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Maria Galindo: Öffentlichkeiten der Mujeres Creando
Wir besetzen das Fernsehen genauso wie die Straße
[1]

Präsentation

Ich kann mich Ihnen nur als Betrügerin vorstellen. Als Betrügerin innerhalb jeglichen Institutionengefüges, als eine Betrügerin, die Sinn, Wert und Kraft nur außerhalb gewinnt, außerhalb der Institution, außerhalb des Systems. Außerhalb und nicht innerhalb. Nicht innerhalb der Galerie, nicht innerhalb der Institution, nicht innerhalb der Akzeptanz, nicht innerhalb der Legitimation, nicht innerhalb des Systems.

Und zwar weil das System nicht alles und nicht die ganze Wirklichkeit ist, und weil es nicht einmal ein bedeutender Teil der Wirklichkeit ist, die uns umgibt, die uns einwickelt und entwickelt. Außerhalb ist es, wo ich Sinn finde und beziehe. Und auch wenn es wie die Phantasie einer Heranwachsenden anmutet, traue ich mich zu sagen: Außerhalb des Systems ist nicht die Leere – die Leere, mit der sie Dich bedrohen und mit der sie Dir Angst einjagen –, außerhalb des Systems ist nicht das Nichts. Sie drohen uns aus allem auszuschließen und in diese Leere zu drängen, in der nichts von dem, was wir tun, fühlen oder träumen zählt oder irgendeinen Wert hat. Es ist genau diese Drohung, die uns dazu bringt, uns außerhalb und nicht innerhalb zu positionieren. Denn wenn es nicht so wäre:

Wo also können wir all das lokalisieren, was außerhalb des Systems von Privilegien existiert? Oder hat etwa das System bereits alles geschluckt? Vielleicht gibt es nichts, was sich außerhalb des Systems der Verwaltung von Gewalt und Prestige befindet.

Aber selbstverständlich gibt es das, und wir kämpfen darum und leben davon! Wir suchen es in all dem, was aus dem Zentrum seines Interesses vom System als ineffizient, unproduktiv, irrsinnig, unfreundlich, unbequem, hässlich, schäbig und gefährlich abqualifiziert wird. Bewertungen, die wir uns zu eigen machen, Ängste und Wünsche, die wir zu den eigenen machen und die uns langsam durch alle Sinne hindurch aufgedrückt und eingeflößt werden, ohne Pause und Möglichkeit der Reflektion oder Distanz. Wir leben betäubt von diesen Ängsten, und diese Ängste, Bewertungen und Manipulationen leiten uns durchs Leben. Aber wir haben uns entschieden, uns außerhalb zu positionieren, einzurichten und zu begegnen, und nicht im Inneren. Wo ist dieses Außen? Das Außen liegt weder am Rand noch besteht es in der Marginalität einer Gesellschaft oder der Geschichte. Was sich außerhalb des Systems befindet, ist alles, was das System selbst bislang nicht hat verschlingen und vereinnahmen können.

Ich bin keine Sprecherin von irgendjemanden, nicht einmal die Stimmen meiner Schwestern, der Frauen von Mujeres Creando, kann ich vertreten. Es sind komplexe und direkte Stimmen, die keinerlei Vertretung zulassen und die auch keine Vertretung wollen. Wir sprechen in der ersten Person und sind keine Interpretinnen der Bewegungen, und wir sind auch keine Sprecherinnen für die Praktiken der anderen, wir sprechen nicht in deren Namen. Ich bin selbst die andere, wenn ich sage, was ich denke und was ich fühle in einer Szenerie, die niemals gegeben oder bloß geliehen ist.

Ich sage nicht, was die Indigene denkt, ich sage nicht, was die Hure denkt und ich sage auch nicht, was die Lesbe denkt – jede schafft ihre eigene Sprache und spricht für sich selbst. Direkte Stimmen, ausdrucksvolle Stimmen, vom Leben gefüllte Worte und ein Leben voll von Worten, die eigene und nicht nur geborgt sind.

Wir stehen außerhalb des Systems, eingerichtet im Zentrum der Empfindsamkeiten der Gesellschaft. Und es ist dieses Zentrum, von dem aus wir nicht nur Luftschlösser und Blendwerke der Revolution zu errichten vermögen, sondern das uns als Bezugpunkt dient für Überschreitungen und Rebellion. Für Huren, für Verrückte, für Indigene, für Mädchen, für Jugendliche, für Alte, die ihre Müdigkeit loswerden wollen, für Lesben und für alle möglichen rebellischen Frauen, mit denen wir ununterbrochene Komplexitäten schaffen wollen.

Wie einen versteckten und entdeckten Schatz bieten wir die ungewöhnlichen und verbotenen Bündnisse an, die wir geschaffen haben. Wie eine ungedruckte Originalität bieten wir die ungewöhnlichen Bündnisse an, die wir haben schaffen können, allen bestehenden Bannern zum Trotz und sie vertreibend, um uns gegenseitig zu umarmen und uns einander zu verpflichten. Wir bieten die ungewöhnlichen Bündnisse, die wir haben schaffen können, als einen revolutionären Vorschlag an, um mit ihrer Hilfe die zugeschriebenen Skripte verändern zu können, die unsere versteinerten und verdinglichten Identitäten ausmachen – Identitäten, die zu Mauern geworden sind, die die Liebe und die Liebenden separieren.

Strategien ohne Erlaubnis

Wir haben Strategien, die der Kunstwelt fremd sind. Wir haben analphabetische und anonyme Strategien, wir haben offensichtliche und außergesetzliche Strategien. Wir haben unsere eigenen und die Strategien Hunderttausender anderer. Unsere Strategien sind Töchter, die ihre Fähigkeiten von anderen gelernt haben, in diesem Sinne sind wir Wiedererschafferinnen von Strategien. Die Strategien, die uns inspiriert haben, kommen von der Straße, von der Welt des Außen (von dort werden sie für immer stammen). Sie kommen von den Überlebensfähigkeiten der Frauen unter den gemütlichen Planen auf dem Markt, im Zentrum der Gesellschaft wie große alltägliche Barrikaden gegen die Sonne und die Kälte aufgeschlagen, um den Lauf der Globalisierung zu behindern. Professionelle Fälscherinnen von Reebok, Nike, Benetton, Sony oder Microsoft. Diese Frauen sind die Initiatorinnen eines Schwarzmarktes, auf dem eine internationale Parade von Marken ohne Patent als kunsthandwerkliche Sabotage ausgestellt wird. Diese Strategien sind auf den Märkten lebendig, die sie in eine Mischung von Aneignung, Täuschung und Widerstand verwandeln, und die sich weder von den Multinationalen kontrollieren, noch durch die Polizei einschüchtern oder vom IWF beziffern lassen. Ein Markt des Ungehorsams und der Fälschungen von allem, angefangen vom Computer bis zu Schuhen, ein Markt, der Überlebensstrategie und illegales Gelächter zugleich ist. Uns inspirieren die Fähigkeiten dieser Männer und Frauen, die mit List die Grenzen und Staaten des Norden unterlaufen. Leute, die sich verboten wissen, entwickeln Strategien, die ihre Angst, ihre Armut und ihre Hautfarbe bannen. Diese und andere Strategien, die der „Kunst“ fremd sind und die auch mit heroischen Akten nicht viel zu tun haben, inspirieren uns, unsichtbare und unsichtbar gemachte Strategien, anonyme und analphabetische. Aber es sind Strategien, die offenkundig und beharrlich für das Leben und Überleben einer Gesellschaft wie der bolivischen – oder jeder anderen, zivilisierten und entwickelten – notwendig sind. Diese Strategien unterbrechen die Kontrolle und helfen Tausenden zu überleben, denen die Ökonomie weder eine Arbeit verschafft, noch in den Bildungs-, Gesundheits- und Wohnungsstatistiken einen Platz einräumt. Es sind diese Strategien, die uns inspirieren, die uns alarmieren und die uns positionieren. Diese fern von der Kunstwelt und jeder Form der sozialen Anerkennung existierenden Strategien bergen gemeinsam die unglaubliche Möglichkeit, lange Informations-, Solidaritäts- und Widerstandsketten zu bilden. Sie sind plakatlose Besetzungen der öffentlichen, der symbolischen und der ökonomischen Räume. Sie haben außerdem den Ungehorsam gemeinsam, auch deshalb sind sie der Kunstwelt fremd, die die Welt des Erlaubten ist. Diese Strategien sind Teil des Lebens der Gesellschaft, und sie sind keine Künstlichkeit und auch kein Simulakrum, sie sind Überzeugungen, die aus einer Sache eine andere machen. Dadurch sind es auch Überlebensstrategien, die unsere Gesellschaften beleben, und wir sind ihre Lehrlinge und diejenigen, die diese Strategien neu erschaffen. Denn lange vor uns waren es die Verkäuferinnen, die aus der Straße ein Haus ohne Ehemann und einen Arbeitsplatz ohne Chef gemacht haben. Lange vor uns waren es die Fälscherinnen der Marken, die durch das Verändern und Wiederverändern all jene Werte umgewandelt haben, die mit den Marken einhergingen. In dieser Dynamik haben wir gelernt, dass die Straße ein gemeinschaftlicher Raum, ein lebendiger Platz unserer Gesellschaft, eine eigene politische Szenerie und ein kommunikativer Ort ist.

Das Fernsehen verschlingt uns nicht

Das Fernsehen ist eine Straße, die den privaten Raum durchquert. Das Fernsehen ist ein öffentlicher Ort. Und deshalb bringen wir uns ins Fernsehen mit derselben Logik und derselben Sprache ein, mit der wir auch die Straße in Beschlag nehmen. Wir kommen durch die Regeln des Fernsehens hinein, aber wir treten ein, um diese Routine zu durchbrechen, um in erster Linie die Doppelmoral anzugreifen und um die etablierte Ordnung des Privaten und des Öffentlichen herauszufordern. Wir kommen hinein ins Fernsehen, um die ästhetische Routine von im Fernsehen übertragenen Frauen und Männern mit Bildern und mit nicht übertragenen Frauen und Männern zu durchbrechen. An dieser Stelle hat der politische, kulturelle und ästhetische Wert dieser Besetzung (der Straße und des Fernsehens) seinen Ursprung. Er besteht in der Fähigkeit, mit Bildern die Logiken des Schönen und des Hässlichen, des Anständigen und des Unanständigen zu zerstören, die durch das Fernsehen verbreitet werden. Dort wurzelt sein Wert und seine Schönheit voll von Ironie und Geringschätzung.

Der Rhythmus, für den wir uns entschieden haben, ist der durch die Herzen veränderte Rhythmus, der sie an einem Punkt ins Stocken bringt – als wenn die Kamera eine rasende Vagabundin wäre, die dort den Sinn sucht, wo alle anderen ihn verloren haben. Dies ist der Rhythmus der von uns gewählten Fernsehserie. Der Rhythmus einer abgelenkten Frau mitten auf einem Platz, der Rhythmus einer abgelenkten Frau inmitten einer Demo, der Rhythmus einer durch Kleinigkeiten auf dem Weg abgelenkten Frau, der Rhythmus eines Mädchens, das auf der Fahrbahn spielt, eine Ballerina zu sein. Es ist ein risikoreicher Rhythmus, weil ich Dich dabei unterwegs verlieren kann, denn ich trete unweigerlich in Konkurrenz zu dem glatten Rhythmus, mit dem das Fernsehen uns den Golfkrieg und gleichzeitig unzählbare Banalitäten aller Art hat hinnehmen lassen. Ein Rhythmus, der sich in bereits in unserem Unbewussten festgesetzt hat.

Wir entscheiden uns einmal mehr, auf den Verlierer zu setzen und somit für den Rhythmus der Straße, unseren eigenen Rhythmus. Und wir versprechen auch noch die Gelegenheit, deine Neugier auf den Bildschirm zu bannen. Die Mujeres Creando betraten das Fernsehen und zerstörten im literarischen Sinne den Bildschirm. Wir wissen, das zerstören mehr ist als zerstören, zerstören ist gleichzeitig öffnen und erschaffen, das Licht hereinlassen, sich ausziehen und enthüllen. Denn sonst wäre es bloße Zerstörung, wäre reine Leere, eine Öde nahe am Skeptizismus und ginge das Risiko ein, im Gestus der Ablehnung zu verharren.

Von dieser Perspektive aus gesehen zerstören wir ein Bild, während wir ein anderes freilegen. Wir erobern uns das gefangene Bild unserer Körper zurück und dies ist eine politische und unaufschiebbare Aufgabe. Und wie bei all diesen geliebten Aufgaben wissen wir, dass es niemals aufhört, sie zu erfüllen. Und in diesem Sinne bedeutet das Fernsehen zu nutzen, den öffentlichen Raum zu nutzen. Deshalb sehen wir von der „politischen Erlaubnis“ ab, dies zu tun, wir tun es einfach und auf diese Weise verbinden wir uns mit den Küchen und den Schlafzimmern, den Hütten und den ungezählten abgelegenen Orten, an denen sich das alltägliche Leben entwickelt. Wir besetzen das Fernsehen genauso wie die Straße, weil beide binäre Parallelen sind, die zwei Wege erschaffen: Die eine durchquert den privaten Raum, die andere ist jene, die ein Szenario der Begegnung herstellt, das lebendiger ist als jede Gesellschaft.

Die Kreativität ist ein Instrument sozialen Wandels und soziale Veränderung ist ein kreativer Akt

Ist Identität eine Zuflucht oder eine Barrikade des Widerstands? Innerhalb dieses Systems können Dein Geschlecht, Deine Hautfarbe, Dein Alter, Deine soziale Klasse, Deine Ursprungskultur, Deine Sexualität ge- und verkauft werden. Deine Nase, Dein Mund, Deine Gesichtsform, Dein Gewicht, die Größe Deiner Unterwäsche, Deine Lust, Deine Fähigkeiten, Dein Leiden, alles kann Objekt von Verpackung, Verkauf und Konsum sein. Das System vertraut sich dem an, es lebt davon, alles zu vermarkten. Aber es gibt etwas von besonderem Interesse für das globalisierte Patriarchat, und das sind diese Räume der Affekte, der Identität und der Kreativität, jene Räume, von denen aus wir unsere symbolischen Ausdrucksweisen, unsere politischen Identitäten und unser soziales Bewusstsein herstellen. Es sind diese Räume, die ihren Interessen gefährlich werden könnten. Das ästhetische, kulturelle und ökonomische Modell des Systems, das uns komplett umgibt, ist der Supermarkt. Der Supermarkt ist der Ort und zugleich der Mechanismus, der Differenz in (Konsum-)Varianten verwandelt. Es sind dieser Ort und dieser Mechanismus, die Wahl- und Entscheidungsfreiheit in die Möglichkeit zu konsumieren verwandeln. Innerhalb dieses ästhetischen Modells verwandeln sich, Dank der „Errungenschaften“ jenes Variantenreichtums, existenzielle und soziale Identitäten in Dinge und Erscheinungen ohne eigenen Sinn. Der Supermarkt ist der Ort der grenzenlosen Abwechselung, es ist der Ort der klassifizierten, geordneten und abgepackten Vielfalt. Es ist der Ort der Sauberkeit und der ständigen Desinfektion, und der Ort von Sicherheitsmaßnahmen, Beleuchtung und grellen Farben.

Das ästhetische, ökonomische und kulturelle Modell des Systems ist der Supermarkt. Dieses Modell funktioniert durch unpersönliche Mechanismen, in denen weder Verantwortlichkeiten, noch eigene Willen oder Austausch gefragt sind, auch führen sie keine Diskussionen und treten nicht in Verhandlungen, sie geschehen und funktionieren einfach, und dies scheint sogar das allerbeste zu sein. Innerhalb des Supermarktes wird eine unklare und zwiespältige Beziehung eingesetzt: Es gibt Platz für alle und für alles und die Möglichkeiten, Vielfalt zu sammeln und abzupacken, kennen keine Grenzen, weder ethische, noch politische oder ästhetische, selbst die Exzentrizitäten sind natürlich inklusive. Die Fähigkeit, Vielfalt zu verschlingen und kulturelle und soziale Identitäten sowie im Sinne des Systems beantwortete historische Prozesse zu vereinnahmen, ist Teil der Routine des Konsums. Die Routine des Konsums hat ebenfalls keine ethischen, sozialen oder politischen Grenzen. Vielfalt zu sammeln, um Herrschaft zu errichten und zu repräsentieren, ist Teil des Supermarktsystems. Vielfalt zu sammeln, um sich vormachen zu können, alles zu besitzen, zu beinhalten und zu besetzen, alles, aber auch wirklich alles.

Eine anmaßende Totalität, die verspricht, die Möglichkeiten des Schaffens, Fühlens, Lebens und Handelns außerhalb der Logik des Systems, außerhalb des Supermarktmodells, abzuschaffen. Eine anmaßende Totalisierung, innerhalb derer uns nur noch bleibt (und zu wünschen bleibt), einen Platz innerhalb der Ladeneinrichtung zu suchen, ohne auch nur daran zu denken, das Risiko einzugehen und über diese Logik hinauszublicken. Und weil sie uns das auf alle möglichen Arten wiederholen, lernen wir anzunehmen: Dass außerhalb des Systems die Hölle und dass das Leben außerhalb seiner Grenzen ein permanenter Drahtseilakt wäre, dass außerhalb seines Definitionsbereiches nur Demenz und Absurdität, Einsamkeit, Anonymität und Unsichtbarkeit wären. Wir haben gelernt anzunehmen, dass außerhalb des Systems ein gefährlicher Ort sei, jener nämlich, von dem aus Du sprichst, ohne gehört zu werden, von dem aus Du vergebens schreist und heulst, ein Ort ohne Boden und ohne Dach.

Daher schien es besser, das vorgeschriebene Skript hinzunehmen und einen Platz innerhalb der Ladeneinrichtung zu suchen und ihn sich außerdem zu wünschen. Im Regal der Einsamkeiten eine neben der anderen, in Reihen, klassifiziert, geordnet, nummeriert. Jedes Produkt dem gleichen fremd. Einer neben dem anderen. Einer über dem anderen. Einer unter dem anderen. Einer ohne sich mit dem anderen zu mischen. Einer statt des anderen. Dies ist die Kolonisierung und Vermarktung der Identitäten, und es handelt sich dabei um subtile und effektive Mechanismen. Kolonisierte Identitäten verwandeln sich langsam, kaum merklich und Stück für Stück mit mehr oder weniger Intensität, in Erscheinungen, um keine Identitäten mehr zu sein. Als solche Erscheinungen sind sie für den Mülleimer der komplett entlebendigten, vereinnahmten und gebrochenen kulturellen und sozialen Stereotype bestimmt, die – den Prozess der Legitimierung und des Konsums erleidend – am Ende ihres Zyklus der Dekadenz und der Schwäche weggeworfen werden.

Ungemütlich machen

Diese Erscheinung ersetzt und überlagert die Identität, wenn die Identität ihren Inhalt verliert; die Erscheinung ersetzt und überlagert die Identität, wenn diese ihr direktes Wort aufgibt, und sie ersetzt und überlagert sie, wenn die Identität es der Logik des Systems nicht ungemütlich macht und sie nicht herausfordert. Die Erscheinung ersetzt und überlagert die Identität, wenn diese aufhört, sie selbst zu sein um dann zu einem harmlosen, vereinnahmten und dekorativen Teil des Systems zu werden. Eine Identität hört auf, Identität zu sein und verwandelt sich in eine Erscheinung, wenn sie legitimiert und neutralisiert wurde, wenn sie ihre Fähigkeit zu hinterfragen und umzustürzen verloren hat und eine gefällige Haltung annimmt. Sie hört auf, Identität zu sein, wenn sich ihre Ästhetik bereits verändert hat und ihre Sprachen sich als Teil des Systems formieren: Indios, um Folklore zu bezeugen und zu sein, Lesben und Schwule, um über Sex, Verhütung, AIDS und Ehe zu reden, Frauen, um Quoten innerhalb des Systems zu fordern, und Dritteweltmenschen, um über Entwicklung und internationale Zusammenarbeit zu reden. Die Differenz erscheint zwar, aber banalisiert. Sie erscheint im Zentrum eines Handels, der gleich verhindert, dass sie sich selbst nutzt.

Wir brechen mit der Routine des Konsums und der Kolonisation unserer Identitäten, daher ist die Kreativität für uns keine obsessive Suche nach Neuartigkeit, sondern die Kreativität in unseren Händen und in unserem Leben ist eine Strategie des Kampfes. Die Kreativität ist keine Suche nach Form oder Inhalt, sondern für uns ist sie die Haut, mit der wir unsere Gesellschaft erfühlen und durchforsten und ihre erogenen und sensiblen Zonen aufspüren. Es ist dieser Blick auf die Kreativität, der es ermöglicht, den Räumen einen neuen Sinn abzugewinnen, der Straße, dem Körper und dem kollektiven Gedächtnis. Denn wir haben gelernt, jede einzelne dieser Zonen zu reizen, zu liebkosen, zu trösten und aufzumuntern. Unsere Kampfstrategie ist die Kreativität, und unser Arbeitsplatz sind die sensiblen Zonen des Körpers unserer Gesellschaft. So schreiten wir voran und bringen intuitiv die sozialen Hierarchien wie auch die räumlichen Beziehungen von drinnen und draußen, von oben und unten und von Nord und Süd durcheinander.

Ungewöhnliche und verbotene Bündnisse

Uns reicht es nicht, unsere Differenzen auszusprechen, noch sie laut zu verkünden: Ich bin eine Frau. ich bin eine Lesbe, ich bin eine Indigene, ich bin Mutter, ich bin Hure, ich bin alt, ich bin jung, ich bin körperlich eingeschränkt, ich bin weiß, ich bin braun, ich bin arm. Wir legen unsere Differenzen nicht dar, weil wir uns vor ihrem Spiegel aufhalten, dem Spiegel, der nicht aufhört uns zu (er-)zählen und uns zu bezeichnen. Wir beschränken uns nicht darauf, unsere Differenzen darzulegen, weil es erst der Anfang ist, sie zu entdecken und sie zu leben. Um Identitäten und subversive Heterogenitäten zu konstruieren, muss ich meine Differenzen, meine Geschichten, meine Schmerzen und meine Talente mit „der anderen“, die sich von mir unterscheidet, ergänzen, erstreiten und vermischen. Eine Komplementierung, die aus meiner Differenz eine Gefahr für das System macht, weil sie ihm droht statt sich zu integrieren, indem ich mich mit jemandem vereine, mit dem ich mich laut System nicht vereinen darf. So die Differenz leben und die Identität, so leben als Fragment. Leben wie ein Fragment, konstant unvollständig, das erlaubt mir, weit über das vom System vorgegebene Skript hinauszugehen. Es erlaubt mir, weit über das Opfer-Skript hinauszugehen, weit über das egozentrische Skript hinauszugehen und mich in eine Bedrohung zu verwandeln, wer auch immer und wo auch immer ich bin.

Denn diese Art und Weise meine Identität zu leben, motiviert mich, Bündnisse und Solidaritäten zu konstruieren, es ermutigt mich, vielseitige Stimmen und für das System unverdauliche Komplexitäten sowie Herausforderungen für alle Machtzentren zu schaffen. Es ermöglicht mir, ausgehend von dem Inhalt, der ich selbst sein möchte, soziale Unordnung zu stiften. Das ist, was wir zusammen erwirkt haben und wie ich selbst sein will, es ist die Provokation, von der aus wir agieren. Es ist eine herausfordernde Provokation, die eine neue Identität schafft, die niemals aufhört, konstruiert zu werden. Eine neue Identität, die sich nicht in einem Diskurs erschöpft, die ungewöhnlich ist, weil sie das Legitime überschreitet, und die kreativ ist, weil sie die sozialen Hierarchien durcheinander bringt.

Unvorhergesehene Choreographien

Es ist eine Choreographie, die das Spiel der Macht zerstört, das uns zum schweigen gebracht hat. Wir vergessen choreographisch, wer von sich annimmt, oben zu sein und wer von sich annimmt, unten zu sein. Um uns in eine Beziehung des Einwands und der Subversion zu allen Formen der Unterdrückung und der Herrschaft zu setzen, positionieren wir uns eine neben der anderen, eine im Rücken der anderen, eine vor der anderen, ganz nach den Erfordernissen des Kampfes. Eine Choreographie, die die Reihen verändert und die Abfolgen des Akzeptablen, eine Choreographie, die durch alle gleichzeitig hindurchgeht, durch alle oder keine. In dieser von uns inszenierten Choreographie haben die Kardinalpunkte ihren Bezugspunkt verloren, der Norden schaut auf den Süden, und die Subversion ist das Zentrum der sozialen Beziehungen. Wir übernehmen die Initiative, wir definieren und erspüren den Grad der Provokation, wir wählen unsere Worte und unsere Themen. Und wir entscheiden über die Szenarien und die Zeit nach unserem Kalender der Liebe und nach unserem Kalender des Kampfes.

Während wir, PsychiaterInnen, RichterInnen, DoktorInnen, FunktionärInnen, VermittlerInnen und TechnokratInnen eine Wirklichkeit nach ihren Maßgaben kürzen und manipulieren und schaffen, bleibt doch die Initiative unübersehbar und über ihre Kalkül hinaus auf unserer Seite und auf unserem Terrain. Die Initiative ist einer unserer kleinen Schätze, der für uns Horizonte und eigene (und nicht geliehene) Träume beansprucht, der uns Akrobatik und unerwartete Flexibilitäten abverlangt, um jeden Tag eine neue, verschiedene, unvorhergesehene und unverdauliche Choreographie zu tanzen.

 

Zwei, drei Worte über Mujeres Creando und ihre Motivationen und Mängel

Wir sind eine Gruppe, eine 1992 gegründete soziale Bewegung. Soziale Bewegung soll nicht heißen, dass wir eine Masse wären, soziale Bewegung meint, dass wir unsere Gesellschaft in Bewegung setzen wollen, Kultur schaffen und Denken stiften, Organisation und Solidarität herstellen, Visionen sozialen Wandels entwickeln und sie möglich machen wollen – und all dies machen Mujeres Creando tagtäglich. Wir sind wenige für all die Arbeit, die zu tun ist, wir sind keine Massenbewegung, aber wir haben schon vor einiger Zeit die Bedeutung der Masse demystifiziert. Unser sozialer Einfluss ist so groß, dass er uns viel mehr Arbeit macht als wir im Stande sind zu leisten. Wir haben eine Genossenschaft, die „Virgen de los Deseos“ („Jungfrau der Wünsche“) heißt und sich in der Straße 20. Oktober Nr. 2690 in La Paz, Bolivien befindet. Es ist ein feministischer Ort der intellektuellen, der kreativen und der Handarbeit, wo Du Dich mit Deinen Anregungen – welcher Art auch immer – einbringen kannst. Es ist für uns ein Raum der Solidarität, der mit ökonomischer Autonomie begonnen hat, um den Bauch zu füllen. Dort können wir ein wenig Geld verdienen und unsere persönliche und kollektive ökonomische Autonomie aufrecht erhalten.

In unserer Gesellschaft, an die sich unsere Arbeit richtet, haben wir uns seit vielen Jahren dem Schreiben von Graffitis gewidmet. Auf den Wänden vierer Städte beharren wir dabei auf lebendigen Ideen wie solchen: „Ungehorsam durch Dein Verschulden werde ich glücklich sein“ oder „Frau, weder gehorsam noch ehrfürchtig, sondern frei, schön und verrückt“ („Mujer ni sumisa, ni devota, libre, linda y loca“). Wir machen Politik und keine Kunst und unser Raum für die Konstruktion von Gedanken und Kommunikation ist die Straße. Wir haben diverse Bücher veröffentlicht, sowie zwei Fernsehserien und ein Video produziert: „Creando Mujeres“, „Mama no lo me dijo“ („Mama hat mir das nicht gesagt“) und „Las exiliadas del neoliberalismo“ („Die Exilierten des Neoliberalismus“), die alle über den offenen Kanal zur besten Sendezeit ausgestrahlt wurden.

 

Maria Galindo, Autorin dieses Textes, ist lesbische Feministin und seit der ersten Stunde Mitglied von Mujeres Creando. Sie ist eine der Frauen, die sich besonders der Produktion von Bildern in der Bewegung gewidmet hat.

Kontakt: mujerescreando@entelnet.bo

Homepage: www.mujerescreando.com

Adresse: „Virgen de los Deseos“, Calle 20 de Octubre N.2690, La Paz, Bolivien


[1] Zuerst erschienen in: Raunig, Gerald und Ulf Wuggenig (Hg.): Publicum. Theorien der Öffentlichkeit, Wien 2005 (Verlag Turia + Kant), S. 204-211. Aus dem lateinamerikanischen Spanisch von Jens Kastner. Wir danken für die freundliche Genehmigung zum Abdruck.

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ISSN 1814-3164 
Key title: Grundrisse (Wien, Online)

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