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Max Henninger:
Vereinnahmung der Revolte. Andrea Benino und ich haben in der Grundrisse 17 einen Beitrag über die Ende 2005 in den französischen Vorstädten (banlieues) stattgefundenen Unruhen veröffentlicht, auf den ich an dieser Stelle zurückkommen will.1 Der Beitrag war als kritische Auseinandersetzung mit den im November 2005 von verschiedenen linken TheoretikerInnen formulierten Einschätzungen der Unruhen konzipiert.2 So kritisierten wir z.B. Antonio Negris Rückgriff auf die Begrifflichkeit des Hegelmarxismus. (Negri hatte die revoltierenden VorstadteinwohnerInnen als eine „Klasse an sich“ bezeichnet, die erst noch „Klasse für sich“ werden müsse.) Andrea und ich argumentierten, an solchen Einschätzungen zeige sich die Unzulänglichkeit vieler gängiger linker Theorieansätze. Unter anderem schrieben wir, die postoperaistische These vom zunehmend „immateriellen“ Charakter der Arbeit und die damit einhergehende Gesellschaftsanalyse seien weitgehend blind gegenüber den Phänomenen der Gettoisierung und der sozialen Ausgrenzung, die in den Vorstadtunruhen zum Ausdruck gekommen seien.3 Diese Kritik ist, glaube ich, nach wie vor richtig. Das von Andrea und mir konstatierte Unvermögen vieler linker TheoretikerInnen, eine adäquate Einschätzung der Vorstadtunruhen und ihrer Konsequenzen vorzulegen, hat sich im Laufe des vergangenen Jahres bestätigt. So bemerkt z.B. Bernard Schmid zu recht, der französische Migrationsforscher Yann Moulier Boutang gelange in seiner Analyse der Unruhen nicht über die liberale Forderung nach der Gleichberechtigung ethnisch definierter Gemeinschaften (communities) hinaus.4 Diese Forderung verschleiert nicht nur, dass die in den französischen Vorstädten wirksamen Ausgrenzungsprozesse keineswegs rein ethnischer Natur sind.5 Moulier Boutangs Forderung deckt sich auch weitgehend mit der Rhetorik des französischen Innenministers Nicolas Sarkozy. Paradoxerweise ist gerade der durch seine eigenen rassistischen Aussagen bezüglich des vorstädtischen „Abschaums“ (racaille) aufgefallene Sarkozy durchaus fähig, im nächsten Atemzug rassistische Diskriminierung als ernsthaftes Problem anzuerkennen. Dies erlaubt ihm, die Förderung an ethnischen Identitätsvorstellungen orientierter Vereine und Selbsthilfegruppen als Lösung des im November 2005 ausgebrochenen sozialen Konflikts anzubieten. Die von Sarkozy befürwortete Problemlösungsstrategie, der ethnisch definierten community mehr Selbsthilfe zu ermöglichen, legitimiert nicht nur den beschleunigten Abbau der noch bestehenden sozialstaatlichen Leistungen, indem sie die Verantwortung für die Lebensverhältnisse sozial Benachteiligter an nichtstaatliche Akteure delegiert. (Damit könnte eine am Begriff der Autonomie und an der Kritik des Sozialstaats gewachsene Linke sich vielleicht noch anfreunden.) Sarkozys Strategie zielt vor allem auch auf die Förderung reaktionär-identitärer Ideologien in den Vorstädten ab – durch die gezielte Auswahl der zu unterstützenden Vereine und Gruppen, bei der z.B. religiös motivierte Organisationen bevorzugt werden. Hinweise auf rassistische Diskriminierung und auf das Erbe des französischen Kolonialismus kommen Sarkozy also insofern gelegen, als sie ihm erlauben, einen Konflikt, der an sich nicht rein ethnischer Natur ist, zu ethnisieren.6 Indem Sarkozy die Ausbreitung religiös-identitärer Denkmuster in den Vorstädten fördert, bereitet er die Kanalisierung der jugendlichen Revolte durch jene reaktionären Gruppierungen vor, für die in der so genannten multikulturellen Gesellschaft immer auch ein Platz ist. Denen, die das nicht mitmachen wollen, steht nach wie vor ein effizienter Repressionsapparat gegenüber. Dieses Zusammenspiel von wohlwollender Förderung und brutaler Repression erfasst Moulier Boutang – der hier exemplarisch für viele linke TheoretikerInnen steht – nicht. Diese (sehr unvollständigen) Bemerkungen zum aktuellen Stand der Diskussion um die Vorstadtunruhen mögen hier genügen. Die von Andrea und mir vorgelegte Kritik soll an dieser Stelle nicht weiter ausformuliert oder aktualisiert werden. Vielmehr möchte ich die von uns selbst angebotene Analyse in Frage stellen. Sie wird, wie ich heute glaube, unserem damaligen Anspruch nicht gerecht. Andrea und ich hatten uns gegen eine Tendenz gewehrt, die als die zur theoretischen Vereinnahmung der Unruhen bezeichnet werden könnte. Diese theoretische Vereinnahmung wurde und wird von linken AutorInnen vorgenommen, die mit den Alltagserfahrungen der auf den Straßen von Paris, Marseille und anderen Städten revoltierenden Jugendlichen wenig oder gar nicht vertraut sind. Das müsste an sich noch nicht notwendig ein Problem darstellen. Schwerer wiegt, dass diese AutorInnen in ihren theoretischen Entwürfen keinen Platz für solche Erfahrungen gelassen haben und darüber hinaus mit Begriffen und Argumentationsfiguren arbeiten, die das Verständnis dessen, was sich in Frankreich abgespielt hat (und jederzeit anderswo wiederholen kann) beträchtlich erschweren. Eine Selbstkritik halte ich an dieser Stelle für angebracht, weil Andrea und ich nicht nur Begriffsapparate bemüht haben, in denen sich lediglich unsere eigene Distanz zu den VorstadteinwohnerInnen zeigt, sondern vor allem auch bei der Auswahl dieser Begriffsapparate an einer für weite Teile der europäischen Linken charakteristischen Tendenz zur Öffnung gegenüber Argumentationsfiguren aus reaktionären Denktraditionen partizipiert haben. Dies taten wir am offensichtlichsten durch unseren Rückgriff auf Carl Schmitts Überlegungen zum Zusammenhang von „Ordnung“ und „Ortung“.7 Ihre Kritik ist Gegenstand der nachfolgenden Anmerkungen. Im Mittelpunkt des von Andrea und mir veröffentlichten Artikels steht unsere Bezugnahme auf den Begriff der „Menge“ (multitudo), wie er vom holländischen Philosophen Baruch Spinoza gebraucht wurde. Diese Bezugnahme – ebenfalls Ausdruck eines innerhalb der europäischen Linken weit verbreiteten theoretischen Ansatzes – erscheint zunächst weniger bedenklich als der Rückgriff auf Schmitt. Doch die Art und Weise, wie Andrea und ich diesen Begriff verwendet haben, steht mit Schmitts Politikverständnis in einem engen Zusammenhang.. Andrea und ich distanzierten uns in unserem Artikel teilweise vom Begriff der Menge, wie er von Negri und anderen PostoperaistInnen verwendet wird. Wir plädierten für eine Interpretation des Begriffs, von der wir meinten, sie sei weiter gefasst und auch kritischer als die vieler PostoperaistInnen. Damit lehnten wir insbesondere Negris häufig verkürzte Vorstellungen von der Menge ab. Negri tendiert (wie ich immer noch glaube) dazu, die Rolle der so genannten „WissensarbeiterInnen“ oder „immateriellen ArbeiterInnen“ in den gegenwärtigen kapitalistischen Akkumulationsprozessen überzubetonen. Er gelangt so zu einer theoretischen Bestimmung der Menge, die den Zugang zu einem angemessenen Verständnis vieler aktueller Ereignisse und Entwicklungen versperrt. Andrea und ich argumentierten, auf der Grundlage bestimmter Abschnitte in Spinozas Politischem Traktat von 1677 lasse sich ein Begriff der Menge als der Gesamtheit derer entwickeln, die sich anhand der von Thomas Hobbes verwendeten Kategorie des Volkes (populus) nicht beschreiben lassen. Es handelt sich um AkteurInnen, die sich der Identifikation mit dem Nationalstaat verweigern und sich auch unter den repressivsten Verhältnissen ein Maß an Autonomie bewahren, das sich durch keine wie auch immer geartete rechtliche oder materielle Gewalt vollständig stillstellen lässt. Diese Spinoza-Interpretation zielte darauf ab, den in der heutigen Linken wieder gebräuchlichen Begriff der Menge zu erweitern. Spontane, durch die geläufigen Kategorien postoperaistischer Gesellschaftsanalyse nicht immer adäquat zu analysierende Aufstände wie eben die französischen Vorstadtunruhen sollten dadurch begreifbar gemacht werden. Andrea und ich verwiesen in unserem Beitrag auf den häufig übergangenen Sachverhalt, dass der französische Staatspräsident Jacques Chirac am 8. November 2005 als Reaktion auf die Vorstadtunruhen den juristischen Ausnahmezustand verhängte und dabei auf ein am 7. April 1955 im Kontext des algerischen Befreiungskrieges verabschiedetes Gesetz zurückgriff. Es war das erste Mal, dass dieses Gesetz in der französischen Metropole eingesetzt wurde. Davor hatte es nur zur Erweiterung polizeilicher Befugnisse in den kolonialen bzw. postkolonialen Territorien Frankreichs gedient. Andrea und ich sahen in Chiracs Anwendung des Kolonialgesetzes einen Hinweis auf die Unzulänglichkeit einer rigiden Unterscheidung zwischen „Zentrum“ und „Peripherie“, wie sie sich in vielen Imperialismustheorien findet. In Übereinstimmung mit der bekannten These von Hardt und Negri diagnostizierten wir das Ende einer klassisch imperialistischen Raumordnung aus relativ homogenen und weitgehend nationalstaatlich definierten Macht- und Einflussblöcken. Symptomatisch dafür sei die Verbreitung zunehmend unkontrollierbarer „Mikroterritorien“ innerhalb der alten Machtzentren. An dieser Stelle schien Andrea und mir der Hinweis auf Carl Schmitts Begriffspaar „Ordnung“ und „Ortung“ sinnvoll. Das Begriffspaar fordert dazu auf, jedes juristische und politische Herrschaftsregime ausgehend von seinem räumlich definierten Charakter zu denken. Der Hinweis darauf schien auch insofern angebracht, als Schmitt in seinen späten Aufzeichnungen häufig vom Zerfall eines ehemals gegebenen Zusammenhangs zwischen „Ordnung“ und „Ortung“ spricht (Schmitt 1993, S. 38-43). Auch der Verlust einer einst klaren Grenze zwischen „Innen“ und „Außen“ durch die Erstarkung eines die (räumlich bestimmte) Staatsordnung unterwandernden „inneren Feindes“ ist ein bei Schmitt häufig anzutreffendes Motiv.8 Der Rückgriff auf diese Argumentationsfiguren schien Andrea und mir umso nahe liegender, als Schmitt spätestens seit dem Aufgreifen seiner Überlegungen durch Giorgio Agamben auch innerhalb der Linken als wichtiger Theoretiker des juristischen Ausnahmezustands angesehen wird. Weiter schien es Andrea und mir sinnvoll, auf das von Schmitt gern behandelte Thema des Bürgerkriegs hinzuweisen, um es zu der von Hardt, Negri und anderen PostoperaistInnen wiederholt beschworenen Angleichung von Militär- und Polizeieinsätzen in Beziehung zu setzen. Wir schrieben: „Wenn die Trennung zwischen Innen und Außen, nationaler und internationaler Ordnung unklar wird, gleicht sich der polizeiliche Eingriff insofern dem militärischen an, als der Feind nicht mehr notwendig außerhalb der Grenzen des Nationalstaats verortet werden muss, sondern ebenso gut innerhalb dieser Grenzen in Erscheinung treten kann.“ Mit unseren Hinweisen und Anspielungen auf Schmitt waren wir in guter Gesellschaft. Mario Tronti – eine Schlüsselfigur des italienischen Operaismus der 1950er und 1960er Jahre – hat 1998 einen „Karl und Carl“ überschriebenen Aufsatz veröffentlicht, der die linke Schmitt-Rezeption zumindest in Italien weitgehend salonfähig gemacht hat. In seinem Aufsatz stilisiert Tronti, ausgehend von Bemerkungen des Religionsphilosophen Jakob Taubes, das Werk Schmitts zu einem von zwei für das Verständnis des 20. Jahrhunderts unverzichtbaren Bezugpunkten.9 (Der zweite ist Tronti zufolge das Werk von Marx.) Trontis Interesse an Schmitt hat Schule gemacht. Auch in der bis vor kurzem noch in Rom erscheinenden postoperaistischen Zeitschrift DeriveApprodi wird gern auf den nationalsozialistischen Denker verwiesen – z.B. im Kontext von Überlegungen über den juristischen Sonderstatus des US-Gefangenenlagers auf Guantánamo.10 Nicht zuletzt greift auch Antonio Negri bereits seit einigen Jahrzehnten auf Argumentationsfiguren aus dem Werk Schmitts zurück.11 Der Grund, es diesen teilweise sehr renommierten TheoretikerInnen nicht gleichzutun und sich also auf keine (auch noch so kritische) Verwendung Schmitt'scher Begriffe einzulassen, ist einfach: Diese Begriffe sind nicht von den mit ihnen einhergehenden antisemitischen und nationalsozialistischen Vorstellungen zu lösen. Dem Begriffspaar „Ordnung“ und „Ortung“ liegen nationalsozialistische Vorstellungen vom „Boden“ zugrunde, die – wie Raphael Gross bereits vor mehr als sechs Jahren überzeugend nachgewiesen hat – mit dem Vorwurf einhergehen, „die Juden hätten keinen Bezug zum Boden“ (Gross 2000, S. 76). Schmitts Begriff des „inneren Feindes“ geht ebenso auf eine antisemitische Konstruktion zurück, nämlich auf die Vorstellung von der jüdischen Gemeinschaft als „Staat im Staate“.12 Der antisemitische Gehalt des Begriffs wird in Schmitts 1938 veröffentlichter Hobbes-Interpretation explizit. Dort führt Schmitt den Verlust der klaren Trennung von „Innen“ und „Außen“ in den Jahren vor der französischen Revolution auf die umstürzlerische Tätigkeit mit der Staatsordnung nicht hinreichend identifizierter Gruppen zurück. "Geheimbünde und Geheimorden, Rosenkreuzer, Freimaurer, Illuminaten, Mystiker und Pietisten" waren Schmitt zufolge an der Zersetzung nationalstaatlicher Homogenität wesentlich beteiligt. Am stärksten aber habe der „rastlose Geist des Juden“ gewirkt (Schmitt 1982, S. 94).13 Auch antikommunistische Wendungen fehlen nicht. Als bedrohliche Steigerung der Umtriebsamkeit jüdischer Aufklärer im 17. und 18. Jahrhundert macht Schmitt die spätere Tätigkeit „anti-individualistische[r] Mächte“ aus, die im Zeitalter der entfalteten parlamentarischen Demokratie eine Zerstückelung des als organischen Körpers vorgestellten Staates anstreben würden – in der Absicht, „sein Fleisch unter sich zu zerteilen“ (Schmitt 1982, S. 118). Die mir kolportierte mündliche Äußerung Trontis, er beschäftige sich mit Schmitt und anderen reaktionären Denkern, weil diese „interessant“ seien, vermag die Bedenken, die die linke Schmitt-Rezeption angesichts dieser Zusammenhänge hervorruft, nicht abzuschwächen. Jedenfalls glaube ich mittlerweile, Andrea und ich hätten bei der Verfassung unseres Beitrags zu den französischen Vorstadtunruhen besser auf die Verwendung Schmitt'scher Begriffe verzichtet. Das wichtige Phänomen der Anwendung des Kolonialgesetzes von 1955 in der französischen Metropole dürfte sich auch ohne diese Begriffe analysieren lassen. Die immer wieder zu hörende Behauptung, die radikale Linke sei mit dem antisemitischen und nationalsozialistischen Juristen trotz dessen extrem reaktionärer Positionen immerhin noch durch eine gemeinsame Parlamentarismuskritik verbunden, ist falsch. Schmitts Parlamentarismuskritik ist durchgehend gegen das gerichtet, was er als „jüdischen Gesetzesstaat“ begreift.14 Dieser wesentlich antisemitische Ansatz – in dem, wie bereits angedeutet, auch die Behauptung einer gefährlichen Kontinuität zwischen „Judentum“ und „Kommunismus“ angelegt ist – lässt sich schon deshalb nicht mit linker Kritik an der Herrschaftsform Staat zur Deckung bringen, weil er sich ausnahmslos negativ auf die Vorstellung einer (individuellen oder kollektiven) Autonomie gegenüber dem Staat bezieht. Eine solche Autonomie wollen viele linke Emanzipationsforderungen aber gerade einklagen. Denen, die das mit der Verwendung Schmitt'scher Begriffe für vereinbar halten, ist entgegenzuhalten, dass Schmitts Gegenentwurf zum Parlamentarismus keine Befreiung von der Staatsgewalt vorsieht, sondern vielmehr die Verschärfung eben dieser Gewalt in der Diktatur. Natürlich war Andrea und mir beim Verfassen unseres Artikels bewusst, welchem politischen Lager Schmitt angehört. Wir waren allerdings der weit verbreiteten Ansicht, auch von reaktionären Autoren entwickelte Begriffe und Argumentationsfiguren ließen sich für eine linke Analyse fruchtbar machen. Gerade im Fall von Schmitt drängt sich diese Ansicht insofern auf, als er schon seit geraumer Zeit von linken Autoren wie z.B. Walter Benjamin rezipiert worden ist. Die Debatte darüber, ob man es Benjamin und anderen gleichtun sollte, wird sicherlich noch lange Zeit fortdauern. Die in der Grundrisse 19 abgedruckten Beiträge belegen, dass eine ähnliche Debatte auch mit Bezug auf Nietzsche geführt wird. Ohne den Versuch zu unternehmen, die dort vertretenen Positionen zusammenzufassen oder zu beurteilen, möchte ich an dieser Stelle dafür plädieren, solche Debatten nicht als unwichtig abzuschreiben. Ich tue dies vor dem Hintergrund meiner jetzigen Überzeugung, dass linke Kritik sehr wohl ohne Begriffe und Figuren aus dem rechten Lager auszukommen vermag und dies auch tun sollte. Dass linke Kritik keine Bezugnahme auf rechtes Denken benötigt, hat sie immer wieder bewiesen, vor allem dann, wenn sie die bloße Begriffsbildung zugunsten der empirischen Untersuchung konkreter Macht- und Unterdrückungsverhältnisse zurückgestellt hat. In diesen Verhältnissen spielen Rassismus und Antisemitismus heute ebenso wie früher eine gewichtige Rolle.15 Die radikale Linke sollte sich, wenn sie Übereinstimmungen zwischen ihren eigenen Aussagen und denen der radikalen Rechten bemerkt, nicht durch Hinweise auf den vermeintlich „objektiv richtigen“ Charakter dieser Aussagen begnügen. „Darf man nicht mehr sagen, dass es draußen regnet, wenn es auch ein Rechter sagt?“ hat ein seinem Selbstverständnis nach radikal linker Autor kürzlich gefragt.16 Die Frage war Teil einer empörten Antwort auf den Vorwurf des populistischen Anbändelns bei jenem Teil des politisch interessierten Publikums, der sowohl für rechte als auch für linke Positionen offen ist. Anlass des Vorwurfs war ein Interview, das der betreffende Autor einer rechtsradikalen französischen Zeitschrift gegeben hat. Anstatt sich mit den Behauptungen zu rechtfertigen, er habe erstens nicht so genau gewusst, wer ihn da zum Gespräch auffordert, und zweitens sei es doch nicht seine Schuld, wenn sich auch die Rechten einmal für die „richtigen“ Themen interessierten, hätte sich dieser Autor besser selbst die Frage gestellt, warum denn ausgerechnet Rassisten und Antisemiten mit seinen Analysen etwas anfangen können, während dieselben Analysen bei der antifaschistischen Linken auf Ablehnung stoßen. Es geht, mit anderen Worten, nicht nur um die Auseinandersetzung mit den richtigen Themen, sondern auch um die Definition dieser Themen und die Begrifflichkeit, vermittels derer die Auseinandersetzung stattfindet. Dass es einem bedeutenden Teil der theoretisch versierten Linken bei seiner Auseinandersetzung mit den französischen Vorstadtunruhen nicht gelungen ist, die eigenen Anliegen und Analysen wirksam mit der Realität der VorstadteinwohnerInnen zu vermitteln, ist spätestens im März 2006 deutlich geworden. Die Beziehung der damals entstandenen HochschülerInnenbewegung zu den VorstadteinwohnerInnen war zunächst die eines bloßen Nebeneinanders. Daraus wurde schnell ein offener Konflikt. Er gipfelte darin, dass die sich (nach einigem Zögern) für die Anliegen der HochschülerInnen einsetzenden Gewerkschaften Personen, die als krawallbereite VorstadteinwohnerInnen wahrgenommen wurden, gewaltsam von Demonstrationen fernhielt.17 Theoriearbeit betreibende Linke könnten in solchen Entwicklungen einen Hinweis erkennen, dass sie zur Realität der VorstadteinwohnerInnen, obwohl sie ihr doch so viele Analysen gewidmet haben, noch immer keinen angemessenen Zugang gefunden haben.
Zitierte und im Text erwähnte Literatur Benino, Andrea; Max Henninger (2006). Multitudo formidolosa. Zu den Unruhen in den französischen banlieues. Grundrisse 17, S. 28-33. Gross, Raphael (2000). Carl Schmitt und die Juden. Eine deutsche Rechtslehre. Erweiterte Ausgabe. Frankfurt am Main. Hanloser, Gerhard (2006). Anfang und Ende des nietzscheanischen Linksradikalismus. Bataille und Negri im Vergleich. Grundrisse 19, S. 20-29. Katz, Jacob (1982). A State within a State. The History of an Anti-Semitic Slogan. In: Ders., Zur Assimilation und Emanzipation der Juden. Ausgewählte Schriften (Darmstadt), S. 124-153. Koselleck, Reinhart (1973). Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Frankfurt am Main. Maegerle, Anton (2005). Globalisierung aus Sicht der extremen Rechten. Braunschweig. Moulier Boutang, Yann (2005). La révolte des banlieues ou les habits nues de la république. Paris. Negri, Antonio (1981). L'anomalia selvaggia: saggio su potere e potenza in Baruch Spinoza. Mailand. Negri, Antonio (2002). Il potere costituente. Saggio sulle alternative del moderno. Rom. Paye, Jean-Claude (2005). Guantánamo: base di un nuovo ordine di diritto. DeriveApprodi (Rom) 25, S. 24-28. Schmid, Bernard (2006). Kommentierte Brände. Analysen zu den Riots in den Banlieues. Jungle World 44 (1. November), S. 31. Schmitt, Carl (1982). Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols. Köln. Schmitt, Carl (1989). Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf. Berlin. Spinoza, Baruch (1994). Politischer Traktat. Übersetzt und herausgegeben von Wolfgang Bartuschat. Hamburg.
Taubes, Jakob (1995). Die politische Theologie des Paulus. München. Tronti, Mario
(1998). Karl und Carl. In: Ders., La politica al tramonto (Turin), S. 151-64. 1. Siehe Benino / Henninger (2006). Für die im gegenwärtigen Beitrag vertretenen Positionen zeichne allein ich verantwortlich. Sie sind nicht notwendig die meines früheren Mitautors. 2. Zur Erinnerung: Zu den Unruhen war es gekommen, nachdem am 27. Oktober 2005 die zwei Jugendlichen Bouna Traoré und Zyad Benna, Einwohner der Pariser Vorstadt Clichy-sous-bois, von Polizisten gehetzt wurden, sich in einem Trafohäuschen versteckten und dort tödliche Verbrennungen erlitten. In derselben Nacht kam es in Clichy-sous-bois zu Straßenschlachten zwischen weiteren Jugendlichen und der Polizei. Drei Tage später kam es, nach einem Tränengasangriff der Polizei auf Moscheebesucher, zu weiteren Unruhen, bei denen Autos und Gebäude in Brand gesetzt wurden. Die Unruhen breiteten sich am 3. November nach Dijon und dann in etwa ein Dutzend andere Städte aus. Sie hielten den gesamten Monat November an. 3. Das war bereits eine kritische Relativierung meiner recht wohlwollenden Besprechung dieser Theorien in Henninger (2005), einem Text, von dessen Ansatz ich an dieser Stelle ausdrücklich Abstand nehme. Zwar fand sich dort auch die Forderung, die so genannte „immaterielle Arbeit“ von ihren (natürlich durchaus vorhandenen) materiellen und territorialen Aspekten her zu untersuchen, z.B. durch stärkere Aufmerksamkeit für die Verortung dieser Arbeit im städtischen Raum. Diese Forderung deckt sich mit den Hinweisen auf das Phänomen der Gettoisierung in dem Beitrag über die französischen Vorstadtunruhen. Allerdings war zur Zeit der Unruhen bereits klar, dass meine sehr abstrakt bleibenden Vorschläge zur Ergänzung des Begriffs der immateriellen Arbeit keine wirklich brauchbare Grundlage für ein adäquates Verständnis der Unruhen liefern können. 4. Siehe Schmid (2006) und Moulier Boutang (2005). 5. Zwar waren an den Unruhen in der Pariser Vorstadt Clichy-sous-bois, denen die größte Medienaufmerksamkeit zuteil wurde, hauptsächlich Jugendliche mit Migrationshintergrund beteiligt. In anderen Städten gingen die Unruhen aber weitgehend von Jugendlichen ohne einen solchen Hintergrund aus. 6. So wenig auf solche Hinweise verzichtet werden sollte, so sehr sollte gleichzeitig betont werden, dass die Vorstadtunruhen nicht nur Ausdruck von Rassismus, sondern vor allem auch von Verarmungs- und Ausgrenzungsprozessen sind, die in der neoliberalen Wende der 1990er Jahre ihren Ursprung haben und die autochtone Bevölkerung nicht weniger betreffen als die mit Migrationshintergrund. 7. Mehrere in der Grundrisse 19 veröffentlichte Beiträge beschäftigen sich mit der Möglichkeit bzw. Wünschbarkeit einer linken Nietzsche-Rezeption. Vieles, was dort geschrieben wurde, insbesondere in Hanloser (2006), lässt sich auch auf Schmitt beziehen, der gerade von VertreterInnen der italienischen Linken aus dem Umkreis der Zeitschriften Posse und DeriveApprodi immer häufiger zitiert wird – meist ohne jeden Hinweis auf dessen nationalsozialistischen Hintergrund. 8. So z.B. in seiner Hobbes-Interpretation, Schmitt (1982). 9. Siehe Tronti (1998) und Taubes (1995). 10. Siehe z.B. Paye (2005). Paye verweist im Schlussteil seines Essays (S. 28) auf Schmitts 1921 veröffentlichtes Buch „Die Diktatur“. 11. Er tut dies bereits in seiner 1981 erschienenen Spinoza-Studie, wie ich in einem (unveröffentlichten) Vortrag anlässlich des im September und Oktober 2006 in Berlin abgehaltenen Kongresses der Spinoza-Gesellschaft nachzuweisen versucht habe. 12. Vgl. dazu Katz (1982). 13. Reinhart Koselleck, einer der renommiertesten deutschen Historiker der Nachkriegszeit, hat in seiner erstmals 1959 erschienenen Studie „Kritik und Krise“ aus dieser Aufzählung Schmitts einen ganzen Abschnitt gemacht: Er verzichtet lediglich auf Ausführungen zu „dem Juden“. Vgl. Koselleck (1973), S. 49-81. Koselleck meldete sich während des Zweiten Weltkriegs freiwillig zur Wehrmacht, war nach 1945 ein Schüler Schmitts und bedankt sich im Vorwort von „Kritik und Krise“ auch ausdrücklich bei seinem Lehrer. Vgl. Koselleck (1973), S. XII. Das Buch wird (ohne jeglichen Hinweis auf diese Sachverhalte) in Negris 1992 erschienener Studie zum juristischen Begriff der „potestas constituens“ wiederholt zitiert. Auch auf andere Theoretiker aus dem Umfeld Schmitts (Roman Schnur, Ernst Forsthoff) wird in Negri (2002) verwiesen, wie auch auf Schmitt selbst. Auf dessen eigene Beschäftigung mit dem Begriff der „potestas constituens“ – in der „Verfassungslehre“ von 1928 – geht Negris Interesse an diesem Begriff vermutlich zurück. Vgl. Negri (2002), S. 415, 419, 420. 14. Vgl. Gross (2000), S. 60-119. 15. Auch über Antiamerikanismus müsste in diesem Zusammenhang diskutiert werden. Damit ist nicht etwa die (häufig legitime) Kritik an der Politik Washingtons gemeint, sondern vielmehr jenes verschwörungstheoretische Zerrbild, in dem viele klassisch antisemitische Topoi wie z.B. die vom „raffenden“ Kapital (als Gegenspieler des „schaffenden“) oder vom vermeintlichen Unglück der „Wurzel-" bzw. „Bodenlosigkeit“ mit einem romantischen Antimodernismus zusammenfallen. Resultat sind dann in der Regel verschwommene Vorstellungen von „bestimmten Ostküstenkreisen“. Dass diese in linken Kreisen immer wieder anzutreffende Stammtischvariante der Globalisierungskritik heute u.a. auch einen wichtigen Teil des „Aktionsprogramms“ der „Nationaldemokratischen Partei Deutschlands“ (NPD) ausmacht, ist kein Zufall. Siehe Maegerle (2005). Besser ist es um die Beziehung der europäischen Linken zu den USA bestellt, wo sie es versteht, von der Geschichte und den aktuellen Entwicklungen der antirassistischen, antimilitaristischen und antikapitalistischen Kämpfe in den USA zu lernen. 16. Es handelt sich um Jürgen Elsässer. Siehe Der Rechte Rand. Informationen von und für Antifaschistinnen 104 (Hannover, Januar/Februar 2007), S. 25. 17. Zuvor war es, wie in den Medien teilweise berichtet und mir von anwesenden DemonstrantInnen aus der autonomen Szene bestätigt, zu Angriffen auf studentische Straßenzüge seitens von VorstadteinwohnerInnen gekommen. Letztere scheinen die DemonstrantInnen vor allem als Besitzer von entwendbaren Mobilfunktelefonen und Zielscheiben für Obstwürfe wahrgenommen zu haben. Denen, die einwenden, es habe sich dabei nicht um die revoltierenden Jugendlichen vom November 2005, sondern um andere VorstadteinwohnerInnen gehandelt, kann ich das Gegenteil nicht beweisen. Dennoch scheint mir die Anekdote die Kluft zwischen dem gelebten Alltag in den Vorstädten und dem Auftreten der HochschülerInnen gut zu illustrieren. |
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