgruppen, die Bührmann auf der Basis von Handbüchern
analysiert, sei die Zuhörende die „Herrin der Wahrheit“ und die Sprechende dem
Imperativ des „Alles sagen zu müssen“ untergeordnet. Der Sex nehme bei dieser
Form des Geständnisses eine privilegierte Stellung ein. Sie verweist darauf,
dass für Foucault die christliche Beichte in Form des Geständnisses die zentrale
Unterwerfungspraktik in der modernen westlichen Medizin, Psychoanalyse oder
Kriminologie sei. Bührmann argumentiert, dass die Authentizitätsnorm in den
Gruppen auch eine Hierarchisierung unter den Frauen schaffe. Auf der einen Seite
stehen die Frauen, die sich nicht oder unzureichend dem Offenbarungsanspruch in
der Gruppe unterwerfen. „Zweitens können sich diejenigen Frauen, die sich jenen
Techniken unterworfen haben, für sich in Anspruch nehmen, das ‚Richtige’, das
‚Wirkliche’ und das ‚Wahre’ über das Authentische zu fühlen und zu sagen: Erst
die Hierarchisierung im Hinblick auf die Authentizitätsnorm ermöglicht, dass
bestimmte Frauen degradiert und bestimmte Verhaltensweisen stigmatisiert werden“
(ebenda: S.194f.). Wie das Gesetz erst den Kriminellen schafft, schafft hier die
Authentizitätsnorm der Diskurse erst die vom Patriarchat „verweiblichte“ Frau.
Der Anspruch, das Authentische zu repräsentieren geht laut Bührmann so weit,
dass viele feministische Autorinnen und Rednerinnen der 70er und 80er Jahre
immer die „Wir“-Form benutzen.
Trotz ihrer scharfen Kritik hält sie den
Feministinnen der zweiten Frauenbewegung zu Gute, dass ihre Diskurse zur
Liberalisierung des Abtreibungsrechts beigetragen haben, Frauenhäuser gegründet
und Kinderbetreuungsplätze geschaffen wurden sowie Diskriminierung zum
Gegenstand öffentlicher Diskurse und der Gesetzgebung wurde (ebenda: S. 211).
Bührmann könnte man als postmoderne Feminstin bezeichnen. Im Sinne Butlers und
Foucaults plädiert sie am Ende ihres Buches dafür, sich den Wahrheiten,
Klassifizierungen und Normalisierungen der „Zweigeschlechter-Ordnung“ durch die
Humanwissenschaften zu widersetzen. Wie Foucault lässt sie den „spezifischen
Intellektuellen“ hochleben – in diesem Fall die dekonstruierende feministische
Akademikerin. Statt den Widerstand einzelner Gruppen zu homogenisieren oder zu
generalisieren, soll der hegemoniale Wissens- und Machtkomplex durch lokale und
unterworfene Wissensarten erschüttert werden (ebenda: S.214).
Bührmann hat in einigen
Punkten mit ihrer Kritik sicher ins Schwarze getroffen. Kritisieren könnte man
an ihrem Ansatz, dass sie alle FeministInnen der 70er Jahren in neuen Topf wirft
und einen Pappkameraden „Authentizitätsdiskurs“ aufbaut, den sie dann beschießt.
Sicher bestehen zwischen Firestone, die für den kybernetischen Kommunismus
eintritt, und dem Feminismus von autonomen Frauenlesbengruppe der 80er Jahre
große Unterschiede. Der Mutter- und Lesbenkult der „Differenzfeministinnen“
wurde von „Gleichheitsfeministinnen“ wie Alice Schwarzer nie geteilt. Bührmann
hat sicher Recht, dass „weibliche“ Frauen von vielen Feministinnen als vom
Patriarchat verblendet angesehen wurden. Statt „weiblichen“ Frauen falsches
Bewusstsein vorzuwerfen, plädiert sie im Sinne Foucaults dazu neue, plurale
Formen der Subjektivität zu kreieren, indem jene Individualität zurückgewiesen
wird, die die Mechanismen der subjektivierenden Unterwerfung und der
objektivierenden Vergegenständlichung den Individuen auferlegt.
Auch Andrea Trumann
kritisiert im foucaultschen Sinne die zweite Frauenbewegung. An Bührmann
bemängelt sie, dass die Normalisierung bei Foucault kein Selbstzweck sei,
sondern in der Disziplinierung der Bevölkerung und der Herstellung von
Arbeitskräften begründet ist. Diese Tatsache würde Bührmann ignorieren (Trumann
2002: S.45). Trumann wirft der zweiten Frauenbewegung vor, dass sie die Frau als
ein autonomes und selbstbestimmtes Subjekt konstruiert habe, das sich im
Gegensatz zum Staat befinden würde. Dabei würde übersehen, wie sehr das Subjekt
in der modernen Gesellschaft die Prinzipien der Herrschaft selbst verinnerlicht
habe. Mit der Liberalisierung der Abtreibung und besseren Verhütungsmethoden
machen die Frauen ihre eigene Bio-Politik, in der sie die Prämissen der
Herrschaft nun selbst umsetzen müssen, so Trumann. Die einzelne Frau sorgt nun
dafür, dass die Kinder zum richtigen Zeitpunkt geboren werden, um nicht der
Karriere zu schaden. Entscheidungen gegen behinderte Kinder würde von Autorinnen
der zweiten Frauenbewegung als Selbstbestimmungsrecht der Frau gefeiert (ebenda:
85). Natürlich ist diese Form der „Biopolitik von unten“ fortschrittlicher als
z.B. die staatliche Geburtenplanung in China, nur wurde die Verinnerlichung von
biopolitischen Prämissen der Macht übersehen. Während Bührmann das Konzept der
authentischen Frau an der zweiten Frauenbewegung kritisiert, greift Trumann den
Subjektbegriff an. Am Ende des Textes werde ich meine Meinung zur foucaultschen
Machttheorie darlegen.
III. Mit der Postmoderne gegen
die Binarität Mann / Frau
Foucault dekonstruierte
die Natürlichkeit der Sexualität. Judith Butler ging einen Schritt weiter, indem
sie die Kategorie Geschlecht in Stücke haute. Der Übergang vom modernen zum
postmodernen Feminismus ist sicher fließender, als es Bührmann darstellt. Der
Begriff postmodern soll hier verwendet werden, auch wenn einige AutorInnen sich
nicht in diese Kategorie einordnen würden. Im Unterschied zu den Autorinnen der
zweiten Frauenbewegung stehen beim postmodernen Feminismus nicht mehr
persönliche Herrschaftsverhältnisse im Vordergrund, sondern die Dekonstruktion
von gender als solches.
Der postmoderne Feminismus
knüpft bei der Dekonstruktion der heterosexuellen Matrix an Derridas Kritik an
dem Dogma der Binarität im Denken der griechischen Antike und Aufklärung an (Wilchins
2006: S. 55f.). Laut Derrida ist das westliche Denken seit der Antike von
binären Gegenüberstellung geprägt wie z.B. Mann / Frau, Mensch / Natur, Körper /
Seele, Mensch / Maschine, Staat / Gesellschaft, kolonial / eingeboren, Leben /
Tod usw. Mit diesen binären Gegenüberstellungen sind auch immer Hierarchien
verbunden. Der Mann wird als der universelle Mensch gesehen, die Frauen daher
als das exotische, unergründliche Andere gesetzt. Wir sind an diese
hierarchische Binarität so gewöhnt, dass wir z.B. immer Staat und Gesellschaft
und nicht Gesellschaft und Staat sagen. Derrida geht es daher darum, diese
binären Gegenüberstellungen aufzulösen. Der Zombie ist für ihn eine Figur
jenseits davon, weil er weder tot noch lebendig ist. Auf dem Gebiet der
Geschlechter-Identität löst der Begriff queer die binäre
Gegenüberstellung von Mann / Frau und hetero- / homosexuell auf.
Der postmoderne Feminismus
fällt in eine Zeit, in der soziale Bewegungen ihre frühere Identitätspolitik in
Frage stellen. Früher hieß es in der BürgerInnenrechtsbewegung „Say it loud,
I am black and proud“ und die Schwulen demonstrierten gay pride. Aus
der stigmatisierten Identität des Schwarzen oder Schwulen wurde eine positive
geformt. Seit den 80er Jahre wird die Frage immer häufiger gestellt, ob diese
positive Umkehrung der negativen Identitäten nicht neue Einschränkungen und
Zwänge schafft. AktivistInnen wollen nun für eine Gesellschaft kämpfen, in der
man unter anderem schwul oder schwarz sein kann, ohne dass durch die Identität
eines Menschen auf die Hautfarbe oder sexuelle Orientierung reduziert wird. Zum
anderen wird zu dieser Zeit immer deutlicher, dass die angerufenen Subjekte wie
„Frau“, “Schwarze“ oder „ArbeiterIn“ zu Stellvertretungsansprüchen und
Entmündigungen geführt haben. Feministinnen aus der „3.Welt“ merkten an, dass
die weißen Frauen aus den Mittelschichten des Westens sie nicht einfach in dem
Subjekt „Frau“ mit einschließen konnten. Eine Frau aus den Slums von Delhi hat
offensichtlich andere Interessen und Probleme als ihre Geschlechtsgenossinnen im
Westen. Postmoderne FeministInnen wenden gegen die Theorien der zweiten
Frauenbewegung ein, dass der Schönheitsterror in den USA, Füße binden im Alten
China oder Klitoris-Beschneidung in Afrika nicht einfach unter dem universellem
Begriff eines globalen Patriarchat zusammen gefasst werden können. An die Stelle
der angerufenen universellen Subjekte gegen universelle Herrschaftssysteme wird
in den sozialen Bewegungen nun eher auf spezifischen Widerstand gegen konkrete,
lokale oder globale Herrschaftsstrukturen gesetzt. Das Positive an dieser
Entwicklung ist sicherlich, dass alte Avantgarde- und
StellvertreterInnenansprüche, die immer auch Hierarchien geschaffen haben, in
Frage gestellt werden. Als negative Folge gehen durch die Fixierung auf die
Einzelkämpfe aber die Entwicklung einer Theorie von der kapitalistischen
Gesellschaft und ihrer Überwindung unter. Für Firestone war es noch völlig
selbst verständlich, dass die Abschaffung des Kapitalismus eine notwendige
Bedingung für die Befreiung der Frau ist. In der postmodernen Debatte stellen
die meisten AutorInnen überhaupt keinen Zusammenhang zwischen
Gender-Konstruktionen und Kapitalismus mehr her. Viele fürchten die
„Großtheorien“ und „master narratives“ wie der Teufel das Weihwasser.
In den 90er Jahren
zerfällt der Feminismus als soziale Bewegung und löst sich in viele Teildiskurse
und Bewegungen auf. Nach dem sogenannten „linguistic turn“ ist die
Dekonstruktion von Texten in den Mittelpunkt gerückt und nicht mehr konkrete
gesellschaftliche Fragen wie Abtreibung, Verhütung oder Vergewaltigung. Da es
nicht mehr darum geht, die „Opfer“-Frauen gegen die „Täter“-Männer zu
mobilisieren, sondern um die Dekonstruktion von Geschlecht, entwickelt sich auch
ein Forschungszweig, der versucht, die geschichtliche Bedingtheit von
Männlichkeitsvorstellung aufzuzeigen. Der Mann wird so Teil der Gender-Forschung.
Laqueur: Geschlecht hat eine
Geschichte
Im Zuge der postmodernen
Debatte wird auch die Idee von der Geschichtlichkeit des Geschlechts weiter
entwickelt. Thomas Laqueur, ein Professor aus Berkeley, stellt in seiner
Untersuchung „Making Sex“ die Natürlichkeit eines Zwei-Geschlechter-Modell
historisch in Frage. Laqueur ist der Meinung, dass es biologisch gesehen in der
Antike und Renaissance in den philosophischen und medizinischen Weltbildern im
Grund nur ein Geschlecht gab – nämlich das männliche. Die Frau wurde in erster
Linie als unterentwickelte Version des Mannes gesehen. Blut, Sperma, Samen und
andere Flüssigkeit wurden nicht Mann und Frau zu geordnet (Laqueur 1990: S.35).
In der Renaissance wurde der Unterschied zwischen Mann und Frau weniger
biologisch konstruiert, als durch gender – sprich dem Verhalten gemäß der
gesellschaftlich zugewiesenen Rollen. Die Geschlechtszugehörigkeit eines
Menschen wurde eher über gender als über sex (Geschlecht)
definiert.
In anatomischen
Zeichnungen und Abbildungen haben die männlichen und weiblichen Geschlechtsteile
verblüffende Ähnlichkeit. Die Vagina erscheint den Betrachtern als nach innen
gekehrter Penis (ebenda: S.82). Es wurde geglaubt, dass Frauen Erektionen
bekommen und ejakulieren könnten. Frauen hätten zwar weniger Hitze,
funktionierten beim Sex aber genauso wie Männer. Die Wissenschaftler der
Renaissance waren weder dumm noch blind. Sie sahen aber, wenn sie auf die
Geschlechtsteile blicken, vor allem die Gemeinsamkeiten und nicht die
Unterschiede.
Noch bis weit ins
18.Jahrhundert war der Glaube verbreitet, dass Frauen ohne einen Orgasmus nicht
schwanger werden könnten. Mit der Aufklärung begann sich in den
wissenschaftlichen Diskursen das Zwei-Geschlechter-Modell durchzusetzen, durch
das die Frauen nun zu „Wesen vom anderen Stern“ wurden. Der weibliche Orgasmus
verschwand nahezu aus den Diskursen und machte die Frau zu einem nahezu
leidenschaftslosen Wesen (ebenda: S.182). Die modernen WissenschaftlerInnen des
19.Jahrhunderts glaubten, dass der weibliche Körper und die Psyche völlig anders
strukturiert seien als die männliche. Mit der Gynäkologie wurde der Frauenkörper
zum Gegenstand einer eigenen Wissenschaft. Laqueurs Forschungen auf historischem
Gebiet machen die soziale Konstruiertheit von Geschlecht sehr anschaulich
deutlich.
Butler: Die
Zwangsheterosexualität untergraben
Judith Butler, eine
amerikanische Professorin aus Berkeley, ist heute die Ikone des postmodernen
Feminismus in Deutschland. Ihr Buch „Das Unbehagen der Geschlechter“ ist der
Anknüpfungspunkt für die queer-Bewegung und die akademische Gender-Forschung.
Butlers Ansatz ist sehr stark von Foucault beeinflusst. Sie versucht seine These
von der diskursiven Erzeugung der Sexualität auf die Geschlechtsidentität zu
übertragen. Ihrer Meinung nach ist unser Blick auf das Geschlecht (sex)
so sehr von den Vorstellung von Geschlechterrollen (gender) beeinflusst,
dass beides nicht unterschieden werden kann (Butler 2003: S.26). Die
feministische Bewegung steht natürlich vor einem Problem, wenn die „Frau“ selbst
als Konstruktion verstanden wird. „Die feministische Kritik muss auch begreifen,
wie die Kategorie ‚Frau(en)’, das Subjekt des Feminismus, gerade durch jene
Machtstrukturen hervorgebracht und eingeschränkt wird, mittels derer das Ziel
der Emanzipation erreicht werden soll“ (ebenda: S.17). Butler erkennt keine
vordiskursive, sprich natürliche sexuelle Identität an. Im Gegensatz zu Foucault
glaubt sie auch nicht, dass die Lüste gegen die Sexualität mobilisiert werden
könnten. „Es gibt keinen Grund, die menschlichen Körper in das männliche und
weibliche Geschlecht aufzuteilen; außer diese Aufteilung passt zu den
ökonomischen Bedürfnissen der Heterosexualität und verleiht der Institution der
Heterosexualität einen naturalistischen Glanz“ (ebenda: S.167f). Um die
heterosexuelle Zwangsordnung herzustellen, muss die eigene Geschlechtsidentität
immer wieder performativ eingeübt werden – durch Kleidung, durch Gesten, durch
die Sprache oder auch nur dadurch, auf die „richtige“ Toilette zu gehen.
Butler stellt sich die
Frage wie die binäre Geschlechteridentität erschüttert werden kann. „Die
Geschlechteridentitäten können weder wahr noch falsch, weder wirklich noch
scheinbar, weder ursprünglich noch abgeleitet sein. Als glaubwürdiger Träger
solcher Attribute können sie jedoch gründlich und radikal unglaubwürdig gemacht
werden“ (ebenda: S.208). Wie Foucault glaubt Butler, dass die Macht durch den
Widerstand in neuer Form eingesetzt, aber niemals überwunden werden kann.
„Demnach kann die Macht weder widerrufen noch abgelehnt, sondern lediglich
wieder-eingesetzt werden. Tatsächlich müsste der Schwerpunkt der schwulen und
lesbischen Praxis eher auf der subversiven und parodistischen Wieder-Einsetzung
der Macht liegen als auf der unmöglichen Phantasie einer allumfassenden
Überschreitung der Macht“ (ebenda: S.184). Die Lesbisierung der Frauen um die
Geschlechteridentitäten in Frage zu stellen, wie es von Teilen der zweiten
Frauenbewegung vertreten wurde („Feminismus ist die Theorie, Lesbischsein die
Praxis“), lehnt Butler ab. „Was für ein tragischer Fehler ist es dann, eine
schwule/lesbische Identität durch dieselben Mittel der Ausschließung zu
konstruieren, als würde das Ausgeschlossene nicht gerade durch seine
Ausschließung stets vorausgesetzt und damit sogar für die Konstruktion dieser
Identität erfordert.“ Wenn das Lesbischsein eine Heterosexualität zur Abgrenzung
benötigt, werde damit die Zwangsheterosexualität geradezu gefestigt (ebenda:
S.189). Stattdessen soll das Spiel mit Identitäten und ihr Überschreiten die
binäre Zwangsordnung in Frage stellen. Als Beispiele nennt Butler die Travestie,
aber auch femme (sich weiblich inszenierende Lesben) und butch
(sich männlich inszenierende Lesben), die die Natürlichkeit der
Geschlechterordnung parodieren.
Am Ende sollen Frauen aber
trotzdem politikfähig bleiben. „Die Dekonstruktion der Identität beinhaltet
keine Dekonstruktion der Politik, vielmehr stellt sie gerade jene Termini, in
denen sich die Identität artikuliert; als politisch dar“ (ebenda: S.218).
Feminismus als Identitätspolitik zu betreiben, lehnt Butler als Fundamentalismus
ab, da dieser jenes „Subjekt“, was er befreien möchte, voraussetzt, fixiert und
einschränkt. „Die Aufgabe ist nicht, alle und jede Möglichkeit qua Möglichkeit
zu feiern, sondern jene Möglichkeiten zu reformulieren, die bereits existieren,
wenn auch in kulturellen Bereichen, die als kulturell unintelligibel und
unmöglich gelten (...) Die kulturellen Konfigurationen von Geschlecht und
Geschlechtsidentität können sich vermehren (...).“ Es ginge darum die
Geschlechter-Binarität in Verwirrung zu bringen und ihre grundlegende
Unnatürlichkeit zu enthüllen (ebenda: S.218).
Wie man sich denken kann,
führen die Theorien Butlers zu heftigen Kontroversen. Während traditionelle
Feministinnen fürchten, ihre männlichen Gegner könnte die Frauenquote in Frage
stellen, wenn Geschlecht nur eine Konstruktion sein soll, merken linke
KriterInnen an, dass Butlers Idealisierung der flexiblen Identitäten ganz gut
zur postfordistischen Gesellschaft passt (Trumann 2002: S.162). Die
postfordistische Organisation bringt einen ständigen Rollenwechseln mit sich und
erfordere große Flexibilität und Mobilität der Individuen: Morgens Mutter,
mittags Studentin, nachmittags Aushilfskraft und abends Geliebte oder heute als
Arbeitsloser in Sachsen, morgen als Kochlehrling in Tirol. Miriam Lau bemängelt
an Butler, dass es in ihren Theorien überhaupt nicht mehr um Sex gehe, sondern
nur noch um Geschlechteridentität (Lau 2000). Meiner Meinung nach folgt auf die
radikale Theorie in Butlers Buch am Ende doch ein recht harmloses
Politikverständnis. Die Theorie mag die lesbischen und schwulen AktivistInnen
zum Karneval der Identitäten bei der CSD-Parade puschen, nur welche praktischen
Konsequenzen sich daraus für eine Hausfrau ergeben, die Alice Schwarzer immerhin
versuchte, anzusprechen, ist mir unklar. Bei Butler stehen
Geschlechteridentitäten in keinem Zusammenhang zur kapitalistischen
Produktionsweise. Bei der unglaublichen Integrationskraft des Kapitalismus kann
ich mir durchaus vorstellen, dass er in 50 Jahren auch mit 10 verschiedenen
Geschlechteridentitäten noch funktionieren könnte.
Schluss: Ist Sex subversiv?
Nach dem Schnelldurchlauf
durch die Sex-Debatten von der Oktoberrevolution zum postmodernen Feminismus,
soll nun versucht werden, die Frage zu beantworten, ob Sex subversiv ist. Sieht
mensch sich die Integrationskraft des Kapitalismus in den letzten 40 Jahren an,
so kann mensch große Zweifel bekommen. (Die folgenden Überlegungen beziehen sich
in erster Linie natürlich auf die bürgerliche Gesellschaft in Europa.) Die
Revolte der 68er wurde schnell kommerzialisiert und „sex sells“ zu einer
zentralen Grundlagen der Werbung. Die Familie ist heute zwar noch dominierend,
aber nur noch ein Lebensmodell unter anderen. Single-Haushalte oder
Alleinerziehende machen in den Großstädten schon einen nicht unbeträchtlichen
Teil der Bevölkerung aus. Der Feminismus wurde etwa durch Gender Mainstreaming
weitgehend in das System eingebunden. Außerdem sind in den USA gender und
queer-Studies schon etablierte Wissenschaften an den Universitäten. Auch
die Schwulen- und Lesbenbewegung hat weitgehend mit dem System ihren Frieden
gemacht (gute Kritik siehe Stedefeldt 1998). Homo-Ehe wird in immer mehr
westlichen Staaten anerkannt und schwule Politiker bürgerlicher Parteien
bekennen sich offen zu ihrer Homosexualität. Die ursprünglich subversive
Christopher Street Day (CSD)-Parade wurde mit Bravur in die bürgerliche
Spaßgesellschaft integriert. Selbst die Bild-Zeitung berichtet positiv
über homoerotische Kuschelfreundschaften zwischen Frauen. Gäbe es nicht noch den
Papst, einige reaktionären Paffen oder faz-JournalistInnen, hätten die
ins System integrierten radikalen AktivistInnen von einst keine Feindbilder
mehr.
Die hier beschriebene „Liberalisierung“
ist natürlich auch ein Erfolg der 68er StudentInnenbewegung, der Frauenbewegung
und der Kämpfe der Schwulen und Lesben. Diese Erfolge haben aber einen
doppelbödigen Charakter, weil sie auch Erfolge des Kapitalismus bei der
erfolgreichen Integration von vormals subversiven Elementen in das System sind.
Trotz dieser Errungenschaften sollte mensch sich nicht darüber hinweg täuschen,
dass auch in der westlichen Welt noch täglich Tausende Frauen und Kindern
geschlagen, missbraucht und vergewaltigt werden. Im Rahmen von Sexualität
kann auch Unterdrückung stattfinden, die in den aller meisten Fällen von
Männern ausgeübt wird. So hat auch der „Traditionsfeminismus“ der „Emma“ (http://www.emma.de/)
durchaus noch seine Existenzberechtigung.
Außerdem haben nicht alle Länder ein
modernes Ehe- und Scheidungsrecht. In Österreich kann eine Scheidung wegen der
„Schuld“ einer EhepartnerIn vollzogen werden, wenn es nicht zum gegenseitigen
Einverständnis kommt. Als „schwere Eheverfehlungen“ nennt das Gesetz von 1998
(!) z.B. Verletzung der ehelichen Treue, Verweigerung der Fortpflanzung und eine
grundlose und beharrliche Verweigerung des Geschlechtsverkehrs (http://www.rechtsfreund.at/scheidung.html).
Kinder, Sex, und Treue werden somit vom Staat als eheliche Zwecke definiert. Wer
diese Verpflichtungen nicht erfüllt, kann Nachteile bezüglich des Sorgerechts
und der Verteilung der Güter im Falle einer nicht einvernehmlichen Scheidung
haben. In Deutschland ist die so genannte Schuldfrage nicht mehr Gegenstand des
Scheidungsrechts. Es wird auch die Forderung laut, den Tatbestand der
„Scheinehe“ abzuschaffen, weil der Staat über die Definition der „wirklichen“
Ehe seine Vorstellungen im Gesetz festschreibt.
Die Debatte in Deutschland
um die Veralterung der Gesellschaft und die angeblich zu geringe Geburtenrate
zeigt, dass es mit der „Bio-Politik von unten“ nicht ganz so klappt, wie es sich
die Eliten vorstellen. Die Familie soll wieder gestärkt und gefördert werden.
AkademikerInnen bekommen zu wenige Kinder, lautet der Konsens der etablierten
Parteien in Deutschland. Da der Staat die Frauen nicht zum Gebären zwingen kann,
sollen finanzielle Anreize gesetzt werden. Sogar die DDR-Kinderkrippe bekommt
plötzlich eine positive Bewertung in den Medien. Simon de Beauvoir schreibt über
die Probleme des Staates die Geburten und die Sexualität zu regeln: „Man greift
tiefer in das Leben der Frau ein, wenn man Kinder von ihr verlangt, als wenn man
die Betätigung der Bürger reglementiert: kein Staat hat es je gewagt, den
Pflichtcoitus einzuführen“ (de Beauvoir 2005: S.83). Das Beispiel der
Kinder-Debatte in Deutschland macht deutlich, dass die Individuen die
Anforderungen der Macht nicht so reibungslos verinnerlichen wie es bei machen
Foucault-AnhängerInnen erscheint.
Von Butler und Foucault
können wir viel lernen, was die Infragestellung der Natürlichkeit von Wahrheiten
und Kategorien oder die Produktion von Macht durch Diskurse angeht. Die
Schlussfolgerung Foucaults, dass die Macht nie abgeschafft, sonder nur
wieder-eingesetzt werden kann, hieße jedoch sich von der Idee der Revolution zu
verabschieden. Die Macht ist bei Foucault uns immer einen Schritt heraus, weil
sie selbst unsere Gefühle und Bedürfnisse produziert hat. Außerdem halte ich
seinen Macht-Monismus für fraglich, dass die Macht immer schon und überall ist.
Gibt es keine Bedürfnisse in uns, die etwas anderes sind als die Verinnerlichung
der Macht? Außerdem redet Foucault nur selten von Herrschaft und Ausbeutung.
Ohne der Natürlichkeit von
Bedürfnissen und Trieben das Wort reden zu wollen, glaube ich, dass der
Kapitalismus niemals die Bedürfnisse der Menschen befriedigen kann, die er
ständig selbst weckt – was Adorno für die Kulturindustrie annahm, gilt auch für
die gesamte Gesellschaft. Jeder Gesellschaft liegt eine bestimmte
Bedürfnisstruktur zu Grunde, die von Kulturen, Traditionen, Moden und dem Stand
der Produktivkräfte abhängig ist. Für Debord sind Bedürfnisse auf bestimmte
Gegenstände gerichtet, aber auch auf objektive Möglichkeiten bezogen, die mit
der Entwicklung der Produktivkräfte immer größer werden. „Da Bedürfnisse sich
nicht nur auf Faktizität, sondern gleichzeitig auch auf die der Realität
innewohnenden objektiven Möglichkeiten richten können, kommt es innerhalb der
kapitalistischen Produktionsweise immer wieder zu Bedürfnissen, die von ihr zwar
hervorgetrieben werden, aber nicht befriedigt werden können; sie sind
tendenziell systemtranszendent“ (Baumeister / Negator 2005: S.91), fassen
Baumeister und Negator die Position der Situationistischen Internationalen (SI)
zusammen. Diese nicht integrierbaren Bedürfnisse nennt die SI Begierden analog
zum Terminus der radikalen Bedürfnisse bei Marx. „Radikale Bedürfnisse oder
Begierden sind also jene, die zu Überwindung der entfremdeten Verhältnisse
treiben“ (ebenda: S.92).
Werbung für die Lotterie,
in der die Supermarktverkäuferin sich auf ihrer neuen Jagd bräunt, müssen schon
mit der Exit-Option aus der Lohnarbeit werben, um ihr Produkt an die
KäuferIn zu bringen. Ein Leben ohne Sorgen, Zwang und grauem Alltag wird ständig
von der Werbung produziert. Objektiv sind auch die Voraussetzungen vorhanden,
dass niemand auf der Welt hungern, frieren oder ungebildet sein müsste. In den
entwickelten Ländern sind die Produktivkräfte so weit entwickelt, dass die
Arbeitszeit drastisch reduziert werden könnte.
Die meisten
FernsehguckerInnen werden auch feststellen müssen, dass ihr eigenes Liebes- und
Sexualleben nicht so aufregend ist wie das von der Kulturindustrie in „Sex
and the city“ oder „Desperate housewife“ propagierte. Die Bedürfnisse
nach Liebe, Lust und Leidenschaft oder einem Leben ohne Arbeitszwang machen
einen Menschen noch nicht zum Revolutionär, aber sie werfen die Fragen auf, ob
wir die Grenzen, die uns die bürgerliche Gesellschaft und ihre Institutionen
setzen, nicht überschreiten wollen.
„Vergebens will der
rationalistische Materialismus das Dramatische der Sexualität verleugnen: man
kann den Sexualtrieb nicht regulieren, denn es ist nicht sicher, ob er nicht die
Verweigerung seiner Befriedigung in sich trägt, wie Freud sagt. Sicher ist, dass
er sich nicht in das Soziale integrieren lässt, weil in der Erotik ein
Aufbegehren des Augenblicks gegen die Zeit, des Individuums gegen das
Universelle liegt. Wollte man sie kanalisieren und ausbeuten, liefe man Gefahr,
sie abzutöten, denn man kann über lebendige Spontaneität nicht verfügen wie über
inerte Materie, und man kann auch keinen Druck auf sie ausüben, wie man auf eine
Freiheit ausübt“ (de Beauvoir 2002: S.83f.). Ich glaube, für die geweckten
Bedürfnisse bietet die bürgerlicher Gesellschaft über den Markt verschiedene
Formen der Befriedigung an vom Internet, der größten Pornobibliothek der
Weltgeschichte, über die Prostitution bis hin zu Sextourismus für Frauen in der
Karibik, Homo-Karvenal, Disko, romantische Lyrik, Massagen, Wohlfühl-Seminare,
Internetforen oder die Liebesbeziehungen von Stars als Projektionsflächen.
Können diese marktförmigen Formen der lebendigen Spontaneität der Bedürfnisse
gerecht werden?
Obwohl in Deutschland jede
dritte Ehe nach einigen Jahren geschieden wird und die meisten wechselnde
Lebenspartner haben, gibt es heute wenige Stimmen, die das Prinzip der Monogamie
in Frage stellen. Unter Monogamie verstehe ich, feste Zweierbeziehungen zwischen
Menschen, die auf dem gegenseitigen Versprechen der Treue beruhen und Erotik
sowie Sex mit Personen außerhalb dieser Beziehung als „Fremdgehen“ ausschließen.
Die gesellschaftliche Doppelmoral, die gegenüber Männern weniger streng ist als
gegenüber Frauen, ist dabei ein Ventil, die monogame Zweier-Beziehung auf
verlogene Weise für Männer erträglicher zu machen. Die Doppelmoral ist auch ein
Eingeständnis, dass sich das Ideal in den meisten Fällen nicht umsetzen lässt.
Die scheinbare Freiheit
des Singledaseins von Teilen der städtischen Bevölkerung täuscht darüber hinweg,
dass es schwer ist, regelmäßigen Sex zu haben ohne festen Partner – besonders
für alte Leute und für Menschen mit geringem „Marktwert“ auf dem Bazar der
One-Nightstands. Selbst in linksradikalen Kreisen ist die monogame
Zweierbeziehung wieder in. Eine stärkere Trennung von privat und politisch nach
den Psychoterror-Exzessen der Kommunen, K-Gruppen oder
Frauenselbsterfahrungsgruppen hat heute auf der anderen Seite zu einer
Enterotisierung in vielen linken Gruppen geführt. Es ist meiner Meinung nach
offensichtlich, dass die Form wie Beziehungen in unserer Gesellschaft
organisiert sind, die Bedürfnisse der meisten Menschen nicht befriedigen kann.
Warum wird die monogame Zweierbeziehung nicht öfter in Frage gestellt?
Meiner Meinung nach ist es
schwierig, alleine Grenzen zu überschreiten. Das moralische Imperativ heißt
heute eher „Ich will ihn/sie nicht verletzen“, um die Bedürfnisse in den Rahmen
der Monogamie zu zwängen. In der Arbeit geht Mann oder Frau nicht mit der
begehrten KollegIn oder KundIn ins Bett, weil mensch „professionell“ sein
möchte. Oder verkneift sich die Lust auf einen gleichgeschlechtlichen Menschen,
weil mensch ja nicht schwul oder lesbisch ist und seine sexuelle Identität nicht
gefährden möchte. Frauen und Männer stoßen nicht nur an die Grenzen von
Monogamie und Familie, sondern auch an die neuen „Wahrheiten“, die die zweite
Frauenbewegung etabliert hat. Nach der Debatte um sexuelle Belästigung am
Arbeitsplatz raten Universitäten in den USA und England ihren MitarbeiterInnen
während der Sprechstunde auf jeden Fall die Tür aufzulassen. Es ist heute schwer
über Zärtlichkeit zwischen Eltern und Kindern zu sprechen ohne in einen
zweifelhaften Verdacht zu geraten. Es ist kaum noch differenzierbar, welche
Grenzen dem Schutz vor Übergriffen dienen und welche Zärtlichkeit und Erotik
zwischen Menschen verhindern.
Damit die Verhältnisse
wirklich ins Wanken gebracht werden, bedarf es größerer gesellschaftlicher
Bewegungen und kollektiver Praxis. Letztendlich ist die Frage der sexuellen
Subversion oder Befreiung nicht von der Frage einer kommunistischen Bewegung zu
trennen. Natürlich kann im Kapitalismus für die Durchsetzung eines
„demokratischen“ Minimalprogramms gekämpft werden wie z.B. Streichung des
Schutzes von Ehe und Familie aus der Verfassung / modernes Scheidungsrecht für
Österreich durch Abschaffung der Verschuldungsgründe / Stadtplanung, die
Wohnungen für kollektive Lebensformen berücksichtigt / gleichberechtigte
Anerkennung aller Lebensgemeinschaften / gesellschaftliche Anerkennung und
Schutz von SexarbeiterInnen / Abschaffung aller gesetzlichen Diskriminierungen
von Homosexuellen / Anerkennung der Homosexuellen als Verfolgte des Nazi-Regimes
/ Kampf gegen Schönheitsterror und Schlankheitswahn (Riot, don’t diet) /
vollständige Legalisierung der Abtreibung auf Kosten der Krankenkassen / das
Recht auf Wechsel des Namens und der Geschlechtsidentität / Trennung von Staat
und Kirche / Senkung des Wahlalters auf 16 / kostenlose Kinderkrippen und
Kindergartenplätze für alle, die es wollen / Ganztagsschule als Regelschule /
Einführung von günstigen Kantinen in Schulen und Universitäten / kostenlose
Abgabe von Verhütungsmittel an SchülerInnen und Jugendliche / Verbot von
Religionsunterricht an öffentlichen Schulen / Abschaffung von Theologie als Fach
an den Universitäten / Abschaffung des selbstständigen Arbeitsrecht der
kirchlichen Sozialeinrichtungen, nach dem MitarbeiterInnen wegen „unchristlichem
Lebenswandel“ entlassen werden können / Zugang zu allen Waffengattungen in der
Armee für Frauen bis zur Abschaffung des Heeres / Verbot der Diskriminierung von
Aidskranken / Anerkennung von sexueller Verfolgung als Asylgrund / Bleiberecht
für alle bi-nationalen Paare / für die Enttabuisierung von Sex zwischen und mit
alten und behinderten Menschen usw. Ob die Forderung nach der Aufhebung des
Inzestverbots unter Erwachsenen sinnvoll ist, ist mir unklar. In Deutschland hat
sogar das Bundesverfassungsgericht diese Frage aufgeworfen.
Wir sollten allerdings
nicht glauben, dass dieses Minimalprogramm den Kapitalismus schon sprengen
könnte. Problematisch an den meisten Forderungen ist außerdem, dass sie sich an
den Staat wenden und nichts darüber aussagen wie wir leben wollen. Um allen
Menschen eine Befriedigung ihrer Bedürfnisse nach Liebe, Erotik und Sex oder
auch selbst gewählten Gender-Identitäten zu ermöglichen, muss eine
Gesellschaft geschaffen werden, in der Not, Elend und Lohnarbeit beseitigt sind.
Hier hatte Marcuse Recht, dass die deutliche Reduzierung der Arbeitszeit durch
die Entwicklung der Produktivkräfte eine Voraussetzung für die Erotisierung des
Körpers und die Entfaltung erotischer Phantasien ist. Im Kommunismus als
generalisierter Selbstverwaltung (Guy Debord) und „Verein freier Menschen“
(Marx) würde wahrscheinlich eine Vielfalt von Bedürfnissen entstehen, wie wir
sie heute nicht kennen. Das Beispiel der erschreckenden Utopie von Firestone,
die sogar die Zahl der Wohngemeinschaftsmitglieder festlegte, sollte die
Notwendigkeit eines Verbotes eines blue prints für den Kommunismus
unterstreichen. Als Ergänzung zum Minimalprogramm möchte ich hier nur die
Vergesellschaftung der Produktionsmittel, die Ersetzung des Staates durch
Selbstverwaltungsorgane der Gesellschaft und die Abschaffung der Nationalstaaten
nennen. Vielleicht heißt es im Kommunismus dann: Morgens vögeln, mittags
kuscheln und sich abends eine neue Geschlechtsidentität ausdenken.
Email: paul.pop@inode.at
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(ein Kapitel auf Englisch)
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Suhrkamp, Frankfurt (M).
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