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Karl Reitter: Die Aktualität des absoluten Mehrwerts und die Reproduktion der proletarischen Existenzsituation
Bemerkungen zu einigen Tendenzen des gegenwärtigen Kapitalverhältnisse
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Im Programm der neuen österreichschen Bundesregierung findet sich ein Bündel von Maßnahmen, deren Tragweite ausgesprochen und verstanden werden muss: es geht um die Durchsetzung von formal freiwilliger Unterwerfung unter erzwungene Arbeit. Es handelt sich in der Geschichte der II. Republik um eine neue Qualität des Zugriffs auf die Arbeitskraft. Schon bisher waren Arbeitslose gezwungen, jeden angebotenen Arbeitsplatz zu allen Bedingungen anzunehmen. Wer jedoch die geplante Mindestsicherung in Anspruch nehmen will, muss bereit sein, widerspruchslos jede ihm zugeordnete „gemeinnützige Tätigkeit“ zu akzeptieren. Im aktuellen Regierungsprogramm wird Klartext gesprochen: „Die Zumutbarkeitsbestimmungen werden gerechter und praxisnäher gestaltet. Langzeitarbeitslose werden in gemeinnützige Arbeitsprojekte eingebunden und zur Weiterbildung verpflichtet. Damit ist sichergestellt, dass es sich bei der bedarfsorientierten Mindestsicherung um kein arbeitsloses Grundeinkommen handelt.“[1] Diese geplanten gemeinnützigen Tätigkeiten, sei es für StudentInnen, sei es für BezieherInnen der Mindestsicherung, entsprechen aber keineswegs regulären, durch Kollektivverträge definierten Arbeitsverhältnissen. Ähnlich wie der Militär- oder Zivildienst regelt ausschließlich der Staat mittels Gesetzen und Verordnungen Art, Dauer, finanzielle Zusatzleitungen sowie Zugänge zu diesen Tätigkeiten. Ist das reguläre Arbeitsverhältnis ein Vertrag zwischen Arbeitskräften und den KapitalbesitzerInnen, regelt bei den gemeinnützigen Tätigkeiten der Staat die Bedingungen. In anderer Form ist diese geplante Praxis nicht denkbar und sie wird in allen Ländern, wo sie existiert, exakt so gehandhabt. Es entsteht dadurch ein ausgegliederter Beschäftigungssektor, in dem alle Standards der Lohn- und Erwerbsarbeit aufgehoben sind. Da es sich um kein übliches Arbeitsverhältnis handelt, existiert auch kein Streikrecht. Da niemand mit Polizeigewalt gezwungen wird, um die Grundsicherung anzusuchen oder gar zu studieren, bleibt der Schein der Freiwilligkeit aufrecht. Wer jedoch durch Niedriglöhne bei Arbeitslosigkeit eine geringe Arbeitslose bezieht, oder als „Working Poor“ durch Erwerbsarbeit den Lebensunterhalt nicht bestreiten kann, wird sozusagen ein zweits Mal geschädigt: Die Ausbeutung im regulären Arbeitsverhältnis bewirkt das Abrutschen in den Sektor der unmittelbaren Zwangsarbeit.

Ideologisch wird diese Praxis als gegenseitiges Verhältnis von Gesellschaft und Individuum konzipiert. Die in sich zerrissene, von Widersprüchen, Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnissen geprägte Gesellschaft wird als einheitliche Gemeinschaft konzipiert, die als forderndes, handelndes Subjekt mit dem Individuum bestimmte Leistungen und Gegenleistungen aushandelt. Wir kennen diese Rede: Du willst etwas von der Gesellschaft, also musst Du der Gesellschaft dies und das geben. Gesellschaft ist aber die Vielheit von Verhältnissen. Gesellschaft zu einem agierenden Subjekt zu verdinglichen bedeutet nicht nur, diese Verhältnisse zu verleugnen, es bedeutet auch die Anmaßung, im Namen eben dieser phantasierten Einheit „Gesellschaft“ zu sprechen. Da Gesellschaft selbst nicht sprechen und fordern kann, kann es nur die Staatmacht im Namen der Gesellschaft.

Von der Absichtserklärung zur Realisierung ist es freilich ein weiter Weg. Die Durchsetzung wird nicht nur eine ganze Reihe von logistischen, rechtlichen und administrativen Problemen aufwerfen, sondern auch auf direkten politischen Widerstand und weniger sichtbare Widerspenstigkeit im Alltagsvollzug stoßen. Ob die Bedeutung dieser Projekte von der Linken erkannt wird, entscheidet wesentlich über ihre zukünftige gesellschaftliche Bedeutung. Noch ist nichts real vollzogen. Die geplante Einführung der Möglichkeit für StudentInnen, ihre Studiengebühren durch 60 Stunden Arbeit in gemeinnützigen Institutionen abzuarbeiten, was einem fiktiven Stundenlohn von 6 Euro entspricht, ist auch unter der Perspektive eines Versuchsballons zu diskutieren. Allein die Frage, was denn unter „gemeinnütziger Tätigkeit“ zu verstehen sei, wird von den verschiedenen Macht- und Interessensgruppen wohl unterschiedlich beantwortet werden. Zudem stellen sich Probleme der Auswahl der Trägerorganisationen, der Kontrolle, des Nutzens usw. Das Geschäft mit Evaluierung wird zweifellos aufblühen. Für eine emanzipatorische Perspektive ist es vorab entscheidend, zu erkennen, was hier projektiert wird.

Die Sozialdemokratie stellt sich dem Projekt „freiwillig erzwungenen Arbeit“ keineswegs entgegen, sondern treibt diese initiativ voran. Schon bisher wurde das Arbeitsmarktservice (AMS) in trauter Eintracht mit bürgerlichen Kräften geführt. Durchsetzung von Zwangskursen, Errichtung einer rechtlichen Grauzone durch dubiose Vereine, die zugleich als Leiharbeitsfirma wie auch als begleitende Arbeitssuche fungieren, aber auch eine exzessive Handhabe von Bezugsstreichungen – alle diese Maßnahmen wurden im unmittelbaren Einflussbereich von Sozialdemokratie, Gewerkschaften und Arbeiterkammern realisiert. Die Pläne für teilweise verpflichtende gemeinnützige Arbeit knüpfen an diesen Politik an; offenbar soll sie ausgeweitet und gesellschaftlich salonfähig gemacht werden.

Dass die Sozialdemokratie eine aktive Rolle spielt, ist nicht zufällig. Aufgrund ihrer Geschichte, sozialen Zusammensetzung und gesellschaftlichen Integration ist die Sozialdemokratie weit weniger mit bestimmten Kapitalfraktionen und bourgeoisen Sonderinteressen verbunden wie bürgerliche Parteien. Ihr Blickwinkel ist der gesamtgesellschaftliche Zusammenhang; alle Gruppen und Schichten sollen berücksichtigt werden. Ein bedächtiger, ausgleichender Habitus ist ihr zumeist zueigen. Polarisierungen, egoistische Gruppeninteressen sowie Konfrontationen scheut sie nach Möglichkeit. Stärker als andere politische Strömungen fühlt sie sich dem Gesamtwohl verpflichtet, allerdings – es ist das Gesamtwohl des Kapitalismus, es sind die Erfordernisse der kapitalistischen Gesellschaft denen sie alles unterordnet. Wenn es nötig ist, dafür einen harten Schnitt zu setzen, zögert sie keineswegs. Die Einbeziehung von Arbeitslosen und gering Beschäftigten in verordnete Arbeit, der dadurch ausgeübte Druck auf den regulären Arbeitssektor, die gesellschaftliche Akzeptanz von Niedrigentlohnung - bei all diesen Tendenzen finden wir die Sozialdemokratie an vorderster Front. Mit stolz geschwellter Brust reklamiert die SPÖ das Konzept der Mindestsicherung als ihre Erfindung und verkündet auf ihrer Homepage: „Von denen, die die Grundsicherung in Anspruch nehmen, wird also erwartet, dass sie bereit sind, sich zu qualifizieren, angebotene Arbeit und auch Arbeit im gemeinnützigen Bereich anzunehmen.“[2] Sie ist nicht der Arzt am Krankenbett des Kapitalismus – eine bis zum Überdruss geistlose und gedankenlose Floskel – sondern aktiv gestaltender Akteur. Ihre Leimrute, mit der sie bis tief in die Linke hinein fischt, ist das nicht weniger inhaltslose Gerede vom Neoliberalismus und seinen angeblichen Tendenzen, die Gesellschaft sich selbst zu überlassen. Wahr ist das Gegenteil, die Vorzeigeregierungen neoliberalen Zuschnitts, von Thatcher über Bush bis Berlusconi, zeichneten sich durch massive Zugriffe auf gesellschaftliche und politische Verhältnisse aus, national wie international. Nichts soll dem Zufall überlassen sein, jeder Winkel und jedes Eck der Gesellschaft durchleuchtet, kontrolliert und manipuliert werden. Ob und in welchem Ausmaß diese Politik greift, steht freilich auf einem anderen Blatt. Kontrolle und Verwaltung der Arbeitslosen im Hinblick auf ihre kapitalistische Verwertbarkeit fügt sich nahtlos in diese Ausrichtung.

Das Projekt gemeinnützige Arbeit stellt ein Moment der allgemeinen Umorientierung des kapitalistischen Akkumulationsmodells dar. Dieser Umstrukturierungsprozess ist bereits so fortgeschritten, dass seine Aspekte und Konturen immer klarer ersichtlich werden. Die einzelnen Momente sind schon längst in der Alltagserfahrung präsent: neue, prekäre Arbeitsformen, eine wachsende Schere zwischen Kapital- und Managementeinkommen einerseits und Masseneinkommen andererseits, steigender Druck in der Arbeitswelt, aggressiveres Vorgehen des AMS gegen Arbeitslose. Um die Zusammenhänge zwischen diesen Phänomenen sichtbar zu machen, greife ich auf das Konzept des Übergangs vom Fordismus zum Postfordismus zurück. Mein Interesse gilt dabei insbesondere den Versuchen der kapitalistischen Herrschaft, die proletarische Existenzsituation erneut zu festigen. Bedingungen des unmittelbaren Widerstandes und der Emanzipation resultieren zwangsläufig daraus. In Opposition gegen diese Zumutungen ist die Perspektive der gesellschaftlichen Transformation unabdingbar zu entfalten.

Vom Fordismus zum Postfordismus

Ein sinnvoller Zugang zum Verständnis der gegenwärtigen Verhältnisse lässt sich aus dem Zerbrechen des europäischen Nachkriegsfordismus gewinnen, der seinen Höhepunkt in den 60er und 70er Jahren hatte. Vor dem Hintergrund eines historisch wohl einmaligen Arbeitskräftemangels beruhte die Kapitalakkumulation zentral auf industrieller Massenproduktion. Durch steigende Löhne konnten die ArbeiterInnen diese Produkte, allen voran das Auto und den Fernsehapparat, in wachsendem Ausmaß erwerben, was wiederum die Nachfrage ankurbelte. Die meisten Staaten verfolgten eine an den Theorien von John Maynard Keynes orientierte antizyklische Budgetpolitik, die durch staatlich gesteuerte Nachfrage versuchte, die Kapitalakkumulation zu intensivieren. Diesem positiven Bezug zum ökonomischen Staatsinterventionismus entsprach zumeist eine Integration von Sozialdemokratie und Gewerkschaften in den Staatsapparat. In Österreich nahm dieser Korporatismus besonders extreme Formen an. Die „paritätische Kommission“, besetzt durch VertreterInnen von Kapital und Arbeit, wurde zu recht als heimliche Regierung oder auch als Schattenregierung bezeichnet. Tatsächlich wurden in diesem Gremium viele wichtige ökonomische Entscheidungen getroffen.

Aus Marxistischer Sicht kann sowohl die gleichzeitige Steigerung von Löhnen und Profiten als auch die permanent sinkende Wochenarbeitszeit erklärt werden. Zugleich kann gezeigt werden warum dieses Karussell, das scheinbar den Gegensatz von Kapital und lebendiger Arbeitskraft suspendierte, ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr funktionieren konnte. Es war ein Zusammenspiel von Produktivkraftsteigerung, langen Arbeitszeiten und niederen Löhnen noch in den 50er Jahren, das diese Prozesse ermöglichte. Um diese Dynamik darzustellen, sind einige Marxsche Begriffe nötig. Im trivialen Alltagsverständnis, aber auch in der nicht Marxistischen bürgerlichen Ökonomietheorie wird fälschlich angenommen, die geleistete Arbeit würde nach Maßgabe ihrer Verausgabung bezahlt. Tatsächlich wird jedoch der Wert der Arbeitskraft, unabhängig von Dauer und Intensität der Arbeit entlohnt. Das Kapital hat freilich ein Interesse daran, die Arbeitskräfte so lange und so intensiv wie möglich zu beschäftigen. Die Wochenarbeitszeit betrug in Österreich nach 1945 lange Zeit immerhin noch 58 Wochenstunden. Die lebendige Arbeit setzt dem vorhandenen Wert Neuwert hinzu, das Maß dafür ist die geleistete Arbeitszeit im Ausmaß ihrer gesellschaftlich durchschnittlichen Notwendigkeit. Diesen Neuwert kassiert das Kapital beim Verkauf der Waren, ein Teil dieses lukrierten Mehrwerts muss das Kapital als Lohn ausbezahlen, der andere Teil verbleibt als Mehrwert. Die Aufteilung des Arbeitstages in den bezahlten Teil, der dem Lohn entspricht, und den unbezahlten, als Mehrwert angeeigneten Teil, lässt sich auch graphisch darstellen.[3]

Entscheidend ist nun, dass beide Grenzen, die Länge des Arbeitstages als auch ihr bezahlter Teil, veränderbar sind. Ein Faktor dafür ist die Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit. Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit meint einfach, dass dieselbe Arbeitskraft in derselben Zeit mehr Produkte herstellen kann. Da „dieselbe Arbeit (…) in denselben Zeiträumen stets dieselbe Wertgröße“ (MEW 23; 61) ergibt, sinkt natürlich der neu zugesetzte Wert mit der Produktivität. Wenn eben statt 10 nun 20 Stück eines Produktes erzeugt werden können, dann verteilt sich der Neuwert von zehn auf zwanzig Exemplare, kurzum die Waren werden billiger. Durch die Konkurrenz zwischen den Kapitalien wird die Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit vorangetrieben und angeheizt, da günstiger produzieren es erlaubt, die MitbewerberInnen aus dem Feld zu schlagen. Dass die Preise für viele Güter teilweise massiv gefallen sind, steht wohl außer Zweifel. Aber wozu führt ein Sinken der Warenwerte und Warenpreise, vor allem wenn es sich um Güter des täglichen Gebrauchs handelt? Mit derselben Wertmenge des Lohnes sind nun mehr Gebrauchsgüter zu erwerben. Und wenn der Wert der Massengüter rapide sinkt, können selbst mit einem sinkenden Lohn mehr Produkte erworben werden. Vom Standpunkt des Kapitals aus ermöglicht dies eine absolute Herabsetzung des bezahlten Teils des Arbeitstages. Diese Senkung tritt aber solange nicht ins Bewusstsein, solange mit weniger Wert des Lohnes gleich viel oder sogar mehr Waren erworben werden können. Zugleich ermöglicht das Sinken des bezahlten Teils des Arbeitstages eine Verkürzung der Arbeitszeit bei gleichzeitiger Erhöhung des Profits für die Kapitalisten, solange die Lohnsenkung schneller als die Arbeitszeitverkürzung vor sich geht. Um diese Dynamik zu illustrieren habe ich ein heuristisches Schema entworfen, indem ich modellhaft den Arbeitstag von 1950 mit jenem von 1970 vergleiche.

Diese Modelle wollten zeigen, dass gleichzeitige Senkung der Arbeitszeit bei Erhöhung des Profits, als auch steigende Kaufkraft des Lohnes, einerseits für eine Phase möglich war, dann aber an Grenzen stoßen musste. Um im angenommenen Beispiel von 1970 die Arbeitszeit nochmals, bei gleichzeitiger Steigerung des unbezahlten Teiles des Arbeitstages und Steigerung der Kaufkraft der Löhne zu senken, müsste sich die Produktivität der Arbeit schon sehr rasant erhöhen. Eine weitere Senkung der Arbeitszeit um 2 Stunden würde aber im angenommenen Bespiel den Mehrwert und in Folge den Profit absolut vermindern, da der Lohn nicht einfach null betragen kann. Es ist also kein Zufall, dass die Arbeitszeitverkürzung bei 38,5 Wochenstunden erstmals zum Stillstand gekommen ist.

In meiner Darstellung habe ich zudem von der Problematik des konstanten Kapitals abstrahiert. Das bedeutet: Wenn sich z.B. die Arbeitsproduktivität in der Kühlschrankproduktion verdoppelt, so bedeutet das erstmals nicht, dass nun die Kühlschränke die Hälfte kosten. Es bedeutet erstmals nur, dass sich der zugesetzte Neuwert halbiert; um wie viel Kühlschränke weniger kosten, hängt auch vom Wert des verbrauchen konstanten Kapitals ab. Die Harmonie von gleichzeitiger Arbeitszeitverkürzung, Reallohnsteigerung und Profitsteigerung musste also an Grenzen stoßen. Ich kann daher der derzeit erhobenen Forderung nach weiterer Arbeitszeitverkürzung eine gewisse Naivität nicht absprechen, zumal wenn sie mit der Belehrung einhergeht, wie unrealistisch denn die Forderung nach dem bedingungslosen Grundeinkommen wäre. Die fordistische Dynamik ist endgültig Geschichte und jene noch so geringe Verringerung der Arbeitszeit bei Lohnausgleich muss unmittelbar zur Konfrontation führen. Die Auffassung, die Arbeitszeitverkürzung sei, verglichen mit dem Grundeinkommen, irgendwie mit dem Kapitalismus kompatibler bedeutet, die tatsächlichen Triebkräfte des Postfordismus nicht zu verstehen.

Die fordistische Phase war keineswegs jenes goldene Zeitalter, als das es vor allem aus sozialdemokratischer Sicht gerne hingestellt wird. Fordismus bedeutet Unterwerfung unter ein striktes Fabriksystem, Fließbandarbeit und Unterordnung unter starre Hierarchien. Gesamtgesellschaftlich herrschte strikte Reglementierung, Erstickung aller nonkonformistischen Regungen, Spießigkeit, Doppelmoral, Lüge und Verdrängung der faschistischen Vergangenheit. Wer den Zeitgeist jener Phase kennen lernen möchte, möge die Schriften und Manifeste der 68er AktivistInnen lesen. Dass uns dabei heute manches verstaubt, pathetisch und seltsam naiv anmutet, resultiert aus der gesellschaftlichen Situation, gegen die sie rebellierten. So antwortete die Kritik an der Konsumgesellschaft auf den ausufernden Konsumismus, der alle abweichenden Bedürfnisse ersticken sollte. Die positiven Momente jener Zeit resultierten nicht aus dem Fordismus, sondern aus dem Widerstand dagegen. Die ArbeiterInnenkämpfe in Italien und Frankreich stellten das Diktat des Fließbands in Frage, die 68er Bewegung kündigte den Konsens mit den herrschenden moralischen, politischen und gesellschaftlichen Werten auf. Der Nachkriegsfordismus etablierte sich mit kräftiger Unterstützung des Stalinismus über die Zerschlagung aller antifaschistischen Bewegungen mit antikapitalistischer Tendenz. In Osterreich und Deutschland existierten diese Bewegungen kaum, wohl aber in Italien, Jugoslawien und Griechenland. In diesem Kontext ist auch eine Bemerkung zu Keynes unumgänglich. Dass Keynes immer noch als „Linker“ gehandelt wird, ist ein Skandal sondergleichen. Wie John Holloway[4] und Antonio Negri exzellent gezeigt haben, begriff Keynes, dass die Unterwerfung und Ausbeutung des Proletariats einer gesamtgesellschaftlichen Regelung bedarf. Dass seine Thesen den spezifischen Bedürfnissen der Kapitalherrschaft nach dem II. Weltkrieg entsprachen, zeigt nur seine Weitsichtigkeit vom Standpunkt der Bourgeoisie aus. Aber nicht die Keynesianische Politik hat die Arbeitszeitverkürzung und ein deutliches Ansteigen der Kaufkraft der Löhne ermöglicht sondern umgekehrt: die oben skizzierten spezifischen Akkumulationsmechanismen nach 1945 ermöglichten, ja erforderten eine gesamtgesellschaftliche Regelung, die die ArbeiterInnenklasse diszipliniert und wohlgeordnet in den kapitalistischen Verwertungsprozess einfügt. Keine der Verbesserungen war im keynesianischen Wirtschaftsplan enthalten, sondern wurde hat erkämpft oder konnte durch den zeitweiligen empfindlichen Arbeitskräftemangel leichter durchgesetzt werden. Die gegenwärtige ökonomische Situation ist auch keine Folge der Abkehr von Keynes, sondern neue Akkumulationsmechanismen erfordern eine neue theoretische Orientierung und Legitimierung.

Eine ganze Reihe unterschiedlicher Momente führte letztlich zur Auflösung fordistischer Formen. Die Fabrikkämpfe, vor allem in Italien, wurden schon genannt. Große Ansammlungen von MassenarbeiterInnen, auch unter dem Gängelband von GewerkschaftsbürokratIinnen stellten und stellen für Herrschaft und Disziplin immer ein Risiko dar, das Kapital suchte daher nach neuen Organisationsstrukturen. Die nötige Öffnung des Ausbildungssektors produzierte weniger brave, angepasste Karrieristen, sondern eine ganze rebellische Generation. Zunehmend wurden die Universitäten zum Fluchtort vor der Öde der fordistischen Erwerbsarbeit. Neue soziale, kulturelle und sexuelle Bedürfnisse wurden artikuliert, auf die das Kapital vorerst keine Antwort wusste. Alle diese Tendenzen lassen sich mit den Begriffen Flucht und Widerstand kennzeichnen. Mit diesem Widerstand hatte das Kapital nicht gerechnet, zu den weniger spektakulären Fluchttendenzen im Alltag wusste es vorerst keine Antwort. Wie immer der so genannte Reale Sozialismus auch analysiert werden mag, mit ihm ist zweifellos auch eine spezifische Ausprägung des Fordismus zusammengebrochen. Tatsächlich lagen z.B. zwischen dem verstaatlichten Sektor in Österreich und den Betrieben in der DDR bezüglich Mentalität, Strukturen, bürokratischer Regelung und sozialer Kontrollformen keineswegs jene Welten, wie die Apologeten des Stalinismus und Kapitalismus gezwungen waren zu behaupten.

Die Industrieproduktion stieß an Grenzen. Solange eine praktisch unbegrenzte Nachfrage vorausgesetzt werden konnte, konnte die Konkurrenz durch ständige Verbilligung der Produkte, auch wenn vorerst auf Halde produziert, ausgetragen werden. Da steigende Produktivität mehr Produkte bedeutet, hatte der Marktmagen, wie Marx sich oftmals ironisch ausdrückte, diese Mengen auch zu verdauen. Um konkurrenzfähig zu bleiben galt es billige Arbeitskraft in Südostasien und in den Ländern des Ostblocks zunehmend zu benutzen. Für das Kapital wurde offenbar nicht bloß eine quantitative Veränderung, sondern eine qualitative Veränderung ihrer Produktionsmethoden nötig. Marx hat eine dieser historischen Umbrüche im „Kapital“ beschrieben, nämlich den Umschlag der Manufaktur zur großen Maschinerie. Neue, verschärfte Überwachung der Arbeit konnte das gravierende Disziplinproblem in den Manufakturen letztlich nicht lösen, sondern nur der Einsatz der Maschinerie, der die ArbeiterInnen zu ihrem Anhängsel stempelte. Von ähnlicher Qualität und Tragweite erscheint mir der Umbruch zum Postfordismus. Es galt qualitativ neue Strukturen zu etablieren. Dieser Umbruch vollzog sich in den einzelnen Ländern verschieden. Eine besondere Rolle kam dabei England zu. Der fordistische Mechanismus wurde von Thatcher bewusst politisch aufgekündigt. Im Falle Großbritanniens bedurfte es der politischen Zerschlagung der starken und traditionsreichen britischen Gewerkschaften, um den Weg zum Postfordismus zu ebnen. Heute ist erwiesen, dass Thatcher ganz bewusst die Bergabeitergewerkschaft unter der Führung des kämpferischen und charismatischen Arthur Scargill provozierte, um sie zum Streik zu nötigen.

Um die qualitativen Momente der Transformation deutlich zu machen, habe ich zwei Schemata entworfen.[5] Der Fordismus zeichnete sich durch starre, hierarchische Organisationsstrukturen mit dominanten bürokratischen Befehlsstrukturen aus. Wie Braverman in seiner klassischen Studie gezeigt hat[6], dominierte die Tendenz, das Wissen durch die tayloristische Zerlegung der Arbeitsvorgänge – Stichwort Fließband – aus dem unmittelbaren Produktionsvorgang heraus zu nehmen und in die höheren Ränge zu verschieben. Die innere Struktur der Unternehmungen war von Marktbeziehungen weitgehend frei. Die seinerzeitigen Hoffnungen Lenins, die großen Trusts würden in sich bereits planwirtschaftliche Maßstäbe verwirklichen, es gelte daher nur noch, diese gigantischen Industrieunternehmungen mittels eines gesamtgesellschaftlichen Planes zusammenzuschließen um die Basis einer sozialistischen Gesellschaft zu konstituieren, waren damals keineswegs absurd. Heute sind sie es wohl. Fordistische Strukturen zeichnen sich zudem durch starre Grenzen aus. Die Linie zwischen Arbeit und Freizeit, Fabrik und Umwelt, Produktion und Konsum waren streng gezogen. Wirksamkeit war stets mit Schwerfälligkeit verbunden.

Postfordistische Strukturen zeichnen sich hingingen durch Auflösung dieser Trennungen und Grenzen aus. Das Management von Nike etwa ist in den USA beheimatet, entworfen werden die Schuhe in Italien, produziert in Südostasien und die Vermarktung erfolgt weltweit. Der gesamte Produktionsprozess ist mit Marktbeziehungen durchzogen. Die wachsende Zentralisation des Kapitals widerspricht keineswegs der Verkleinerung der operativen Einheiten. Bereits Marx analysiert das Auseinandertreten von Besitzverhältnissen und fungierenden Kapitaleinheiten, vor allem in der Form des Aktienbesitzes. Bei der Diskussion um die innerkapitalistische Konkurrenz darf dieses Faktum nicht vergessen werden.

Von größter Bedeutung ist die Aufsplitterung der Arbeitsformen und ihrer Rechtsform durch diese Struktur. Im Zentrum der postfordistischen Betriebe agiert ein hoch privilegiertes Management, dass sich in Bezug auf Einkommen und Privilegien immer mehr von der Belegschaft absetzt. Die bestehenden gewerkschaftlich geregelten, fordistischen Arbeitsverhältnisse geraten zunehmend unter Druck durch prekäre Arbeitsformen: Leiharbeit, alle Formen von Scheinselbständigkeit, geringfügig Beschäftigung, Formen unbezahlter Arbeit (Volontariat, Praktikum), Arbeit auf Zeit und Abruf. Gespaltene Arbeitsmärkte waren immer schon ein Merkmal des Kapitalismus. Schon Engels analysiert in seiner Studie über die Lage der arbeitenden Klasse die Differenzierung zwischen den englischen ArbeiterInnen und den irischen ArbeitsmigrantInnen. Die Unterschiede zwischen Beamten, Angestellten und ArbeiterInnen prägten faktisch und rechtlich die fordistischen Arbeitsverhältnisse und sind bis heute relevant. Diese Rechtsformen waren jedoch strikt den Arbeitsprozessen und der hierarchischen Gliederung zugeordnet. Zudem waren alle Formen kollektivvertraglich geregelt und vereinheitlicht. Selbst die Teilzeitarbeit, eine Frauendomäne, war nur die kleine Schwester der Vollzeitarbeit. Die postfordistischen Arbeitsformen können sozusagen überall und nirgends auftreten. War im Fordismus klar, dass in der Werkstatt ArbeiterInnen und im Büro Angestellte anzutreffen sind, kann nun ein und dieselbe Tätigkeit sowohl von LeiharbeiterInnen, klassischen Angestellten, PraktikantInnen oder aber auch von formal selbständigen UnternehmerInnen durchgeführt werden. Rechtsform, Entlohnung, Regelungen in Bezug auf Arbeitszeit und Bedingungen variieren beträchtlich.

Wie diese Tendenzen zu interpretieren sind, zählt zu den kontroversesten Themen der Debatte. Die gesamte sozialdemokratische Linke bis hin zu ihren trotzkistischen Varianten will darin eine fundamentale Verschlechterung erkennen. Die postoperaistischen TheoretikerInnen, vor allem Antonio Negri, betonen im Gegensatz dazu die neue Souveränität, die mit diesen Formen verknüpft ist. Beide Ansichten haben durchaus Argumente auf ihrer Seite. Die neuen Arbeitsformen wären wohl nicht in dem Maße durchzusetzen gewesen, wenn sie nicht auch dem Bedürfnis nach einer Lockerung der strikten Organisation der Lohn- und Erwerbsarbeit entgegengekommen wären. So gesehen enthalten sie auch ein Moment von Emanzipation, allerdings kapitalistisch gewendet. Paolo Virno hat in einem Interview, abgedruckt in der Nr. 20 der grundrisse, eine sehr bemerkenswerte Überlegung formuliert, indem er von einer „Kehrtwende von der reellen zur formellen Subsumption“[7] sprach. Das Kapital hat offenbar die unmittelbare Herrschaft über die Arbeit, wie sie vor allem im Fließband Gestalt annahm zurückgenommen, allerdings die Ausbeutung real gesteigert. Der Doppelcharakter der Arbeit lässt entgegenläufige Strategien zu, mehr Spielraum bei der Gestaltung der konkreten Arbeit widerspricht keineswegs der Steigerung der unbezahlten Mehrarbeit.

Relativer und absoluter Mehrwert

Postfordismus verwirklicht den Drang nach vermehrtem absoluten Mehrwert. Aber was ist absoluter Mehrwert und wodurch unterscheidet er sich vom relativen? Der Mehrwert entspringt der Verlängerung des Arbeitstages über ihr notwendiges Maß hinaus. Für Länge und Intensität dieser Mehrarbeit existieren wohl bestimmte Grenzen, aber kein regelndes Gesetz. Einerseits kann der bezahlte Teil, also der Arbeitslohn, in der Regel nicht einfach Null betragen. Er kann – wie Marx immer wider betont – sogar unter den Wert der Ware Arbeitskraft sinken, muss aber doch hinreichen, um die Arbeitskraft zumindest notgedrungen reproduzieren zu können. Andererseits ist die Länge des Arbeitstages durch physische und psychische Grenzen bestimmt. Niemand kann 24 Stunden pro Tag arbeiten. Es existieren also Schranken der Ausbeutung, aber kein ökonomisches Maß! Innerhalb dieser Grenzen entscheidet einzig und allein der Klassenkampf, wie lange und wie intensiv die Ausbeutung von statten geht! Es ist daher gelinde gesagt grober Unfug zu behaupten, die kapitalistische Ökonomie sei ausschließlich durch das Wertgesetz geregelt. Ich habe diesen Gedanken bereits im Artikel „Das Kapital wieder lesen. Eine Alternative zur wertkritischen Interpretation“[8] ausgeführt, seine Wichtigkeit erlaubt wohl eine erneute Darstellung. Das Wertgesetz regelt wohl den Wert der Waren, es regelt tendenziell den Wert der Ware Arbeitskraft, aber keineswegs die Länge und Intensität der Mehrarbeit. Es ist kein Zufall dass jene, die an einer strikt objektivistischen Lesart des „Kapitals“ Interesse haben oder den Klassenkampf zum bedeutungslosen Zubehör der kapitalistischen Gesellschaft erklären, über dieses zentrale Moment schweigen. Länge und Intensität der Mehrarbeit resultiert aus unmittelbarer gesellschaftlicher Auseinandersetzung. Reflexionen über „das Politische“, die dieses Moment nicht zentral berücksichtigen, müssen schiefe und einseitige Resultate zeitigen.

X Stunden unbezahlte Arbeitszeit sind x Stunden unbezahlte Arbeitszeit. Die Unterscheidung zwischen absolutem und relativem Mehrwert bezieht sich allein auf die Dynamik, auf die Prozesse, durch die die Mehrarbeit ausgedehnt wird. Absoluter wie relativer Mehrwert sind keine deskriptiven Kategorien und aus Momentaufnahmen ableitbar. Der absolute Mehrwert entspringt aus der bloßen Verlängerung des Arbeitstages bei konstanter notwendiger, bezahlter Arbeitszeit, der relative Mehrwert aus der  Verkürzung der bezahlten Arbeitszeit durch die Erhöhung der Produktivkraft der Arbeit. Im Resultat sind sie nicht zu unterscheiden, wohl aber in den Prozessen der Hervorbringung. Die Produktion des relativen Mehrwerts ist verschleierter, indirekter, weniger sichtbar. Arbeitstag wie Kaufkraft des Lohnes bleiben gleich, trotzdem steigt die unbezahlte Mehrarbeit. Die Durchsetzung des absoluten Mehrwerts erfordert direktere politische Initiativen und Legitimationsstrategien, da sowohl die Verlängerung des Arbeitstages als auch die Reallohnsenkung unmittelbar in der Alltagserfahrung präsent sind. Der neue, schärfere Wind wird allgemein verspürt, ihn auf den Begriff zu bringen ist Aufgabe gedanklicher Reflexion.

Im Hochfordismus dominierten die Methoden des relativen Mehrwerts. Diese sind gegenwärtig keineswegs verschwunden, aber sie reichen offenbar nicht aus, um das Bedürfnis nach Mehrwert und Profit zu stillen. Die Durchsetzung des absoluten Mehrwerts erfordert aber ein aggressiveres Vorgehen der kapitalistischen Herrschaft. Politisch sind die Ziele klar formuliert: In der gesamten Europäischen Union soll die Lebensarbeitszeit bis auf 67 Jahre ausgedehnt, ebenso soll die Erwerbsquote, das heißt der Anteil der Beschäftigten an der Gesamtbevölkerung, erhöht werden. Hindernisse und Schranken, die den Heißhunger des Kapitals nach Mehrarbeit einschränken, etwa die Limitierung der Wochenarbeitszeit, sollen massiv gelockert werden. Alle diese Ziele wurden offen und ungeschminkt verkündet. Jede unbeschäftigte Arbeitskraft ist vom Standpunkt des Kapitals aus nicht realisierter möglicher Mehrwert, jede/r Arbeitslose brachliegendes Mittel zur Profitproduktion. Ob es gelingt, diese Personen tatsächlich in den kapitalistischen Verwertungsprozess einzubeziehen ist eine Sache. Eine andere, dass das Kapital auf den aus seiner Sticht brachliegenden Teil des Proletariats zugreift.

Die aktuellen Tendenzen des Postfordismus zu erkennen und zu verstehen erfordert erneut die Nutzbarmachtung der Unterscheidung zwischen Gebrauchswert und Tauschwert, zwischen konkreter und abstrakter Arbeit. Ohne diese Unterscheidung lässt sich die Widersprüchlichkeit der Entwicklung nicht fassen. Ansätze, die diese Differenzierung nicht benützen, können zwar einige Aspekte aufzeigen, nicht aber die aktuelle gesellschaftliche Konstellation verdeutlichen. Das Fehlen Marxscher Begriffe kehrt als Einseitigkeiten und Unstimmigkeiten wieder. Zwei Beispiele seien dafür angeführt: Castells versucht in seinem groß angelegten, dreibändigen Werk „Das Informationszeitalter“ die These zu begründen, der Kapitalismus hätte sein „informationelles“ Stadium erreicht. Im infomationellen Kapitalismus würde die „Produktivität und Konkurrenzfähigkeit von Einheiten und Akteuren“ von ihrer Fähigkeit abhängen, „auf effiziente Weise wissensbasierte Informationen hervorzubringen, zu verarbeiten und anzuwenden.“ (Castells 2001; 83) Aber was ist Produktivität? Aus Marxistischer Sicht das Vermögen der Arbeit, in derselben Zeit mehr Gebrauchswerte zu erzeugen. Das Verhältnis von Arbeitsproduktivität, eine Dimension des Gebrauchswerts, zur Mehrwertproduktion (abstrakter Wert) ist durchaus komplex und widersprüchlich. Castells vermanscht aber diese beiden Dimensionen und verknüpft vollkommen unanalytisch und atmosphärisch a) den Einfluss der Information auf die Arbeitsproduktivität, b) die Produktion des abstrakten Wertes, kurzum die neuen Mechanismen der Profitmaximierung. Dass diese Faktoren „irgendwie“ zusammenhängen mögen, sei nicht bestritten, aber wie? Zudem ignoriert Castells die Tatsache völlig, dass es sehr unterschiedliche Faktoren sind, die die Produktivität der konkreten Arbeit bestimmen. Die Produktivität mancher Tätigkeiten steigt durch neue Informationstechnologien beträchtlich, andere hingegen bleiben davon aber völlig unberührt. Dass sein Werk sehr viele interessante und wertvolle Detailstudien enthält, die mit Gewinn zu lesen sind, sei gerne zugestanden. Analytisch ist er jedoch keineswegs in der Lage, die postfordistischen Akkumulationsmechanismen, insbesondere die politische Durchsetzung der Methoden des absoluten Mehrwerts, begreiflich zu machen.

Unter demselben Defizit leidet auch der interessante Aufsatz „Prekarität: eine wilde Reise ins Herz des verkörperten Kapitalismus, Oder: wer hat Angst vor der immateriellen Arbeit?“ von  Vassilis Tsianos, und Dimitris Papadopoulos[9]. So sehr es ihnen gelingt, die  Zeitlichkeit der prekären Arbeit darzustellen, so wenig kommen die von ihnen benützen Ausdrücke „Wertschöpfung“, oder „Produktivität“ über ein diffuses Alltagsverständnis hinaus. Selbst der zentrale Begriff der „immateriellen Arbeit“ bleibt vage. „Den sozialen Kämpfen der Migrantinnen und feministischen Bewegungen ist es zu verdanken, dass das Thema der Drecksarbeit sichtbar wurde“, lesen wir. Dieser Aussage ist wohl zuzustimmen, der Identifikation von Drecksarbeit mit immaterieller Arbeit keineswegs. Im Begriff „kognitiver Kapitalismus“ ist schließlich das Verhältnis zwischen materieller und immaterieller Produktion nicht analytisch gelöst, sondern in einem vagen „irgendwie“ wird die Dominanz von Information und Kommunikation behauptet. Beruhte die überschwängliche Rezeption von Castells`s Trilogie auf der Marxferne der bürgerlichen Soziologie, so befürchte ich im Falle Tsianos und Papadopoulos den Einfluss eines Denkens, das nur noch ansatzweise um empirische Sachhaltigkeit bemüht ist.

Neue Formen der Reproduktion der proletarischen Existenzsituation

John Holloway hat darauf verwiesen[10], dass der Kapitalismus nicht vor über zweihundert Jahren geschaffen wurde und seither einfach da ist, sondern dass er permanent reproduziert werden muss. Ein Moment dabei ist die ständige Reproduktion der proletarischen Existenzsituation. Was meint „proletarische Existenzsituation“? Dieser Ausdruck reformuliert die Definition des Proletariats von Marx. Marx definiert das Proletariat niemals als distinkte soziale Gruppe mit Interessen, die sich aus ihrem gegebenen sozialen Status und ihrer Situation ergeben, sondern ausschließlich negativ. Es steht der Bourgeoisie als potentielle oder bestimmte Lohnarbeit gegenüber, kann aber am Verharren in dieser gesellschaftlichen Existenzweise kein Bedürfnis haben. Der Nichtbesitz der Produktionsmittel zwingt es dazu, für jede konkrete Fremdbestimmung bereit zu sein. „Der Gebrauchswert, den der Arbeiter dem Kapital gegenüber anzubieten hat, den er also überhaupt anzubieten hat für andre, ist nicht materialisiert in einem Produkt, existiert überhaupt nicht außer ihm, also nicht wirklich, sondern nur der Möglichkeit nach, als seine Fähigkeit.“ (MEW 42; 192f) An sich ist das Proletariat, wie auch Virno betont, „reine Potenz, das Vermögen, die dynamis.“ (Virno 2005; 113) Es nimmt, vor allem durch den Verkauf seiner Arbeitskraft aber eine bestimme Form an, die reine dynamis wird als Schuster, Schneiderin oder in sonstiger Mannigfaltigkeit bestimmt. Empirisch tritt uns das Proletariat in einer bestimmten, soziologisch beschreibbaren und stets in Wandlung begriffenen Form entgegen. In der Lohnarbeitslosigkeit fällt aber das Proletariat wieder in die reine Potentialität zurück, nun steht es dem Kapital wieder in einfacher Bestimmbarkeit gegenüber. Die zunehmende Nichtberücksichtigung von Lebensumständen, Wissen und Ausbildung der Erwerbsarbeitslosen durch das AMS realisiert diese Tendenz praktisch. Seine gesellschaftliche Existenzsituation liegt wieder offen und unmittelbar zutage. Deswegen war und ist die Arbeitslosigkeit dem Staats- und Parteimarxismus und seinen heterodoxen Varianten bis heute ein Gräuel. Seine Existenzform aufzuheben meint die Lohnarbeit aufzuheben, nicht sie anzunehmen. Daher auch die tatsächliche Furcht vor Arbeitslosigkeit. Sie ist ein Makel, nicht weil Arbeitslosigkeit per se schrecklicher wäre als Lohnarbeit - was konkret als negativer erfahren wird hängt von zahlreichen Umständen ab – sonder weil sie an das wahre gesellschaftliche Sein des Proletariats erinnert. Um dieses zu vertuschen lärmt der Diskurs über das Elend der Arbeitslosigkeit.

Das Kapitalverhältnis erschöpft sich nicht in der Konfrontation zwischen individuellen KapitalistInnen und den im Betrieb beschäftigten Personen. Schon im ersten Band des Kapitals führt Marx die Analyse dieses Verhältnisses über den Einzelbetrieb zum gesellschaftlichen Verhältnis weiter, im dritten Band schwenkt die Perspektive endgültig auf die gesamtgesellschaftliche Ebene. Nicht ich schlage einen „weiten“ Begriff des Proletariats vor, wie manche kritisch eingewendet haben, sondern die „Weite“ der Definition resultiert aus dem Charakter des Klassenverhältnisses und dem empirisch-deskriptiv nicht zu fassenden Status des Proletariats. Als gesellschaftliches Verhältnis umfasst die Klassenbeziehung nicht nur den Teil der LohnarbeiterInnen, sondern auch die Erwerbsarbeitslosen und sich in Ausbildung befindlichen Menschen. Marx hat die lange und wechselvolle Geschichte des Zugriffs auf die Reservearmee exakt aus dieser methodischen Perspektive beschrieben. Der Kampf gegen Pauper und Vagabunden, das Arbeitshaus, aber auch der Versuch, Migration zu kontrollieren und zu regeln sollte den Zugriff der Bourgeoisie auf den nicht lohnarbeitenden Teil sichern. Aktuell sehe ich vor allem drei Momente, die den ungehinderten Zugriff auf das gesamte Proletariat ermöglichen sollen: Abriegelung gegen Fluchtmöglichkeiten in den Bildungssektor, Verunmöglichung des organisierten Widerstandes durch postfordistische Arbeitsstrukturen und Intensivierung des Drucks auf Arbeitslose.

Seit der notwendigen Öffnung des Bildungssektors in den 60er Jahren, ist dieser Objekt endloser Reformen und Umstrukturierungen. Einerseits bedarf Wissensproduktion und Bildungsvermittlung ein gewisses Maß an Offenheit, Freiheit und Zugänglichkeit, andererseits dürfen die Universitäten nicht zum Fluchtort vor der Erwerbsarbeit werden. Allein die Geschichte dieses Spagats nachzuzeichnen, würde mehrere Studien erfordern. Die aktuelle Version scheint im Versuch zu bestehen, die Massenuniversitäten stärker zu reglementieren und zu verschulen und gleichzeitig einen hochprivilegierten Elitesektor zu schaffen. Die Universitäten insgesamt in Eliteinstitutionen zu verwandeln, was etwa durch eine Verzehnfachung der Studiengebühren beginnen könnte, ist materiell und politisch offenbar disfunktional. Der aktuelle Diskurs gegen StudentInnen erscheint mir als kleinliche ideologische Rache: Wenn der Ausbildungssektor selbst nach der x-ten Reform nicht vollständig unter Kontrolle zu bekommen ist, dann wenigstens die StudentInnen in eine Figur verwandeln, die der Gesellschaft alles zu verdanken hat und unter ständigem Verdacht steht.

Der Mentor des in Israel praktizierten Prinzips, Haim Harari, Studiengebühren durch gemeinnützige Tätigkeit abarbeiten zu können, das offenbar der Sozialdemokratie als Vorbild für ihren Vorschlag diente, hat die elitäre Abqualifikation der Massenuniversität präzise auf den Punkt gebracht: „Meine Idee wäre eine Studiengebühr von 2000 Euro im Jahr. Nach vier, fünf Jahren Studium müsste es teurer werden, oder dann, wenn man ein bestimmtes Alter, 30 oder 35, überschritten hat. Sollte der Student jede Woche einige Stunden sozialen Dienst leisten, erhält er die Hälfte der Studiengebühren zurück. So machen wir das in Israel. Auf diese Weise könnten die Universitäten Besseres leisten, die Studentenschaft wäre befreit von Leuten, die nicht an die Universität gehören.“[11] Wenn die praktischen Konsequenzen aus dieser Haltung nicht gezogen werden können, so verbleibt jedenfalls die Botschaft, dass es Menschen gibt, „die nicht an die Universität gehören“.

Kontrolle des Bildungssektors, verstärkter Druck auf Arbeitslose und die objektive Wirksamkeit postfordistischer Strukturen soll in Summe signalisieren und praktisch durchsetzen: „Was immer du auch tust, du entkommst der kapitalistischen Verwertung nicht.“ Der Soziologie-Marxismus ist jedoch nicht in der Lage, alle diese Konfliktfelder als verschiedene Momente des Klassengegensatzes zu begreifen und reagiert mit Hierarchisierung oder Unverständnis.

„Ökonomie der Zeit, darin löst sich alle Ökonomie auf“ (MEW 42; 105)

Im Text von Tsianos und Papadopoulos findet sich auch folgender bemerkenswerter und scharfsinniger Satz: „In diesem Sinn ist Prekarität eine Form der Ausbeutung, die vor allem auf der Ebene der Zeit operiert.“[12] Aus dem Kontext wird klar, dass damit eine Ausweitung der kapitalistischen Herrschaft angesprochen werden soll. Kapital ist als soziales Verhältnis immer schon Herrschaft über die Zeit anderer. Wert ist Verfügung über Zeit. Je mehr Kapital, desto mehr Arbeits- und Lebenszeit kann ich damit kommandieren. Mit Geld verfüge ich über vergangene Arbeitszeit oder erwerbe eine Option auf zukünftige. Doch der Gelderwerb hat mich selbst meine Arbeitszeit gekostet. Mit Kapital hingegen eigene ich mir fremde Arbeitszeit ohne Äquivalent an. Daher auch der Unterschied zwischen Geld als Geld und Geld als Kapital. Geld erwerbe ich durch den Verkauf meiner Arbeitskraft, oder einer bestimmten Ware. Kapital entspringt der durch die Anwendung von Arbeitskraft ermöglichten Aneignung unbezahlter Mehrarbeit. Wer gegen Geld opponiert (es gibt durchaus sinnvolle Gründe dies zu tun), diesen Unterschied aber nicht erkennt, ist gegenüber Ausbeutung blind.

Die kapitalistische Herrschaft versucht aktuell, auf die gesamte Lebenszeit zuzugreifen. Ökonomie ist letztlich Ökonomie der Zeit, kapitalistische Ökonomie als soziales Verhältnis ist Herrschaft über die Zeit der anderen. Die Herrschaft über die Lebenszeit soll auf die Nichtlohnarbeit ausgedehnt werden. Der Umbau der europäischen Sozialsysteme mit erkennbarer Tendenz Richtung „workfare“ dehnt die Definitionsmacht der gesellschaftlich sinnvollen Arbeit über die Erwerbsarbeit auf private Lebenszeit aus. Notwendige Arbeit, etwa Hausarbeit, aber auch aus Interesse gewählte Tätigkeit wird verleugnet, entwertet, nicht als wirkliche Arbeit anerkannt. Dass es sich bei der zwangsverordneten Arbeit oder Ausbildung und der selbst gewählten Aktivität um ein und dieselbe Tätigkeit handeln kann, ist kein Widerspruch. Hausarbeit, der Erwerb einer Fremdsprache oder die Mitarbeit in einer beliebigen Initiative; was immer auch getan und getan werden muss, die bürokratische Kontrolle und Verordnung soll über die gesellschaftliche Anerkennung entscheiden. Die Klientel staatlicher Sozialsysteme kann keineswegs frei über ihre Zeit entscheiden, Bildungsaktivitäten oder ehrenamtliche Tätigkeit können nicht selbst gewählt sondern werden bis ins Detail vorgeschrieben. Das Mittel dazu ist die offensive Verwaltung, Zurichtung und Indoktrination der Arbeitslosen mittels des so genannten Sozialstaates, konkret den Institutionen der Arbeitsmarktverwaltung. Dabei werden keine Mühen und Kosten gescheut. Dass etwa die finanziellen Mittel für das AMS nicht geschmälert, sondern im Gegenteil eher aufgestückt werden sollen, ist breiter politischer Konsens. Die historische Wende ist offensichtlich: Wurden in der Zwischenkriegszeit die Arbeitslosen nach einigen Monaten einfach ausgesteuert, bekamen keinerlei finanzielle Unterstützung und bleiben so ihrem Schicksal überlassen, geht es nun um Formung des Arbeitsvermögens selbst. Es ist schon ein gehöriges Maß an Blindheit nötig um zu behaupten, das bedingungslose garantierte Grundeinkommen würde als eine Art Befriedungsdividende überlegt werden. Das Kapital hat niemals potentielle Quellen des Profits abgeschrieben oder auf ihre mögliche Verwertung verzichtet.

Das allseitige Individuum

Arbeit war immer schon hierarchisch strukturiert. Eine ganze Generation linker TheoretikerInnen hat sich am Thema der Arbeitsteilung zwischen Kopf- und Handarbeit abgearbeitet und in konkreten Projekten versucht, diese zu überwinden. Diese Hierarchie konnte sich zumindest an den objektiven Erfordernissen der Produktion, am nötigen Wissen, an den erforderlichen Kenntnissen anlehnen. Jetzt tritt die Hierarchie der rechtlichen und vertraglichen Formen hinzu. Ein und dieselbe Tätigkeit kann einerseits von fest angestellten MitarbeiterInnen mit hoher Entscheidungskompetenz, aber auch prekär Beschäftigten durchgeführt werden, die weder rechtlich noch faktisch eingebunden sind. Der Leiharbeiter neben der Stammbelegschaft, die externen, prekär Beschäftigten neben dem fest eingebundenen Staff; beide machen ähnliches oder gar gleiches und doch befinden sich sie sich in völlig unterschiedlichen Situationen. Zur alten Hierarchie der Arbeitsteilung tritt eine neue hinzu. Zugleich bleibt die alte Arbeitsteilung nicht unberührt. Die Bedeutung der speziellen Qualifikation tritt gegen eine allgemeine zurück. Nicht, dass alle alles können. Aber immer mehr Menschen können sich in kürzeren Zeiten für mehr Tätigkeiten qualifizieren. Marx hat dies bereits 1856/57 als Grundmerkmal der kapitalistischen Produktionsweise antizipiert: „Die Gleichgültigkeit gegen die bestimmte Arbeit entspricht einer Gesellschaftsform, worin die Individuen mit Leichtigkeit aus einer Arbeit in die andre übergehn und worin die bestimmte Art der Arbeit ihnen zufällig, daher gleichgültig ist.“ (MEW 42; 36) Diese Entwicklung reflektiert sich sogar in der Trivialunterhaltung. In einer Folge der Simpsons konnte die kluge Lisa dank der Studie medizinischer Fachliteratur im Internet und dem Einsatz von Computer gesteuerten Operationsrobotern ihren Vater von einem bösen Geschwür befreien, das er sich durch maßlosen Bierkonsum zugezogen hatte. Vieles deutet darauf hin, dass sich die neuen prekären Arbeitsformen gerade in jenen Bereichen ausbreiten, in denen die allgemeine Qualifikation besonders wesentlich ist. „Was für das Kapital wirklich zählt, ist die ursprüngliche Teilhabe an den sprachlich-kognitiven Fertigkeiten, da genau diese schnelles Reagieren auf Neues, Anpassungsfähigkeit usw. garantiert.“ (Virno 2005; 52) Wenn die Qualifikation, die der Fordismus den Arbeitenden etwa durch das Fließband entziehen wollte, was niemals durchgehend gelang, im Postfordismus zurückgeben werden muss, so kann es sich nicht einfach um dieselbe Art der Qualifikation handeln. Sie kehrt nicht in Form der hoch speziellen, besonderen Fertigkeiten wieder, sondern nun beginnen allgemeine Aspekte zu dominieren. Angesichts der tendenziellen Möglichkeiten, die hierarchische Teilung der Arbeit zurückzuschrauben, wird die soziale Hierarchie nicht relativiert sondern im Gegenzug verfestigt. „Die Teilhabe als technische Voraussetzung widersetzt sich der Arbeitsteilung, die zersetzt sie und läuft ihr zu wieder. Das bedeutet natürlich nicht, dass die Tätigkeiten nicht mehr unter-, auf-, eingeteilt usw. wären; es bedeutet vielmehr, dass die Segmentierung der einzelnen Tätigkeiten nicht mehr nach objektiven, ‚technischen’ Kriterien vorgenommen wird, sondern ausgesprochen arbiträr, reversibel und ständig in Veränderungen begriffen ist.“. (Virno 2005; 52) Angesichts des Auseinanderklaffens von allgemeiner Qualifikation und gesellschaftlichen Hierarchien wäre der Begriff der Refeudalisierung zu diskutieren. Habitus, Inanspruchnahme des öffentlichen Raums, Einkommen und Privilegien usw. verfestigen sich in sozialen Schichten; die kurzzeitige Durchlässigkeit sozialer Strukturen scheint sich tendenziell wieder zu schließen.

Ein Traum der Bourgeoisie, letztes Stadium: Ich-AG

Die postfordistischen Strukturen ermöglichen das Anschwellen eines neuen Typs von Selbständigen, die mit dem alten Selbständigen, repräsentiert durch Rechtsanwalt und ÄrztInnen, tatsächlich nichts gemeinsam haben. In der Regel besteht die Tätigkeit dieser neuen Ich-AGs aus Dienstleitungen, also Arbeitsvorgängen, die von Zeit und Ort ihrer Durchführung nicht zu trennen sind. Diese als die neuen Pioniere einer Dienstleitungsgesellschaft zu begreifen - ich verwette viel Geld darauf, dass nach der Risiko-, Spaß-, Informations- und Freizeitgesellschaft auch dieses Kompositum zirkuliert - beruht auf unzulässiger Amalgamierung verschiedener Phänomene. Überlegen wir Schritt für Schritt.

Statistisch sind Dienstleistungen weltweit deutlich gestiegen. Ich greife nochmals auf Castells zurück: Er unterscheidet zwischen „distributiven Dienstleistungen“, darunter fällt auch das Transportwesen, „Produzentendienstleistungen“, also Banken, Versicherungen, Buchhaltung, „sozialen Dienstleistungen“, darunter fällt Medizin, Erziehung und Bildung sowie die staatliche Verwaltung und schlussendlich die „personenbezogenen Dienste“, darunter fällt die Gastronomie und bezahlte Hausarbeit. Der Beschäftigungsanteil ist in diesen Branchen signifikant gestiegen. Die auf Europa, die USA und Japan bezogenen Zahlen steigen besonders bei den „Produzentendienstleistungen“, von ca. 1% auf gegen 10%, und bei den „sozialen Dienstleistungen“, von ungefähr 6% bis auf 25% in den letzten zehn Jahren (Castells 2001; 322 ff)

Das Ansteigen der Dienstleistungen resultiert unmittelbar aus den postfordistischen Strukturen. Wenn etwa die Buchhaltung nicht mehr wie im Fordismus eine Abteilung des Betriebes ist, sondern in eine Fremdfirma ausgelagert wird, dann schlägt sich der Transfer der Daten als vermehrte Dienstleistung nieder. Da auch der Staatsapparat postfordistische Struktur annimmt und Abteilungen von Ministerien als eigenständige oder scheineigenständige Firmen ausgegliedert werden, tritt auch dort dieses Phänomen auf. Allgemeiner formuliert: die tendenzielle Ersetzung bürokratischer Steuerungsmechanismen durch Marktbeziehungen musste zum Anschwellen der Dienstleitungen führen. Durch die Zergliederung der ehemals großen und starren fordistischen Strukturen finden profitable Unternehmen im Dienstleistungsbereich ihren Raum. Leiharbeitsfirmen etwa reagieren auf die zunehmende Flexibilität der Arbeitsnachfrage. Das so entlohnte Personal wird oftmals als Sach- oder Dienstleistung verbucht. Der Irak-Krieg, die sich öffnende Schere zwischen Arm und Reich, der wachsende Druck auf Menschen hat das Geschäft mit Überwachung und Kontrolle, um diese euphemistischen Ausdrücke einmal zu benützen, mächtig angeheizt. Auch im Bereich des Militärs stoßen wir auf postfordistische Formen. Bestimmte militärische Aktivitäten werden ausgelagert und als Dienstleistungen zugekauft.

Den neuen EinzelkäpferInnen ist klarerweise der Zugang zu diesen Aufträgen versperrt. Während die großen Kapitale ausgelagerte Bereiche kapitalistischer Unternehmungen oder des Staatsapparates übernehmen, können die neuen Selbständigen nur auf jenem Terrain agieren, das wie Marx explizit meinte, für kapitalistische Produktionsweise schlecht eignet ist. „Kein Mensch kauft ärztliche oder juridische ‚Dienstleistungen’ als Mittel, das so ausgelegte Geld in Capital zu verwandeln. (MEGA II 4.1; 115) Wenn das Arbeitsprodukt unmittelbar an Ort und Zeit gebunden ist, kann es nicht als Ware am Weltmarkt zirkulieren. Da im Laufe der kapitalistischen Produktionsweise die nötige Geldmenge steigt, um als Kapital fungieren zu können, sind die neuen Selbständigen auf die Nischen und Poren der postfordistischen Strukturen angewiesen.

Es ist ein alter Traum der Bourgeoisie die Klassengesellschaft dadurch zu überwinden, indem alle UnternehmerInnen werden. Die älteste paternalistische Form ist die gleiche Beteiligung aller am Gewinn des Unternehmens. So weit ich sehe ist dieses Konzept nicht zufällig nirgendwo verwirklicht. Ein weiterer Versuch war die Botschaft der 80er Jahre: „Du kannst an der Börse reich werden“ Nach dem Zusammenbruch des New Economy Aktionsmarktes ist es auch um diese Pseudoaufhebung des Kapitalismus still geworden. Die Forderung an Hartz IV BezieherInnen, gegebenenfalls ihre Rentenfonds aufzulösen, markiert eine geradezu symbolische Beendigung dieses Weges. An die Stelle einer realen ökonomischen Aufhebung der proletarischen Existenzsituation tritt nun eine rein deklamatorische: „Du bist ArbeitskraftunternehmerIn und Ich-AG“. Vielen neuen Selbstständigen, insbesondere im Bildungsbereich, wird oftmals schlicht und einfach die reguläre Anstellung verweigert. Anstatt sie als LohnarbeiterInnen zu definieren und zu bezahlen, werden sie de facto gezwungen, als Ich-AGs zu agieren. Der prekäre Status ihrer Tätigkeit resultiert aus mehren Faktoren: Im Gegensatz zu traditionellen Selbständigen agieren sie in einer Sphäre des Wissens und der Kenntnisse, die prinzipiell offen ist und nicht durch spezifische Zugangsbeschränkung geschützt ist. Qualifizierte Dienstleistungen sind andererseits an das Prestige und Habitus der Person gebunden wie Marx schon feststellt, „Ich will den Arzt, nicht seinen Laufburschen“. (MEGA II 4.1; 116) Analytisch gefasst liegt bei den neuen Selbständigen im Grunde ein durch Rechtsform und Art des Arbeitsprodukts verschleiertes Stücklohnverhältnis vor. Bei ihren Produktionsmitteln handelt es sich in der Regel um allgemeine Konsumgüter (Computer, Auto). Die neuen, prekären Selbständigen verkaufen ihre Arbeitskraft nicht gesamt, sondern in kleinen Portionen. Dass sie nichts als ihre Arbeitskraft besitzen, wird ihnen nicht einmalig beim Übertritt von der Arbeitslosigkeit in die Lohnarbeit, sondern sozusagen tagtäglich vor Augen geführt. Ihr Erwerb ähnelt einer reinen, den kulturellen und infrastrukturellen Verhältnissen der Metropolen entsprechenden Subsistenzwirtschaft. Sie sind nicht mehr oder noch nicht LohnarbeiterInnen. Da sie dem Verwertungsprozess des Kapitals nicht ummittelbar untergeordnet, sondern den Bedürfnissen und Imperativen des Marktes zugeordnet sind, verharren sie in der reinen Existenzsituation des Proletariats.

Für eine provisorische Operationalisierung des Begriffs Sozialismus mit sofortiger Zurücknahme!

Einen Begriff zu operationalisieren bedeutet, ihn durch eine Reihe von Maßnahmen und Verfahren zu definieren. Der Begriff ist dieses Bündel von Operationen – aber auch nicht mehr. Eine berühmte operationalistische Definition des Sozialismus stammt von Lenin: Sozialismus ist Elektrifizierung und Sowjets. Eine andere hat Trotzki formuliert: Sozialismus ist Planwirtschaft. Diese Definitionen können umgedreht werden, wenn Parlamentarismus und Rechtsstaatlichkeit Freiheit ist, dann ist Freiheit Rechtsstaatlichkeit und Parlamentarismus. Ebenso gilt, Planwirtschaft ist Sozialismus, Elektrifizierung und Sowjets ist Sozialismus. Herbert Marcuse hat in seinem seinerzeit breit rezipierten Buch „Der eindimensionale Mensch“ den Operationalismus einer vernichtenden Kritik unterzogen. Der Operationalismus riegelt schon auf der Ebene der Sprache die Offenheit der Geschichte, die Möglichkeit der Überschreitung des Gegebenen ab. Nichtidentität, Dialektik, Überschuss wird unsagbar und undenkbar. Marcuse erkannte in der Nichtoperationalisierbarkeit ihrer Grundbegriffe die eigentliche emanzipatorische Potenz der Philosophie. Die Identifikation des Begriffs mit den gegeben Verhältnissen und Verfahren stellte umgekehrt für ihn die höchste Stufe der Affirmation der kapitalistischen Verhältnisse dar. Überflüssig hinzuzufügen, dass Marcuse an eine lange philosophische Tradition anknüpfte und seither die Kritik der Identität mit verschiedensten Denkmitteln von AutorInnen wie Badiou, Castoriadis oder Holloway weiter vorangetrieben wurde.

Wenn ich nun mit viel Augenzwinkern eine provisorische Operationalisierung des Begriffs Sozialismus vorschlage so deshalb, um einer massiven Tendenz in der Linken entgegenzutreten, die umgekehrt den Kapitalismus als geschlossenen Identität fehlinterpretiert. Das meint konkret: Die proletarische Existenzsituation im Kapitalismus in Frage zu stellen, sei es durch ein Grundeinkommen, die Flucht in den Ausbildungssektor oder alternative ökonomische Projekte, sei eine Illusion. Der geforderte Realismus bedeutet umgekehrt: die Grenzen des Kapitalismus vorläufig zu akzeptieren und sozusagen das Beste daraus zu machen. Doch den Widerstand gegen die Existenzsituation gibt es, er wird jedoch nicht verstanden. Proteste im Ausbildungsbereich werden als Ausdruck verletzter Interessen von Studierenden missinterpretiert, die Maßnahmen der Arbeitsmarktverwaltungen als Schikanen ohne weitere gesellschaftliche Bedeutung. Die Logik dieser Haltung ist fatal.

Anstatt den Kapitalismus als krisenhaftes, in sich zerrissenes Verhältnis zu erkennen, voller Überschreitungen, Spalten und Risse, Tendenzen des Widerstandes und der Flucht, wird er als ein mit sich selbst identisches geschlossenes System verkannt. Als sei der Kapitalismus ein gigantisches Puzzle und bei jedem Teil könne exakt gesagt werden, ob dieser mit dem Kapitalismus vereinbar sei oder nicht. Die Abriegelung der Transzendenz, die Marcuse noch dem Positivismus und Operationalismus zuordnete, scheint zum methodischen Leitfaden dieser Linken geworden sein. Diese Ausrichtung hat jedoch ihren Preis. Ein Beispiel: Die Ablehnung des bedingungslosen Grundeinkommens kippt fast zwangsläufig in die Reproduktion der übelsten Neid- und Hassargumente gegen „Nichtstuer“, die von „unserer Arbeit“ leben würden. Die schamlose Wiederholung des Sozialschmarotzerarguments durch KritikerInnen des Grundeinkommens ist leider keine polemische Überzeichnung. So können wir in einer Erklärung zur Konferenz von Erwerbsloseninitiativen in Frankfurt, noch dazu von neun AktivistInnen unterschrieben, folgendes lesen: „Wir erklären uns aber nicht mit der bGE-Botschaft einverstanden, dass Erwerbslose keinerlei Verpflichtungen akzeptieren sollen, zum eigenen Lebensunterhalt beizutragen, sofern das möglich ist, und folglich von den Beschäftigten Lohnarbeitern beliebig verlangen dürfen, den selbst gewählten Ausstieg aus der Lohnarbeit durch Lohnarbeit anderer zu finanzieren. Das macht ein Bündnis mit Erwerbstätigen unmöglich.“[13] Die rein männliche Form ist natürlich kein Zufall. Lohnarbeit ist Arbeit und umgekehrt; wer nicht lohnarbeitet arbeitet nicht, von Frauen verrichtete unbezahlte und abgewertete Tätigkeit trägt „natürlich“ nichts zum Lebensunterhalt bei. Der ÖAAB Niederösterreich hat diese Argumente in einer Inseratenkampagne wunderhübsch illustriert.

Für Marx bestand kein Zweifel, dass bereits in der kapitalistischen Gesellschaft die Elemente einer neuen entstehen müssen, soll sie überwunden werden. Die Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit ist dazu bloß eine Voraussetzung, konkret entstehen sie aus dem Zusammenspiel von Flucht und Widerstand. Der Begriff Sozialismus ist diskreditiert. Aber selbst wenn wir ihn durch einen anderen ersetzen, er bleibt solange leer, solange wir ihn nicht mit artikulierten Forderungen füllen. Wenn wir den Begriff Sozialismus operationalisieren, müssen wir diese begriffliche Spielmarke gar nicht mehr nennen. Ein Ansatz stammt von Antonio Negri und Michael Hardt; ihre drei Forderungen am Ende von „Empire“, nämlich die WeltbürgerInnenschaft, das garantierte Grundeinkommen sowie die Wiederaneignung der Produktionsmittel können als Versuche verstanden werden, Sozialismus zu operationalisieren. Um es nochmals im Sinne von Marcuse zu sagen, diese drei Momente sind nicht die freie Gesellschaft und umgekehrt, aber sie artikulieren unser notwendiges Wollen, unseren Kampf um Würde und Leben. Die Rede, was im „Kapitalismus realistischer weise gefordert werden kann“ erfordert nicht nur geradezu prophetische Gaben, sondern vor allem einen Zensor im Kopf, ein unablässig laufendes Programm, das die Kompatibilität jedes politischen und sozialen Schrittes prüft. Wenn nach Canetti Paranoia die Krankheit der Macht ist, dann ist Schizophrenie die Krankheit eines Widerstandes, der meint, wie vorläufig auch immer, mit den Mechanismen des Kapitalismus kompatibel sein zu müssen. Ob unser Wollen und Bedürfen von der kapitalistischen Gesellschaft ermöglicht werden kann oder nicht, kann kein Kriterium sein. Wir werden sehen.

E-Mail: k.reitter@gmx.net

 

Erwähnte Literatur:

Castells, Manuel, (2001) „Aufstieg der Netzwerkgesellschaft. Teil 1 der Trilogie: Das Informationszeitalter“, Opladen

Marx, Karl, (MEW 23) „Kapital Band 1“ Berlin 1965

Marx, Karl, (MEW 42) „Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie“, Berlin 2005

Marx, Karl (MEGA II 4.1), „Ökonomische Manuskripte 1863 – 1867 Teil 1), darin: „Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses“, Berlin 1988

Virno, Paolo, (2005) „Grammatik der Multitude“, übersetzt von Klaus Neundlinger, Wien


[1] Quelle: http://www.diepresse.com/download/pdf/regierungsprogramm.pdf, Seite 110f. Im Anschluss an den zitierten Passus heißt es: „Die Betreuung der arbeitsfähigen Sozialhilfebezieher zur Reintegration in den Arbeitsmarkt erfolgt durch das AMS mit dem Ziel der Erreichung eines One- Stop-Shops im Hinblick auf die Auszahlung der Leistungen aus der bedarfsorientierten Mindestsicherung. Die Bedarfs- und Vermögensprüfung erfolgt durch die Sozialhilfeträger. Zentrales Element der Bedarfprüfung ist auch der Einsatz des eigenen Vermögens - denn: wer Vermögen besitzt, muss dieses erst verwerten, bevor Anspruch auf Hilfe von Seiten der Allgemeinheit besteht. Es erfolgt eine angemessene Verwertung von Vermögen für BezieherInnen von Sozialhilfe, wobei die (selbst bewohnte) Eigentumswohnstätte mit einer fiktiven Miete bewertet und ein für die Berufsausübung notwendiges Auto nicht verwertet wird. Unterhaltsansprüche sind mit jenen Werten anzusetzen, die im Regelfall nach Klagen und Exekutionen dem Unterhaltsberechtigten tatsächlich zufließen. „Sozialtourismus“ wird durch entsprechende Anknüpfung an das Recht auf dauernden Aufenthalt vermieden.“

[3] Darstellung nach Karl Marx, Kapital Band 1, 16. Kapitel „Verschiedene Formeln für die Rate des Mehrwerts

[4] John Holloway, „Der Abgrund tut sich auf: Aufstieg und Niedergang des Keynesianismus“, u.a. zu finden auf: http://www.wildcat-www.de/zirkular/28/z28holl1.htm

[5] Diese Schemata wurden erstmals in folgendem Text publiziert: Reitter, Karl, (2005c) „Vom Fordismus zum Postfordismus. Einiges zu Arbeitsformen und organisatorischen Strukturen“ In: „Losarbeiten – Arbeitslos?“, A. Exner, P. Lichtblau, S. Schneider, V. Schweiger (Hg.), Münster

[6] Braverman, Harry, (1980) „Die Arbeit im modernen Produktionsprozess“, Frankfurt am Main, New York

[7] „Reife der Zeit: Zur Aktualität der Multitude“, ein Gespräch mit Paolo Virno in: grundrisse Nr. 20, 2006, Seite 10

[8] Reitter, Karl, (2006a) „Das Kapital wieder lesen. Eine Alternative zur wertkritischen Interpretation“ In: „grundrisse – Zeitschrift für linke Theorie und Debatte“  Nr. 17, Wien


[9] „Prekarität: eine wilde Reise ins Herz des verkörperten Kapitalismus, Oder: wer hat Angst vor der immateriellen Arbeit?“, Vassilis Tsianos, Dimitris Papadopoulos, Übersetzt von Hito Steyerl, Quelle: http://transform.eipcp.net/transversal/1106/tsianospapadopoulos/de/print

[10] John Holloway, „Aufhören, den Kapitalismus zu machen“, in: grundrisse Nr. 11/2004

[11] Aus einem Interview mit Haim Harari vom 16. September 2006, Quelle: http://209.85.135.104/search?q=cache:kWJy4zt_A7gJ:www.wienerzeitung.at/DesktopDefault.aspx%3FTabID%3D4664%26Alias%3Dwzo%26cob%3D248211%26currentpage%3D1+Haim+Harari+Studiengeb%C3%BChren&hl=de&ct=clnk&cd=2  Eli Weber hat nicht auf diese Zusammenhänge aufmerksam gemacht. Recherchiert wurde diese Quelle vom „Absurda“ Team, deren Sendungen auf Radio Orange gehört werden können. Mehr Infos unter: http://o94.at/programs/absurda/

[12] Prekarität: eine wilde Reise ins Herz des verkörperten Kapitalismus, Oder: wer hat Angst vor der immateriellen Arbeit?“, Vassilis Tsianos, Dimitris Papadopoulos, Übersetzt von Hito Steyerl, Quelle: http://transform.eipcp.net/transversal/1106/tsianospapadopoulos/de/print

[13] „Das Bündnis ist geplatzt“, in: SOZ Nr. 1/2007, Seite 17

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