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Gerald Raunig: Das Monster Prekariat

Wie es oft bei der Ausbreitung und Entfaltung neuer Begrifflichkeiten der Fall ist, hat auch die explosive Verbreitung des Begriffsfelds Prekarität – Prekarisierung – Prekariat[1] in den letzten Jahren beträchtliche Verwirrung entstehen lassen. So muss es nicht verwundern, dass es im Laufe der Entstehung der sozialen Bewegung, für die dieses Begriffsfeld zur wichtigsten Referenz wurde, immer wieder zu unterschiedlichen Bewertungen der zentralen Begriffe kam, wie auch zu Bedeutungsverschiebungen je nach sozialem, geografischem und zeitlichem Zusammenhang: Selbst in den Mobilisierungkontexten der Euromayday-Bewegung bedurfte und bedarf es noch immer eines intensiven Austauschprozesses, um eine einigermaßen genaue Differenzierung des Begriffsfelds zu gewährleisten. Und wenn die Euromayday-Paraden in den letzten Jahren in vielen Städten Europas die widerständige Praxis des 1. Mai erneuerten, so sind diese Paraden im Kontext der sie begleitenden Prozesse nicht nur als Versuche der politischen Organisierung der Prekären, sondern – davor noch und darüber hinaus – als Informationskampagnen zu Fragen der Prekarisierung, als Instrumente der kollektiven Wissensproduktion, als militante Untersuchungen über aktuelle Arbeits- und Lebensweisen zu verstehen.

So hat sich im Laufe dieses Jahrzehnts in ganz Europa eine immer intensivere Debatte entwickelt, die sich auch jenseits des Ereignisses der Paraden über Veranstaltungen, Lesekreise, Befragungen, linke Magazine und andere Publikationen erstreckte und die die zentralen Begrifflichkeiten kritisch diskursivierte und ausdifferenzierte, ohne dabei gleich eine rigide Festlegung der Termini zu betreiben. [2]

Wichtige Linien dieser Debatte legten es vor allem nahe, allzu begeisterte Vergemeinschaftung und vorschnelle Vereinheitlichung unter der Glocke der Prekarität hintanzustellen. So wurden die engen geographischen und geschichtlichen Grenzen des heutigen Prekarisierungsdiskurses nicht zuletzt in Bezug auf Gender und Eurozentrismus problematisiert,[1] Prekarität erscheint aus dieser Perspektive keineswegs als neues Phänomen; eher schon könnte man den Fordismus als „westliches“ Ausnahmephänomen des 20. Jahrhunderts betrachten, das Prekarität in gewissem Rahmen unsichtbar und zur Ausnahme gemacht hat.[2] Umgekehrt schien es angebracht, die neuen Formen immaterieller, kognitiver, affektiver Arbeit mit ihren Kontinuitäten und Diskontinuitäten als Komponenten des postfordistischen Kapitalismus einer genaueren Untersuchung zu unterziehen.[3] Mit der Diskussion prekärer Subjektivierungsweisen jenseits von Opferdiskursen im Kontext der Autonomie der Migration[4] war auch die Vorbedingung dafür geschaffen, die äußerst unterschiedlichen Formen der Prekarisierung, ihre Differenzen und Hierarchien nicht in einem prekären Einheitsbrei untergehen zu lassen. Zugleich wurde klar, dass es wenig Sinn macht, rigide zwischen Selbst- und Fremdbestimmung zu trennen, von Luxusprekarisierten und unterprivilegierten Prekarisierten, privilegierten und abgehängten Prekären zu sprechen, diese mit der „kreativen Klasse“, den „intellos precaires“ oder der „digitalen Boheme“ und jene mit den MigrantInnen oder Sans-Papiers zu identifizieren. Wie die komplexe Lage in all diesen Bereichen eine Verbindung von smoothen Formen der Selbstprekarisierung mit rigid-repressiven Formen der Arbeitsdisziplin nahe legt,[5] so werden in diesem Setting auch neue Subjektivierungsweisen möglich. Wenn aber Prekarisierung zugleich Subjektivierung und mehrfache Unterwerfung bedeutet, scheint es auch wenig Sinn zu machen, von „Prekarisierten“ zu sprechen. Statt der in der Anwendung des Passivs sprachlich nachvollzogenen Viktimisierung setzte sich der Term „Prekäre“ als viel eher der ambivalenten Situtation entsprechend durch. Und schließlich wurde auch die ökonomische Engführung der ausschließlichen Fokussierung auf die Arbeit aufgebrochen und mit TheoretikerInnen wie Judith Butler, Antonio Negri oder Paolo Virno die Prekarisierung des Lebens in den Blick genommen.[6]

Das „abgehängte Prekariat“

Während die Konzeptualisierung von Prekarisierung, Prekarität und Prekariat sich in bewegungsnahen Diskursen also zusehends intensivierte und verdichtete, war es um deren Ausbreitung offenbar nicht so gut bestellt. Als offensichtlichstes Beispiel für die mangelnde Verbreitung des Prekarisierungsdiskurses erscheint die unsägliche Debatte um ein „abgehängtes Prekariat“, die in weiten Teilen der deutschsprachigen Presse im letzten Herbst die begriffliche Verwirrung ausufern ließ. Begonnen hatte diese Welle der Desinformation und Denunziation in den Reaktionen auf eine Studie des durch die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung beauftragten Marktforschungsunternehmens TNS Infratest und dessen Identifizierung und Klassifizierung eines „abgehängten Prekariats“.[7] Die flapsig formulierte Studie teilte „die Deutschen“ (unter Ausschluss der nicht wahlberechtigten Bevölkerung) in neun politische Typen ein und identifizierte das „abgehängte Prekariat“ als neunte und letzte Stufe dieser Typologie. Die sich daran anschließende Debatte, durch SPD-Vorsitzenden Beck als „Unterschichtsdebatte“ geprägt, ließ an Platitüden und reaktionären Ressentiments nichts aus[8] und hinterließ Effekte nicht nur im politischen Feld, sondern bis weit hinein in akademische Diskurse.

Die schnelle Übernahme der Begriffsfamilie des Prekären ins deutsche Feuilleton ignorierte die oben beschriebenen linken Debatten und gründete sich auf einer missverständlichen Popularisierung des akademisch-sozialwissenschaftlichen Diskurses zur Prekarisierung vor allem in Frankreich. In der begrifflichen Radikal-Reduktion deutscher Spielart wurde die als Prekariat identifizierte Gruppe allerdings nicht nur – wie in sozialwissenschaftlichen Kontexten des öfteren der Fall – zum Objekt und Opfer gemacht: Die Debatte um die TNS-Studie ging darüber hinaus, sie konstruierte eine neue Qualität von Lumpenproletariat und dessen Ausschluss aus dem politischen Handeln. Einst von Marx und Engels als „diese passive Verfaulung der untersten Schichten der alten Gesellschaft“ bezeichnet, wurde das neue Lumpenproletariat nun nicht mehr nur als passiv und in die Prekarität abgedrängt beschrieben, sondern – besonders perfide – als selbstviktimisierende AgentInnen ihres eigenen Ausschlusses. In der Debatte ging es nicht mehr um Ausschlusspraktiken der Mehrheitsgesellschaft, sondern, wie Isabell Lorey kritisch anmerkt, nur um vermeintlich gefühlte Ausschlüsse der Betroffenen, um Selbst-Ausschließungen, die selbst zu verantworten seien: „In diesem Diskurs verschränkt sich im bürgerlichen Feuilleton zum ersten Mal in einer negativen Weise der Begriff des ‚Prekariats’ mit neoliberalem selbstgewähltem Verlierertum. Nicht von widerständiger Verweigerung ist hier die Rede, sondern es geht um eine Kategorisierung von Personen, die aufgrund einer unverantwortlichen Selbstverantwortung zunehmender staatlicher Kontrolle unterstellt werden müssen, da sie sich offensichtlich nicht neoliberal regieren lassen.“[9]

Man kann diese fortgesetzte diskursive Ausgrenzung und die denunzierende Figur der unterstellten Selbstausschließung als ebenso absichtsvolles wie wirkungsmächtiges Missverständnis von Seiten des normalisierenden Mainstreams sehen, als sozialpolitische Stratifizierung, die die gesellschaftliche Mitte braucht, um sich neu zu konstituieren. Man kann sie aber auch ganz im Gegenteil als notgedrungene Defensive interpretieren, eine Defensive, die notwendig wird als Reaktion auf das Entstehen eines neuen Monsters. Der Name des Monsters ist Prekariat, seine historische Vorlage und Reibefläche der Riese Proletariat.

„Il precariato si ribella“

Wenn es im folgenden um einen Versuch der Neukonzeptualisierung des Begriffs Prekariat geht, dann fußt dieser Versuch fürs erste weniger auf einer etymologischen oder theoretischen Genealogie[10], als auf der Entwicklung der Begrifflichkeiten innerhalb der Bewegung, die sich in den letzten Jahren um sie formiert hat. In der Vorbereitungsphase des Anti-G8-Gipfels in Genua 2001 wurde von einer Gruppe um das medienaktivistische Kollektiv Chainworkers in Milano eine erste Mayday-Parade organisiert, auf der ca. 500 TeilnehmerInnen am Nachmittag des 1. Mai die neueren nicht-repräsentationistischen Demonstrationsformen der Antiglobalisierungsbewegung, Reclaim the Streets und Gay Prides aufnahmen. In Anknüpfung an die legendäre US-amerikanische Gewerkschaft der Wobblies, der International Workers of the World, hatte die neue Tradition des 1. Mai von Anfang an eine internationalistische Ausrichtung, versuchte Prekarisierung als transnational zu problematisieren. Die in Italien weit vorangeschrittene Entwicklung der Prekarisierung erklärt die frühen Versuche der Organisierung und Mobilisierung der „Generation der Prekären“ gerade in Milano, deren Not- wie Kampfruf „Mayday!“ aber bald über die italienischen Grenzen hinausschallte. Auf Plakaten, Flyers und Transparenten hieß der Slogan allerdings nicht etwa „Stop Précarité“ [Stoppt die Prekarität], wie ihn erstmals die TeilzeitarbeiterInnen bei französischen McDonald’s-Restaurants im Rahmen einer Kampagne im Winter 2000 entwickelt hatten, sondern „Stop al precariato“ [Stoppt das Prekariat]. Diese etwas verwirrende und missverständliche Formulierung hat durchaus etwas mit den im Weiteren thematisierten verschiedenen marxistischen Deutungen historischer Proletariats- und Klassenbegriffe zu tun, aber auch und vor allem mit den verschiedenen Bedeutungen des heutigen Begriffs vom Prekariat in verschiedenen Sprachen. So ist die Endung auf –iato im Italienischen im Gegensatz zum Deutschen eine recht gebräuchliche, die Analogie zum Proletariatsbegriff liegt im Italienischen also wesentlich weniger nahe als im Deutschen: „salariato“ (vgl. auch das französische „salariat“) etwa bedeutet soviel wie der rechtlich definierte Status der Lohnarbeit vor einem juridischen und sozial-institutionellen Hintergrund, „precariato“[11] ist aus dieser Perspektive die dunkle, rechtlose Seite dieses Statuts, die es zu bekämpfen, deren Ausbreitung es zu stoppen gilt.[12]

Im Jahr 2002 änderte sich einiges. Nicht nur der Zustrom der Paraden-TeilnehmerInnen erhöhte sich – gerade im Jahr nach 9/11 und Genua, das oft als problematischer, so nicht sogar traumatischer Bruch der Antiglobalisierungsbewegung beschrieben wird – in erstaunlichem Ausmaß, der zentrale Slogan wurde quasi umgekehrt: Von einem Aufhalten des Prekariats war nicht mehr die Rede, es hieß im Gegenteil: „Mayday. Il primo maggio del precariato sociale“ [Der erste Mai des sozialen Prekariats]. Hier ereignete sich eine doppelte Wendung: Mit dem Hinweis auf das Soziale werden Kampf und Reflexion von der Fokussierung auf die Arbeit auf die Prekarisierung der Sozialität, des Lebens erweitert, und vor allem: das Prekariat wird vom abzuwehrenden Übel zur Selbstbezeichnung. Das „precariato sociale“ wird gemeinsame Bezeichnung einer vielschichtigen und vielfältigen Menge, die sich nicht als Opfer beschreibt, sondern auch als soziale Bewegung. Ein weiteres Jahr später ist dieser semantische Übergang abgeschlossen, der Slogan lautet: „Il precariato si ribella.“ [Das Prekariat rebelliert.][13] Im Jahr 2003 klingt auch schon die Ausbreitung der Bewegung an, die Realisierung einer transnationalen Mobilisierung: die Parade wird als „la parade del precariato Europeo“ angekündigt, nicht nur weil die Prekarisierung als transnationales Problem erkannt wird, sondern auch weil zunehmend mehr Kollektive und Gruppen aus anderen europäischen Ländern an der Organisation der Parade in Milano beteiligt sind.

Fast als logische Konsequenz dieser Internationalisierung entwickelt sich 2004 die Transformation in die Euromayday-Parade durch eine erste simultane Organisation in Milano und Barcelona, gerade in Barcelona ist ein Hauch von neuer sozialer Zusammensetzung zu erleben: Sans-Papiers und MigrantInnen, Autonome, politi­sche AktivistInnen von linken und linksradikalen Gewerkschaften und Parteien, künstlerische AktivistIn­nen, prekäre und kognitive ArbeiterInnen aller Art.[14] Und: Der Mayday wird europäisch. Internationale Euromayday-Treffen finden in verschiedenen Städten Europas, meist am Rand von linken Konferenzen und Social Fora statt. Nach dem als „International Meeting of the Precariat“ angekündigten Berliner Treffen im Jänner 2005 verteilt sich die Parade immer mehr in den europäischen Raum, zuletzt sind es 2006 über 20 Städte, mit allerdings einigermaßen verschiedenen politischen Ausrichtungen und unterschiedlichen Quantitäten von Teilnehmenden.

Eine neue Klasse für sich?

„Die ökonomischen Verhältnisse haben zuerst die Masse der Bevölkerung in Arbeiter verwandelt. Die Herrschaft des Kapitals hat für diese Masse eine gemeinsame Situation, gemeinsame Interessen geschaffen. So ist diese Masse bereits eine Klasse gegenüber dem Kapital, aber noch nicht für sich selbst. In dem Kampf, den wir nur in einigen Phasen gekennzeichnet haben, findet sich diese Masse zusammen, konstituiert sie sich als Klasse für sich selbst. Die Interessen, welche sie verteidigt, werden Klasseninteressen. Aber der Kampf von Klasse gegen Klasse ist ein politischer Kampf.“[15]

Marx schrieb diese Zeilen, die später noch als Stoff vor allem für die Legitimierung der Partei als alles lenkender Staatsapparat umfunktioniert werden sollten, nicht von ungefähr in seiner Antwort auf Proudhons Philosophie des Elends. Die Organisierungsfrage blieb zwischen kommunistischen und anarchistischen Lagern über die Jahrhunderte hinweg strittig. Die marxistisch-leninistische Literatur andererseits reduzierte den Kampf und den Prozess der Konstituierung einer „Klasse für sich selbst“ schnell auf den Gegensatz der „Klasse an sich“ und der „Klasse für sich“. Eine größere gesellschaftliche Gruppierung, deren Teile unter gleichen oder ähnlichen sozialen und ökonomischen Bedingungen leben, wurde in dieser Lesart als „Klasse an sich“ beschrieben. Die empirische Objektivierung dieser Gruppierung versteht die Individuen jedoch als untereinander unverbunden und als des gemeinsamen Bandes unbewusst.

Bekanntestes Beispiel für diesen Zustand der Trennung in seiner extremen Form, damit der Unmöglichkeit von eingreifendem Handeln und gemeinsamem Kampf, ist das der französischen Parzellenbauern. Marx schreibt 1852 im „achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte“: „Die Parzellenbauern bilden eine ungeheure Masse, deren Glieder in gleicher Situation leben, aber ohne in mannigfache Beziehung zueinander zu treten. Ihre Produktionsweise isoliert sie voneinander, statt sie in wechselseitigen Verkehr zu bringen. Die Isolierung wird gefördert durch die schlechten französischen Kommunikationsmittel und die Armut der Bauern.“[16] Die Parzelle ist das Paradigma der Isolation. In der Situation räumlicher Trennung schaffen die Bauern einen Austausch mit der Natur, nicht aber einen „Verkehr mit der Gesellschaft“. Der Begriff des Verkehrs, den Marx übrigens mit seinem damaligen individualanarchistischen Kontrahenten Max Stirner teilt, meint nun mehr als eine gemeinsame empirische Klassengrundlage. Die beliebige Addition ähnlicher Einheiten, in Marxens Bild die vielen Kartoffel in einem Kartoffelsack, macht noch keinen Zusammenschluss, keine politische Organisation aus. Unter der radikalpopulistischen Regierung des „zweiten Napoleon“ Louis Bonaparte sind die Parzellenbauern im Gegenteil zur Vereinzelung und Zerstreuung, zur Unmöglichkeit des Verkehrs und der Vertretung verdammt. Sie sind sogar „unfähig, ihr Klasseninteresse im eigenen Namen, sei es durch ein Parlament, sei es durch einen Konvent geltend zu machen. Sie können sich nicht vertreten, sie müssen vertreten werden.“[17]

Die Klasse an sich muss dagegen im spezifischen ML-Jargon eine Klasse für sich werden, sie muss sich der gemeinsamen Lage bewusst werden und allgemeine Strategien entwickeln, die über lokale Auseinandersetzungen hinausgehen, und vor allem: Sie muss sich organisieren. Erst dieser Aspekt unterscheidet die Klasse für sich von Menschen, deren ökonomische Bedingungen sie als Klasse ausweisen, die aber aufgrund ihrer Lebensverhältnisse noch keine Gemeinsamkeiten, keine Organisation begründen können. Gerade die Beziehungs- und Kommunikationslosigkeit der Parzellenbauern, ihre extreme Zerstreuung entbehrt der Vorbedingung, dass sie zur Klasse für sich werden, lässt jedes „massenhafte Zusammenhalten“ unmöglich erscheinen.

Multitude und Prekariat

Der schlafende Riese Proletariat muss erwachen, muss durch Klassenbewusstsein und Partei aufgeweckt werden. Er entspricht also viel eher als die zerstreute Figur der Parzellenbauern dem Zustand der Klasse an sich und muss nur durch die richtige Form der Organisierung erst zu sich kommen, für sich werden. Auch wenn die begriffliche Analogie zum Proletariat nahe liegt, das Prekariat als Bewegung und Organisierung der zerstreuten Prekären ist dagegen ein Monster, das Schlaf nicht kennt. Hier gibt es keine teleologische Bewegung vom schlafenden zum Klassenbewusstsein; weder die Empirie der Klasse an sich noch die politische Anrufung einer Klasse für sich, sondern ein stetiges Werden, Fragen, Kämpfen. Prekariat erscheint also weder als wie immer empirisch gefasstes Problem noch als zukünftiges Erlösungsmodell. Es ist damit auch keineswegs nur der andere Pol der Prekarität, analog etwa zur Klasse für sich in ihrem Verhältnis zur Klasse an sich.

Doch auch schon der Proletariatsbegriff ist offensichtlich nicht so eindeutig: Einerseits geistern zwei problematische Versionen des Proletariats durch Denken und Tun vieler Linker: Vorstellungen in akademischer Soziologie und wissenschaftlichem Marxismus, die eine klar umgrenzte Gruppe von Menschen als Proletariat identifizieren und klassifizieren, aber auch die kanonisierte Figur der Diktatur des Proletariats. Es gab und gibt allerdings auch einen Begriff vom Proletariat, der über soziologische Fixierung und politische Teleologie hinausgehend in der Nähe eines solchen Werdens zu lokalisieren ist, wie es das Bild vom Prekariat als schlaflosen Monsters zeichnet: jenen, der schon das Proletariat als Kampf gegen die Klassifizierung, identitätslogische Fixierung und Homogenisierung konzeptualisiert,[18] jenen, auf den sich auch das an den Anfang gestellte Zitat Antonio Negris bezieht, in dem er vom konstituierenden Prozess eines neuen postfordistischen Proletariats spricht, oder auch die Formulierung, mit der Euromayday-Aktivist Alex Foti prominent in Wikipedia zitiert ist: „Das Prekariat ist in der post-industriellen Gesellschaft das, was das Proletariat in der Industriegesellschaft war“.[19]

Jenseits dieser Analogiebildungen bestehen, wie schon in der oben geschilderten Genealogie des Begriffs Prekariat in der Euromayday-Bewegung klar geworden ist, dennoch eklatante Unterschiede zwischen den Begriffen Proletariat und Prekariat. Der Proletarier als Mitglied der untersten Klasse, die dem römischen Staat nur dadurch dient, Nachkommen (proles) zu liefern, aus marxistischer Sicht der Lohnarbeiter ohne Besitz an Produktionsmitteln, repräsentiert Homogenität in vielerlei Hinsicht: Die proletarische „Klasse für sich“ entsteht durch die spezifischen Organisierungsformen von Gewerkschaften und Massenparteien, und vor allem, sie nimmt als einheitliche Klasse den Kampf gegen die herrschende Klasse auf.

Die Figur der Prekären dagegen verweist auf Diffusität, Fragilität, Heterogenität. Das Prekariat stellt keine einheitliche, homogene oder gar ontologische Formation dar,[20] es ist auf viele Herde verteilt und zerstreut, nicht aus Schwäche oder Unvermögen, sondern als Diskontinuität von Geografie und Produktion, als Verteilung im Raum. In gewisser Weise wiederholt sich in postfordistischen Verhältnissen tatsächlich die Zerstreuung und Isolation der französischen Parzellenbauern, damit auch vielfach die Unfähigkeit, Verkehr und Austausch untereinander herzustellen. Prekarisierung führt in dieser Hinsicht eher zu Konkurrenz, Entsolidarisierung und Opportunismus, selbst wenn manche Produktions- und vor allem die Kommunikationsmittel zunehmend weiteren Kreisen zugänglich werden. Doch die Existenzweisen in der Zerstreuung tragen auch das Potenzial in sich, anstelle von identitären und kommunitären Vergemeinschaftungsformen Verkettungen von Singularitäten hervorzubringen. Welche Form auch immer die Verkettung des Prekariats annimmt, welche (Selbst-)Organisationsformen es entwickelt, der Begriff selbst weist darauf hin, dass es nicht in die Vereinheitlichung und Strukturalisierung, in die Schemata von molaren und linearen Revolutionskonzepten zurückfällt. Wenn das Prekariat überhaupt irgendetwas ist, dann ist es selbst prekär.

Fruchtbar wird der Begriff Prekariat vor allem im Austausch mit dem komplementären Begriff der Multitude, in der Potenzialität, dass deren Singularitäten sich in aller Unterschiedlichkeit und Autonomie der Kämpfe zum Prekariat verketten. Beide Begriffe, Multitude und Prekariat sind nicht als soziologische Kategorien zu verstehen, als empirisch zu klassifizierende Gruppen, sondern als komplementär: nämlich als Potenzialität und Aktualisierung der Verkettung. Sie brechen damit den Soziologismus auf, der dem Proletariat ebenso hartnäckig anhaftet wie die eindimensionale Homogenisierung in der Partei- und der Staatsform. Wenn Multitude die Potenzialität der Verkettung impliziert, das Prekariat aber deren Aktualisierung, sind die Begriffe dennoch in gleicher Weise real: die Potenzialität der Multitude steht ebenso wenig im Gegensatz zur Realität wie ihre permanente, emergierende Aktualisierung in der Formierung des Prekariats. In beiden Begriffen ist nicht die Quantität, die Frage ihrer maximalen Ausbreitung relevant, sondern ihre Qualität.

Die Multitude ist in diesem Verhältnis als anti-identitäre Form und Potenzialität zu verstehen, die die Vielen nicht vereinheitlicht. Nicht nur in den Texten Paolo Virnos zur Multitude wird allerdings klar, dass der Begriff der Multitude als normativer wenig geeignet ist, dass ihm vielmehr eine Ambivalenz eingeschrieben ist, die sich verschiebt und auch verschieben lässt: am einen Pol steht das Ausufern und Ineinandergreifen von Angst und Furcht (wobei dieses verschwimmende Gefüge von Angst und Furcht nicht als psychologische Kategorie oder als verzweifelter Kampf um die Rückkehr zum fordistischen Lohnarbeitsverhältnis reduziert werden kann), am anderen Pol die Potenzialität der Entwicklung eines neuen, Furcht erregenden Monsters.

Während die Multitude als Möglichkeitsbedingung der Entwicklung des Gemeinsamen im offenen Prozess der zerstreuten Organisierung verstanden werden kann, trägt die Aktualisierung dieser potenziellen Monsters den Namen Prekariat. Prekariat – um es nochmals zu betonen – ist weder ein Zustand, der empirisch eine Klasse an sich beschreibt, noch eine Funktion der Teleologie der Klasse für sich. Vielmehr ist es ein Werden, ein Kampf, eine Frage. Es impliziert weder politische noch begriffliche Schließung und Homogenisierung, sondern die Entfaltung von Problemen, etwa den folgenden: Wie kann eine Form der Organisierung entstehen, die viel eher den Austausch, den „Verkehr“ der Differenzen befördert als die Vereinheitlichung? Wie können neue Kommunikationsmittel für diese Organisierung genützt werden? Was sind die Formen jenseits von Staat, Partei und Gewerkschaft, die in der Zerstreuung entstehen, in einer Zerstreuung, die nicht nur geografisch gemeint ist, sondern sich auf die Produktionsweisen wie auf die Produktionsorte bezieht? Was sind dementsprechend die Maschinen, in denen Singularitäten sich verketten statt in identitäre Gefäße gesteckt zu werden? Welcher Art ist das neue Band der Multitude, das sich nicht als homogenisierender Zusammenhalt, sondern als Verkettung aktualisiert?

E-Mail: raunig@t0.or.at

Dank an Marcelo Expósito, Isabell Lorey, Klaus Neundlinger und die Grundrisseredaktion für Kritik und Diskussion.


[1] Für eine erste Annäherung vgl. „Prekär, Prekarisierung, Prekariat? Arbeitspapier des Frassanito-Netzwerks“, http://euromayday.at/texte/frassanito.php; zur Differenzierung der Termini im Englischen vgl. Angela Mitropoulos, „Precari-Us?“, http://www.metamute.org/en/Precari-us.

[2] Vgl. etwa die Texte des Issues „precariat“ des multilingualen eipcp-Webjournals transversal, http://eipcp.net/transversal/0704, die spanische und italienische Ausgabe der in Barcelona und Milano veröffentlichten Mayday-Zeitung „Milano-Barcelona Euro MayDay 004“, die Precarity-Ausgabe des holländischen Greenpepper Magazine von 2004, die Spezialausgabe des britischen Mute-Magazins, der die Texte zur Prekarität in den Mute-Ausgaben 28 und 29 (2004/5) versammmelt http://www.metamute.org/en/Precarious-Reader, die Kulturrisse-Ausgaben 02/05 („EuroMayDay 005: mächtig prekär“), http://kulturrisse.at/1114329221 und 04/06 („Organisierung der Unorganisierbaren“), http://kulturrisse.at/1168344588, die Ausgabe des belgischen Magazins Politique, revue de débats von Oktober 2006  http://politique.eu.org/actualite/43.html oder den Reader zur Diskussionsreihe in der Berliner NGBK: Prekäre Perspektiven, Berlin: NGBK 2006.

[1] Vgl. kpD, „Prekarisierung von KulturproduzentInnen und das ausbleibende ‚gute Leben’“, in: arranca! 32, Sommer 2005, 23-25, online unter: http://eipcp.net/transversal/0406/kpd/de sowie Angela Mitropoulos, „Precari-Us?“, http://www.metamute.org/en/Precari-us.

[2] Vgl. Dirk Hauer, „Strategische Verunsicherung. Zu den identitären Fallstricken der Debatte um prekäre Arbeit“, http://www.labournet.de/diskussion/arbeit/realpolitik/prekaer/hauer2.html, Kurzfassung erschienen in analyse & kritik - Zeitung für linke Debatte und Praxis 494, 15.4.2005.

[3] Vgl. Vassilis Tsianos / Dimitris Papadopoulos, „Prekarität: eine wilde Reise ins Herz des verkörperten Kapitalismus. Oder: wer hat Angst vor der immateriellen Arbeit?“, in: Gerald Raunig / Ulf Wuggenig (Hg.), Kritik der Kreativität, Wien: Turia+Kant 2007, im Erscheinen. Online unter http://eipcp.net/transversal/1106/tsianospapadopoulos/de.

[4] Vgl. „Die Putzfrau war präsent, aber wie sieht sie aus? Interview mit den OrganisatorInnen des Hamburger Euromaydays 2006“, in: analyse & kritik - Zeitung für linke Debatte und Praxis 504, 17.3.2006, online unter: http://www.akweb.de/ak_s/ak504/18.htm; Serhat Karakayali, „Mobilität und Prekarität als Ressource in den Kämpfen um Migration“, in: Prekäre Perspektiven, Berlin: NGBK 2006, 136-145; Luzenir Caixeta, „Jenseits eines simplen Verelendungsdiskurses. Prekäre Arbeitsverhältnisse von Migrantinnen und Möglichkeiten einer (Selbst-)Organisation der Beteiligten am Beispiel maiz“, in: Kulturrisse 04/06, 22-25.

[5] Vgl. dazu auch Gerald Raunig, „Kreativindustrie als Massenbetrug“, in: Gerald Raunig / Ulf Wuggenig (Hg.), Kritik der Kreativität, Wien: Turia+Kant 2007, im Erscheinen; online unter http://eipcp.net/transversal/0207/raunig/de.

[6] Hierher gehört auch die Kritik reduzierter Begriffe von Biopolitik, etwa bei Isabell Lorey, "Als das Leben in die Politik eintrat. Die biopolitisch-gouvernementale Moderne, Foucault und Agamben". In: Marianne Pieper, Thomas Atzert, Serhat Karakayali, Vassilis Tsianos (Hg.), Empire. Die biopolitische Wende, Frankfurt/Main, New York: Campus 2007, im Erscheinen, oder bei Katja Diefenbach, „Die Ankunft der Polizei. Einige Anmerkungen über Ausnahmezustand und Prekarität“, in: Prekäre Perspektiven, Berlin: NGBK 2006, 121.

[7] Vgl. http://www.fes.de/inhalt/Dokumente/061017_Gesellschaft_im_Reformprozess_komplett.pdf.

[8] Vgl. Heinz Steinert, „Prekariat, Kaloriat, sexy Berlin und die Unterschicht“, www.links-netz.de/K_texte/K_steinert_prekariat.html.

[9] Isabell Lorey, „Vom immanenten Widerspruch zur hegemonialen Funktion. Biopolitische Gouvernementalität und Selbst-Prekarisierung von KulturproduzentInnen“, in: Gerald Raunig / Ulf Wuggenig (Hg.), Kritik der Kreativität, Wien: Turia+Kant 2007, im Erscheinen.

[10] Im alltagssprachlichen Deutsch ist der Begriff „prekär“ als „provisorisch“, „vorübergehend“, „unsicher“ wohl vom französischen précaire abgeleitet; „durch Bitten erlangt“, „widerruflich“, „auf Widerruf gewährt“ war schon im römischen Recht das precarium als auf Bitte hin erfolgende Einräumung eines Rechts, das keinen Rechtsanspruch begründet. In sozialwissenschaftlichen Kontexten taucht der Begriff verstärkt in den letzten 20 Jahren auf. Hier entstand allerdings auch eine Engführung des breiten alltagssprachlichen Begriffs, der alles mögliche als prekär bezeichnen konnte, auf die Prekarisierung der Arbeit (vgl. etwa die beschränkte Einführung des Begriffs bei Pierre Bourdieu, Gegenfeuer: Wortmeldungen im Dienste des Widerstands gegen die neoliberale Invasion, Konstanz: UVK Universitätsverlag 1998). Diese begriffliche Verengung wurde erst um 2000 diskursiv (vor allem in den Strängen postoperaistischer und poststrukturalistischer Theoriebildung) in Richtung Biopolitik, soziale Prekarisierung und prekäres Leben durchbrochen.

[11] Vgl. Franco Berardi Bifo, „Lavoro Sapere Precarietà“, http://eipcp.net/transversal/0704/bifo/it: “Con la parola precariato si intende comunemente l'area del lavoro in cui non sono (più) definibili delle regole fisse relative al rapporto di lavoro, al salario, alla durata della giornata lavorativa.“ [Mit dem Wort "Prekariat" meint man üblicherweise den Bereich der Beschäftigung, in dem hinsichtlich des Arbeitsverhältnisses, des Lohns und des Arbeitstages keine fixen Regeln mehr auszumachen sind.]

[12] An diese Linie schließt nicht zuletzt auch die beschränkt-defensive Forderung nach „Entprekarisierung“ an. Vgl. etwa Klaus Dörre, „Prekarität. Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts und Möglichkeiten zu ihrer Politisierung“, in: Kulturrisse 04/06, 8-13, vor allem 12.

[13] Die Plakate und Slogans der ersten Mayday-Paraden finden sich auf der Website http://www.chainworkers.org/MAYDAY/index.html.

[14] Vgl. Gerald Raunig, „La inseguridad vencerá. Antiprekaritärer Aktivismus und Mayday Parades“, http://eipcp.net/transversal/0704/raunig/de.

[15] Karl Marx, Das Elend der Philosophie, MEW 4, 180f.

[16] Karl Marx, „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte”, MEW 8, 198.

[17] Ebd.

[18] Vgl. John Holloways diesbezügliche Anmerkungen, aber auch das oben angeführte Marx-Zitat aus dem Elend der Philosophie.

[20] Vgl. die Begründungen der skeptischen Haltung in Bezug auf den Prekariatsbegriff u.a. bei Katja Diefenbach, „Die Ankunft der Polizei. Einige Anmerkungen über Ausnahmezustand und Prekarität“, in: Prekäre Perspektiven, Berlin: NGBK 2006, 114-123, hier 120 und 123; im Text des Frassanito-Netzwerks, a.a.O., sowie bei Martin Birkner und Birgit Mennel, „Mayday! Oder: die Unmögliche Organisierung der möglicherweise Unorganisierbaren – eine Zwischenbilanz mit Ausblick“, in: Kulturrisse 04/2006, 18-21, hier 20. Diese Kritiken befürchten hinter dem Begriff des Prekariats eine unkritische Aufnahme jener Konnotation des Prekariats, die es in der Nachfolge des soziologisch identifizierenden oder des teleologisch-politischen Begriffs des Proletariats als homogene Einheit gedacht werden lässt.

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