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Andreas Kranebitter: Von Brillen und Schlangen: Der Diskurs über die Roten Khmer.
Ein Streifzug durch die politische Pol Pot-Kritik.

Pol Pot crazy“. Den Satz hört jede TouristIn, die es nach Kambodscha verschlägt gleich mehrmals am Tag auch ohne danach zu fragen. „Oral History for Tourists“ könnte man das Projekt nennen, an dem heute scheinbar die ganze kambodschanische Tourismusindustrie hängt: „Taxi? Killing Fields?“ fragen einen die Taxler, wie wenn sie einen regelrecht mit Gewalt zu den Szenen der Massaker der „Roten Khmer“ bzw. „Khmers Rouges“ schleifen wollen – die „Killing Fields“ sind fast schon TouristInnenattraktion Nummer eins geworden. An solchen Orten, zum Beispiel im Museum Toul Sleng in Phnom Penh, errichtet an genau jenem Ort, an dem der Khmer Rouge-Geheimdienst Santebal/S-21 beinahe 20.000 Menschen eingesperrt, gefoltert und ermordet hat, schaut man sich dann die Fotos von den Toten an oder die Fotos von den Tätern, das immer noch sichtbare Blut am Boden bzw. einfach nur aufgeschüttete Knochenhaufen in Glasvitrinen. Und vor diesen Vitrinen steht dann eine japanische, amerikanische oder französische TouristIn am Rucksack schön deutlich und sichtbar stolz die Nationalfahne aufgenäht – warum auch nicht, das jeweilige Land hat ja Südostasien immer nur „verwaltet“ – und lächelt in die Kamera. „Da waren wir in Kambodscha, auch sehr heiß…“.

Wie auch immer: „Pol Pot crazy“ scheint eine etwas zu kurz geratene Analyse. Zu oft haben wir ähnliche Formulierungen schon gehört; zu oft hat man uns zum Beispiel das Phänomen Faschismus in Guido Knopp’schen Unterhaltungsdokus auf die Psychopathie Hitlers reduziert, um an die Geschichte als Geschichte von großen Männern zu glauben. Und trotzdem scheint in Bezug auf Kambodscha diese Version irgendwie nicht ganz absurd zu sein, hat man sich einmal näher mit der Materie befasst. Hören wir einen Moment Pol Pot im O-Ton, beispielsweise in Bezug auf Vietnam. In einer Anordnung an Khmer Rouge-Kader vom 3. Jänner 1978 erfährt man da beispielsweise: „[…] hineinzugehen und einen Guerillakrieg zu kämpfen, um den Feind am Hals zu fesseln, an seinen Schultern und Rippen auf beiden Seiten, an der Taille, den Schenkeln, den Knien, den Waden, den Knöcheln, um zu verhindern, dass er seinen Kopf bewegen kann und unseren großen oder mittleren Einheiten zu ermöglichen, seinen Kopf zu zerschlagen und zu zerbrechen“ (zitiert in Kiernan 2002, S. 386).[1] Doch der Große Vorsitzende kann’s noch besser – am 10. Mai 1978 konnte man in „Phnom Penh Radio“ hören: „Einer von uns muss dreißig Vietnamesen töten […]. Bis jetzt waren wir erfolgreich […]. Wir brauchen nur 2 Millionen Soldaten, um die 50 Millionen Vietnamesen zu zerquetschen, und wir hätten immer noch 6 Millionen Leute übrig“ (zitiert ebd., S. 393f.). Die Aneinanderreihung derartiger Zitate ließe sich ohne Probleme um ein Vielfaches verlängern, doch sparen wir uns das hier.[2] Was soll man dazu noch groß sagen?

Die Bilanz jener vier Jahre von 1975 bis 1979, in denen die Khmer Rouge Kambodscha regierten, ist nicht nur in Bezug auf diesen Rassismus gegen Vietnam wenig „emanzipatorisch“: Die Opferzahlen in ganz Kambodscha schwanken zwischen 700.000 (in der konservativsten Schätzung) und 3,3 Millionen Toten bei 7-8 Millionen EinwohnerInnen. Die meisten starben an Hunger oder Seuchen; Hinrichtungen und innerparteiliche Säuberungen forderten den Rest. Abschaffung des Schulwesens, medizinische Unterversorgung in den meisten Teilen des Landes, ein Arbeitspensum von üblicherweise zwölf Stunden, teilweise sogar bis zu 16 Stunden pro Tag; keine Möglichkeit, sich frei in andere Städte zu begeben, keine Telekommunikation (kein Postwesen, kein Telefon, kein Fernsehen), kein Markt, kein Geld, aber auch keine Schminke und keine Sonnenbrillen usw. usf. All dies wirft gewisse Fragen auf: Was sind die Errungenschaften dieser „Revolution“? Warum sich mit einer solchen Absurdität überhaupt auseinandersetzen? Warum aus heutiger und marxistischer Perspektive ein derartiges Regime noch „Sozialismus“ nennen? Warum sich nicht einfach auf die Feststellung einigen: Das war kein „Sozialismus“?

Weil die Psychose des Genossen Vorsitzenden noch nicht den Charakter des gesamten Phänomens Khmer Rouge erklärt. Die Khmer Rouge-Epoche lässt sich ebenso wenig auf die Figur Pol Pot reduzieren wie der Faschismus auf die „Ideen“ Hitlers oder Mussolinis. Warum „Sozialismus“? Weil man sehen muss, dass der gesamte Produktionsprozess wie auch der gesamte Staatsapparat fundamental verändert wurden und zwar in Richtung Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln und des Großgrundbesitzes. Man mag es degenerierten ArbeiterInnenstaat nennen oder einfach nur postkapitalistische Gesellschaft, mir ist jedenfalls historisch noch keine kapitalistische Gesellschaft ohne jegliches Privateigentum an Produktionsmitteln bekannt.[3] Nach diesem Kriterium wird das „Demokratische Kampuchea“, wie es offiziell hieß, dem Etikett „Sozialismus“ also durchaus gerecht. Abgesehen davon ist es bereits zu spät, auf „Nicht-Sozialismus“ zu plädieren. Denn die Linke hat sich schon geäußert. Und die Rechte sowieso. Letztlich stellt sich aber auch ein praktisches Problem: Will man heute in Phnom Penh etwa erklären, warum die Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln die einzige Möglichkeit ist, die Armut der Bevölkerungsmehrheit und produzierte Rückständigkeit abzuschaffen; will man heute in Kambodscha gar von Sozialismus oder Kommunismus sprechen – in einem Land, in dem selbst der regierende Prinz in den 1960-ern seine Partei „sozialistisch“ taufte –, dann muss man erst erklären, warum Prinzen und Politbüros seit jeher „irrten“. Wer heute Sozialismus sagt, muss den „Sozialismus“ erklären können. Wer heute von einer neuen Welt spricht, muss die alte neue Welt erklären können.

Eine Annäherung an die Erklärung der alten neuen Welt verläuft dabei über die Analyse des herrschenden Diskurses bzw. der herrschenden Diskurse, der Gesamtheit aller produzierter Geschichtsversionen und Mythen.

Grundsätzlich lassen sich drei dominante Fraktionen oder Stränge beschreiben, die den Diskurs über die Khmer Rouge wesentlich prägten: erstens die westliche Medienwelt, zweitens die akademische und politische Linke, drittens die offiziellen Geschichtsschreibungen des Ostblocks. Die auch chronologisch erste Diskursfraktion besteht dabei in den medialen Berichterstattungen der westlichen Mainstream-Presse, die sich vor allem auf Flüchtlingsberichte an der thailändischen Grenze zwischen 1975 und 1979 stützten. Ihnen folgten bald die ersten mehr populären als populärwissenschaftlichen Bücher „von rechts“, die wiederum bald eine Reaktion der gleichzeitig akademischen und politischen Linken auslösten, manchmal beinahe wortwörtlich „Theorien“ aus Peking und Moskau wiederholend. Parallel dazu verlief der Diskurs im Osten: Vietnam und die Sowjetunion, gefolgt von eifrigen Texthandwerkern der DDR, der Tschechoslowakei und sogar Kubas mussten erklären, warum die Beseitigung Pol Pots 1979 politisch notwendig und o.k. war. Diesen drei hauptsächlichen Diskursstrategien folgte bald von allen Seiten aber aus unterschiedlichen Gründen: Schweigen. Erst mit der Wende 1989 zeichnete sich eine mehr wissenschaftliche, d.h. aber allzu oft auch entpolitisierte Auseinandersetzung mit Aspekten der Khmer Rouge-Herrschaft ab.[4]

Die Medien und der ‚Reader’s Digest’: Die Kritik von rechts

The reddest revolution of them all“ titelte die Bangkok Post am 26. September 1976. Und das Wallstreet-Journal vom 15. Mai 1975 scheint sich ebenfalls über die neue monströse Qualität „des Kommunismus“ gefreut zu haben:[5] „Man kann sich das Leiden und die Verschlechterung nur vorstellen, doch die neuen kommunistischen Führer Kambodschas haben zweifellos eine neue Sorte von Grausamkeit erfunden“. Doch die neue Sorte Grausamkeit scheint dennoch von Altbekanntem herzurühren: „Die Erfahrungen in Phnom Penh zeigen wiederholt, was passieren kann, wenn eine revolutionäre Regierung an die Macht kommt“. Und mit erhobenem Zeigefinger wird hier in Standardphrasen weiterdoziert: „Die schlimmsten Grausamkeiten der Geschichte resultierten immer aus dem Versuch, eine neue Gesellschaft zu schaffen, in Wahrheit: aus dem Versuch, die Natur des Menschen zu ändern“. Zeitungen wie die Washington Post oder die New York Times, die zwar an der prinzipiellen Linie dieses Diskurses nicht unbedingt zweifelten, sich aber jedenfalls nicht mit dem nötigen Eifer dem Wallstreet-diktierten Antikommunismus verschrieben, riskierten, selbst ins Kreuzfeuer der rechten Recken zu gelangen. Die Organisation Accuracy in Media, nach Selbstbeschreibung „America’s watchdog of the news media“, schaltete ein bezahltes Inserat am 2. Juni 1978 in der Washington Post, um die Welt von deren kommunistischer Lobhudelei zu warnen.

Die Diskursstrategie ist jedenfalls klar und auch nicht weiter verwunderlich: Die roten Revolutionen, die sind halt eben so – von „Natur“ aus. Und „uns“ blüht dasselbe, wenn wir nicht aufpassen. Diese These findet man wörtlich eher in kleineren Publikationen. Ein Pamphlet einer Gruppe mit dem klingenden Namen People’s coalition against the Supression of Truth greift einen Flüchtlingsbericht aus einer kleinen Provinzzeitung, dem Lebanon Express, auf – und teilt uns mit: „So schlimm die Behandlung des kambodschanischen Volkes auch ist, sie ist völlig konsistent mit der kommunistischen Doktrin der Liquidation der Bourgeoisie als einem essentiellen Schritt in der Schaffung des „kommunistischen Menschen“. Dieser Report gibt einen Vorgeschmack auf das, was in den U.S.A. passieren könnte, sollten die Kommunisten hier siegen” (Einleitung zu Chhay o.J., S. 1). Und genau diese altbekannte Story der „kommunistischen Gefahr“, die immer und überall aus ein- und derselben „Idee“ entsprungen wäre, wurde seither tausende Male breitgetreten und wiedergekäut – und zog sich wie ein anti-roter Faden bis in die heutige Wissenschaft hinein. Pol Pot erscheint darin nur als Vertreter dieser Ideologie, als einer jener Gestalten, deren Denken die legitime Fortführung von Marx und Engels sei. Um ein Beispiel anzuführen: Das im Jahr 2004 erschienene Buch des französischen Historikers Henri Locard beschreibt die kambodschanischen Ereignisse als Versuch, „abrupt in den absoluten Kommunismus zu springen“ (Locard 2004, S.  69). Und wer sollte an dem ganzen Schuld sein – wenn nicht die alten Herren mit den langen Bärten? „Sie [die Khmer Rouge – AK] waren nichts anderes als das Siegel einer irrigen und anti-humanistischen politischen Theorie, die von Marx und Engels erdacht und von Lenin, Stalin und Mao in die Praxis umgesetzt wurde“ (ebd., S. 61). Soweit also Herr Locard …

Die in den Provinzblättern wie die oben zitierten abgedruckten Flüchtlingsberichte lassen zumeist an deren Glaubwürdigkeit zweifeln (wie Noam Chomsky und andere zurecht einwarfen) – die renommierteren Zeitungen sind natürlich zu schlau, um so etwas direkt abzudrucken, die InformantInnen blieben allerdings oft dieselben. Im Lebanon Express liest man weiter: „Das Hitler-Regime hat die jüdischen Familien zusammen in die Gaskammern geschickt [da hat wohl wer nicht genau recherchiert – AK], wo sie das Privileg hatten, ihre letzten Momente gemeinsam zu verbringen, aber die Khmer-Kommunisten gebrauchten das seltsame System, die einzelnen Mitglieder der Familien zu trennen“ (Chhay o.J., S. 2). Und weiter: „Zu der Zeit, als Phnom Penh fiel, hatten amerikanische Flugzeuge genug Reis eingeflogen, um damit alle Bewohner zumindest für sechs Monate zu versorgen [das hat nicht einmal der CIA behauptet – AK]. Die Kommunisten nahmen den ganzen Reis – nicht nur, um die Khmer-Kommunisten damit zu versorgen, sondern um ihren Hass auf Nicht-Kommunisten zu befriedigen, indem sie sie hungern ließen […]. Die einzigen Khmer-Frauen und Mädchen, die von den Khmer Rouge nicht vergewaltigt wurden, waren die, die aus Kambodscha flüchten konnten […]. Das Khmer-Zentralkomitee [?] verkündete, dass sie mehr als zwei Millionen von den sieben Millionen Menschen liquidieren würde, um eine neue agrarische Gesellschaft zu schaffen, die keine Überreste des früheren Regimes mit seinen wohlhabenden und gebildeten Menschen hätte“.[6] Nota bene: Willst du Genozid betreiben, verkünde das am besten in einer Pressekonferenz …

Aber lassen wir uns hier nicht auf die allzu zynische Verlockung ein, die vielen dubiosen Flüchtlingsberichte genauer abzuklopfen – denn genau hier zeichnet sich die große „Diskursfalle“ ab, in die der absolute Großteil der Linken in den 1970-ern tappte. Denn heute sind wir gezwungen, retrospektiv festzuhalten, dass sich trotz aller Übertreibungen bis hin zu Erfindungen von Gräuelstories, der Großteil der Geschichten aus Flüchtlingsberichten ganz einfach als wahr erwiesen hat. Im Großen und Ganzen lässt sich sagen: Nicht die Fakten sind es, die „falsch“ sind – die Ordnung der Fakten ist es.

Der australische marxistische Historiker Michael Vickery, der selbst jahrelang in Kambodscha lebte und selbst in kambodschanischen Flüchtlingslagern Interviews führte, hat die diskursive Vermischung von Flüchtlingsberichten und Zeitungsartikeln als „Standard Total View“ (STV) beschrieben. Durch die selektive Auswahl von Flüchtlingen mit einem bestimmten sozialen und geografischen Hintergrund, durch Verzerrungen in Übersetzungen, durch Beifügung dubioser Mittelsmänner, die Bezahlung der Interviews usw. habe sich eine Situation herausgebildet, in der die Interviewten meist nicht in „böser Absicht“ logen, sondern in Erwartung dessen, was westliche JournalistInnen hören wollten, ihre eigene Geschichte in die eine oder andere Richtung manipulierten (Vickery 1984, S. 36ff.). Die Standardversion, die sich dabei herauskristallisierte, wurde nicht nur von Vickery bekrittelt, sondern von beinahe allen ernst zu nehmenden BeobachterInnen, wie bspw. vom katholischen Missionar Francois Ponchaud, der den schmalen Grat zwischen blindem Glauben und prinzipiellem Leugnen wie folgt beschreibt: „Die Flüchtlingsberichte müssen tatsächlich mit großer Vorsicht verwendet werden […], doch der Exodus mehrerer hunderttausend Personen ist ein Faktum […], das für sich selbst genügend Fragen aufwirft“ (Ponchaud 1978, S. xvi). Ponchaud musste allerdings später selbst einräumen, dass nicht alle Schlüsse, Fakten und Übersetzungen in seinem Buch einwandfrei belegt sind.[7]

Als die Vertreter der STV schlechthin können allerdings die beiden Journalisten John Barron und Anthony Paul angesehen werden, deren vielbeachtetes Reader’s Digest-Buch schon den Titel Murder of a Gentle Land trägt. Die Strategie wird schon in diesem Titel klar: die Pol Pot-Jahre brechen wie die Apokalypse auf das unschuldige, schlafende Kambodscha herein. „Phnom Penh war eine Stadt der Beschaulichkeit und Ordentlichkeit, eine Stadt von sanftmütigen, lachenden Leuten, eine Stadt von eindrucksvollen Frauen und guter Küche, eine Stadt von leichten Tagen und reizenden Nächten.“ (Barron/Paul 1977, S. 8) Und diese Idylle sei 1975 abrupt von KommunistInnen wie Khieu Samphan beendet worden, dessen hasserfüllter Charakter letztlich auf seine sexuelle Impotenz (!) zurückgeführt werden müsse (ebd., S. 60). Doch abseits dieses dubiosen Vulgär-Psychologisierens stellt sich eine Frage: Warum beginnt bei Barron und Paul die apokalyptische Unruhe, die Zerstörung der Idylle 1975 – und nicht schon 1965, als die USA im Rahmen des Vietnamkriegs damit begannen, Kambodscha mit einer Tonnage von bis zu 3.600 Tonnen Bomben pro Tag in Schutt und Asche zu bomben (Kiernan 1985, S. 350; Owen/Kiernan 2006, S. 62ff.; Shawcross 1979, S. 323)?

Obwohl sich allerdings der Großteil der Flüchtlingsberichte mit der Zeit bestätigte, ändert das meines Erachtens nichts daran, dass die zentrale Diskursstrategie der STV auch heute noch angegriffen werden muss und kann: Das Problem liegt eben in der Vereinheitlichung und Standardisierung der einzelnen Erlebnisse und singulären Ereignisse zu jener großen Erzählung, „wie es wirklich war“, die ganz bestimmt immer gewissen Interessen dient und gedient hat. Diese Ebene hat nichts mit wahren oder falschen „Fakten“ zu tun, sondern mit dem Drumherum der Geschichte, mit dem Warum und Weil, mit dem Mörtel zwischen den Ziegelsteinen.

Beispiele dieser Standardisierung des Diskurses, die in der Verbindung von Flüchtlingsproblem und westlichen Medieninteressen wurzeln (die sich bekanntlich mehr an Verkaufbarkeit interessieren als an der „nackten Wahrheit“), finden sich noch heute mehr als genug. Man schlage nach Belieben einfach ein Buch auf, das sich womöglich ganz allgemein mit „Revolutionen“ auseinandersetzt. Nehmen wir zur Illustration das schöne, weil viele Bilder enthaltende Buch Mark Almonds mit dem klingenden Namen Morgenröte der Freiheit. Die illustrierte Geschichte der großen Revolutionen und folgen wir den – genau zwei – Registerverweisen auf die Roten Khmer. Wir lesen: „[i]n den siebziger Jahren führte der Drang der Roten Khmer in Kambodscha, alle Bindungen an die Vergangenheit zu kappen, zu so absurden Exzessen wie zur Hinrichtung aller Brillenträger“ (Almond 1997, S. 32). Und weiter „[w]enige Jahre später [nach 1982 – AK] prangerte Roland Joffé in ‚Killing Fields’ das brutale und barbarische Vorgehen der Roten Khmer in Kambodscha an, die im Zuge der Durchsetzung ihres ‚Steinzeitkommunismus’ einen in der bisherigen Geschichte der Revolutionen unerreicht hohen Anteil des eigenen Volkes bestialisch abgeschlachtet haben“ (ebd., S. 20). Vergegenwärtigen wir uns für einen Moment das gezeichnete Bild: Eine kleine Gruppe wild gewordener Menschen in schwarzen Pyjamas[8] verspürt – warum auch immer –, den starken „Drang“ die umgebende Gesellschaft in die Steinzeit zurückzukatapultieren, und weil Brillen in der Steinzeit nichts zu suchen hatten deren Träger einfach abzumurksen. Es geht nun nicht darum, die Unschuld der Roten Khmer zu beweisen – man muss aber feststellen, dass es sich bei derartigen Bildern um Standardmythen handelt, die wie immer zum Gegenteil von Erkenntnis beitragen. Mythologisierungen helfen nichts und Niemandem. Bei allem Morden und Töten der Roten Khmer bleibt dennoch nüchtern festzustellen: Es gab keinen Masterplan für irgendeinen „Steinzeitkommunismus“, es wurden nicht „alle BrillenträgerInnen“ hingerichtet und das absolute Gros der Opfer der Khmer Rouge wurde nicht „abgeschlachtet“, sondern starb an Hunger oder Krankheit, hervorgerufen durch die Misswirtschaft, die auf dem Mist der bürokratischen Kommandostruktur jener Militärverwaltung aus Warlords gewachsen ist, die sich „Khmer Rouge“ nannte …

Die Standard Total View blieb jedenfalls bis zum heutigen Tag fester Bestandteil immer wiederkehrender Berichterstattungen über Kambodscha. Man kann sich beinahe sicher sein, dass jeder im Hier und Jetzt veröffentlichte Artikel, der in irgendeiner Weise die Geschichte der Roten Khmer streift, erstens das Abmurksen von Brillenträgern und zweitens jene ominöse Idee eines Steinzeitkommunismus erwähnt. Ein weiteres Beispiel: Kerstin Kohlenberg in Die Zeit vom 16. März 2006: „Umgebracht wurden Intellektuelle oder solche, die so aussahen. Menschen mit Brille oder solche, die sich des Verbrechens, eine fremde Sprache zu sprechen, schuldig gemacht hatten, Städter, Schwache, Fragesteller“ (Kohlenberg, S. 16). Doch die Artikel bleiben meist nicht bei Brillen und Steinzeit stehen. Der letzte Zweck ist der Faschismusvorwurf. Dem interviewten ehemaligen Khmer Rouge-Offizier wird denn auch die Frage gestellt: „Und die 1,7 Millionen Toten, die Killing Fields, die Konzentrationslager – alles nötige Mittel?“ (ebd., S. 15).

Wie neu und innovativ ist doch dieses Diskursmoment – der Bezug auf, wie könnte es denn anders sein, den Nationalsozialismus. Das Rezept? Man verschiebe den Diskurs einfach auf ein Tabu-Terrain und jede Kritikerin wird verstummen. Sofort regt sich ein innerer Widerstand: Frau Kohlenberg hat uns in eine schlimme Lage gebracht, geradezu in eine No-Win-Situation. Die Diskursfalle, von der oben gesprochen wurde, schnappt zu: Ein Wort, und du bist Verbündeter der Täter. Und – du bist praktischerweise nicht einmal „nur“ Verteidiger des Polpotismus, sondern findest dich in den Augen der Zeit im selben Lager wie Le Pen, Haider und Co. Das Traurige dabei – diese Diskursfalle ist so verzwickt, dass die Linke zuweilen mit Kopfsprung ins Fettnäpfchen gesprungen ist, und zum Teil scheinbar mit Freude die Khmer Rouge-Verbrechen zu leugnen versuchte.[9]

Die Linke antwortet: Das Elend des Antiimperialismus

Als einer der zentralen Figuren der Bewegung gegen den Vietnamkrieg in den USA konnte Noam Chomsky nicht an Kambodscha vorbei. Und Chomsky erkannte sehr wohl die Gefahr, in die bereit gestellte Falle zu tappen: Wer die Politik der US-Administrationen kritisiert, wird – das war schon immer so – ins Lager der Pol Pots und Osama Bin Ladens, ins Lager der UnpatriotInnen und KommunistInnen geschoben. In Wirklichkeit wurde diese Falle von niemandem besser beschrieben als von Chomsky selbst: „KritikerInnen der US-Gewalt finden sich diesbezüglich in einer seltsamen Lage wider. Üblicherweise von der Presse ignoriert, entdecken Sie, dass ihr Kommentar in diesem Fall bereits sehnsüchtig erwartet wird, in der Hoffnung, dass sie die Berichte über die Gräueltaten leugnen, sodass dieses Leugnen als „Beweis“ dafür herhalten kann, dass die eingefleischten Apologeten des Kommunismus niemals lernen und niemals ihre schäbigen Anstrengungen beenden werden, die den ehrenwerten Wahrheitssuchenden solche Probleme bereiten […]“ (Chomsky/Herman 1979a, S. 136). Chomsky kennt den Einsatz des Spiels – und dennoch: so wie sich die Flüchtlingsberichte heute nicht mehr leugnen lassen oder leugnen lassen sollten, so lässt sich heute nicht leugnen, dass die Falle auch im Falle Chomskys zuschnappte.

Chomsky war natürlich vorsichtig genug, seine Argumentation vor allem auf die antikommunistische Hetze der Westpresse zu beziehen, die falsch zitiert oder ganz einfach erfindet – und ist somit diskurskritisch, eine großteils gewissenhafte und notwendige Arbeit. Und dennoch: Warum geben sich Chomsky/Herman auf intellektueller Ebene mit Gestalten wie dem – sagen wir nicht sehr „verlässlichen“ – Prinzen Sihanouk ab? Warum das zustimmende Zitieren absurder Bemerkungen eines lächerlichen Pseudomonarchen? Sehen wir uns folgendes Zitat des Prinzen über das Leben im Khmer Rouge-Kambodscha aufgrund seiner ausgesprochenen Schönheit in voller Länge an: „Das Volk arbeitet sehr hart, aber es ist nicht unglücklich. Im Gegenteil: Es lächelt. Und es singt, revolutionäre Lieder natürlich, keine Liebeslieder. Ich ziehe Liebeslieder vor. Ich war Jazzsänger, ich habe viele Liebeslieder komponiert, aber die revolutionären Lieder sind nicht schlecht. Und die Kinder – sie spielen. Sie hatten kein Spielzeug, aber sie konnten rennen, sie konnten lachen. Sie konnten Bananen essen, die es in den Kommunegärten gab, und das Kommuneessen war nicht schlecht, natürlich nicht so gut wie mein Essen in Phnom Penh, aber gut … Sie sind nicht so fett wie ich, aber sie sind auch nicht dürr“ (zitiert in Chomsky/Herman 1979b, S. 89f.). Was soll das? Warum dieses Zitat? Was beweist es? Nicht viel mehr als die völlige Unzurechnungsfähigkeit Sihanouks. Doch das unkritische Zitieren hat für Chomsky/Herman einen anderen Zweck: Es dient tatsächlich dem relativen Freispruch der Khmer Rouge. Chomsky weiter: „Es bleibt jedoch beachtlich, dass Sihanouk ein positives Bild von den Errungenschaften eines Regimes gab, das er verachtete“ (zitiert ebd., S. 90). Sihanouk-Zitate wie das folgende – „Ich bin Patriot. Sie [die Khmer Rouge – AK] sind auch Patrioten… Sie sind mutige Kämpfer – ich will nicht behaupten für die Freiheit, aber für die nationale Unabhängigkeit“ (zitiert ebd., S. 89) – sollten unter kritischen Linken eigentlich die Alarmglocken läuten lassen und die grundsätzliche Frage aufwerfen: Wollen wir kambodschanische patriotische NationalistInnen unterstützen – oder doch lieber Gruppen, deren erster Slogan auf ihrem Banner nicht „Nation“ sondern „Sozialismus“ ist? Es besteht insofern für mich kein Zweifel daran, dass Chomsky zeitweise in die von ihm selbst beschriebene Falle tappte – und diese Falle ist die des dumpfen Antiimperialismus. Die Logik ist tatsächlich binär: „Die Feinde meines Feindes sind meine Freunde“. Schön – aber wo bleibt denn da die Dialektik, meine Herren?

Doch Chomskys Problem zeigt sich in anderen Schriften um einiges deutlicher. Hier soll nicht auf die Tonnen an Material maoistischer K-Gruppen aus den 1970-ern eingegangen werden, Zusammenfassungen finden sich an anderen Stellen.[10] Zur Veranschaulichung der Rolle der Nation in maoistischen Abhandlungen sei vielleicht exemplarisch folgender Satz in Bezug auf Chinas Angriff gegen Vietnam zitiert: „Bei der chinesischen Militäraktion geht es nicht um fremdes Territorium, sondern um eigenes, geht es nicht um die Unterwerfung eines fremden Volkes, sondern um den Schutz des eigenen Volkes“ (die Kommunistische Volkszeitung vom 26. Februar 1979). Die Antwort der „RevisionistInnen“ war allerdings – das sei neutralitätshalber erwähnt – um nichts weniger lustig. In Bezug auf den Einmarsch Vietnams in Kambodscha 1979: „Die Wahrheit ist: Es gab keinen vietnamesischen Einmarsch in Kampuchea. Es gab keine vietnamesische Grenzprovokationen gegen China“ (Unsere Zeitung vom 20. Februar 1979; oh wie schön sind doch die Sätze, die schon mit: „Die Wahrheit ist:“ beginnen …). Folgenschwerer als die kristallklaren Ergüsse durchsichtiger MaoistInnen-Hirne waren allerdings Untersuchungen aus dem Umfeld der amerikanischen und internationalen Antikriegsbewegung, die auch an Faktenmaterial um einiges fundierter waren. Hier begegnet uns die binäre Logik des verflachten Antiimperialismus auf Schritt und Tritt. In ihrem Buch „Cambodia: Starvation and Revolution“ lieferten George C. Hildebrand und Gareth Porter vorerst eine beeindruckende Darstellung der Kriegsereignisse und Kriegsfolgen vor 1975, die sich auf eine Fülle an UNO-, CIA- und US-Regierungsmaterial stützte. Doch das Buch hatte wie so viele andere den kleinen „Schönheitsfehler“ des allzu schnellen Fehlschlusses. Die zwei „hervorstechendsten Merkmale des Landes heute“ – so Porter und Hildebrand – seien „die enorme Zerstörung als Folge der US-Intervention und die bedeutenden Vorteile der landwirtschaftlichen Produktion, die von der NUFK [siehe Kasten – AK] zustande gebracht wurden“ (Hildebrand/Porter 1976, S. 15) – doch diese beiden Seiten des Kambodscha von heute, d. h. natürlich von damals – das Buch wurde, soviel zu seiner Verteidigung, immerhin bereits 1976 veröffentlicht –, haben einfach keinen erkennbaren Zusammenhang. Das Buch bleibt sozusagen insgesamt zwei geteilt: Ein erstes anti-imperialistisches Moment wird von einem zweiten unkritischen Lobhudeln für Pol Pot abgelöst. Die britischen MarxistInnen Malcolm Caldwell[11] und Laura Summers ordneten sich nahtlos in diese Diskursformation ein. Summers hört sich beinahe selbst wie der Große Vorsitzende an, wenn sie schmollend feststellt, dass „[…] die Politik der Selbstbezogenheit und Selbstversorgung auf die blanke Erkenntnis zurückzuführen […] [sei], dass niemand, aber auch niemand in der Welt wirklich bereit war, der kampucheanischen Revolution beizustehen“ (Summers 1981, S. 19). Die Politik der Selbstversorgung (self-sufficiency), nichts anderes als nationalistischer Autarkie-Fetischismus, aus der letztlich sogar offener Rassismus gegen Vietnam hervorging, war allerdings keineswegs einfach nur Sachzwang, sondern vielmehr selbst gewähltes Politikmuster. Warum bitte folgt aus dem absolut legitimen antiimperialistischen, militärischen Kampf gegen die US-Intervention in Südostasien (welcheR Linke zweifelt an dieser Legitimität?) in irgendeiner Weise logisch zwingend die Abkapselung von der gesamten restlichen Welt, und zwar die Abschottung nicht nur vom Westen, sondern auch vom Ostblock und selbst von „Freunden“ wie China und Nordkorea? Kann man denn ernsthaft den Sozialismus in einem Lande wie Kambodscha propagieren, einem vom Krieg vollständig zerstörten, sozial zerrütteten, selbst agrarisch unterentwickelten Land?

Aber kehren wir zum roten Faden zurück. Die westliche Linke, so viel kann zusammenfassend festgehalten werden, unterlag mehr oder weniger vollständig dem seltsamen Drang, dem Holzweg des hohlen Antiimperialismus zu folgen. Die Reaktion der Linken auf die Berichte – sie ganz einfach in einem Akt trotzigen Negierens zu ignorieren oder als bürgerliche Lügenpropaganda abzutun – steht letztlich auf wackligen Beinen. Vieles muss allerdings dem Umstand zugeschrieben werden, dass Informationen über Kambodscha im unmittelbaren intellektuellen Gefecht nicht verfügbar oder schwer zugänglich waren, dass außerdem Degenerationen wie diejenige der Roten Khmer vorher schwer vorzustellen waren. In den 1980-ern bestätigte sich allerdings Schritt für Schritt die Version der meisten Flüchtlinge – Kambodscha war alles andere als das sozialistische Paradies, das es vorgab zu sein. Die Folge waren keine ernsthaften Auseinandersetzungen, aber auch kein reuevolles Fehler-Bekennen (mit der Ausnahme des französischen, ehemals „linken“ Journalisten Jean Lacouture), sondern vielmehr allgemeines Schweigen. Wenn die Wirklichkeit nicht stimmt, dann nimmt das Interesse daran eben ab und nicht zu – Kambodscha geriet, wie später Vietnam und heute China, ganz einfach in Vergessenheit. Schwamm drüber.

Ironischerweise kam es parallel dazu zu einem ebenso starken Verdrängungsversuch von rechts. Pol Pot tauchte auf diplomatischen Dinnerparties nur mehr selten als rotes Schreckgespenst auf – sondern vielmehr als gern gesehener Partygast. Das amerikanische Establishment hatte eine neue Linie: Die Roten Khmer wurden, nachdem sich Vietnam 1979 durch einen Einmarsch in Kambodscha von seinem lästigen Grenzproblem befreit hatte, bis 1989 in der UNO als legitime Vertretung Kambodschas anerkannt. Schließlich war die Domino-Theorie ja immer noch nicht vom Tisch – und eine vietnamesisch gestützte Regierung ging den USA dann auch wieder zu weit. Denn schließlich war Vietnam ja (frei nach Wolf Haas) immer schon ein bisschen ding, ein bisschen gefährlich, und der andere „Kommunist“ schlachtet wenigstens nur die eigenen Leute ab, und wenn andere, dann nur ausländische KommunistInnen, das muss man ihm auch wieder zugute halten. So im Übrigen sogar die Tiroler Tageszeitung: „Das alles beweist nicht, dass Pol Pot ein Unschuldslamm war. Aber wenn Kommunisten ihrem Glauben abschwören, dann ist dies zumindest eine Untersuchung wert“ (Ch. Pilz, abgedruckt in Fischer 1986, S.  31). Und deshalb anerkennt die UNO, die Pol Pot dann scheinbar auch „genauer“ untersucht hat – auf Drängen der neuen breiten Volksfront China-USA-ASEAN-Tiroler Tageszeitung – von 1979 bis 1989 „Democratic Kampuchea“, sprich die Pol Pot-Clique. Dass der Einmarsch vietnamesischer Truppen vielen Berichten zufolge von der kambodschanischen Bevölkerung als Befreiung erlebt wurde, ist natürlich völlig egal. Denn seine Einstellung zur „Demokratie“ hat Henry Kissinger, selbst bekanntlich nicht so ganz unbeteiligt am Vietnamkrieg, schon vor Jahren – in Bezug auf Chile – sowohl ausdrücklich, als auch eindrücklich erklärt: „Ich sehe nicht ein, warum wir es zulassen sollten, daß ein Land infolge der Verantwortungslosigkeit seines eigenen Volkes kommunistisch wird“ (Kissinger, zitiert in Shawcross 1979, S. 332). Und das alles ist natürlich diplomatisch notwendig, aber auch ein bisschen peinlich – und Schweigen daher die berühmte Mutter der Porzellankiste. Die 1980-er Jahre breiteten also allgemein einen Teppich des Schweigens über die Ereignisse in Kambodscha. Betrachten wir abschließend jenen Diskurs-Elefanten, der zaghaft und unbeholfen, aber nicht ohne ungewollten Witz, dieses globale „Schweigen der Lämmer“ zu durchbrechen versuchte …

Der Osten ist rot?

Die Notwendigkeit, eine Erklärung für die ungeschickten Staatsgeschicke der Khmer Rouge zu finden, zeichnete sich im Osten natürlich erst mit den zunehmenden Spannungen an der kambodschanisch-vietnamesischen Grenze ab. Aus heutiger und marxistischer Sicht dürfte klar sein, dass es sich bei diesem Konflikt nicht wirklich darum gehandelt hat, den einen Fluss oder die andere Palme einem der beiden Staatsgebiete „einzuverleiben“. Ebenso wenig kann davon ausgegangen werden, dass der Einmarsch Vietnams 1979 einzig und allein „dem Wohlergehen des kambodschanischen Volkes“ dienen sollte. Der Sinn der Übung war vielmehr wie ein erboster Familienpatriarch in einem österreichischen Bergbauernhof mit der Faust auf den Tisch zu schlagen und die nervigen Kinder mit den Worten in die Schranken zu weisen: „A Ruah isch jetz då“. Und diese Grenzruhe war ja beinahe immer schon ein Bedürfnis „sozialistischer“ Staaten, seit Churchill und Stalin Zettelchen mit Rumänienanteilen gegen Aktien an Griechenland austauschten, seit Deng Xiaoping und Co in Genf 1954 denselben Sicherheitsgürtel auch für sich beanspruchten und die glorreiche Idee hatten, Vietnam entlang eines geografischen Breitengrades zu teilen.[12] Und im Rahmen dieser Sicherheitsdoktrin passte es der Vietnamesischen KP irgendwie gar nicht, dass ihr der kleine kambodschanische Bruder permanent ans Bein pinkelte. Wie auch immer – nach 1979 musste auf jeden Fall eine Rechtfertigung für den Einmarsch her; und diese Legitimierung wollen wir uns kurz genauer ansehen …

Die Antwort auf die Frage, wie so etwas wie Pol Pot denn überhaupt möglich war, geben beispielsweise die beiden DDR-Dokumentarfilmer Walter Heynowski und Gerhard Scheumann in ihren beiden Filmen Kampuchea. Sterben und Auferstehen und Die Angkar: Die Behauptung von Pol Pot/Ieng Sary, ihre Partei sei eine kommunistische Partei, das ist eine Lüge, eine Fälschung“ (Heynowski/Scheumann 1980, S. 61). So einfach ist das also. Doch die Frage, warum die Partei die Lüge eigentlich schluckte, bereitet den beiden dann doch Kopfzerbrechen. Doch auch hier ist die Antwort leicht gefunden: „Es sind ja diese Pol Pot/Ieng Sary mitsamt ihrer Clique nur deshalb zum Zuge gekommen, weil sie es verstanden, sich in eine seit 1930 vorhandene revolutionäre Bewegung einzuschleichen“ (Heynowski/Scheumann 1981, S. III). Wie dieses Einschleichen falscher Schlangen funktioniert hat – oder anders gefragt, warum eine erfahrene revolutionäre Bewegung dieses Einschleichen von Konterrevolutionären nicht bemerken konnte – wird nicht hinterfragt. Natürlich sind sie geschickte Demagogen, die Pol Pots und Ieng Sarys, „geschickte Taktierer, die sie waren, wendig in Haltung und Rede“ (ebd., S. 29). Das DDR-Gegenrezept zur imperialistischen Gerüchteküche: Eine Brise Demagogie und ein bisschen Mord hinzu, und schon geht die getäuschte revolutionäre Bewegung in Bausch und Bogen flöten. Doch das verzwickte Problem lässt sich nicht so einfach lösen; Demagogie ist eine unzureichende Antwort auf die Frage – vermutlich deshalb werden ihre beiden Filme in der DDR nie ausgestrahlt. Könnten brave DDR-BürgerInnen, denen man erklärt, dass so etwas wie ein Einschleichen von Volksfeinden in eine kerngesunde Kommunistische Partei überhaupt möglich ist, nicht doch auf dumme Gedanken kommen?

Doch zurück zum Problem – fragen wir doch die sowjetischen Genossen, die mit Vorliebe Bildbände publizieren. Die Fremdkörper-Story der Schlangen Pol Pot und Ieng Sary klingt bei Yevgeni Kobelev und Nikolai Solntsev folgendermaßen: „Im April 1975 stürzten die patriotischen Kräfte Kampucheas […] die herrschenden pro-imperialistischen Verräter [die die Sowjetunion diplomatisch unterstützt hatte – AK]. Endlich wurde der Nation die Möglichkeit gegeben, ein neues, friedliches Leben zu leben. Doch die Ereignisse im Land nahmen bald eine unvorhersehbare Wende gegen den Willen der Menschen und des Zentralkomitees der KPRP [sic![13]]. Eine Woche nach der Befreiung Phnom Penhs landete ein Flugzeug mit zwei Führern des extrem nationalistischen Flügels der KPRP, Pol Pot und Ieng Sary […]. Sie verlegten sich auf schamlose Demagogie und Terror, um in der Partei und im Land an die Macht zu kommen. Sie herrschten beinahe vier Jahre lang, und ihr Genozid-Regime vernichtete Millionen Menschen und warf die Ökonomie des Landes um mehrere Jahrzehnte zurück“ (Kobelev/Solntsev 1988, S. 23). Wieder also keine Antwort der Genossen auf die Frage, wie die beiden Teufel an die Macht kommen konnten. Mehr noch – man versucht sich aus der Affäre zu ziehen, indem man die Antihelden mit dem Flugzeug auf die Bühne treten lässt (woher?). Die Argumentation hängt in der Luft: Gute Partei befreit das Land – Auftritt: böse Buben im Flugzeug – Fazit: Partei und Staat werden böse – Genozid. Wieder klingt die Sache dünn und unglaubwürdig. Die fehlende Analyse wird aus diesem Grund bald durch diverse Etikettierungen des Khmer Rouge-Regimes ersetzt, die keinen Zweifel an der Bösartigkeit lassen sollen: Es geht um ein „diktatorisches, militärisches und faschistisches Regime, das in seiner Grausamkeit in der Geschichte unübertroffen“ ist (Deklaration der Kampuchea National United Front For National Salvation[14], in Kobelev 1987, S. 13).

Die Sache kann so nicht gelöst werden, weiß Genosse Malik Hag in seiner Diplomarbeit über besagte Herren Heynowski und Scheumann – und bietet auch gleich die Lösung an: „Im ‚Namen des Kommunismus, der Revolution’ hat eine Clique versucht, die Partei und ihre Kader auszurotten. Das ist eine Warnung an jede Partei vor den Verrätern innerhalb der Partei selbst“ (Hag o.J., S. 10); und derselbe Gedankengang noch einmal an späterer Stelle: „Daraus zieht er [der Film Heynowskis/Scheumanns – AK] diese Lehre vom ‚Einschleichen’ des Pol Pots/Ieng Sarys in die revolutionäre Bewegung Kampucheas, gibt sie wieder als Warnsignal – historisch begründet durch die Erfahrung im Vietnam-Krieg, durch die Machenschaften der Hitlerpartei, die sozialistisch genannt wurde, durch den Terror der unter Hammer und Sichel praktizierenden Roten Brigaden“ (Hag o.J., S. 16). Langsam wird die Richtung klar: Die Partei war zwar vor 1975 durchaus gesund – aber leider zu wenig wachsam. Versucht wird nicht nur das Reinwaschen von jeder Verantwortung für das Pol Pot-Regime (Abwälzen auf China), sondern darüber hinaus auch noch, mit dem Mythos vom „Einschleichen“ von Feinden in die Bewegung die Säuberungen der Kommunistischen Parteien zu rechtfertigen! Hier zeigt sich die Schnittstelle der „alten“ stalinistischen Logik mit der „Polpoterei“: Die Logik der Säuberungen, das Gerede von der „reinen und puren“ marxistisch-leninistischen Bewegung, die Pol Pot überhaupt erst in die kambodschanische kommunistische Bewegung eingeführt hat, wird bei Hags, Heynowskis, Kobelevs und Co die Lehre aus der Pol-Pot-Erfahrung für andere kommunistische Parteien.

Die Ursache des Übels wird hier zum Heilmittel gegen das Übel erklärt. Das Problem war nicht die paranoide Wachsamkeit der Khmer Rouge, sondern im Gegenteil – ihre zu geringe Wachsamkeit! Und die Logik lässt sich problemlos erweitern: Das Übel ist nicht der absurdeste aller rassistischer Nationalismen, der jemals von einem so genannten „sozialistischen“ Regime hervorgebracht wurde – sondern umgekehrt ihr mangelnder Patriotismus! Im Kampuchea Dossier, das 1978 in Hanoi herausgegeben wurde, um über die Spannungen mit Kampuchea zu informieren, liest man mit aufgestellten Nackenhaaren folgenden Kommentar zur Khmer Rouge-Politik der „Souveränität, Unabhängigkeit und des Prinzips, auf seine eigene Kraft zu vertrauen“: „Aber sie vergessen, dass in unseren Zeiten eine derartige Politik Hand in Hand gehen sollte mit der Achtung vor der Unabhängigkeit, Souveränität und territorialen Integrität anderer Länder. Wahrer Patriotismus impliziert notwendigerweise Internationalismus“ (Vietnam Courier (Hrsg.) 1978, S. 16). Der Rat des „großen Bruders“: Kampuchea muss nicht weg, sondern wieder hin zu einer unabhängigen Politik der Autarkie! „Hoffen wir, dass die Autoritäten in Phnom Penh zu einer Realisierung ihrer Fehler kommen und wieder eine Politik echter Unabhängigkeit unterstützen. Sie müssen an die realen Interessen ihres Landes und ihres Volkes denken – Nachbarn, die immer schon Brüder des Vietnamesischen Volkes waren – und den Weg des Friedens und der Freundschaft wählen, den die Sozialistische Republik Vietnams ihnen vorgeschlagen haben“ (ebd., S. 18).

Wieder einmal sind wir an jener Grenze von nationalistischem Irrsinn und moralisch-theologischem Gesäusel angelangt, die einer aus Lachen und/oder Weinen die Tränen in die Augen drückt. Eines können wir allerdings mit Bestimmtheit sagen: Die ostblöckische Doktrin vom „wahren Patriotismus“ stellt keine ernst zunehmende Alternative zum geeinten westlichen Schweigen dar.

Pol’s Plot. Oder: Was ist rot an den Roten Khmer?[15]

Fassen wir die oben erwähnten drei Diskursstränge noch einmal zusammen. Da war erstens jene Fraktion reisserischer Massenmedien, denen keine Story zu schlecht (Stichwort: BrillenträgerInnenmassaker) und kein Vergleich – wie der mit dem Nationalsozialismus – zu weit hergeholt war. Da gab es zweitens jene Antwort der Linken, die im Plus-Minus-Spiel des dumpfen Antiimperialismus haften blieb und sich, wie einst die „Freunde der Sowjetunion“, mit Feuer und Flamme der Rationalisierung der Khmer Rouge-Politik verschrieb und somit theoretisch auf jenem Boden argumentierte, den Leo Trotzki seinerzeit treffend als „Sozialismus für radikale Touristen“ beschrieben hat. Und drittens fanden wir schließlich die altbekannte Schule östlicher Weisheit, die das gesellschaftliche Phänomen Khmer Rouge auf die Demagogie zweier „Führer“ reduziert – und letztlich ebenfalls dazu tendierte, diese mit den Stempeln „Steinzeitkommunisten“ und „Faschisten“ zu versehen.[16] Und gerade hier begegnet uns eine gewisse terminologische Übereinstimmung zwischen den unterschiedlichen Diskurs-Parteien, die bei näherem Hinsehen rein formale Ähnlichkeiten bei weitem übersteigt. Alle drei Positionen – so unterschiedlich auch die politische Einstellung der einzelnen VertreterInnen war – argumentieren auf einem einzigen Terrain: Westliches Medienkapital und östliche Geschichtsfälscherschule schmiedeten sich in einer einzigartigen Koalition zu jenem diskursiven Einheitsbrei zusammen, der in Bezug auf die Khmer Rouge seit Jahrzehnten „Faschismus!“, „Konzentrationslager!“ und „Steinzeitkommunismus!“ ruft. Die Mainstream-Linke antwortete darauf im Rahmen einer einfachen Negation der Behauptungen, die – wie nach dem oben angeführten klar sein dürfte – sich insofern innerhalb der Grenzen des Diskurses bewegt, der diktierten Logik der STV erliegt und keinesfalls eine Terrainverschiebung des Diskurses bedeutet.

Inwiefern sind sich nun alle drei Diskursfraktionen gleich? Erstens erliegen sie alle der Logik der Reduktion der Ereignisse auf gewisse empirische Einzelaspekte – ob Brillen, deren TrägerInnen hingerichtet werden, oder Schlangen, die sich in die gesunde Bewegung einschleichen. Zweitens liegt neben der Reduktion auf empirische Einzelheiten oder Einzelschicksale auch in allen Fällen eine theoretische Reduktion vor; das Phänomen Khmer Rouge wird mit einem vereinheitlichenden Etikett irgendeiner „Ideologie“ versehen. Diese Ideologie wächst aber nicht irgendwie zusammen, sondern ist immer-schon-gegeben. Ob Kommunismus, Steinzeitkommunismus, Agrarkommunismus, Faschismus, Kollektivismus, Populismus, Romantizismus, Bauern-Fetischismus oder was auch immer – in jedem Fall tritt zuerst die Ideologie aufs Parkett, dann deren „Umsetzung“. Unterstellt wird der Masterplan, damit aber auch die „immer schon gegebene“ und ewig gleiche kommunistische Teufelsbrut oder faschistische Demagogie-Partie. In keinem Fall wird auch nur in irgendeiner Weise primär auf die Frage der Unterstützung und Legitimation der Roten Khmer eingegangen, auf die Frage nach der gesellschaftlichen Resonanz der politischen Entscheidungen, auf die Frage nach der Stärke oder Schwäche des Regimes, kurz – auf die Frage der Klassenkämpfe im „Sozialismus“. Drittens werden die Ereignisse in Kambodscha in allen Fällen unter dem Mantel der „Revolution“ behandelt, das heißt die Richtung bleibt gleich. Die Gewalt und Gewaltsamkeit, die Brutalität der Khmer Rouge erscheinen als Begleiterscheinung der Revolution, als entweder notwendiges Übel, bedauerliche Nebensache oder logische Folge kommunistischer Revolutionen schlechthin. Die Gewalt ist also immer revolutionäre Gewalt. Der Prozess erscheint immer als ein einziger, die Richtung des Prozesses gleichgerichtet. Viertens folgt aus der gleichgerichteten Umsetzung irgendeiner Ideologie die These von der Allmacht der Partei, von der Omnipotenz des Akteurs. Denn die Umsetzung des Masterplans kann nur gelingen, wenn die Partei oder deren Führer tatsächlich uneingeschränkte Macht genießen. Die immer-schon-gegebene „Ideologie“ wird konsequent und Schritt für Schritt, gnadenlos und zielgerichtet in die Tat umgesetzt. Fünftens erscheint dieser Masterplan somit als diabolischer Wahnsinn, als willkürlicher Irrsinn, als schlichte Irrationalität. Denn wenn es schon immer das Ziel der Khmer Rouge war, drei Millionen Menschen abzuschlachten – wie von den meisten TeilnehmerInnen der Debatte tatsächlich behauptet wird –, dann wird sich wohl kaum jemand finden, der diesem Plan irgendeine Rationalität unterstellen wird.

Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Phänomen Khmer Rouge müsste meines Erachtens alle fünf Punkte in Bausch und Bogen verwerfen – daher aber auch aus allen drei Diskursfraktionen ausbrechen. Die Interpretation „böse Idee – böse Buben – böse Umsetzung – Katastrophe“, ebenso wie die umgepolte Pseudo-Alternative „gute Idee – gute Buben – gute Umsetzung – Paradies“ machen ganz einfach keinen Sinn. Das Phänomen Khmer Rouge müsste in seiner ganzen gesellschaftlichen und vor allem internationalen politischen Komplexität begriffen werden. Eine Reduktion der Ereignisse auf ein einzelnes Detail verliert den Blick auf die Gesamtheit und Komplexität der Ereignisse und endet über kurz oder lang – mit der Diabolisierung der Akteure – bei der theoretischen Kapitulation vor den Ereignissen, die als unerklärliches Irrationales erscheinen.

Die „Brillenträger-Problematik“ bietet sich hier als Beispiel an. Was ist das Problem an der Version der hingerichteten Brillenträger? Wie oben festgestellt, dürfen wir uns nicht auf eine einfache Negation beschränken – á la „Es wurden keine Brillenträger hingerichtet“. Diese Negation ist ebenso falsch wie die Behauptung selbst. Das „Problem“ an derartigen Diskursstrategien liegt anderswo. Kehren wir noch einmal kurz zum Gaskammer-Diskurs zurück: Wie die Ermordung von Brillenträgern in Kambodscha ein Faktum ist, so ist auch die Ermordung von Millionen von Menschen in den Gaskammern des Konzentrationslagersystems des deutschen Faschismus ein unbezweifelbares Faktum, Punkt – mögen aus den Sümpfen der Regierungen Mitteleuropas auch noch so viele braune Rülpser aufstoßen. Aber die Reduktion des Phänomens Faschismus auf das Phänomen Gaskammer ist eine ganz andere Sache, und außerdem viel beliebter als das dumpfe Leugnen des Holocausts: Sie „vergisst“ ganz nebenbei auf die Ausbeutung der Arbeitskraft der KZ-Häftlinge für die nationalsozialistische Kriegswirtschaft. Sie „vergisst“ darauf, dass Krupp, Siemens, IG-Farben, Steyr-Daimler-Puch und das ganze Who-is-Who des deutsch-österreichischen Kapitals eigene „Nebenlager“ der großen Konzentrationslager besessen haben, Millionen-Profite scheffelten – und niemals wirklich dafür verantwortlich gemacht wurden. Genauso vergisst der „Brillenträger-Diskurs“ darauf, dass die absolute Mehrheit der im oben erwähnten Toul Sleng-Kerker inhaftierten Personen keine Brillen trug, sondern zumeist Mitgliedsausweise der Kommunistischen Partei Kampucheas.

Und die Mitgliedsausweise der getöteten Kader zu vergessen heißt, KommunistInnen mit dem Etikett „Mensch“ zu überschreiben. Plötzlich scheint es, dass sie nicht mehr als tatsächliche oder potentielle kommunistische Oppositionelle ermordet wurden, sondern „als Menschen“. Und diese Vernichtung von „Menschen“ ist ein unerklärliches, irrationales, diabolisches, irrsinniges und absolut willkürliches Ereignis einer unpersönlichen Maschine. Diese Diskursstrategie hat die Funktion, „die Roten Khmer“ zur allmächtigen Teufelsmaschine zu machen, deren Totalitarismus totaler gewesen sei als alles sonst. Die Roten Khmer werden dabei absurderweise vereinheitlicht, sogar postwendend vereint, ihrer Maschine entkommt niemand, der Brillen trägt …

Der hier nachgezeichnete Irrationalitätsdiskurs resultiert, soviel kann zusammenfassend und etwas pauschalisierend gesagt werden, stets aus einer verkürzten Sicht auf die gesellschaftlichen Kräfte, die hinter den Phänomenen werken und wirken. Sie sind es letztlich – salopp formuliert –, die die Teufelsmaschine erbauen. Doch wer und was diese gesellschaftlichen Kräfte waren, warum sie gerade so wirkten und nicht anders, wie die geschilderten Fallen zu umgehen, die Klippen zu umschiffen sind und das obige Fünf-Punkte-Programm zu einer einleuchtenderen Analyse der Ereignisse transformiert werden kann, kann hier nicht weiter behandelt werden. „The fascicts“, sprach der slowenische Philosoph Slavoj Zizek einst bei einem Vortrag in Wien sinngemäß, „were bad guys doing bad things – what a surprise. But the communists – those were good guys doing bad things. How is this possible?“. Eine mögliche Annäherung an diese linke Gretchenfrage für Kambodscha muss auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden.

E-Mail: andreas.kranebitter@gmx.at

Zitierte Literatur:

Mark Almond: Morgenröte der Freiheit. Die illustrierte Geschichte der großen Revolutionen, Rheda-Wiedenbrück: Club Bertelsmann 1997.

John Barron, Anthony Paul: Murder of a Gentle Land. The Untold Story of Communist Genocide in Cambodia, New York : Reader’s Digest Press 1977.

David Chandler: Voices from S-21. Terror and History in Pol Pot’s Secret Prison, Berkeley: University of California Press 1999.

Mao Chhay: Cambodian refugee tells tragedy, in: Lebanon Express, published in Lebanon, Oregon (o.J.), in: People’s coalition against the Supression of Truth (Hrsg.): Classicide in Cambodia, Cornell Kroch Library, Division of Rare and Manuscript Collections, Call Number #6514.

Noam Chomsky, Edward Herman (1979a): After the Cataclysm. Postwar Indochina & The Reconstruction of Imperial Ideology, in: The Political Economy of Human Rights, Volume II,  Boston: South End Press 1979.

Noam Chomsky, Edward S. Herman (1979b): Indochina und die imperiale Ideologie, in: Kursbuch, Berlin: Kursbuch/ Rotbuch 1979, Nr. 57, S. 85-97.

Gero Fischer, Erwin Riess (Hrsg.): Der Befreiungskampf Indochinas, in: Der Streit, 6. Jahrg., Nr. 27/28, Februar 1986.

Malik Hag: Die Grundidee und ihre Realisierung durch die Gestaltungsmittel als Ausdruck der Parteilichkeit im revolutionären Dokumentarfilm; abgehandelt an den Beispielen „Kampuchea. Sterben und Auferstehen“ und „Die Angkar“ von Heynowski und Scheumann (Diplomarbeit).

Walter Heynowski, Gerhard Scheumann: Die Angkar, Berlin: Montagebuch Studio H&S 1981.

Walter Heynowski, Gerhard Scheumann: Kampuchea. Sterben und Auferstehen, Berlin: Montagebuch Studio H&S 1980.

George Hildebrand, Gareth Porter: Cambodia. Starvation and Revolution, New York/London: 1976.

Ben Kiernan: The Pol Pot Regime. Race, Power, and Genocide in Cambodia under the Khmer Rouge, 1975-1979 , New Haven/London: Yale University Press 2002.

Ben Kiernan: How Pol Pot Came To Power. A History of Communism in Kampuchea, 1930-1975, London: Verso 1985.

Yevgeni Kobelev, Nikolai Solntsev: Kampuchea. Rising from the ashes, Moskau: Planeta Publishers 1988.

Yevgeni Kobelev (Hrsg.): Kampuchea: from Tragedy to Rebirth, Moskau: Progress Publishers 1987.

Kerstin Kohlenberg: Ein mörderisches Erbe, in: Die Zeit, Nr.12, 16. März 2006, S. 16-18

Henri Locard: Pol Pot’s Little Red Book. The Sayings of Angkar, Chiang Mai: Silkworm 2004.

Taylor Owen/Ben Kiernan: Bombs Over Cambodia, http://www.yale.edu/cgp/Walrus_CambodiaBombing _OCT06.pdf, 27.11.2006.

Francois Ponchaud: Cambodia Year Zero New York, New York: Holt, Reinhart and Winston 1978.

William Shawcross: Schattenkrieg. Kissinger, Nixon und die Zerstörung Kambodschas,  Berlin/Frankfurt am Main/Wien: Ullstein Verlag 1979.

Laura Summers: Versuch zu einer realistischen Einschätzung der Ereignisse in Kampuchea unter Pol Pot, in: Laura Summers, Robert Detobel, Reinhart Kößler: Kampuchea. Ende des linken Traums oder Beginn einer neuen Sozialismus-Debatte? München: Verlag Simon & Magiera 1981.

Michael Vickery: Cambodia: 1975-1982, Singapore: 1984.

Vietnam Courier (Hrsg.): Kampuchea Dossier, Hanoi: 1978ff.

Ein Überblick über die Ereignisse in Kambodscha:

1863-1953: Kambodscha ist französisches Protektorat. Mehr noch als in Vietnam beschränkt sich der französische Kolonialismus auf die Ausbeutung der Rohstoffe; sozial und kulturell wird eine immense Rückständigkeit produziert. 1889 gibt es in Kambodscha ganze 23 LehrerInnen, 1900 sinkt die Zahl auf 7 (Kiernan 1985, S. xiii).

1941-1945: Japan überfällt Indochina; französisch-japanische Co-Regentschaft.

1945-1953: Antikolonialistische Truppen der Khmer Issarak und National United Front (KP Indochinas) regieren bereits mit Unterstützung des Vietminh über mehr als die Hälfte des Territoriums Kambodschas. 1953 entlässt Frankreich Kambodscha in die Unabhängigkeit: Prinz Norodom Sihanouk wird nun (obwohl schon 1941 gekrönt) der erste König der „unabhängigen“ Monarchie.

1954: Ende des I. Indochinakrieges (antikolonialer Krieg gegen Frankreich) durch die Genfer Konferenz zur Korea- und Indochinafrage. Die Sowjetunion und China, sowie in deren Gefolge der Vietminh, stimmen einer Teilung Vietnams in Nord und Süd und dem Abzug der Vietminh aus Kambodscha zu.

1954-1970: Die USA übernehmen die Rolle Frankreichs als Lokalimperialist. Sihanouk „verselbständigt“ sich bald und versucht durch prinzipienlosen Opportunismus politisch zwischen den diversen Interessen verschiedener Bevölkerungsschichten und international zwischen Ost und West zu manövrieren. Dies zwingt ihn u.a. dazu, sich als „buddhistischen Sozialisten“ zu bezeichnen und in den 60er-Jahren Banken und Konzerne zu verstaatlichen. Er wird von der UdSSR, China und Vietnam diplomatisch und sogar militärisch unterstützt – mit Waffen, die er innenpolitisch gegen die kommunistische Bewegung in Kambodscha richtet. Nach einer BäuerInnen-Revolte u.a. in Samlaut 1967, die blutig niedergeschlagen wird, beschließt die Kommunistische Partei Kampucheas, den bewaffneten Kampf aufzunehmen – gegen Forderungen Vietnams und Chinas. Die Roten Khmer und ihr Konflikt mit der Vietnamesischen KP erstarken.

1970-1975: In einem rechten Militärputsch mit vermutlicher US-Beteiligung wird Sihanouk von Lon Nol gestürzt. Er steigt auf Pekings Angebot einer Volksfront mit den Khmer Rouge ein („NUFK“ bzw. „FUNK“). Die USA treiben vietnamesische Truppen tiefer nach Kambodscha und weiten den Vietnamkrieg auf Kambodscha aus. Unter zynischen Decknamen wie „Lunch“, „Dinner“ und „Breakfast“ werden zuerst verdeckt, dann bis 1973 recht offen über 500.000 Tonnen Bomben auf Kambodscha abgeworfen (Shawcross 1979, S. 323), nach neuesten Berechnungen sogar 2.756.941 Tonnen (Owen/Kiernan 2006, S. 63), also 17 mal soviel wie auf Japan im Zweiten Weltkrieg. Dennoch können die USA den Krieg in Indochina (II. Indochinakrieg) nicht gewinnen. Am 17. April 1975 fällt Phnom Penh in die Hände der Khmer Rouge.

1975-1979: Die Jahre des Khmer Rouge-Regimes. Im Namen der Autarkie werden alle größeren Städte Kambodschas „evakuiert“. Die städtischen Schichten, darunter auch Hunderttausende IndustriearbeiterInnen, werden in Kommunen reorganisiert und zur Feldarbeit gezwungen. Durch das Chaos der Kollektivierung, d.h. der Militarisierung der Landwirtschaft, kommen ca. 1,7 Millionen Menschen v.a. durch Hunger und Krankheiten um. Innerhalb der Khmer Rouge regt sich Widerstand, der größte bewaffnete Aufstand geschieht 1978 in der Ostzone des Landes, aber auch im Westen und Norden wird gegen Pol Pot’s Politbüro rebelliert. Mit Hilfe diverser Warlords gelingt es dem „Zentrum“, die Aufstände blutig zu ersticken, die Todesopfer gehen in die Hunderttausende. Im Foltergefängnis Toul Sleng werden die Niederschlagungen mit innerparteilichen Säuberungen ergänzt: Zwischen 14.000 und 20.000 „Kader“ werden hier verhört und anschließend hingerichtet (Chandler 1999, S. 7ff.).

1979-1989: Nach lang andauernden Grenzscharmützeln entschließt sich Vietnam am 25. Dezember 1978 zum Krieg gegen das Khmer-Rouge-Regime (III. Indochinakrieg). Am 7. Jänner fällt Phnom Penh. Die geflüchteten Khmer Rouge bilden mit Sihanouk und dem rechtsgerichteten Son Sann erneut eine „Volksfront“ Marke Peking-USA, die bis 1989 als legitime Vertretung in der UNO anerkannt wird.

1989-1991: Friedensverhandlungen, an denen die Roten Khmer auf Drängen der USA und Chinas als gleichberechtigter Partner teilnehmen.

1991-1993: Die UNO verwaltet mit der Mission „UNTAC“ Kambodscha. Die Entwaffnung der Khmer Rouge gelingt nicht.

Seit 1993: Kambodscha ist wieder eine konstitutionelle Monarchie; 1998 wird Pol Pot, nachdem er seinen ehemaligen Verteidigungsminister Son Sen samt Familie hinrichten ließ, von seinem bis dato treuesten Warlord Ta Mok (gestorben 2006) verhaftet und hingerichtet. Die meisten hohen Khmer Rouge-Kader hatten bis dahin bereits unter Gewährung vollständiger Amnestie nach dem Motto „Don’t blame me, it was my prime minister“ kapituliert. Erst heute, nach dem Tode der meisten hohen Kader, zeichnet sich ein Tribunal gegen die Khmer Rouge ab. Die soziale Misere der Bevölkerung ist so groß wie eh und je. Landvertreibungen, Kinderarbeit, AIDS und ungeheure Arbeitsbedingungen in der (Textil-) Industrie stehen an der Tagesordnung. Kambodscha ist – ein „normales“ Entwicklungsland.


[1] Sämtliche Zitate englischsprachiger AutorInnen wurden von mir behelfsmäßig ins Deutsche übersetzt.

[2] Aufschlussreich sind diesbezüglich auch die Interviews der DDR-Dokumentarfilmer Walter Heynowski und Gerd Scheumann mit ehemaligen Khmer-Rouge-Kadern, unter anderem Ieng Sary, damals Außenminister, den die verblüfften Ostdeutschen nicht mit „Genosse“ anreden dürfen, sondern nur mit „Exzellenz“: F.: Wenn weder Sie, Exzellenz, noch Seine Exzellenz Pol Pot, noch die Regierung insgesamt für den Massenmord verantwortlich sind – wer ist es dann? (on) A.: Wir waren nicht wachsam genug, wir kannten zuwenig das Leben an der Basis. So konnten die Morde vorkommen. Insofern tragen wir Führer die Verantwortung. (off) Die Mörder aber waren Agenten der Vietnamesen. (on) Das ist sonnenklar“ (Heynowski/Scheumann 1981, S. 151f.).

[3] Auf die unterschiedlichsten Varianten einer Staatskapitalismus-Theorie für die so genannten Sozialismen kann und will ich hier nicht eingehen. Ohne die Antwort kennen zu wollen, was diese Gesellschaften nun wirklich waren, wird in diesem Artikel vorausgesetzt, dass es sich bei diesen um „etwas Anderes“ handelt und gehandelt hat, und zwar fundamental Anderes und damit auch nicht „staatskapitalistisches“ Anderes.

[4] Die Diskussion wissenschaftlicher Arbeiten über die Roten Khmer würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Meines Erachtens kann behauptet werden, dass der Großteil derartiger Werke in historiografisch-empirischen Beschreibungen hängen bleibt und nur selten breitere Analysen wagt. Dort, wo Theoretisierungen der Ereignisse versucht werden, verbleiben die AutorInnen oft in den drei beschriebenen Diskursfraktionen oder arbeiten zuweilen mit dem analytischen Instrumentarium herrschender Paradigmen der Geschichtswissenschaften – wie z.B. der Totalitarismustheorie. Viele der AutorInnen, die sich heute wissenschaftlich mit den Khmer Rouge beschäftigen, entstammen allerdings den diversen Fraktionen der radikalen Linken.

[5] Die folgenden Zitate entstammen den Mikrofiche- und Mikrofilm-Archiven in Yale – Yale University Library with the Documentation Center of Cambodia (DC-CAM): Khmer Rouge Top Secret Santebal (S-21) Archives, D-Collection (in diesem Fall Dokument D16468) – sowie der Cornell University – Cornell Kroch Library und Division of Rare and Manuscript Collections.

[6] Die letzte Behauptung bezieht sich vermutlich auf ein „gefaketes“ Interview der italienischen Zeitschrift Famiglia Christiana mit dem Khmer-Rouge Staatspräsidenten Khieu Samphan. Dieses Interview, das v.a. Barron/Paul ausschlachten, hat nach Francois Ponchaud gar nicht stattfinden können (D17339, s.u.).

[7] Ponchaud im O-Ton: „Mir sind die Grenzen meines Werks bewusst“ (Francois Ponchaud an John Barron, 30. Juni 1978, D17339). Als Beurteilung des Barron/Paul-Buches genügt im Übrigen folgendes Zitat Ponchauds aus demselben Brief: „Ich werde das Faktum nicht verschweigen, dass mir Ihr anti-kommunistisches Buch missfällt. Auch der Mangel an politischer Analyse, der Mangel an Geschichts-Hinweisen und Details zur Kultur Kambodschas, das Schweigen über die skandalöse Politik Frankreichs und der USA, die zum Teil für die gegenwärtige Krise verantwortlich sind“ (ebd.).

[8] Khmer Rouge-SoldatInnen trugen meist schwarze Pyjamas, „Ho-Chi-Minh“-Sandalen und karierte Tücher. Es ist allerdings wichtig die revolutionären „Dress-Codes“ festzuhalten, zumal die Khmer Rouge auch von Flüchtlingen scharf intern differenziert wurden. Die Ostzonen-Khmer Rouge, die um einiges milder und „sanfter“ gewesen sein durften, trugen beispielsweise lange grüne Khaki-Uniformen.

[9] In Einzelfällen führte der Weg von diesem Leugnen sogar zum Leugnen des Holocausts: Einer der bedeutendsten französischen BeobachterInnen Kambodschas war Serge Thion – Autor mehrere Bücher über Kambodscha, der in den 70er-Jahren in diversen marxistischen und linken Zeitschriften publizierte. Heute ist Thion in Frankreich vor allem für die Unterstützung des Holocaustleugners Robert Faurisson bekannt; in die Faurisson-Affäre verwickelte er auch Noam Chomsky. Thions Artikel erscheinen heute u.a. auf dubiosen „national-anarchistischen“ und auf eindeutig geschichts-revisionistischen Websites, die sich einzig dem Leugnen des Holocausts verschreiben.

[10] Einen Überblick gibt das Dossier Der ewige Sieger in: Kursbuch, Der Mythos des Internationalismus, Berlin, Kursbuch/Rotbuch Verlag Oktober 1979, Nr. 57. aus dem auch die folgenden Zitate entnommen wurden (S.179ff.).

[11] Malcolm Caldwell galt international als Khmer-Rouge-Sympathisant und war einer der wenigen Westler, die Kambodscha zu Khmer-Rouge-Zeiten besuchen durften – und der einzige, der von den Khmer Rouge im Rahmen seines Besuchs einfach ermordet wurde (die genauen Umstände sind bis heute nicht geklärt, siehe dazu Kiernan 2002, S.448ff.).

[12] Ben Kiernan: „Die aggressive Haltung der Vereinigten Staaten […] und die Unordnung innerhalb der kommunistischen Reihen beließ die letzteren mit weit weniger am Verhandlungstisch, als sie in Wirklichkeit am Schlachtfeld gewonnen hatten“ (Kiernan 1985, S.152.).

[13] Die Kampuchean People’s Revolutionary Party war die Vorgängerin der Communist Party of Kampuchea und existierte zu dieser Zeit nicht mehr; außerdem waren Pol Pot und Ieng Sary hier prominent vertreten.

[14] Die Kampuchean National United Front for National Salvation (KNUFNS) war jene Organisation, die sich aus ehemaligen Khmer Rouge-Kadern zusammensetzte und nach dem vietnamesischen Einmarsch Kambodscha regierte. Interessant ist hier die zweifache Verwendung des Terminus Nation, die darauf schließen lässt, dass es um einen neuen und wahren Nationalismus gehen sollte – im Gegensatz zum falschen Nationalismus der Khmer Rouge. Ich danke Dr. Benny Widyono für diesen Hinweis.

[15] Dank an Jakob Rosenberg für die Überschrift.

[16] Bezüge auf und Vergleiche mit dem Nationalsozialismus finden sich in ausnahmslos allen oben erwähnten Werken. Die Geschichte vom „Steinzeitkommunismus“ als erklärtem Ziel der Pol Pot-Clique geht ebenfalls auf die Kappe dieser Schule, die in ihrer Argumentation auch hier mit der westlichen STV verschmolz.

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