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Gáspár Miklós Tamás: Ein ganz normaler Kapitalismus  

Übersetzt von Gerold Wallner

Die symbolische und historische Bedeutung Osteuropas für die Linke steht außer Zweifel. Es war ja Osteuropa, wo das sozialistische Experiment angeblich unternommen worden war. Der Zusammenbruch der Ostblockregime 1989 bedeutete für die meisten Menschen, dass es jenseits des Horizonts eines globalen Kapitalismus nichts gibt. Obwohl es keineswegs sicher ist, dass es Sozialismus war, das da scheiterte, kollabierten Institutionen, Organisationen und Strömungen der westlichen Linken, geradeso als ob das, was sie vertraten, identisch gewesen wäre mit dem traurigen Ruinenhaufen, der das Reich von Stalins diadochoi war. Wie ruhmlos, eintönig, ängstlich und ermüdend dieses Imperium auch war, die heute dort Lebenden halten dafür, dass es in allen Belangen den neuen Einrichtungen bei Weitem überlegen war. SozialistInnen scheinen desavouiert zu werden durch die generelle Annahme, dass Kapitalismus alles ist, was es gibt, und DemokratInnen wird anscheinend erklärt, dass verglichen mit dieser neuen liberalen Demokratie die Diktatur ein Vergnügen war.

Anders als die absolute Mehrheit der „OsteuropäerInnen“ von Wladiwostok bis Prag, vom Aralsee bis Ostberlin, und anders als die verstimmten KommunistInnen im Westen kann und will ich nicht den unheroischen Ausgang der nachstalinistischen Tragikomödie betrauern, wenn auch die ersteren einige interessante Gründe für ihre Ansicht haben; und anders als die Liberalen denke ich nicht, dass es Sozialismus war, was da scheiterte, und dass der ordo novus seclorum entweder unvermeidbar oder erfolgreich ist – oder in diesem Fall besonders novus. Aber ich kann klarerweise verstehen, dass diese Meinungen in verschiedener Weise den Einsatz von Legitimitätsstrategien nach sich ziehen, wie sie das immer getan haben, und dies sollte Legitimierung durch die Geschichte und die Geschichtstheorie sein. Um nun darzulegen, warum Osteuropa eine besonders interessante und äußerst widerwärtige Version von spätkapitalistischer Gesellschaft ist, müssen wir uns von der Vorstellung verabschieden, dass das irgendetwas mit „totalitaristischen“ Denkgewohnheiten oder „rückständigen“ Bräuchen zu tun hätte, die in Autoritätsgläubigkeit und Servilität wurzelten, Vorstellungen einer „Naturgegebenheit“ eines überraschend modernen, aber weder liberalen noch prowestlichen Selbstbildnisses des ideologischen Gegners während des Kalten Kriegs.

Die Hauptfrage ist natürlich die eine verstörende nach der wahren Natur des 1917 etablierten Systems, das 1989 unrühmlich verschied. Kilometerlange Bibliotheksregale wurden der Lösung dieses Problems gewidmet, der Quelle so vielen Herzeleids und so vieler Schmerzen, einem zentralen Element im Selbstverständnis der wichtigsten radikalen Bewegungen im 20. Jahrhundert. Denn wenn das Regime in der Tat sozialistisch war, dann war die reformistische Sozialdemokratie Verrat und die antileninistische Ultralinke schiere Verrücktheit; wenn das Regime aber nicht sozialistisch war, dann war das heroische Opfer aller kommunistischen Militanten, besonders der westlichen, vergebens. Wenn das Regime in der Tat sozialistisch war und der Gulag, der Genozid und die Schauprozesse alle innerhalb eines wahrhaft sozialistischen Regimes stattfanden, dann ist das sozialistische Ideal wirklich verbrecherisch, aber wenn es nicht wahrhaft sozialistisch war, dann widerlegt der Gulag nicht die Lebensfähigkeit moralischer und politischer Lösungen des sozialistischen Ideals. Wenn denn Regimes vom Typ der Sowjetunion um nichts besser, in der Tat aufs Ganze gesehen schlechter als der Durchschnitt der kapitalistischen sind, dann sollte die Schuld dafür anteilig entsprechend dem zugemessen werden, was wir über ihre charakteristischen Merkmale denken. Die Antwort auf diese alten Fragen sollte sowohl historisch wie philosophisch sein.

Es kann keinen Zweifel über das Fortdauern klassischer kapitalistischer Merkmale in den Regimes des Ostblocks geben: Lohnarbeit, Warenökonomie, Arbeitsteilung und Arbeitszwang, Subsumption unter das Kapital, Geld, Zins, Römisches Recht in der Regelung von Besitz, Hierarchie auf der Betriebsebene, scharfe Trennung zwischen Hand- und Kopfarbeit, horrende Ungleichheit, Unterdrückung von proletarischem Widerstand und von Autonomie der Arbeiterklasse, repressive patriarchale Familien, unbezahlte weibliche Hausarbeit, politischer und ideologischer Druck, grassierender staatlicher Nationalismus, ethnische und rassistische Diskriminierung, Zensur von emanzipatorischer Kunst und Sozialwissenschaft und – natürlich – wildeste Ausbeutung. Gegen diese traurige Auflistung konnten Gläubige in ihrem Zweifel, allen voran Trotzki, nur eine einzige Tatsache ins Treffen führen: die Abschaffung des Privateigentums. Vergesellschaftung und Planwirtschaft wurden als Beweise angeführt, die uns gegen jeden Anschein hätten überzeugen sollen, dass selbst unter dem stalinistischen „Thermidor“ in der Sowjetunion, der Volksrepublik China und deren Satelliten Kapitalismus nicht existierte und nicht wieder restauriert werden würde oder konnte. Schrecklich, aber irgendwie sozialistisch. Das Proletariat sollte auf die eine oder andere Weise „Eigentümer“ aller wichtigeren ökonomischen Vermögen sein, obwohl es darüber nicht verfügen und sie weder kontrollieren noch leiten konnte und das auch nicht tat; obwohl es keinerlei Einfluss darauf hatte, wie die Produktion zu laufen hätte und was die Ziele der ökonomischen Entwicklung sein sollten. Nichtsdestoweniger ist es unbestreitbar, dass es in den Ostblockregimes keine Privatkapitalisten und keinen „richtigen“ Markt gab. Das ist deswegen interessant, weil es uns zu fragen zwingt: Ist es denn eine Tatsache, dass Kapitalismus hauptsächlich durch die Vorherrschaft des Markts und die Anwesenheit von privaten EigentümerInnen der Produktionsmittel bestimmt ist? Ist das überhaupt eine marxistische Ansicht? Ich wenigstens bezweifle das sehr. Sehen wir uns einmal kurz die Bedeutung des Worts „privat“ an, das zumindest seit Rousseau die Essenz bürgerlicher Gesellschaft bezeichnet.

„Privat“ bedeutet im Besonderen einen privilegierten, abgetrennten, geschützten Bereich, der von einem kontrolliert wird und der andere KonkurrentInnen um solche Kontrolle ausschließt. Dieses „Eine“ könnte eine natürliche oder juristische Person sein, zum Beispiel eine Institution wie die Krone oder ein Kloster oder ein Ritterorden. Ist Kronland kein Privateigentum in diesem Sinn? Waren nicht die riesigen Kirchengüter in Osteuropa vor 1945 von konkurrierenden Besitzansprüchen ausgenommen? In welcher Hinsicht ist „der Staat“ – vielleicht in metaphysischer – kein exklusiver, kein kontrollierender und kein nutznießender Eigentümer? Eigentum der Krone wurde auch für allgemeine Aufgaben des Staatswesens eingesetzt, z. B. zum Ausheben, Bewaffnen und Bezahlen von Söldnertruppen, aber verwandelte es dieser besondere Einsatz, dem es zugeführt wurde, schon in Nicht-Eigentum? Konnten es die Untertanen des Königs zu eigenem Nutzen verwenden, wie es ihnen passte? Würde denn die Tatsache, dass es eher juristische denn natürliche Personen waren, die Eigentum besaßen, unter Ausschluss der Leute, die keine wie immer gearteten Produktionsmittel besaßen, die Tatsache von Eigentum dementieren? Es scheint, dass die Haupteigenschaft von Eigentum (im englischen Original ownership) in Klassengesellschaften wie dem Kapitalismus und den sowjetischen Regimes die Trennung derer, die die Produktionsmittel, ohne sie zu besitzen, im Austausch für einen Lohn bedienen (im englischen own), vom Besitz (im englischen property) ist und nicht notwendigerweise der politische und juristische Charakter der EigentümerInnen. VerteidigerInnen dieser Sowjetregimes sagten und glaubten sogar, dass die behauptete politische Macht des Proletariats den Charakter dieses geheimnisvollen Dings, des Staats, nicht nur einfach in die politische und administrative Vertretung dieser neuen herrschenden Klasse verwandelte, sondern in eine neue Art von Eigentümer, der nun den Mehrwert nicht für unproletarische oder unsozialistische Zwecke verwandte, was natürlich in der Praxis nichts anderes bedeutete, als dass das meiste davon reinvestiert wurde, wie immer schon. Nun hat das Proletariat klarerweise nie irgendeine politische Macht besessen, geschweige denn ausgeübt, worauf die Arbeiteropposition in Russland schon 1919 hingewiesen hat, aber es erscheint eher offensichtlich, dass die politische Leitung und die Regierungsideologie in keiner wahrnehmbaren Weise etwas am Ausschluss der besitzlosen ArbeiterInnen vom Genuss, von der Leitung oder – Gott behüte – vom Verkauf „ihres“ mystischen Eigentums ändert. Und dann ist es unbestreitbar wahr, dass die Eigentümeraufgaben von Staatsbeamten oder apparatschiki ausgeübt wurden, nach Maßgabe der Anweisungen von oben, und sie also die wirtschaftlichen Vermögen der Gesellschaft nicht besaßen und zu ihrem persönlichen Wohlergehen nicht direkt verwenden konnten, auch nicht nach ihrem Willen darüber verfügen; mit anderen Worten, nicht der „Apparat“ oder die „Nomenklatura“ war der kollektive Eigentümer der Produktionsmittel. Aber das ist überhaupt keine Vorbedingung für eine Eigentümerschaft, die getrennt ist von den Besitzlosen im ursprünglichen historischen Sinn und in der Bedeutung des Wortes und des Begriffs „privat“. Es ist keineswegs notwendig, dass die einzelnen Mitglieder der „Nomenklatura“ am Mehrwert, der vom Proletariat geschaffen wurde, teilhaben wie Anteilseigner einer Aktiengesellschaft. Ihr Recht auf Verfügung und Kontrolle, wenn auch begrenzt, aber keinem gesellschaftlichen Konkurrenten oder Rivalen zugehörig, genügt, damit sie als herrschende Klasse bezeichnet werden konnten, vor allem da sich die gesellschaftliche Umverteilung in ihre Richtung neigte und sie beachtliche materielle Privilegien genossen, die aber bekanntlich nicht wirklich sicher waren. Das Spezifische hier ist die Synthese von Regierungsfunktion und Zugehörigkeit zur herrschenden Klasse. Das hat historische Vorläufer in Osteuropa und Asien, und phantasievolle Leute wie Karl Wittfogel haben großes Aufheben darum gemacht, aber ich glaube nicht, dass das besonders bezeichnend ist, da dieser Zustand durch die bolschewistische Revolution neuerlich hergestellt wurde, ohne historische Präzedenzfälle besonders zu beachten.

Mit anderen Worten: das so genannte „sozialistische Staatseigentum“ ist also vom Begriff her vom „kapitalistischen Privateigentum“ nicht verschieden, soweit die ArbeiterInnen betroffen sind (und das ist der wichtige Aspekt), wenn es auch eine andere Methode gesellschaftlicher Organisation und Beherrschung bedeutet, und das ist es auch, was das Rätsel des Fehlens des Marktes erklären könnte.

Wenn der Markt ein anonymer Mechanismus ist, gedacht, um Angebot und Nachfrage abzugleichen und dementsprechend die Ressourcen zuzuteilen, dann  ist „sozialistische“ Planung ein nicht-anonymer, willkürlicher, hierarchischer („top-down“) Mechanismus, um dasselbe zu Stande zu bringen, nach allgemeiner Ansicht weniger effizient. Der Kontrast zwischen den beiden wird stark abgemildert einerseits durch das, was János Kornai[1] „plan bargaining“ (Planverhandeln) in den Ostblockwirtschaften genannt hat, und andererseits durch das, was als massive Einmischung der Regierung und Vorgabe ökonomischer Ziele durch politische ideologische Kräfte in der Entstehung von Frühkapitalismus erscheint. Wir können nicht ehrlicherweise behaupten, dass die britischen und holländischen Ostindiengesellschaften und ihre Ableger pure „Markt“-Institutionen gewesen sind. Physischer Zwang durch militärische und paramilitärische Kräfte formte den Marktkapitalismus genauso sehr, wie es die Börse tat. Reinvestitionen und Umverteilungen in Mangelwirtschaften sind immer durch das fiat von Staat und Regierung veranlasst worden, auch in Gesellschaften, die offiziell als bürgerlich gelten, so wie Kriegsdeutschland oder Großbritannien in den 1940ern und 1950ern. Und wir wollen auch nicht vergessen, dass das neokonservative Modell der Marktökonomie das Ergebnis politischer Aktion, angetrieben von Ideologie, war und dass es bei den Korngesetzen und beim Freihandel im neunzehnten Jahrhundert nicht anders gewesen war. Der Unterschied dürfte der sein, dass in bürgerlichen Gesellschaften das politische Handeln der herrschenden Klasse gewöhnlich durch Wahlen und „freie“ Parteienkonkurrenz kontrolliert wird, wohingegen es in so genannten „sozialistischen“ Einparteidiktaturen solche Kontrollen nicht gibt. Sie sind wirklich nicht vorhanden, aber das heißt nicht, dass die herrschende Klasse in diesen Diktaturen sich nicht in mörderische Streitigkeiten einließe und eingelassen hätte und dass sie unfähig wäre gegenzusteuern; vergleichen wir die Politik der so genannten Kommunistischen Partei Chinas unter Mao mit der der jetzigen Führung – ein Kurswechsel ohne die geringste Änderung im politischen „Überbau“, ohne die geringste „Pluralisierung“ oder „Liberalisierung“ des Regimes. Mit anderen Worten, die „totalitaristische“ Herrschaft der wahren Erben Stalins verträgt sich wunderbar mit der wildesten Version von freier Marktwirtschaft.

Wer also versuchen wollte, den Hauptunterschied zwischen den Arten, staatlich die moderne Wirtschaft zu lenken, im Unterschied zwischen „sozialistischer“ und kapitalistischer Planung zu suchen, auch unter dem Einfluss des Unterschieds zwischen konkurrierenden Modellen politischer Autorität (liberal oder tyrannisch, in diesem Fall), ist auf dem Holzweg. Es gibt da Überlappungen ebenso wie enorme Unähnlichkeiten. Die Frage ist weniger, ob „Marktsozialismus“ vorstellbar oder wünschenswert oder überhaupt vorgekommen ist, sondern eher, wie wir nicht-marktförmigen Kapitalismus beschreiben, was augenscheinlich der Fall in den sowjetischen Ostblockregimes in Europa und Asien gewesen ist.

Diese Beschreibung sollte in der altehrwürdigen Art mit der Analyse der Oktoberrevolution und ihren verschiedenen Nacheiferern in Teilen Osteuropas, Südostasiens und anderswo nach dem Zweiten Weltkrieg beginnen. Fangen wir also mit der abstrakten Aussage an, dass die behauptete „sozialistische“ Umwälzung nicht Klassengesellschaften in klassenlose Gesellschaften, sondern Ständegesellschaften in Klassengesellschaften umgewandelt hat.

Ohne es selbst zu wissen – und wie es fast gleichzeitig von so verschiedenen Leuten wie Hermann Gorter[2], Antonio Gramsci in seinem berühmten Artikel „Die Revolution gegen das Kapital“ (er meint das Buch) und später Karl Korsch erfasst wurde –, haben die Bolschewiken den verhassten „legalen Marxisten“ und den Kautskianern darin halb zugestimmt,  eine bürgerliche Revolution mit proletarischen Revolutionären zu machen. Das alte Osteuropa mit seinen vier Reichen (Hohenzollern, Habsburg, Romanow und die Osmanen) blieb trotz der halbherzigen oder schlicht vorgeschwindelten Reformen von 1848 und abgesehen vom westlichen Rand und einigen anderen Enklaven der Moderne eine agrarische Ständegesellschaft, in der die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung in persönlicher Abhängigkeit, Bescheidenheit, Untertänigkeit, Unbildung, corvée (Fron) und Krankheit lebte, ganz zu schweigen von einer kirchlichen Herrschaft und dem brutalen Terror von Gendarmerie und feudalen Lakaien. Die besitzlosen Bauern, nicht länger mehr Leibeigene genannt, aber halb Sklaven in jeder Hinsicht außer der Bezeichnung, waren unfähig, irgendetwas zu unternehmen, um ihre Lebensbedingungen zu verbessern, wenn wir von gelegentlicher blindwütiger jacquerie (Bauernaufstand) absehen oder von Pogromen (gar nicht so selten vom Hof selbst angestiftet, um den Landadel und die widerspenstigen Bürger und proles in den schwachen Städten zu schrecken). Sozialistische Revolutionäre mussten erst das Problem „rückständiger“ Ständegesellschaft ansprechen, wo der Großteil der „Bourgeoisie“ mittelalterliche kleine Kaufleute waren, meistens recht arm und ungebildet, und das „Proletariat“ hauptsächlich Handwerksgesellen, die in den Schlupflöchern einer noch immer weit reichend feudalen Gesellschaft lebten, in der – abgesehen vom grundbesitzenden Adel und der Soldateska, dem Offiziersstand – politische Rechtlosigkeit üblich und verbreitet war. Im relativ reichen und modernen Ungarn hatten weniger als sieben Prozent der Bevölkerung das Stimmrecht und Wahlbetrug, doppeltes Stimmenzählen und polizeiliche Einschüchterung waren natürlich auch unter diesen besonders sicheren Umständen auf der Tagesordnung. Oppositionelle Abgeordnete wurden von bewaffneter Polizei auf Anweisung des Vorsitzenden aus dem Parlament entfernt – und das war die belle époque Österreich-Ungarns und nicht tiefstes Sibirien.

SozialistInnen verschiedenster Tendenzen im Osten suchten den neuen revolutionären Staat zur Modernisierung zu nutzen, eigentlich Aufgabe einer bürgerlicher Revolution, wenigstens wurde diese Aufgabe von den vorherrschenden progressiven Lehrmeinungen dieser Zeit solch einer Revolution zugedacht. Unter der Abwesenheit einer autochthonen, heimischen Bourgeoisie musste dieser entscheidende Schritt weg von einer agrarischen Ständegesellschaft von einem strategischen Bündnis zwischen dem Proletariat und der Intelligenzija vollzogen werden. Aber diese sozialen Gruppierungen waren selbst etwas ziemlich Sonderbares in Osteuropa, hatten sie doch ebenfalls vormodernen standesmäßigen Charakter. Das Industrieproletariat im Osten war meistens zugewanderte, nicht einheimische Arbeitskraft. Selbst in Böhmen und Ungarn sprachen Gewerkschaftsmitglieder nicht Tschechisch oder Ungarisch, sondern Deutsch (im ersten Sozialistenprozess in Ungarn 1871 musste der königliche Gerichtshof Dolmetscher einsetzen, um die Aussagen der Beklagten aufzunehmen, da keiner von ihnen – Führer der ungarischen Arbeiterbewegung – im Stande war, Magyarisch zu verstehen), ganz zu schweigen vom Schweizer (und nichtjüdischen) Radikalen Rudolf Rocker, der Jiddisch lernen musste, als er sich an die anarchistischen ArbeiterInnen im East End von London wenden wollte (heute sollte er wohl Bengali lernen). Proletarischer Sozialist in Osteuropa zu sein bedeutete, in ethnischer Hinsicht (in einer meist Deutsch sprechenden kosmopolitischen oder „internationalistischen“ Gemeinschaft) und in religiöser oder konfessioneller (in einer Gemeinschaft von Nichtgläubigen oder nicht praktizierenden und abgefallenen Christen oder Agnostikern) sehr weit getrennt und entfernt vom Rest des Volkes zu sein. Die revolutionäre Intelligenzija – auch wenn diese Bemerkung unangebracht erscheinen mag – war hauptsächlich jüdisch. So ist es auch kaum überraschend, dass – nach einer Aufstellung des geachteten russischen Historikers Alexander  Uschakow – von den zwölf Mitgliedern des bolschewistischen Zentralkomitees neun jüdisch, alle elf Mitglieder des menschewistischen Zentralkomitees jüdisch, von den fünfzehn Mitgliedern der rechten Sozialrevolutionäre (SR) dreizehn jüdisch, von zwölf Mitgliedern der linken SR zehn jüdisch waren; das Moskauer Komitee der Anarchisten hatte fünf Mitglieder, davon waren vier Juden. Wenn auch nicht ganz so extrem, so galt das Gleiche für die Arbeiterbewegungen in Österreich-Ungarn, auf dem Balkan und dem arabischen Nahen Osten, damals nominell noch von der Hohen Pforte regiert.

Max Weber hat vom „Paria-Kapitalismus“ gesprochen (weiter ausgearbeitet vom belgischen revolutionären Marxisten Abram Léon während des Zweiten Weltkriegs), und das hier war bis zu einem gewissen Punkt „Paria-Sozialismus“ – das kühne Projekt des isolierten urbanen Proletariats und der verarmten, entwurzelten Intellektuellen, deren großteils imaginäre Welt vom Mythos des entwickelten Westens (davon später) abgerundet wurde. Viele Erinnerungen über die Linke im Osten berichten, dass die parlamentarischen Sozialisten im entfernten Reichstag (im Original Deutsch) Objekt einer Begeisterung gewesen waren, die in diesen Reichshauptstädten recht gern angenommen wurde: Bebel, Liebknecht, Adler, Renner, Bauer wurden wie moderne Heilige angesehen; Leute, die den Respekt und die Würde innehatten, die ihren weniger glücklichen östlichen Glaubensbrüdern verweigert wurden – ähnlich wie die Rastafaris in der Karibik Haile Selassie bewunderten, einen Schwarzen, der Kaiser war und der Löwe von Juda. Proletarier und déclassé (deklassierte) Intellektuelle im Osten, umgeben von einem Ozean unverständlicher archaischer Bauernschaft (und vergessen wir nicht: Während die Stadt Polnisch sprach, sprach das Land Ukrainisch; eine andere Stadt sprach Ungarisch, aber das Land sang Rumänisch; die Staatsbeamten verkehrten auf Französisch und Deutsch, während ihre Untertanen einen slavonischen patois (französischer Ausdruck für Mundart, Dialekt) stammelten; und selbst das offizielle und höchst künstliche Hochdeutsch (im Original Deutsch) wurde von vielen nicht – nicht einmal den meisten ethnischen Deutschen – verstanden, und die „roten“ Städte und Bezirke (Presnya, Floridsdorf, Csepel, Grivitza) waren fremd in mehr als einer Hinsicht. Während in den Kursen der Erwachsenenbildung, die von den SozialdemokratInnen in Wien, Pest, Krakau oder Tschernowitz gehalten wurden, die Leute über dieselben Themen sprachen wie in der Fabian Society oder in der Cooper Union, las die Oberschicht überhaupt nichts (und wenn doch, dann Madame de Sévigné), während die armen, analphabetischen und frommen Bauern an Zauberei und Hexen glaubten und – bis nach 1945 – kein Ziffernblatt lesen konnten und vielleicht nicht gehört hatten, dass die Erde rund war. ReiseschriftstellerInnen berichten uns aus den Dreißigern, dass die meisten Bauern über Jahre hinweg die Münzen des jeweiligen Gebiets nicht verwenden, dass sie nicht wirklich glauben, dass Franz Joseph nicht mehr auf dem Thron ist und sie selbst nun Bürger eines neumodischen „Nachfolgestaats“ sind. Gewerkschaftsseminare hatten ein höheres Niveau als die königlichen Akademien der Wissenschaften. Radikale Zeitschriften diskutierten Nietzsche und Baudelaire in St. Petersburg und Pest früher als in London. Pulitzer exportierte das Konzept der Boulevardpresse und des Massenpublikums von Ungarn nach New York und nicht umgekehrt. Zur selben Zeit war die feudale Ständegesellschaft lebendiger und fürchterlicher als in Frankreich im frühen achtzehnten Jahrhundert. Aber wenigstens waren die philosophes der französischen Aufklärung Franzosen – wer hätte sich träumen lassen, Voltaire oder Diderot unfranzösisch zu nennen? Doch osteuropäische SozialistInnen von Lenin und Martow zu Otto Bauer, von Lukács zu Luxemburg, von Eisner bis Dobrogeanu-Gherea[3] und Marchlewski-Karski[4] waren nur BürgerInnen einer zukünftigen Republik und wurden auch nur so gesehen. Der große russische radikale Schriftsteller Korolenko[5], erklärte, sein Heimatland sei nicht Russland, sondern die russische Literatur. Ich kann nicht behaupten, dass ich selbst nie so ein Gefühl hatte.

Kein französischer Dissident des achtzehnten Jahrhunderts war je ein franchouillard („echt“ französisch, auch pejorativ: französischtümelnd) Chauvinist. Aber „Internationalist“ meint nicht jemanden, der entwurzelt und ein Nicht-Staatsbürger ohne Loyalität ist. Osteuropäische Radikale jedoch waren – und sind noch teilweise – wirklich ohne Wurzeln: aus freien Stücken und aus Bestimmung. Natürlich waren sie keine WeltbürgerInnen, sondern BewohnerInnen der Enklaven der Moderne in diesem Meer stummer und erschreckender Bauernschaft. Wie bösartig auch immer, den Namen, mit dem ungarische „Nationalkonservative“ Leute wie mich bedenken – „fremdherzig“ –, finde ich eher großartig. Es ist unfair, ich bin zu meinem Besten zu ungarisch, dennoch beschreibt er östliche Radikale sehr gut, nicht weil sie le parti de l’étranger, die Partei des „Auslands“, waren, oder in diesem Fall sind, sondern weil ihre Utopie der Westen war und blieb, die Welt des „Vertrags“, wie sie ihrer eigenen begrenzten Welt des „Status“ entgegenstand. Klassengesellschaft war ein gewisser Fortschritt, verglichen mit der Ständegesellschaft, Ungleichheit ein Vorzug gegenüber hierarchischem Zwang und systembedingter Erniedrigung. Das Ziel und die Parole einer klassenlosen Gesellschaft gegenüber einer machtlosen und verschreckten Bourgeoisie – mit der auffälligen Ausnahme der ebenso „fremdherzigen“ haute finance à la Rothschild, die mit dem Hof verbunden war, der katholischen Kirche und der blauestblütigen Aristokratie – war ein klein wenig gemogelt, da der nominelle Feind schwächlich und der wirkliche Gegner, der Feudaladel und der Offiziersstand, am Anfang auch im Westen der Gegner der Bourgeoisie gewesen war. George Eliot, Samuel Butler und Anatole France (und nach ihnen Feuerbach, Nietzsche und Herbert Spencer) erschienen so als Waffenbrüder und -schwestern wegen ihrer Feindschaft zum Christentum, der offiziellen (im Innersten und am innigsten (im Original Deutsch) nicht geglaubten) Doktrin der Adligen und Magnaten.

Aber das Ziel, die Ordnung der Aristokratie und des ländlichen Elends zu  zerschlagen, war authentisch und die politische Hingabe wild entschlossen. Aber warum war der Marxismus, eine komplizierte Theorie, die auf den natürlichen Antagonisten der westlichen Arbeiterbewegung ausgerichtet war, die Ideologie einer antifeudalen egalitären Revolution im Osten? Ich stimme nämlich Alain Besançon[6] nicht zu, dass wir das Marx’sche Vermächtnis in Russland gering schätzen und es als Hauptquelle des Leninismus durch Belinski[7] und Pisarev[8] von Narodnaja Wolja ersetzen sollten. Marxismus wurde hier akzeptiert als der theoretische Kern der Modernisierung, der dieselbe Funktion ausüben sollte wie der frühe Liberalismus in Westeuropa im neunzehnten Jahrhundert. Unter der Abwesenheit einer alteingesessenen, geachteten, gut eingeführten, heimischen Bourgeoisie und der Errungenschaften ursprünglicher Akkumulation, von industrieller Grundlage und vernetzten Märkten, die auf Geld und Kredit gründeten, musste die Schöpfung der kapitalistischen Moderne die Aufgabe derer sein, die ein großes Proletariat erschaffen wollten, weil sie überzeugt waren, dass nur die moderne Arbeiterklasse im Stande war, Überfluss durch fortschrittliche Technologie und, durch Überfluss, eine gerechte Gesellschaft zu verwirklichen, die nicht nur gleich sein sollte, sondern bar jeder Ausbeutung und Herrschaft. Um dies zu tun, war es notwendig, die unfreie Unterschicht von Leibeigenen und an die Scholle gebundenen Bauern aus ihrer quasi natürlichen (ideologisch natürlich gemachten) Abhängigkeit vom Land zu reißen und aus persönlich-tribalen Bindungen an die väterliche Autorität des Adels, geformt nach dem zeitlosen Bild des gesalbten, heiligen Königs, wo Unterwerfung und Unterordnung nicht als Unterdrückung gesehen wurden, sondern als der moralische Gipfel der conditio humana, wie er vom späten Gogol und von Schulmeistern wie Pobedonoszew (der sich auf de Maistre[9] und de Bonald[10] stützt) gezeichnet wurde. Die „legalen Marxisten“ wie Struve[11] und Tugan-Baranowski[12] waren ausgesprochene Parteigänger des liberalen Kapitalismus. Dieser Trend ist sogar noch heute klar ersichtlich in der Politik Kommunistischer Parteien in China, Westbengalen oder Südafrika (sogar im Irak, in Syrien und im Maghreb): Marxisten-Leninisten sind hartnäckige Modernisierer in allen rückständigen Ländern, gerade wie ihre antileninistischen feindlichen Zwillinge, die Sozialdemokraten, es in den fortgeschrittenen und reichen Ländern des Westens gewesen sind.

„Sozialismus“ war also für die Bolschewiken eine Reihe radikaler Maßnahmen, die auf die Zerstörung „natürlicher“ Bindungen abzielten. Das war eine Entwicklung, befürchtet von Leuten wie Rousseau und Tolstoi, die gleichzeitig die Unterwürfigkeit, die Grausamkeit und die moralische Verworfenheit der agrarischen Ständegesellschaft verachteten, die von den Interessen der Großgrundbesitzer bestimmt waren. Lenin und Trotzki hatten solche Ängste nicht. Sie wollten einen Industriekapitalismus ohne seine Nachteile, ohne Ungleichheit, grassierenden Individualismus und das falsche Bewusstsein vorgetäuschter Freiheit. Sie wollten keine natürliche (also agrarische oder bäuerliche) Gemeinschaft ohne adlige Grundbesitzer, weil sie nicht daran glaubten, dass Freiheit und Gerechtigkeit in Armut möglich waren – und schon gar nicht wünschenswert. Sie wollten einen einzigartigen Kapitalismus, in dem die Rolle der Bourgeoisie von der proletarischen Avantgarde übernommen werden musste, aber nur politisch. Das Eigentum – und das war wirklich revolutionär und in Übereinstimmung mit uralten radikalen Vorstellungen, die vage in den Putney-Debatten von den „diggers“ wie Gerrard Winstanley[13] und am verrückten äußersten Rand der Französischen Revolution von einigen „enragés“ (wörtlich: Rasende, Besessene) formuliert worden waren – wurde in eine abstrakte Einheit umgewandelt, die sich auf eine zweite abstrakte Einheit bezog, die Gesamtheit der Gesellschaft, wodurch die Funktionen von Kontrolle, Leitung, Verfügung, Einstellung, Kredit, Investition und Übertragung – das bedeutet Entäußerung (im Original deutsch), Entfremdung oder schlicht Verkauf – von Werten vom subjektlosen, abstrakten „kollektiven“ Eigentum geschieden wurden. Das war reine Ideologie, aber eine, die für das Regime und sein Überleben zentral war. Das war auch der Grund, warum Theorien, die von einer Neuen Klasse sprachen, mit hohen Gefängnisstrafen und Schlimmerem bestraft wurden. Aber Eigentum kann klarerweise nicht von Kontrolle und Leitung geschieden werden und die Vorstellung, dass die schuftenden Massen oder die Arbeiterklasse irgendwie „besaßen“, wurde jedes Mal selbst unter den fanatischsten Hardlinern mit schallendem Gelächter quittiert. (Ein berühmter Witz aus den Fünfzigern beschreibt Cognac als das Getränk des Proletariats, das durch seine gewählten Vertreter konsumiert wird.) Nichtsdestoweniger war die ideologische Aufspaltung in Eigentum und Kontrolle erfolgreich bei der Neudefinition des Grundes für den Profit, indem er von Gewinnsucht getrennt wurde: Stachanowisten (Mitglieder einer Elite der Arbeiterklasse, die sich hervortat durch Mehrproduktion, durch „Übererfüllung“ des Plans) zielten auf mehr Konsum, nicht auf die Aneignung von Kapital.

Wenn das Proletariat wirklich der „kollektive Eigentümer“ gewesen wäre, dann hätte Arbeit einen Anspruch, Eigentum zu erwerben, darstellen müssen. Aber genau das ist es, was im Kapitalismus unmöglich ist. Der Mehrwert, der von den ArbeiterInnen produziert wird, wird nicht ihr Eigentum; selbst wenn sie manchmal in der Lage sind, von ihrem Lohn Anteile zu kaufen, können sie das nur als Privatpersonen außerhalb der Fabrikstore: Es ist nämlich ihr Geld, dass sie berechtigt, Anteile oder Aktien zu erwerben, und nicht ihre Arbeit. Das Gleiche lässt sich von so genannten „sozialistischen“, also staatskapitalistischen Regimes sagen: Der Mehrwert, den die ArbeiterInnen produzieren, kann nicht in ihr Eigentum umgewandelt werden. Gleichheit kann – und bis zu einem gewissen Grad wurde sie es auch – ausgedehnt werden, aber mehr Gleichheit bedeutet nicht Miteigentum. Der Mehrwert wird angeeignet, reinvestiert oder konsumiert durch diese schwer fassbare Ganzheit, den Staat. Das alles ist noch immer Privateigentum, insofern es getrennt ist von den ArbeiterInnen, aber es ist kein individuelles Eigentum. Sicherlich haben große Gesellschaften im Marktkapitalismus keinen individuellen Eigentümer, aber sie sind nicht formell der Autorität der Zentralregierung unterworfen, die in den sowjetischen staatskapitalistischen Systemen das Recht hatte, Ziele zu bestimmen, Ressourcen zuzuteilen und die Betriebe und Gesellschaften in eine allgemeine Anordnung einzuschließen, deren Bestrebungen vielleicht offenkundig außerökonomische waren wie etwa die Förderung sozialer Gerechtigkeit, die Belohnung eines entfernten Bezirks oder der Wandel der sozialen oder ethnischen Zusammensetzung einer Region – alles Dinge, die im „normalen“ Marktkapitalismus nicht unbekannt sind, aber weniger systematisch und konsequent. Getrenntheit vom Eigentum ist ein gemeinsames Merkmal von „Markt-“ und „Staatskapitalismus“ (zum „Sozialismus“ ernannt), aber das Vorherrschen, das Übergewicht von Märkten macht wirklich den Unterschied zwischen diesen beiden modernen Systemen von Privateigentum und Ausbeutung aus. Märkte werden in liberalen Gesellschaften durch das Wirtschaftsrecht, durch Wachhunde der Regierung und durch öffentliche Kontrolle unterstützt und reguliert, wobei sich dies alles zu Gunsten des Kapitals neigt, wenn es auch dem Druck von Konkurrenz, von Bürokratie und von Gewerkschaften manchmal gelingt, diese Voreingenommenheit auszugleichen. „planbargaining“ (Planverhandlungen, ein Begriff, den, wie erwähnt, János Kornai eingeführt hat) ist da verwickelter. In den stalinistischen und nachstalinistischen Varianten des Staatskapitalismus (es gab auch andere) war die Konkurrenz zwischen Gesellschaften, die dem Namen nach in Staatsbesitz waren, zwischen Wirtschaftsministerien  („sozialistische“ Regierungen hatten Zuständigkeiten für Metallurgie, Fischerei, Textil und so weiter), territorialen Gruppierungen (die sich auf die regionalen „Partei“-Komitees konzentrierten) und Armee und Sicherheitsdiensten (auch sie kontrollierten Unternehmen) versteckt, informell, ohne archivierbare Spuren. Diese Gruppierungen mussten untereinander und mit dem obersten Schiedsrichter, dem Apparat des Zentralkomitees, verhandeln (es war ja nicht die gewählte Körperschaft selbst, die die Zügel wirklicher Macht in Händen hielt), um etwas von den Mitteln zur Reinvestition zu haben: Ihr Anteil hing (wie im heutigen korporativen Kapitalismus) von ihren politischen Manövern ebenso wie von ihren Profiten („Erfüllung des Plans“) ab. Die Herabsetzung von Produktionszielen oder die Erlaubnis, Zweigbetriebe zu errichten, Hilfskräfte einzustellen und Löhne zu erhöhen, all das wurde durch zähes Antichambrieren, durch Bestechung und politische Denunziation ausgehandelt. Die Lobbies der Schwerindustrie, des Bankwesens, der Geheimdienste hatten ihre HausjournalistInnen in der kontrollierten Parteipresse: Wir wussten immer, wer bei sich bietender Gelegenheit angesichts interner Subversion und ausländischer Einmischung mahnend die Stimme erheben würde – das war oft ein Spiel, um das Budget zu modifizieren, in gewisser Weise wie heute.

„planbargaining“ und kontrollierte Konkurrenz zwischen Regierungs- oder wirtschaftlichen Zweigen führte zu keinen Instabilitäten oder offen ausgetragenen Machtkämpfen (außer in Krisenzeiten), weil proletarischer Widerstand effektvoll in Schach gehalten wurde. Streiks, Sabotage, Bummelei, Absentismus und dergleichen waren kriminelle Vergehen, aber das ideologische Übergewicht vom „Kollektiveigentum“ war das Gewichtigere. Widerstand muss Gründe jenseits von blankem Selbstinteresse oder schierer Unzufriedenheit haben. Solche Gründe entwickelten sich nicht, weil trotz eines starken aber unartikulierten Unglaubens an den Mythos des (Kollektiv-)Eigentums der Tatbestand von (Privat-)Besitz schwer fassbar war.

Die Leute suchten nach Beweisen für soziale Unterschiede, die von der Art waren, die sie vom früheren Entwurf von Hierarchie kannten. Da dies aber eine Ständegesellschaft, fest gefügte gesetzliche Privilegien durch Erbschaft und Geburt, war, suchten sie vergeblich, da sie unter der nominellen „Diktatur des Proletariats“ mit einer modernen Klassengesellschaft konfrontiert waren, die über beträchtliche soziale Mobilität und eine antielitäre plebejische Kultur verfügte. Wenn Gesellschaften von der „Wende“ enttäuscht sind, greifen sie fast immer zu dem rhetorischen Strategem, das beteuert, dass sich gar nichts verändert hat. (Gerade werden wir in Rumänien der allgemeinen Überzeugung gewahr, auch unter Leuten mit Schussverletzungen, dass die Revolution vom Dezember 1989 überhaupt nicht stattgefunden hat, sondern ein inszenierter Schwindel des westlichen Fernsehens und ungarischer-sowjetischer-nordkoreanischer-zionistischer-amerikanischer Agenten war. „Nichts hat sich geändert. Die gleichen Leute sind an der Macht.“ – Wir kennen das.) Aber der sowjetische Staatskapitalismus hat die Dinge auf unglaubliche Art verändert und daher ist die weit verbreitete Analogie mit dem Zarismus lächerlich  – so gebräuchlich sie auch selbst in respektabler Geschichtsschreibung und politischer Wissenschaft sein mag, die von den faux naïfs (wörtl. Falsche Naive) hervorgebracht wird. Die bolschewistische Herrschaft hat viele der üblichen Ziele bürgerlicher Revolutionen erreicht: Industrialisierung, Urbanisierung, Säkularisierung, Schulpflicht, großzügige Finanzierung von Kunst, Wissenschaft und Technologie, Ausrottung von Tribalismus und Errichtung einer gigantischen Infrastruktur (Eisenbahnen, Autobahnen, Pipelines) und – was wahrscheinlich am bedeutendsten ist – in ungeheurem Maßstab die Übersiedlung der bäuerlichen Bevölkerung aus Lehmhütten in das, was in England „council estates“, in den USA „housing projects“ und in Frankreich HLM genannt wird. Die Plattenbauten aus Stahlbeton in traurigem Grau werden von der Mehrheit in Osteuropa noch immer geliebt. Sie waren ihr Weg aus einer bäuerlichen Vergangenheit, aus der alten Ordnung, die bis 1917 mehr als jedes andere jemals bekannte politische und gesellschaftliche System gehasst wurde. Das ist etwas, was allzu oft vergessen wurde. Die ungarische Bezeichnung für Bauer, Paraszt, stammt von einem slavonischen Wort, das „Einfaltspinsel“ bedeutet, das englische villain, das französische vilain, kommt aus dem lateinischen villanus, das „Dorf- oder Landbewohner“ meint. Verachtung für den „Gemeinen“ (ursprünglich einen Angehörigen der Gemeinde) in einer agrarischen Ständegesellschaft ist in unserer vergleichsweise egalitären Welt unvorstellbar. Die Großeltern aber der meisten Leute in Osteuropa wurden gewohnheitsmäßig von den Beamten der Grundbesitzer, den Aufsehern und den Gendarmen getreten und geschlagen, wonach sie die Hand, die sie geohrfeigt hatte, küssen mussten. Der erste Präsident der Ungarischen Republik von 1918, der revolutionäre Graf Károlyi, einer der reichsten Magnaten der Monarchie sah sich zum ersten Mal ernsthaft veranlasst, seinen aristokratischen Stand zu verraten, als er nach einem erfolgreichen Abschuss in der Jagdhütte seines gefälligen noblen Cousins entdeckte, dass jeder Gast in seinem Bett ein zitterndes nacktes rumänisches Dorfmädchen vorfand, gerade so wie heute die Begrüßungsschokolade in den Hotels. Stand bedeutete auch oft ethnische Abstammung (im englischen Original race, wobei zu beachten ist, dass „Rasse“ ein Ausdruck eben des Ancien Régime ist: „Wir haben Rasse“, sagen die Adligen von sich – Gerold Wallner). Die Mythen von Normannen gegen Angelsachsen, Wikingern gegen Kelten, Römern gegen Thraker, Turkmenen gegen Finnugrier, skandinavischen „Varegern“ wie Vladimir, die Scheinende Sonne, Prinz der Kiewer Rus, gegen Slawen (ein Wort, das in Sklave, slave, schiavone, esclave verwandelt wurde), Franken gegen Gallier, Hellenen gegen Pelasger – sie alle zeigen sehr klar, dass die soziale Hierarchie, wie sie war, „biopolitisch“ erklärt wurde.

Sicher hat auch der bürgerliche Mythos von gesellschaftlicher Überlegenheit, von Fähigkeit und Glück, la carrière ouverte aux talents („dem Talente freie Bahn“, vgl. auch „dem Tüchtigen gehört die Welt“) eine Formel von Napoleon Bonaparte – wem sonst –, eine biologistische Komponente. (Denken wir an die urbanen Legenden von den athletischen und musikalischen Schwarzen, den gefühlvollen Russen, sparsamen und fleißigen Anglo-Saxen, scharfsinnigen Juden und so weiter). Aber das ist nichts gegen die alles durchdringende „natürliche“ Beständigkeit des Standes. Selbst heute leiten im angeblich kosmopolitischen und kultivierten Budapest Leute ihre gelegentlichen Bemerkungen an mich, an jemanden, den sie aus dem Fernsehen kennen, so ein: „Verzeihen Sie, mein Herr, wenn ich unbedeutender Mann von der Straße mir die Freiheit nehmen dürfte, Sie anzusprechen“, was sie natürlich nicht daran hindert, mich im nächsten Satz anzugreifen. Diese übernatürliche Elastizität des Standes war es, die Dostojewski und Lenin und Ady[14] und Rosa Luxemburg empörte und rebellieren ließ, nicht so sehr die Klassengesellschaft, eine vergleichsweise harmlose Angelegenheit, der politisch und kulturell eine mächtige Arbeiterbewegung von beträchtlichem Ansehen entgegenstand, die Quelle einer Gegenkultur, die im Stande war, die Gegner der Verhältnisse zu ehren – im Westen. Viel Aufhebens wurde um Marx’ Feindschaft zur „Idiotie des Landlebens“ als einem sippenfremden, körperfremden und naturfeindlichen (im Original deutsch) schulmeisterlichen Schreiberling von verständnislosen, passéiste (die Vergangenheit verherrlichenden) Konservativen gemacht, aber diese Feindschaft wurde von der ganzen Schar der Aufklärung geteilt. Die Narodniki liebten den an die Scholle gebundenen Bauern, den Muschik, aber sie wollten, dass er aufhörte, einer zu sein. Die Bolschewiken brachten die Bauernschaft im Furor eines Genozids zum Verschwinden und zu Beginn wollten sie der patriarchalen, monogamen Ehe und auch jeder Art religiöser Verehrung mit ihrer charakteristischen mörderischen Gewalt ein Ende bereiten. Doch offensichtlich konnten sie ein Regime privaten Eigentums ohne das kreative Chaos des Markts nicht dauerhaft erhalten, ohne Zuflucht zur Familie und zu einer Art unechten Staatskults zu nehmen. Eigentum sogar oder gerade dieser spezifischen Art kann nicht garantiert werden, wenn in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens Anarchie herrscht. Dennoch sollte das destruktive Wüten der Bolschewiki nicht unterschätzt werden. Das teilten sie mit anderen Arten von östlichem Radikalismus, z. B. mit militaristischen und säkularistischen Nationalismen von Kemal Atatürk zu Nasser, Boumedienne und Aflaq[15], mit denen sie jedenfalls eine mehr als ähnliche Übereinstimmung aufweisen. Der Sprung von der scholleverhafteten archaischen Gemeinschaft, deren wichtigste technische Errungenschaften sich seit dem fünften Jahrhundert unserer Zeitrechnung nicht mehr wesentlich verändert hatten, zur Avantgarde Majakowskis, Isaak Babels und El Lissitzkis ist schwindelerregend. Der Preis dafür waren noch nie da gewesenes Elend und atavistischer Rückfall. Eine modernisierende, auf das Militär gestützte Alleinherrschaft „Sozialistische Räterepublik“ zu nennen, ist lächerlich, aber nicht lächerlicher, als eine aristokratische Ständegesellschaft, die sich auf Praktiken stützte, die sie vom antiken, hauptsächlich persischen Zentralasien durch die Vermittlung von Byzanz ererbt hatte, also das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, ein christliches Königreich zu nennen. Dies ist nun zwar das allerälteste Klischee, aber es stimmt dennoch, dass das Reich von Karl dem Großen mit der Bergpredigt  so wenig zu tun hatte – obwohl er damit beschäftigt war, mit Feuer und Schwert aus Heiden Christen zu machen –, wie Stalins Regime mit revolutionärem Sozialismus. Alle wissen das, aber die zeitgenössische kapitalistische Propaganda würde gerne das Spektrum des Sozialismus durch Bezug auf die Sowjetunion oder die Khmer Rouge darstellen. Das ist, als wollten wir behaupten, durch die Merowinger sei Gottes Nichtexistenz bewiesen. (Aber klarerweise haben wir damit auch nicht die Existenz Gottes bewiesen.)

Der Marktkapitalismus ist im Westen mehr oder weniger organisch gewachsen, was bedeutet, dass Elemente von Kontinuität und Tradition andauern. Das Land wurde nicht völlig verwüstet, aristokratische und christliche Ansichten über Ehre und Nächstenliebe gibt es noch, es ist etwas Respekt vor den Institutionen verblieben, die eine oder andere altertümliche Übereinkunft über Größe hat wundersamerweise überdauert. In mancher Hinsicht ist der Westen, wenn auch stolzer und unbefangener, doch ehrerbietiger. Ich war überrascht, als Bill Clinton – ich  hatte in Washington DC zu tun – den Raum betrat und alle aufstanden. Das könnte in Ost- oder Zentraleuropa nicht vorkommen; da gibt es keine Überreste früherer Majestät: Politiker und Vorgesetzte sind Mist. Gleichzeitig gibt es auch keine plebejische Würde. Selbst auf ideologischer Ebene bietet der Marktkapitalismus (die „liberale Demokratie“) mit seinen scheinheiligen Vorstellungen von Größe Respekt als Ausgleich für soziale Konformität und ist so sowohl mehr als auch weniger egalitär als der leninistisch-stalinistische Staatskapitalismus. Der Grund dafür ist eine wahrhaft revolutionäre Veränderung, die die Partei Lenins und Trotzkis und Maos zu Wege gebracht hat. Das ist die Abschaffung der offensichtlichen „Naturgegebenheit“ von Ständen. Das war eine empirisch-experimentelle Demonstration: erzwungene soziale Mobilität, aufwärts, vorwärts und dahin, die Beseitigung oder das Exil für die Gesalbten und Blaublütigen, eine anmaßende Missachtung ethnischer und religiöser Rücksichten, die eben noch als nahezu ewig und heilig, ergo quasi- oder übernatürlich gegolten hatten, all das hatte anschaulich gemacht, dass politische, soziale und religiöse Institutionen vergänglich waren, ergo historisch und nicht natürlich. Dies zu verstehen ist eine der am meisten berauschenden Erfahrungen, denken wir an Kants, Fichtes und Hegels Überschwänglichkeiten über die Französische Revolution. Dasselbe Gefühl durchströmte radikale Seelen in Bezug auf die Russische Oktoberrevolution oder den Langen Marsch der chinesischen KommunistInnen.

Das ist nicht nur „Geschichte im Entstehen“, sondern Geschichte, die in Gang gesetzt wird, und Geschichte, die als Prinzip der Wirklichkeit eingeführt wird. Für die „gewöhnlichen“ Leute, die Unterschichten und die Ausgestoßenen bedeutete das die Etablierung von Vertretung und Wirksamkeit, die Verwandlung von Untertanen der Autorität in Handelnde der historischen Macht, also in Macht des Wandels und zum Wandel. Heiligkeit und Naturgegebenheit gesellschaftlicher Hierarchie und Herrschaft wurden zerstört, auch wenn Hierarchie und Herrschaft überlebten.

Dieses Auskehren, diese kenōsis „Gottes“ und der „Natur“ machen den Osten, der von den Bolschewiken entleert wurde, zu einem idealen Terrain für den reifen Marktkapitalismus. Der Kapitalismus war ja auf die zähe Opposition einer Allianz von Kirche und Thron auf der Rechten und von revolutionärem Anarchismus und Sozialismus auf der Linken gestoßen. Die Bolschewiken haben mit beidem aufgeräumt.

Keine Pilgerfahrten und keine Streiks.

Keine Äbte, keine Grafen, keine Betriebsräte, keine Gewerkschaftsfunktionäre. Eine Klassengesellschaft ohne die geringste Spur von Schichten oder Ständen – in gewisser Hinsicht moderner als ihr westlicher Gegenspieler. Was wir „die Herrschaften“ oder az urak, domnii, dvorianie nennen, die Gehorsam einfordern, ist für immer verschwunden und wurde durch die servitude volontaire, freiwillige Knechtschaft des Kapitalismus ersetzt, die auf dem Bewusstsein ewig drohenden Wandels beruht. „Gelegenheit“ und „Auswahl“ spielten während des bolschewisierenden Staatskapitalismus keine große Rolle, denn er war als asymptotische Annäherung oder Heranführung an ein früher festgesetztes Ziel gedacht, aber beides beinhaltete einen Begriff von persönlicher Bestimmung und unausweichlicher Veränderung, die in der gesellschaftlichen Position jedes einzelnen und aller untrennbar verflochten sind. Statt des vorherrschenden Bilds von Standesgesellschaft als Haus, Gebäude, Bau, als Wohnung erscheint die Klassengesellschaft als heraklitischer flux, Strom, Fluss, als Strömung. Die bolschewistische Revolution hat gezeigt (und Lukács und Bloch haben das sofort verstanden), dass Natur und Geschichte keine einander begleitenden gleichzeitigen Widersprüche sind, sondern aufeinander folgende Phasen gesellschaftlicher Entwicklung, wie sie ideologisch verstanden und ausgedrückt wurde. Die absolute Reinheit der Klassengesellschaft unter dem Staatskapitalismus (revolutionär oder konterrevolutionär) lag in der zentralen Erfahrung des Zusammenbruchs aller naturgegebener Schranken (hierarchisch oder ethnisch) vor der schwindelerregenden sozialen Mobilität, der zum weit verbreiteten Eindruck der Ersetzbarkeit jedes Einzelnen führte und so ein Gefühl für Gleichheit unterstützte, das sich ziemlich von den protestantischen Vorstellungen allgemeiner Priesterschaft unterschied; nein, das war ein allgemeines Laientum, das gewaltsam und durch harsche Unterdrückung erzwungen wurde und von dem auch niemand ausgenommen war. Schauprozesse gegen verdiente bolschewistische Hohepriester und die Parole „Das Hauptquartier bombardieren“ der Großen Proletarischen Kulturrevolution in China haben diesen Eindruck verstärkt. Das war die leninistisch-stalinistische Version von Schumpeters „kreativer Zerstörung“ (ein Satz in einer Würdigung, einer Hommage an Bakunin), dazu angetan, die Restauration eines Stands auszuschließen, die größte Sorge der Bolschewiken, die einzige wirkliche Bedrohung der Legitimität des Regimes, die sie wahrnehmen konnten und als das Übel der Restauration des Kapitalismus beschrieben. Aber das war Unsinn, da kein Kapitalismus wiederhergestellt, nur Kapitalismus geläutert und vervollkommnet werden konnte. Klasse, die ein Strukturmerkmal moderner Gesellschaft und nur der modernen Gesellschaft ist (wenn das Kommunistische Manifest gestattet), ist keine anscheinend unbewegliche biokulturelle Realität wie Stand; sie ist, unter anderem, ein strategischer Ort innerhalb der Ökonomie, durch den Klassenkampf hierhin oder dahin gestoßen. Weltweiter Konservatismus versucht noch immer, auch Klassengesellschaft als naturgegeben darzustellen (worin er wie in allem Max Weber folgt), wobei diese Naturalisierung üblicherweise durch die Umwandlung gesellschaftlicher Orte in kulturelle Attitüden und Typologien erreicht wird wie in den Mythen von Bürgerlichkeit (im Original deutsch) und embourgeoisement (Verbürgerlichung), als ob die Zugehörigkeit zur Kapitalistenklasse von einer Vorliebe für Trollope oder Fontane und einer Begeisterung für die „Winterreise“ abhinge zuzüglich von etwas Geld und der leichtherzigen Liebhaberei des flâneur. Diese Mythen sind heute in Osteuropa ausgesprochen populär, da die einzige Art, in der wir gesellschaftliche Beziehungen anscheinend zu würdigen wissen, die ist, sie auf gewisse vorkapitalistische, vorbürgerliche biokulturelle Merkmale von Art, Haltung, Abstammung und dergleichen mehr zu reduzieren.

Die Tatsache, dass die Modernisierungsrevolutionen im Osten von Außenseitern wie dem städtischen Proletariat und der mehr oder weniger jüdischen Intelligenzija angeführt wurden, lässt dies in der Rückschau als Vergeltung der Fremdherzigen an vielen Einheimischen erscheinen. Da sowohl die herrschende wie auch die dienende Klasse des ancien régime (wörtl. Altes Regime, französischer Ausdruck für Feudalherrschaft, Herrschaft vor der Französischen Revolution) zusammen verschwanden und eine einheimische Bourgeoisie nie existierte, musste Bürgerlichkeit (im Original deutsch) als eine gesellschaftliche Errungenschaft eingeführt werden, eine eingebildete, nicht-kommunistische Modernität. Demzufolge müssen VerteidigerInnen des Marktsystems nach 1989 die Rückständigkeit des alten Osten herunterspielen. Bürgerlichkeit ohne Bürger (im Original deutsch), eine vermeintliche Zivilgesellschaft vor 1945 ohne Bürgerrechte und republikanische Traditionen stellt unsere Erfindungsgabe auf eine harte Probe. Es ist nämlich eine Frage nationalen Stolzes, nicht anzuerkennen, dass das einzige Moderne, das der Osten hat oder je hatte, von bolschewistischer Art ist. Alle unsere modernen Institutionen, unsere Verfasstheiten von Geist und Gemüt, die Hochkultur wie auch ihr Fehlen wurden während der „kommunistischen“ Herrschaft geschaffen, oft natürlich von Leuten, die das System von ganzem Herzen verachteten. Unnötig zu sagen, dass die Ostblockstaaten bestenfalls grauenhafte Polizeistaaten waren, aber das ist nicht der einzige Aspekt, der beachtet werden muss, denn vergleichbare Schrecken können, zwar über kürzere Zeit, auch anderswo gefunden werden, doch es war der Aspekt, dem von uns DissidentInnen nach den 1960ern der größte Widerstand entgegen gebracht wurde. Dieser Widerstand war, und auch wenn ich selbst das sage, moralisch gerechtfertigt und politisch signifikant, aber unglücklicherweise erlaubte er uns keine tiefere Einsicht in die Wirkungsweise des Systems. Das System musste, so viel war offensichtlich, nach einem längeren Übergang zu herkömmlicheren Formen des Kapitalismus scheitern und so wurde das zentrale Tabu des Eigentums allmählich aufgeweicht. Der allerletzte Beweis für die ideologische Überzeugung, dass der Staatskapitalismus kein Kapitalismus war, lag in der Annahme, dass der Mehrwert von der Zentralgewalt zum allgemeinen Wohl der Gemeinschaft angeeignet und zum selben Zweck wieder ausgegeben wurde. Die Tatsache, dass ArbeiterInnen weiterhin LohnarbeiterInnen ohne Mitsprache in der Produktion und WarenkonsumentInnen und SteuerzahlerInnen und KlientInnen öffentlicher Dienste waren, wurde technischen Problemen zugeschrieben wie den klassischen der „sozialistischen Rechnungslegung“, einer wohlbekannten theoretischen Verirrung. Die ideologische Haupthypothese war, dass der gesamte Ertrag umverteilt wurde (wenn auch nicht nur für persönlichen Konsum), ohne dass irgend ein Profit für den exklusiven Gebrauch der Eigentümerklasse zurückbehalten wurde. Diese ideologische Vorstellung konnte solange aufrechterhalten werden, als es zentraler Planung bis zu einem gewissen Punkt gelang, die schreienden Ungleichheiten im Einkommen und besonders in Kontrolle und Kommando zu verschleiern. Als nach den „Marktreformen“ der späten 1960er Betriebe und Kooperativen autonom geworden waren, „Redistribution“ von Profiten abhing, also zu einer üblichen Art der Besteuerung geworden war und Planung immer weniger zentral, dafür Produktionsziele von den Betrieben selbst bestimmt wurden, war anstatt „Kollektiveigentum“ „Gruppen- (oder Gesellschafts-)eigentum“ der allgemeine Zustand geworden und die Einparteienherrschaft musste sich auf Wettbewerb einstellen und pluralistisch werden.

Die Umwandlung der Betriebsführung von de facto-Gesellschaftern, die die Funktionen der Mehrheitseigner und der technischen Leiter verschmolzen, in de jure-Eigentümer durch Management-Buyout (die beliebteste Variante der „Privatisierung“), Asset-Stripping, Outsourcing, Hereinnahme strategischer Partner, Einladung an Financiers und Geldgeber und so weiter war zauberhaft leicht. Gerade in der letzten Sekunde seiner Existenz hat das „kommunistische“ System sein Geheimnis verraten: Es war nicht irgendeine Art von „Nicht-Eigentum“, das in Privateigentum umgewandelt wurde, sondern die eine Art von Privateigentum wurde in die andere umgewandelt. Die Rolle der zentralen staatlichen Autorität stellte sich als die Funktion eines Schiedsrichters heraus wie in jedem bürgerlichen Gemeinwesen, das auf sich hält, und die Abwicklung der Überbleibsel eines egalitären Wohlfahrtsstaats wurde so erfolgreich bewerkstelligt, weil keine antikapitalistischen Kräfte übrig waren. Dogmatische KommunistInnen, die gerade dabei waren zu entdecken, was vor sich ging, wurden an den Rand gedrängt, die Tradition der Betriebsräte und Gewerkschaften wurde unterdrückt, katholischer Antiliberalismus und Antisäkularismus waren noch nicht wieder auferstanden, da war die Gewohnheit kollektiver Aktion schon nicht mehr existent. Die größte Ironie ist dabei die, dass das System politisch von der Arbeiterbewegung besiegt wurde, Solidarność in Polen aber, düpiert von der Bourgeoisie, schnell in verschiedene ultraliberale, ultranationale und ultrakatholische Parteien zerlegt wurde, und dasselbe widerfuhr dem alteingesessenen Gegner, der offiziellen „kommunistischen“ nachstalinistischen Partei. Diese Geschichte ist die Geschichte von Kronstadt, hier und jetzt, ohne tragische Größe und zum Glück ohne Massenmord. Die im Verborgenen herrschende Klasse ist aus ihrem Versteck gekommen und ebenso das Proletariat, aber heutzutage müssen wir selbstverständlich die einen „die wirtschaftliche Elite“ nennen und die anderen nicht Arbeiterklasse – Gott behüte –, sondern ArbeitnehmerInnen (le salariat oder job-seekers), und wenn dein Boss besonders garstig ist und für deine soziale Absicherung nichts zahlen will, wirst du eben ein unabhängiger Auftragnehmer oder eine Kleinunternehmerin (mit dem interessanten Ergebnis, dass in Ungarn UnternehmerInnen im Durchschnitt weniger verdienen als LohnarbeiterInnen). Viele osteuropäische „Zwangsunternehmer“ (das ist der offizielle terminus technicus in Finanz und Statistik: kényszervállalkozók) leiden unter Unterernährung. Viele sind obdachlos. Der Zwang, von der klassenlosen Gesellschaft zu lügen, hat nicht abgenommen, selbst wenn wir nicht länger mehr eine klassenlose Gesellschaft errichten müssen. Aber ideologisch ist unsere Gesellschaft noch immer klassenlos, da „Klasse“ nicht erwähnt werden darf: Es sind nur totalitäre KommunistInnen, die von Klassen sprechen. Was sich selbst offiziell „die bürgerliche Linke“ nennt (polgári baloldal), spricht nur von „Armut“. Aber Armut ist kein kollektiv Handelndes, Armut denkt nicht und tut nicht. „Die bürgerliche Linke“ spricht von „sozialem Einfühlvermögen“ (szociális érzékenység), was die übliche Wohltätigkeit gegenüber den üblichen bedürftigen Armen meint. Ein paar Jahre früher nannten sich diese Leute marxistisch-leninistisch, aber erst heute können sie offen und frei darüber reden. Sie wissen genau, dass der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat im Westen auf Grund derselben Zwänge abgebaut werden muss wie der nachstalinistische Wohlfahrtsstaat im Osten („der frühreife Wohlfahrtsstaat“, wie ihn János Kornai nennt – er hat passende Bezeichnungen für alles): die fallende Profitrate, mein Freund, darum.

Die herrschende Klasse war tatkräftig. Angesichts des fallenden Lebensstandards und der daraus resultierenden Unruhe machte sie die bekannten politischen Konzessionen, indem sie ein bisschen frisches Blut von uns demokratischen Narren transfusionierte und ihre Verluste auf so radikale Art abschrieb, dass niemand im wohlhabenden Westen gewagt hätte, ihr nachzueifern. Die „strukturellen Anpassungen“ zwischen 1988 und 1995 haben laut dem Statistischen Zentralamt mehr ökonomische Werte vernichtet als der Zweite Weltkrieg, Löhne sind noch immer niedriger als in den 1970ern, alle sozialen Indikatoren sind in bekannt schlechter Form, eineinhalb Millionen Arbeitsplätze sind über Nacht verschwunden – und ich spreche hier von Ungarn, der Erfolgsgeschichte dieser Region. Russland, der wichtigste Fall, ist ein Schwarzes Loch, ein Land, das keine Wirtschaft im üblichen Sinn des Wortes hat, noch einen Staat, der über die Treuepflicht seiner Staatsbürger gebietet, so dass diese wenigstens manchmal einige der Steuern zu zahlen unternähmen und des probeweise legalen Systems in ihrem Land gewähr würden, das sie unter Strafandrohung beachten müssten. Diese Faktoren scheinen keine Rolle zu spielen. Ziviler Patriotismus und ein Gefühl für nationale Solidarität, eine Bereitschaft, für gemeinsame nationale Ziele sich irgendwie einzusetzen, sind nicht vorhanden, der Mittelpunkt ist nicht national, sondern ethnisch-rassistisch. Xenophobie und was in Indien „Kommunalismus“ genannt wird, überleben sehr gut in der völligen Abwesenheit der bürgerlichen Version gesellschaftlicher Solidarität, des Nationalismus. Fremdenfeinde und Rassisten, viele von ihnen frühere KGB- und Securitate-Leute, machen gerne für den Zusammenbruch der osteuropäischen Gesellschaften Ausländer verantwortlich – in unserem Fall multinationale Konzerne und internationale Finanzgesellschaften. Diese aber wurden von der ehemaligen „kommunistischen“ Nomenklatura (oder wie sie einer unserer gewitzteren faschistischen Schriftsteller nennt: „die transvestite Nomenklatura-Bourgeoisie“) ins Land geholt, unsere herrschende Klasse ist ununterscheidbar von den übernationalen HerrschernübersUniversumundAlles: Sie waren und blieben die Avantgarde. Sie sind la Russie profonde (analog zu la France profonde, französischer Ausdruck für das ländliche, das „wahre“, das konservative Frankreich). Und viele, wie in allen östlichen Avantgarden, sind – ja – jüdisch, gerade in Russland, wo das in Anbetracht der Tradition geradezu verrückt ist.

Schließlich und endlich ist es recht einfach, warum es gegen den Kapitalismus in Osteuropa keinen Widerstand gibt. Der Kapitalismus wurde hier von SozialistInnen geschaffen, Sozialismus bedeutete hier Kapitalismus und vice versa. Konservative im Osten, die eine vorlenin’sche Ordnung wieder herstellen oder sich wenigstens vorstellen möchten, heilig und naturgegeben, können Kapitalisten nicht mögen, denn dann müssten sie Kommunisten mögen. Die sehr zahlreichen treuen Gläubigen der Weisheit und des Frommens des leninistisch-stalinistischen ancien régime (und ihre Zahl ist im Wachsen begriffen, wenn wir etwa an den unglaublichen Erfolg der hardliner der Kommunistischen Partei von Böhmen und Mähren denken) müssen blind gegenüber der Natur des Systems sein, das sie jetzt phantasievoll in ein gemütliches Arrangement von Gerechtigkeit, Fairness und Nettigkeit ummodeln. Sie können dem Kapitalismus nichts entgegensetzen, da sie ihn (ihre eigene Version natürlich) noch immer Sozialismus nennen.

La Nouvelle Alternative fragt mich, was bezüglich des Aufbaus (oder Wiederaufbaus) einer osteuropäischen Linken zu tun wäre. Die Ziele sind für GegnerInnen des Kapitalismus recht klar und ich will keine Zeit mit Platituden, die auf allgemeine, wenn auch vage Zustimmung stoßen werden, vergeuden. Aber wer wird hier die Linke sein? Meine Antwort auf diese Frage würde vor hundert Jahren ein Klischee gewesen sein, ist aber heute unerfreulich befremdend.

Sozialismus ist nicht gescheitert, da er nie versucht wurde.

Sozialismus ist proletarischer Sozialismus, es gibt keinen anderen. Die Linke wird eine Linke der Arbeiterklasse sein oder überhaupt nichts. Wie das? Ich werde also ein paar Worte darüber verlieren.

Zunächst müssen wir unterscheiden zwischen einer alten Arbeiterklasse vor 1917 (und was die anderen so genannten „sozialistischen“ Länder betrifft, vor 1945), die eine moderne, säkuläre, politisch engagierte, belesene Elite war, die sich durch eine antikapitalistische Gegenkultur bildete (Lionel Trillings weithin akzeptierte Bezeichnung bezieht sich natürlich auf das Proletariat der Zweiten Internationale), und einer neuen Arbeiterklasse, die von der bolschewistischen Diktatur durch administrativ-militärische Maßnahmen geschaffen wurde, um so Industrialisierung und Urbanisierung zu fördern. Dieses neue Proletariat musste ideologisch eine Unklasse sein in Übereinstimmung mit dem Marx’schen Versprechen der Abschaffung des Proletariats und der Entfremdung uno eodemque actu, eine Unklasse, die das Rousseau’sche und Fichte’sche Konzept des „Volkes“ verkörpern sollte, die vollkommene und gleiche Gemeinschaft von Nichtbesitzenden. Proletarisches Klassenbewusstsein wäre in einer „kommunistischen“, also klassenlosen Gesellschaft eine Ketzerei und lèse-majesté (Majestätsbeleidigung). Die leninistisch-stalinistischen Parteien bekämpften wilde Streiks in Krisenzeiten mit: „Die Arbeiterklasse kann sich nicht selbst bekämpfen“, da ja  davon ausgegangen wurde, dass die Arbeiterklasse die herrschende Klasse und der Kollektiveigentümer war, dabei besitzlos, ohne enteignet worden zu sein. Durch die übliche List der Vernunft konnte die moderne Klassengesellschaft, die dem gewalttätigen Umsturz einer agrarischen Ständegesellschaft durch die Revolution der Bolschewiken entstammte, ihr eigenes angemessenes Bewusstsein erst erreichen, als seinerseits der poststalinistische Staatskapitalismus 1989 gestürzt wurde. Aber genau zu diesem Moment verschwand ironischerweise jede ideologische Rechtfertigung für Klassenbewusstsein, jede Erwähnung von Klasse wurde mit dem Propagandaarsenal des erst kürzlich abgeschafften „Sozialismus“ in Verbindung gebracht, der Klassen errichtet und Klassenbewusstsein zerbrochen hatte. Die exkommunistischen Nachfolgeparteien, die sich nun sozialistisch oder sozialdemokratisch nennen, gingen nahtlos in eine andere Art modernistischer Avantgarde über. Wenn Fortschritt früher Planung, Zentralisierung, geleitete Wirtschaft, bürokratisches Regime und so weiter bedeutet hat, verlangt nun das Interesse von Fortschritt und Modernisierung nach Monetarismus, ausgeglichenen Budgets, Steuersenkungen, der Privatisierung von allem, Dequalifizierungen et cetera. Die „kommunistische“ herrschende Klasse war vielleicht keine klassische Bourgeoisie im Sinne der Weber’schen Bürgerlichkeit, aber sie war und ist noch immer eine herrschende kapitalistische Klasse, die nun neue Gruppen integriert und ihren Frieden mit dem Liberalismus oder – an einigen Stellen – mit althergebrachtem reaktionärem Chauvinismus gemacht hat und mit dem Westen.

Die nach-„kommunistische“ Arbeiterklasse, ziemlich genau das Gegenteil einer Klasse an sich und für sich, ist eher eine „subalterne“ Klasse in dem Sinn, wie er früher von Gramsci und nun von Ranajit Guha[16] und Gayatri Chakravorty Spivak[17] entwickelt wurde. Sie ist eine Klasse, die weder symbolisch noch politisch repräsentiert wird. Die unabhängige Linke in Osteuropa, die nicht zu den nachnachstalinistischen Parteien und ihrem Gefolge gehört,  ist – ganz ähnlich wie ihr Konterpart im Westen – eine Kulturlinke, die sich um Minderheiten, ImmigrantInnen, Asylsuchende, Schwule, Umwelt und Frieden sorgt (Feminismus, der wirklich ein Streitpunkt wäre, scheint nicht zu greifen) und ich wenigstens teile auch diese Sorgen. Da die Gruppierungen, die von der Kulturlinken symbolisch vertreten werden, wirklich vertreten werden, könnte sich hier ein Weg öffnen aus dem Out des „subalternen“ Zustands. Aber die Arbeiter sind großteils weiße goyim (Hebräisch: Nicht-Juden) und so bleibt ihre Unterdrückung unbeachtet, außer wenn „Arbeiter“ genau dafür steht – für weiße goyim – in einem rassistischen und ethnischen Diskurs, der gegen die unterdrückten oder diskriminierten rassischen und ethnischen Minderheiten gerichtet ist; so wird der Ausdruck „Arbeiter“ wie der Ausdruck „gewöhnliche Amerikaner“ in den Propagandareden konservativer Populisten in den Vereinigten Staaten verwendet. Dieser Gebrauch – vor allem in Polen, Rumänien und Ungarn – macht die Arbeiterklasse noch weniger sichtbar, wo der eine häufige, überwiegende Gebrauch offen betrügerisch ist. „Das Proletariat kann nur selbst die Macht sein, indem es die Klasse des Bewusstseins wird“, sagt Guy Debord (La Société du Spectacle, § 88; „Le prolétariat ne peut être lui-même le pouvoir qu'en devenant la classe de la conscience.“) Was Debord von der bolschewistischen Revolution sagt (es war ein Moment, wo ein Abbild der Arbeiterklasse in radikaler Opposition zur Arbeiterklasse selbst entstand, op. cit. § 100: „la représentation ouvrière s'est opposée radicalement à la classe.“), kann sich bald wieder als sehr richtig herausstellen, wenn wir nicht aufpassen. Denn wenn ein neuer Anfang für die Linke im Osten die Arbeiterklasse als subaltern betrachtet wie Lenin und Trotzki die erniedrigte Bauernschaft betrachtet haben, dann wird das Proletariat nie „die Klasse des Bewusstseins“ sein. Und Befreiung wird nur ein neuer Machtwechsel sein, der Herrschaft unter irgendeiner neuen Art ideologischer Täuschung oder Manipulation überdauern lassen wird.

Osteuropa könnte wieder zum schwächsten Glied in der Kette kapitalistischer Regimes werden, weil der östliche Kapitalismus so rein, so gesäubert und geläutert wurde durch den leninistisch-stalinistischen Massenmord, durch Zwang und umfassende Knechtschaft. Es gibt keine quasi-feudalen und keine sozialistischen Elemente in dieser Gesellschaft. Das ist ein Mikrokosmos, der – anders als im Westen – lauterer, völliger, ursprünglicher und perfekter Kapitalismus ist. Die einzige Art von Widerstand ist schlicht nostalgisch und passéiste (die Vergangenheit verherrlichend), entweder vom symbolischen Standpunkt der „natürlichen Weltordnung“ einer agrarisch-ländlichen Ständegesellschaft aus oder von dem der Tragödie emanzipatorischer Anläufe aus, die in Staatskapitalismus, Tyrannei und gemeiner Aufgabe endeten. In anderen Worten, dieser Widerstand ist schlicht ideologisch. Die neuen ProletarierInnen, die Leute, die nach Guy Debord durch einen Verlust von Bestimmung über ihr Leben gekennzeichnet sind, leben in der absoluten Dunkelheit derer, die keine politischen Subjekte sind, die vergessen oder einfach ignoriert werden. Der erste Schritt für eine osteuropäische Linke sollte der sein, zu Erinnerung und Klassenrealität zu erwachen, was einen Schritt zur Anerkennung von Autonomie und Subjektwerdung bedeutet. So gesehen, sind wir in einer schlechteren Position als 1848 – mit einer signifikanten Ausnahme: Weder kapitalistische Modernität noch das Proletariat sind fortschrittliche Enklaven in einem archaischen gesellschaftlichen Kosmos. Jetzt sind beide alles. Jetzt, da die Arbeiterklasse eine Mehrheit ist, ist sie politisch nichts. Beachtet das, und beginnt von hier aus.

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[1] János Kornai (geb. 1928), Ökonom, Universitätsprofessor in Harvard, s. http://en.wikipedia.org/wiki/J%C3%A1nos_Kornai

[2] Herman Gorter (1864 – 1927), (holländischer) impressionistischer Dichter und rätekommunistischer Theoretiker. s. http://de.wikipedia.org/wiki/Herman_Gorter

[3] Constantin Dobrogeanu-Gherea (1855 – 1920), rumänischer Marxist, Kulturkritiker und Politiker, s. http://en.wikipedia.org/wiki/Constantin_Dobrogeanu-Gherea

[4] Julian Balthasar Marchlewski (1866 – 1925), polnischer Marxist, s. http://en.wikipedia.org/wiki/Julian_Marchlewski

[5] Wladimir Galaktionowitsch Korolenko (1853 – 1921), ukrainisch-russischer Novellist und Journalist, Menschenrechtsaktivist und Gegner des zaristischen, dann auch des bolschewistischen Regimes, s. http://de.wikipedia.org/wiki/Korolenko, ausführlicher http://en.wikipedia.org/wiki/Vladimir_Korolenko

[6] Alain Besançon (*1932), Mitglied der Académie des sciences morales et politiques, s. ausführlich auf französisch http://fr.wikipedia.org/wiki/Alain_Besan%C3%A7on

[7] Wissarion Grigorjewitsch Belinski (1611 – 1848), russischer Literaturkritiker, Publizist, Linguist und Philosoph, s. http://de.wikipedia.org/wiki/Wissarion_Belinski

[8] Dimitri Iwanowitsch Pisarev (1840 – 1868), radikaler russischer Schriftsteller uns Sozialkritiker, s. http://en.wikipedia.org/wiki/Dmitri_Pisarev

[9] Joseph Marie de Maistre (1753 – 1821), Staatsmann und savoyischer Schriftsteller, s. http://de.wikipedia.org/wiki/Joseph_de_Maistre

[10] Louis-Gabriel-Ambroise de Bonald, Vicomte de (1754 – 1840), französischer Staatsmann und Philosoph, Vertreter eines politischen und kirchlichen Konservativismus, s. http://de.wikipedia.org/wiki/Louis_de_Bonald

[11] (Peter) Pjotr Berngardowitsch Struve, Mitglied der Familie Struve, die sich durch einige RevolutionärInnen (Gustav und Amalie) und viele Astronomen und Ärzte auszeichnet, s. http://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Georg_Wilhelm_Struve

[12] Michail Tugan-Baranowski (1865 – 1919), Ökonom und Politiker, s. http://www.agmarxismus.net/vergrnr/m07_6bio.html

[13] Gerrard Winstanley (1609 – 1676), protestantischer Reformer und politischer Aktivist in Großbritannien, s. http://de.wikipedia.org/wiki/Gerrard_Winstanley

[14] Endre Ady de Diósad (1877 - 1919), ungarischer Dichter, s. http://de.wikipedia.org/wiki/Ady

[15] Michel Aflaq (1910 – 1989), arabischer Politiker und Mitbegründer der Ba'ath-Partei, s. http://de.wikipedia.org/wiki/Aflaq

[16] Ranajit Guha (geb. 1922), prominenter indischer Historiker, lebt in Wien, s. http://de.wikipedia.org/wiki/Ranajit_Guha

[17] Gayatri Chakravorty Spivak (geb. 1942), Literaturwissenschaftlerin und Vertreterin der postkolonialen Theorie, Professorin für Englisch und Literaturwissenschaft an der Columbia University. s. http://de.wikipedia.org/wiki/Gayatri_Chakravorty_Spivak

 

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