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Franz Naetar: Wie hältst Du es mit der Demokratie?

Negri und Badiou sowie ein „grundrisse“ Seminar zur Demokratie

 

Einleitung

In einer Veranstaltung der „grundrisse“ zusammen mit Wildcat über China wurde in einem Nebensatz das heutige Indonesien als demokratisch und das heutige China als eine Diktatur bezeichnet.

Auch in einer Reihe anderer Publikationen der Linken werden Begriffe wie totalitär (für China) und Diktatur in einem Sinn verwendet, wie er in den liberalen und konservativen Zeitungen auch verwendet wird. Zu Indien fällt einem als mediale Phrase zum Beispiel sofort der Stehsatz von der „größten Demokratie der Welt“ ein; während Russland mehr als autoritär (ob Diktatur oder Demokratie ist noch in Schwebe) bezeichnet wird.

Ein Kontrapunkt war ein Interview mit Tamás Gáspár Miklós im ungarischen Fernsehen, in dem Tamás scharfe Kritik an der Repräsentationsorganen übte, die in ihrer Politik die Interessen von vielleicht 20 % der ungarischen Bevölkerung vertreten und repräsentieren. Am Ende des Interviews fragte der Interviewer Tamás, ob er lieber in einer Demokratie oder in einer Diktatur leben würde – eine gute Fangfrage, denn wählt er Demokratie, dann meinen die Zuhörer: „Was willst Du denn eigentlich? In der lebst Du doch.“ Diktatur aber ist für niemanden eine Wahl. Letztlich hätte jede Antwort den Eindruck erweckt, dass wir ja doch in der Besten aller möglichen Welten leben.

Nun Tamás antwortete, indem er die Frage auf eine andere Ebene lenkte. Seine Antwort war: „Die Demokratie, in der wir leben, ist auch eine Form der Diktatur.“

Wir wissen natürlich nicht, was im Detail Tamás mit diese Aussage im Auge hatte, aber sie wäre ziemlich sicher die Antwort eines Großteils der 68er während der großen Revolten gewesen, unabhängig davon, ob sie das Zitat aus „Staat und Revolution“ kannten, in denen Lenin alle bürgerlichen Staatsformen, ob demokratisch oder nicht, als „in letzter Konsequenz unbedingt eine Diktatur der Bourgeoisie“ bezeichnete.[1]

Die kommunistische Bewegung und während längerer Zeit die kommunistischen Parteien meinten von jeder Staatsform, dass sie letztlich die Diktatur einer Klasse sei, und hielten daher der (demokratischen) Diktatur der Bourgeoisie die Diktatur des Proletariats in den sozialistischen Ländern entgegen. Von den sozialistischen Ländern behaupteten sie, dass sie als Diktatur des Proletariats tausend Mal demokratischer seien als die kapitalistischen Demokratien. Im Rahmen der antifaschistischen Einheitsfronten und nach dem zweiten Weltkrieg wurde dann der eigenartige Begriff „Volksdemokratie“ geprägt, gestützt auf die Stalinsche Theorie des Staates des ganzen Volkes. Der Begriff der Diktatur des Proletariats wurde erst vorsichtig und später vollständig begraben. Soweit ein kurzer Abriss der Geschichte des Begriffs der Demokratie in der kommunistischen Bewegung.

Nun haben die „Volksdemokratien“ samt den verschiedenen kommunistischen Parteien vollständig abgewirtschaftet. Nur mehr Wenige sprechen von der Diktatur des Proletariats beziehungsweise der Diktatur der Bourgeoisie. Heute ist bloß noch die Rede von der Demokratie (= Parlamentarismus) und der freien Marktwirtschaft als Ergänzung. Daneben gibt es dann auch noch die autoritären Systeme, die Diktaturen und die totalitären Staaten. Das ist der einheitliche Sprachgebrauch von rechts bis ziemlich weit links.

Wie ist das aber mit dem demokratischen Staat als der Diktatur der Bourgeoisie? Gibt es den noch? Wie ist das mit Demokratiebewegungen wie der vom Tienanman-Platz und wie in Südamerika beim Sturz oder Abdanken diverser Militärdiktatoren oder in Indonesien nach Suharto?

Die radikale Linke überlässt das Thema des demokratischen Staats vollständig den bürgerlichen Ideologen, es kommt so gut wie nicht vor,  wie z. B. in „Empire“, oder sie verwendet diesen Begriff so, wie er in den diversen Medien z. B. gegenüber China verwendet wird.

Gleichzeitig sind die Rituale der parlamentarischen Demokratie ein nicht nur 1968 in Frankreich, sondern in fast allen westlichen Ländern geschickt benutztes Verfahren, um den radikalen Impetus einer Bewegung abzuwürgen und ins Leere laufen zu lassen. Der Mai 1968 war dafür das sicherlich symptomatischste Erlebnis: eine Bewegung der Studenten, Schüler und ein wilder Generalstreik in allen wesentlichen Fabriken Frankreichs, der gut ein Monat dauerte und eine Zeitlang de Gaulle sogar an seinen Möglichkeiten der Intervention zweifeln ließ. Trotzdem gelang es, die Bewegung einerseits durch einige wichtige Zugeständnisse auf der Lohnseite (eine dreißgprozentige Lohnerhöhung), andererseits durch Neuwahlen, die von allen Parteien unterstützt wurden, zu zügeln.

Auch heute im Irak kann man sehen, wie parlamentarische Wahlen verwendet werden, um trotz vollständiger Kontrolle durch die US-Besatzer und ihre willigen Helfer zumindest eine zeitweilige Stabilisierung der Lage zu erreichen.

Andererseits versucht das Buch von Negri und Hardt, „Multitude“, den Demokratiebegriff mit neuem Leben zu füllen als „Demokratie der Multitude“, und auch Alain Badiou, der kompromisslose Angreifer auf Demokratie und Parlamentarismus, versucht seinen eigenen Begriff von Demokratie zu definieren.

Jedenfalls fanden wir es wichtig, unser Sommerseminar dieses Jahr zu nutzen, um die Überlegungen, die im Umkreis der „grundrisse“ über das Thema „Demokratie“ zirkulieren, zu diskutieren. [2]Die Eingangfrage an die TeilnehmerInnen war: „Wie hältst Du es mit der Demokratie?“

Im Gegensatz zu vorhergehenden Seminarbeiträgen, bei denen sich eine differenzierte, aber auf gemeinsamen Überlegungen basierende Debatte ergab, zeigten sich hier gravierende Differenzen. Von: „Ich gehe damit pragmatisch um“, über „ Ich interessiere mich nicht dafür“ bis zur Erörterung der Möglichkeiten von Referenden in der Schweiz und der Betonung der „Demokratie als Austausch der politischen Elite, die das System in Bewegung hält“, alle diese Antworten zu der Eingangsfrage gab es. Auch die Debatte nach den Referat zeigte: Eine theoretische Auseinandersetzung sowohl mit der Demokratie als Staatsform als besserer Staat als auch die Bedeutung (oder Nichtbedeutung) von Demokratie für linke Politik ist dringend notwendig.

Dieser Artikel versucht in der Auseinandersetzung mit Negri und Badiou dazu erste Überlegungen zu liefern.[3]

Demokratie als der bessere Staat

Badiou meint, dass die oben zitierte Feststellung von Lenin, dass unter Demokratie immer eine Form des Staates zu verstehen sei, noch immer eine der aktuellen Situation angemessene Definition ist. Gleichzeitig ist aber nach Badiou „das Wort Demokratie (…) heute der wichtigste Organisator des Konsenses. Unter diesem Wort sollen der Zusammenbruch der sozialistischen Staaten ebenso wie der angenommene Wohlstand unserer Länder oder die humanitären Kreuzzüge des Westens begriffen werden.“ (Alain Badiou: Metapolitik, Diophpanes 1998, S 91)

„Demokratie“ ist zurzeit also vielleicht der wichtigste ideologische Begriff zur Aufrechterhaltung und Verteidigung der kapitalistischen Weltordnung. Ohne die hinter diesem Begriff vorhandene Herrschaftsform infrage zu stellen, ist jedenfalls eine Kritik an dieser Weltordnung zahnlos.[4]

Tatsächlich hat die Linke und auch die radikale Linke es schon immer schwer mit der Frage: „Wie hältst Du es mit der Demokratie?“ Bei jeder Diskussion, bei jeder Auseinandersetzung damit laufen mehrere Stränge ineinander. Hier ein spontane Aufzählung von Argumenten, Feststellungen und Beobachtungen, die „Demokratie als der bessere Staat“ betreffend:

·        Wie hältst Du es mit dem Staat, wenn er eine parlamentarische Demokratie ist? Ist er doch die beste aller (Staats-)Welten? Die Erfahrungen mit der „proletarischen Demokratie“ waren ja niederschmetternd.

·        Muss man den demokratischen Staat nicht gegen die Angriffe faschistischer (oder heute fundamentalistischer, islamistischer) Kräfte verteidigen?

·        Sicherlich ist die parlamentarische Demokratie die von den wesentlichen Teilen der Weltbourgeoisie bevorzugte Staatsform auf nationaler Ebene, da sie im Ausgleich der Interessen die Legitimität der Herrschaft und die Kontrolle der Widerstände und stabile Rechtsverhältnisse ermöglicht.

·        Parallel und manchmal im Widerspruch dazu werden aber andere Taktiken eingesetzt: In den weniger wichtigen Erdteilen – wie z.B. in Teilen von Afrika – oder dort, wo es um die Kontrolle über den Nachschub von wichtigen Rohstoffen geht, oder wo sich Möglichkeiten für Kapitalexpansion und Gewinn, trotz nicht vorhandener oder schwach entwickelter Formen parlamentarischer Demokratie, ergeben, wird schon einmal auf „Demokratie“ verzichtet.

·        Oder umgekehrt: Das Aufflammen und die Intensivierung des Diskurs von Verletzung der Menschenrechte und Diktatur, oft auch von linksliberalen Kräften und NGO’s vorangetrieben, bereiten die öffentliche Meinung auf die nächste Intervention vor.

·        Wie soll sich die (radikale) Linke zum Diskurs des Anprangerns der fehlenden Menschenrechte und Demokratie z. B. in China verhalten? Soll sie die Verlogenheit des Kapitals anprangern, das Sonntagsreden von Demokratie hält, dann aber Geschäfte mit dem diktatorischen Regime macht, wie das oft geschieht? Oder schwingt nicht in einem solchen Diskurs mit: Uns, die wir eine parlamentarische Demokratie haben, geht es ja doch besser bzw. in Indien z. B. gibt es zwar entsetzliches Elend, aber immerhin habe sie eine Demokratie.

·        Aber würde eine parlamentarische Demokratie z. B. in China nicht die Gründung von unabhängigen Gewerkschaften ermöglichen und damit die Situation im Klassenkampf verbessern? Oder zwingen vielleicht die nicht vorhandenen Institutionen zum Schutz der Bauern und Arbeiter diese, sich wie in den Frühzeiten des Kapitalismus selber zu organisieren, wobei sie sehr schnell die Legitimität der Verhältnisse infrage stellen, da diese gerade nicht die Weihe der Demokratie haben.

·        Fast alle (radikalen) Linken haben ein entspanntes und oft gleichgültiges Verhältnis zu Parlamentswahlen, gehen aber dann doch das geschmähte kleinere Übel wählen und schauen sich die Ergebnisse im Fernsehen an. Ist die Stimmung zwischen den Parlamentsparteien genügend aufgeheizt – wie z. B. in Ungarn oder in Italien, erfasst die Linke plötzlich eine Parteileidenschaft, wie sie sonst nur bei Fußballspielen auftritt.

·        Aber ist es nicht richtig, dass es einen Unterschied macht, ob Berlusconi oder Prodi bzw. Orbán oder Gyurcsány die Wahlen gewinnt? Oder ob Chávez oder seine Gegner triumphieren? Vielleicht freut sich Mann/Frau aber auch ein wenig über die vielen Stimmen der neuen linken Partei in der BRD.

Wenn man sich die verschiedenen Strömungen der Linken ansieht, dann ist in Bezug auf die „Demokratie als der bessere Staat“ so ziemlich jeder Standpunkt vertreten:

Von der kompromisslosen Verteidigung der „Errungenschaften der westlichen Demokratie“ mit dem Abfeiern der US-Interventionskriege als demokratische Verteidigungsschlacht – wie es die „Antideutschen“, aber auch die Neokonservativen (die ja zum Teil aus dem linken Lager kamen) betreiben – bis zur gnadenlosen Unterstützung jedes Gegners des US-Imperialismus – wie es die „Antiimperialisten“ propagieren; von der Gleichsetzung jeder Form von staatlicher Herrschaft bis zur stolzen Verteidigung der demokratischen Errungenschaften der westlichen „Wohlfahrtsstaaten“, jede dieser Argumentation unter den „Linken“ gibt es. (Wobei in den Massenmedien, wie nicht anders zu erwarten, die „Verteidiger der westlichen Demokratie“ ein faktisches Monopol haben.)

Während Hardt und Negri im „Empire“ das Thema der parlamentarische Demokratie und ihrer Wahlrituale einfach ignorieren bzw. die diversen Staaten und ihre Parlamente als demokratische Teile des dreistufigen Empires betrachten[5], wird die Frage der Demokratie die Hauptfrage des Buchs „Multitude“, allerdings dort als vollständige Demokratie der Multitude. Mit ihren Überlegungen dazu werden wir uns weiter unten befassen

Für Badiou wiederum ist die Antwort auf die Frage: „Wie hältst Du es mit der parlamentarischen Demokratie?“, der Maßstab, an der Politik heute zu messen ist. Auch auf die Gefahr hin, „sich der tödlichen Beschuldigung auszusetzen, kein Demokrat zu sein“, muss eine „freie Politik (…) (ihre) Distanz zum Staat, (…) (ihre) Fremdheit gegenüber dem parlamentarischen Staat, gegenüber dem Ritus der Wahlen und den Parteien, die sich ihm anpassen, einbekennen. (…) Es ist nicht möglich, (…) außerhalb des Staates die formalen Bedingungen einer Politik zu bestimmen (wie es Ranciére laut Badiou tut – fn) und dabei unberücksichtigt zu lassen, wie sich die Frage für uns stellt, die wir es in dieser Hinsicht mit dem parlamentarischen Staat zu tun haben.“ (ebenda S 131)

Diese Haltung zur parlamentarischen Demokratie ist für Badiou eng verbunden mit der Frage, wie Mann/Frau sich zu den Parteien stellt. Für ihn ist die wichtigste Debatte dieses Jahrhunderts: „Kann die Politik noch in Form der Partei gedacht werden? Sind die politischen Militanten[6] notwendig Militante der Partei. (…) Die subjektive und in den Wahlen stattfindende Vermittlung der parlamentarischen Politik bleibt zweifellos die der Parteien. Der gewöhnliche Intellektuelle mag sich über die Parteien und ihre Anhänger mokieren, wenn man’s von ihm verlangt, wird er für sie stimmen.“

Als Schnappschuss der gegenwärtigen Situation scheinen mir die pointierten Anmerkungen von Badiou ein wichtiges Moment der ideologischen Herrschaft zu benennen. Diese Anmerkungen erklären aber keinesfalls, wieso es nach Tonnen von Papier über den Staat und die Staatsform – unter anderen auch in mehreren Artikeln in den „grundrissen“ – innerhalb der Linken derart unterschiedliche Stellungnahmen und Einschätzungen gibt. Ein Grund ist sicherlich, dass auch bei denjenigen Linken, die sich keine (theoretischen) Illusionen über den Staat machen, die Vorstellungen über eine Politik oder überhaupt ein Eingreifen abseits des Staates, im Abstand vom Staat, nur in Ansätzen vorhanden ist, vor allem aber, dass es nur ganz wenige und immer wieder aufgezählte Beispiele für eine solche Politik gibt: die Zapatistas, die Bewegung der landlosen Bauern in Brasilien und vielleicht noch die argentinische Revolte von 2001.

Wichtiger noch scheint mir aber der widersprüchliche Charakter von demokratischer Bewegungsfreiheit zu sein: Die kapitalistische Herrschaft erfordert für die TeilnehmerInnen am System der Ausbeutung eine gewisse Bewegungsfreiheit. Gerade weil sie ja letztlich die Produzenten des Werts und Mehrwerts sind und ein wichtiger Faktor in der Konkurrenz und dem Zusammenspiel der Kapitale bzw. der Staaten (des Empires?), kann eine Kontrolle ihre Bewegungsfreiheit nicht völlig ersticken.[7] Wie Karl Reitter am Seminar richtigerweise meinte, ist die Kontrolle des Staates zum Zwecke der Ausbeutung immer ein Balanceakt zwischen der notwendigen Zurichtung zum Rädchen im System, ohne die produktiven Potenzen des Proletariats, der Multitude vollständig zu paralysieren.

Diese Kontrolle ist als demokratische – wie schon Engels schrieb – die sicherste Herrschaftsform des Kapitals. Sie hat genügend Elastizität, um den Protest und Widerstand ins Leere laufen lassen zu können bzw. durch den Tausch der führenden Parteien ein Ventil zu bieten, sie gestattet aber im „Normalfall“ eine ausreichende Kontrolle, um die Aufrechterhaltung des Systems der Ausbeutung sicherzustellen. Wenn man dasselbe Phänomen aus einer anderen Sicht betrachtet, dann bietet diese lose Kontrolle aber auch den Produzenten und Staatsbürgern (für die Nichtstaatsbürger oder illegal im Staatsgebiet lebenden sind die Formen der Kontrolle unvergleichlich rigider) eine unverzichtbare Bewegungsfreiheit. Auf der einen Seite also Herrschaftsinstrument, auf der anderen Seite Möglichkeit, manchmal sogar Forderungen durchzusetzen, Rechte zu erringen oder Angriffe abzuwehren. [8] Die Ansichten über den demokratischen Staat verhalten sich ein wenig wie ein Kaleidoskop, das jedem eine jeweils andere Sicht bietet, wenn er durchschaut. Wie aber diese beiden Aspekte der „Demokratie“ in Politik umzusetzen sind, ohne die Illusionen über den Staat und dessen vielleicht wichtigste Ideologie – eben diese Demokratie – zu verstärken, bleibt offen.

Die tiefe Krise der Linken zeigt sich gerade darin, dass die Diskussion über die parlamentarische Demokratie und die Parteien, die Diskussion darüber, was es heißt, politischer Militanter in Distanz zum Staat zu sein, noch gar nicht richtig begonnen hat. Und zu den Wahlurnen gehen, wenn man es von ihnen verlangt, nicht nur die „gewöhnlichen Intellektuellen“, sondern ein großer Teil[9] der aufgerufenen Bevölkerung.[10]

Lassen wir nun die „Demokratie als besserer Staat“ beiseite und beschäftigen wir uns mit der Demokratie abseits des Staates. Letztlich stellt sich die Frage, ob man die „Demokratie“ zu einem politischen Begriff machen kann, der in einer Auseinandersetzung mit dem was er zurzeit bedeutet, emanzipatorische Potential entwickeln kann. Negri und Hardt meinen in ihrem Buch Multitude, dass diese Auseinandersetzung möglich ist. Sie schreiben: „…zusätzlich müssen wir jedoch auch den Begriff der Demokratie im Lichte der neuen Herausforderungen und Möglichkeiten, die unsere Welt bietet, neu überdenken. Diese begriffliche Neujustierung ist die Hauptaufgabe dieses Buche.“ (Tonio Negri/Michael Hardt: Multitude, S 362)

Die Demokratie der Multitude

In ihrem letzten Buch „Multitude“ setzen sich Hardt und Negri mit dem Zustand des Empire und den notwendigen politischen Projekten der Multitude auseinander. Im Zentrum steht dabei der Begriff der Demokratie als Demokratie für alle oder spinozistisch ausgedrückt als totale Demokratie.

Bemerkenswert ist, dass es zwar eine Unzahl an Auseinandersetzungen und Stellungnahmen zum Vorläuferwerk „Empire“, aber so gut wie keine ausführlichen Kritiken oder begeisterten Stellungnahmen zu „Multitude“ gibt. Wenn man die mitreißenden Passagen des Abschlussabschnittes über die Demokratie der Multitude liest, muss einen dieses bedrückende Schweigen auch und insbesondere der radikalen Linken erstaunen. Vielleicht wird diese Tatsache dadurch erklärt, dass in diesem Abschnitt nicht nur die Philosophie von Negri zusammengefasst wird, sondern auch versucht, einen allgemeinen Fahrplan zur Revolution zu skizzieren: zwar kein „Was Tun“, aber nach dem Wunsch der Autoren eine Vorarbeit dazu.

Sehen wir uns den Argumentationsstrang der „Demokratie der Multitude“ an. Ausgegangen wird wie schon im Empire vom Begriff der Souveränität als Herrschaft des Einen. Ob Monarchie, Aristokratie oder Demokratie, der eine Souverän herrscht – auch in der Demokratie, denn die vielen herrschen „nur insofern, als sie zum Volk oder einem anderen Einzelsubjekt vereint sind. (…) Die Logik, die hinter dieser klassischen Souveränitätstheorie liegt, lautet: entweder Souveränität oder Anarchie.“

Die Multitude –das ist schon im Empire gezeigt worden – lässt sich nicht auf eine Einheit reduzieren. Die Multitude kann nicht Souverän sein. Die von Spinoza als absolute bezeichnete Demokratie, meinen Hardt und Negri, sei daher keine Regierungsform im traditionellen Sinn.

Im weiteren Fortgang der Darstellung wird auf den dualen Charakter der Macht hingewiesen. Diejenigen, die gehorchen sollen, verweigern letztlich den Gehorsam, wenn mit Gewalt oder anderen einseitigen Mitteln versucht wird, Souveränität durchzusetzen. Souveränität bedarf daher der Zustimmung der Beherrschten, die souveräne Macht benötigt neben dem Zwang auch die Hegemonie über die Untergebenen. Souveränität, der die zu Beherrschenden weglaufen, ist Zeichen einer absoluten Schwäche.[11]

Aber nicht nur der Souverän benötigt die Untertanen, auch das Kapital benötigt seinen Widerpart, die Arbeit. Das Kapital ist daher gezwungen, sich eng mit dem Feind zusammenzutun. Ohne die Produktivität der Arbeitenden ist das Kapital nichts. „Die Rede von den ‚Unterdrückten‘ mag eine marginalisierte und machtlose Masse bezeichnen, aber die ‚Ausgebeuteten‘ sind notwendigerweise ein zentrales, produktives und machtvolles Subjekt.“ (S 367)

Zu diesen allgemeinen Feststellungen kommt aber in den Zeiten des Empires und der biopolitischen Produktion hinzu, dass sich die Grenzen zwischen politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Formen der Macht und der Produktion mehr und mehr auflösen. Daher lautet so die Schlussfolgerung von Hardt und Negri: „Im Empire kommen Kapital und Souveränität tendenziell vollständig zur Deckung.“ (S 368)

Ähnlich wie das Kapital auf die Produktivität der Arbeit angewiesen ist und deshalb sich um das Wohlergehen seines Widerparts, der Arbeit, Sorgen machen muss, hängt auch die imperiale Souveränität nicht nur – wie oben beschrieben – von der Zustimmung, sondern auch von der sozialen Produktivität der Beherrschten ab. „Die Beherrschten (sind) weitgehend die ausschließlichen Produzenten sozialer Organisation geworden, (…) die Herrschenden (werden) zunehmend parasitärer. (…) Entsprechend werden die Beherrschten immer autonomer und können die Gesellschaft immer stärker nach ihren Vorstellungen gestalten.“ (S 370)

Dieser Gedankengang, dass sich im Inneren der Empire der Kommunismus in Form der Autonomie der Multitude ausbreitet, kennen wir schon aus „Empire“. In „Multitude“ wird daraus die herrschaftsfreie Demokratie. Das transzendente Modell der Herrschaft des Einen hat ausgedient und die immanente biopolitische soziale Organisation ermöglicht, dass sich die verschiedenen Elemente der Gesellschaft selbst organisieren.

Die zentrale Frage dabei ist, meinen Negri und Hardt, „wie die Multitude zu einer Entscheidung kommen kann“. Hardt und Negri versuchen mit vier Modellen die Möglichkeit von Entscheidungen ohne „Befehlszentrum“ plausibel zu machen. Das erste Modell, das sie anführen ist, das Gehirn. Dieses entscheide auf Grund der „gemeinsamen Disposition oder Konfiguration des gesamten neuronalen Netzwerkes in Kommunikation mit dem Körper als Ganzen und der Umwelt.“ (S 372). Ein weiteres Modell sei die ökonomische Innovation mittels Netzwerken. Ähnlich wie die Innovationen können auch politische Entscheidungsfindungen gemeinsam „produziert“ werden. Als weiteres Beispiel wird die Sprache genannt. „So, wie aus der Sprache ein Ausdruck entsteht, so entsteht aus der Multitude heraus eine Entscheidung.“ (S373).

Zuletzt wird die „Open Source“-Bewegung, die gemeinschaftlich und unter Offenlegung des Quellcodes (Source) Programme entwickelt, als ein mögliches Modell für Entscheidungsfindungen der Multitude genannt. „Die Demokratie der Multitude lässt sich somit auch als eine Art ‚Open Source‘-Gesellschaft verstehen, als eine Gesellschaft, deren Quellcode sichtbar ist, sodass wir alle gemeinsam daran arbeiten können, seine ‚bugs‘ zu beseitigen und neue Bessere soziale ‚Programme‘ zu entwickeln.“ (S 374)

Im weiteren Fortgang der Argumentation wird darauf hingewiesen, dass „die souveräne Macht, wenn sie diese Beziehungen (zur Multitude) nicht mit friedlichen, politischen Mitteln aufrecht erhalten kann, auf Gewalt und Krieg als deren Grundlagen zurückgreift.“ Diese Gewalt zwinge die Multitude zum Widerstand. Deshalb muss sich „das Projekt absoluter Demokratie paradoxer Weise als Widerstand definieren“. (S 383)

Dieser Widerstand aber genügt nicht: Der Widerstand muss sich – und das ist ein bei Negri wohlbekannter Begriff – in eine „Form konstituierender Macht“ umwandeln. Diese Form konstituierender Macht benötigt eine Theorie – und das ist neu in „Multitude“ –, sie benötigt die Wissenschaft von der Demokratie (Madison und Lenin).

Hardt und Negri meinen, dass sie in ihrem Buch die Grundlagen der Wissenschaft der Demokratie vom ontologischen und soziologischen Standpunkt her gelegt haben:

Von einem ontologischen Standpunkt aus hätten sie gezeigt, dass die Multitude in ihrer biopolitischen Produktion „ständig ein neues soziales Wesen, eine menschliche Natur“ schafft. Die Multitude sei „eine diffuse Ansammlung von Singularitäten, die ein gemeinsames Leben produzieren“; sie sei „eine Art soziales Fleisch, das sich zu einem neuen sozialen Körper zusammensetze.“ (S 384)

Von einem soziologischen Standpunkt aus hätten sie gezeigt, dass die konstituierende Macht sich schon jetzt in den kooperativen und kommunikativen Netzwerken sozialer Macht zeige. Basierend darauf, dass die biopolitische Produktion zugleich ökonomisch und politisch ist, würde die Demokratie der Multitude ein altes Problem lösen, mit dem wohl alle Militanten bisher konfrontiert waren, nämlich dass „jeder von uns Lebens- und Arbeitszeit opfern müsse, um ständig über jede politische Entscheidung abstimmen zu können.“ Und weiter: Da ökonomische und politische Produktion zusammenfallen, könnte „das kollaborative Netzwerk als Rahmen für eine neue institutionelle Struktur der Gesellschaft dienen.“ (S 385)

Das alles genüge aber nicht für eine Theorie der Demokratie der Multitude. Es bedürfe eines politischen Standpunktes, der „die gemeinsame Macht der Multitude und ihre Entscheidungsfähigkeit konkretisieren kann.“ (S 386) Die Entscheidung zur konkretisierten konstituierenden Macht, die aus den ontologischen und sozialen Prozessen produktiver Arbeit entsteht, „bedarf einer Kraft, die den historischen Fortschritt von Emanzipation und Befreiung verteidigt.“ Diese Kraft entstünde nach Hardt und Negri in einen Akt der Liebe oder (vollständiger benannt angesichts der sich ausweitenden Kriege und der globalen Krise der Demokratie und der Empörung darüber) aus einer „Welt aus Zorn und Liebe“.

Das Projekt der Demokratie der Multitude erfordere, die Zielsetzungen von (Lenins) Staat und Revolution – das heißt die Zerstörung der Souveränität durch die Macht des Gemeinsamen – und die institutionellen Methoden des Federalist (Madison)[12].

Institutionelle Einrichtungen, ein System von Rechten und Garantien, von „checks and balances“[13], wie es die amerikanische Verfassung bezeichnet, seien notwendig, um sicherzustellen, „dass unser Traum von Demokratie und unser Verlangen nach Freiheit nicht wieder nur in eine weitere Form von Souveränität zurückfallen und wir in einem Alptraum von Tyrannei erwachen.“ (S 390)

Was man brauche, „um die Multitude zum Leben zu erwecken“, sei eine Form großer Politik, eine Realpolitik, nicht im Sinne von Metternich und Churchill, sondern im Sinne des Realismus von Lenin und Mao. Diese Realpolitik muss, wenn notwendig, auch Kohärenz vortäuschen und auf verschiedene taktische Spielereien zurückgreifen.[14]

Letztlich sei es erforderlich, dass die revolutionäre Politik „in der Bewegung der Multitudes und durch die Akkumulation gemeinsamer und kooperativer Entscheidungen den Augenblick des Bruches oder Clinamen[15] erfassen muss, der eine neue Welt schaffen kann.“(S 393) Entscheidend dazu sei der richtige Zeitpunkt: Negri und Hardt schließen diese Anmerkungen zur Politik mit einem Zitat aus Julius Caesar von Shakespeare ab:

Es gibt Gezeiten in den Angelegenheiten der Menschen
die, wenn die Flut genützt wird, zum Glück führen;
wird sie verpasst, bleibt die ganze Reise des Lebens
in Untiefen und Elend stecken.

(Shakespeare: Julius Caesar, 4. Akt, 3. Szene)

Demokratie oder Kommunismus

Beim Durchlesen der Passagen über die Demokratie der Multitude fällt als erstes auf, dass es unmöglich ist, das Bild, das Negri und Hardt von der Demokratie zeichnen, von dem klassischen Bild des vollendeten Kommunismus zu unterscheiden. Badiou z. B. charakterisiert den Kommunismus als eine „egalitäre Gesellschaft mit freien Assoziationen zwischen polymorphen Arbeitern, in der die Tätigkeit nicht durch technische oder soziale Statuten und Spezialisierungen, sondern durch die kollektive Beherrschung der Notwendigkeiten geregelt ist.“ [16] Und die Beispiele und Bilder, die Negri und Hardt als Beispiele für die Demokratie der Multitude, wie die „open source“-Softwareentwicklung, verwenden, könnten ebenso auch als Beispiele eines spontanen Kommunismus verwendet werden. Was sind die Überlegungen, die Negri und Hardt dazu bringen, von totaler Demokratie zu reden und nicht von Kommunismus?

Wenn man sich den oben entwickelten Argumentationsstrang ansieht, der schließlich in die Forderung für eine neue Wissenschaft der Politik (also eine Wissenschaft der Demokratie) mündet, dann kann man zwei Bereiche finden, die es anscheinend erforderlich machten, den Begriff der (totalen) Demokratie aufzugreifen:

·        Negri und Hardt versuchen, an den Beschwerden und Klagen vor allem der Antiglobalisierungsbewegungen anzuschließen und deren Forderungen nach mehr Demokratie aufzugreifen und revolutionär zu wenden. Die Forderung nach Demokratie dient als Vehikel, um die kapitalistische parasitäre Umklammerung abzuschütteln, ansetzend an reformerischen Forderungen und Wünschen. Ein wenig lässt sich hier das im Text oben angeführte Wort von der vorgetäuschten Kohärenz verwenden: Es ist eben leichter, von totaler Demokratie zu sprechen als von Kommunismus.

·        Im Gegensatz zu „Empire“ in dem, wie auch in „Multitude“, vom Verschwinden der Grenzen zwischen politischen, sozialen und ökonomische Verhältnissen gesprochen wird, führen Hardt und Negri in „Multitude“ auch eine eigenständige politische Sicht auf die Verhältnisse ein. Die dabei skizzierte Politik ist sogar große Politik und Realpolitik. Obwohl also zwischen politischen, ökonomischen und sozialen Entscheidungen kein wirklicher Unterschied mehr besteht, bis hin zu den für alle Militanten mit Vergangenheit traumhaften Gedanken, dass dann auf jede Extrasitzung abends oder in der Freizeit verzichtet werden kann, taucht hier hinterrückst doch wieder das politische Feld mit seinen taktischen und strategischen Überlegungen auf.
Revolution zeichnet dabei wieder der Augenblick des großen Moments aus: „Von der Sehne des Bogens löst sich der Pfeil einer neuen Zeitlichkeit, mit der eine neue Zukunft beginnt.“ (Seite 393) Die schon vorhandenen Elementen einer konstituierenden Macht, die schon weitgehend herangereiften Netzwerke der Kommunikation und Kooperation, die eine andere demokratische (kommunistische – fn) Gesellschaft ohne Souverän aufrecht zu erhalten im Stande sind, müssen nur die kapitalistische Umklammerung, die parasitäre Hülle abschütteln, um als totaler demokratischer Schmetterling sich in die Lüfte zu schwingen. Diese Entpuppung ähnelt mehr, als es Hardt und Negri offen sagen, klassischen Revolutionstheorien, in denen im richtigen Moment sich alles durch die Revolution ändert. Auch ist, um sich diesem Moment der Revolution zu nähern, weiterhin große Politik auf Staatsebene bzw. auf der Ebene des Empire erforderlich.

Die Darstellung von Politik und Revolution nimmt in den eben zitierten Passagen ganz klassische Formen an. Die Politik ist global und nicht lokal, sie ist Realpolitik und die Revolution sieht eher wie ein momentanes Abschütteln der parasitären kapitalistischen Hülle über der Gesellschaft aus als wie ein beständiger Prozess im Hier und Jetzt. Inwiefern ein solcher Ansatz die realen Bedingungen widerspiegelt, wollen wir in diesem Artikel nicht weiter behandeln. Wir wollen uns hier mit dem angeführten Beispiel für eine dezentrale, nicht hierarchische (demokratische) Entscheidungsfindung auseinandersetzen. Wie steht es bei diesen Beispielen mit der Demokratie? Neben eher bildhaften Vergleichen, wie mit der Sprache und dem Gehirn[17], wird von Negri und Hardt die „open source“-Softwareentwicklung als Beispiel für die Demokratie der Multitude angeführt.

Zur „open source“ oder besser die „free software initative“ als reales Element einer nichtkapitalistischen Produktion:
Eine Gruppe von einigen hundert Interessenten beschäftigt sich im Rahmen der „Oekonux“ Initiative (Oeko für Ökonomie und nux für Linux) mit den Möglichkeiten einer nicht kapitalistischen Gesellschaft auf Basis der Ideen der „free software initiative“ – der radikaleren Variante der „open source“-Bewegung. (Siehe http://www.oekonux.de.)

Die Resultate der „free software initiative“ sind eindrucksvoll. Linux z.B., ein zu Microsoft Windows alternatives Betriebssystem mit vielen Million „lines of codes“, hat eine bessere oder zumindest gleich gute Qualität wie die besten kommerziell entwickelten Softwaresysteme. An der Entwicklung von Linux waren nicht nur tausende ProgrammiererInnen in der ganzen Welt beteiligt, sondern auch zehntausende Tester und Millionen BenutzerInnen. Dieses Projekt und ähnliche andere „free software“-Projekte zeigen die Möglichkeiten für eine nicht kapitalistische, nicht marktorientierte Produktion mit höchsten Ansprüchen. Offensichtlich genügen zwanzig Softwareentwickler und ein Projekt, das sie interessiert, damit spontan Kommunismus entsteht – der aber von den meisten TeilnehmerInnen an diesen Kooperationen nicht als solcher gesehen wird. Dennoch: Wenn wir Kommunismus im oben definierten Sinn als eine egalitäre Gesellschaft mit freier Assoziationen zwischen polymorphen Arbeitern verstehen, dann handelt es sich bei diesen Formen der Kooperation um „ein Stück Kommunismus“. Aber was hat das mit Demokratie zu tun?

Sehen wir uns die verschiedenen Organisationsformen an, die in diesen „free software“-Projekten entstanden und entstehen:

Generell gilt, dass jeder an der Diskussion über den Status, an der Entwicklung selbst und am Test mitarbeiten kann und dazu alle Information in Form der Sourcen und Dokumentation – soweit vorhanden – bekommt.

Generell gibt es auch ein Recht, sich den vorhandenen Entwicklungsstand zu nehmen und allein oder mit einer Gruppe von Mitstreitern eine eigene Entwicklung zu beginnen – ein so genannter Fork. Als einzige Bedingung gilt: Die neue Entwicklung muss ebenso wie die alte vollständig offen gelegt werden.[18]

Diese Möglichkeiten werden auch genutzt. Es gibt tausende Änderungen, Verbesserungen und Erweiterungen, die an den verschiedensten Orten ausprobiert und vorgeschlagen werden: Die produktive Weisheit der Multitude wird voll genutzt. Diese Entwickler realisieren ihren Beitrag oft in der Freizeit, während des Studiums oder werden von Firmen dazu angestellt, damit diese „einen Fuß in der Türe“ haben.

So weit so schön; wie aber wird entschieden, was von den diversen Entwicklungen, welche technische Varianten, welche Funktionen tatsächlich in die periodisch freigegebenen Versionen einfließt? Wer trifft diese Entscheidungen und wie werden sie getroffen? Wie wir sehen werden, ist es sinnvoll, die Auswahl der als optimal festgestellten technischen Umsetzung von den funktionalen Erweiterungen und Verbesserungen zu unterscheiden. Die zahlreichen und mit verschiedene Modellen für die Entscheidungsfindung operierenden Projekte haben bei der technischen Entscheidungsfindung eine Gemeinsamkeit: Es gibt keine Abstimmung, bei der jeder Entwickler gleich viel zählt.

Das grundlegende Prinzip einer Demokratie – in einer Entscheidungsabstimmung zählt jeder gleich –  ist in keiner der „free software“-Initiativen realisiert. Im bekanntesten und größten Beispiel Linux gibt es einen definierten Prozess, wer an solchen Entscheidungen welches Gewicht hat. Im Prinzip handelt es sich um eine Zählung nach Verdienst. Wer mehr für das Projekt geleistet hat, (in Form von akzeptierten Beiträgen) hat mehr Entscheidungsrechte. Generell werden die vorgeschlagenen und diskutierten Beiträge von einem harten Kern von Hauptentwicklern beurteilt – nach einer offenen und freien Debatte unter allen Interessenten. Die letzte Entscheidung im Fall der Uneinigkeit hat in diesen Projekt der Gründer Linus Torvald, der deshalb auch als der „benevolent dictator“ –  wohlwollender Diktator – bezeichnet wird.

Natürlich gibt es theoretisch immer die Möglichkeit, wenn man mit den Entscheidungen absolut nicht einverstanden ist, sich abzuspalten und ein eigenes Projekt zu begründen. Das ist auch schon einige wenige Male passiert und bei einem größeren Fork kam es sogar nach einiger Zeit zu einer Wiedervereinigung mit dem Hauptprojekt, aber wenn ein Projekt wie z. B. Linux eine derart große Menge an Entwicklern in Bewegung setzt, ist ein Austritt aus der Gemeinschaft nur dann erfolgreich, wenn gegen wichtige und gut begründete Vorschläge entschieden wurde und die Entwickler hinter den Vorschlägen entsprechendes Gewicht haben.[19]

Es gibt zwar in anderen „free software“-Projekten auch Formen der Abstimmung, bei der jeder gleich zählt, aber um in den Kreis der für eine Abstimmung berechtigten einzutreten, bedarf es entsprechender Beiträge – also wieder nach Verdienst. Nicht zufällig sind diese „demokratischen“ Formen eher dort anzutreffen, wo sich Firmen mit eigenen von ihnen angestellten Entwicklern an diesen offenen Projekten beteiligen. Hier gibt es ja nach Größe des Beitrags dann verschiedene Klassen von Mitarbeitern und in der obersten Klasse kann dann unter den „Gleichen“ entschieden werden.

Meiner Meinung nach zeigen daher die tatsächlich existierenden Projekte, dass ein politischer Begriff wie Demokratie diese Formen von Selbstorganisation nicht adäquat beschreibt. Ich kann mir auch nicht wirklich in diesen Projekten einen Entscheidungsprozess bezüglich technischer Fragen vorstellen, der nach dem Prinzip funktioniert: Jeder entscheidet mit und hat das gleiche Stimmgewicht.

Vielleicht hilft es, einige Überlegungen von Alain Badiou ins Spiel zu bringen, um besser zu verstehen, welche strukturellen Verhältnisse in den genannten Projekten die jeweiligen Organisationsformen nach sich ziehen. Badiou unterscheidet vier Bereiche: die Politik, die Wissenschaft, die Kunst und die Liebe, in denen sich anhand eines Ereignisses und der Treue[20] zu diesem Ereignis ein Subjekt herausbildet und nennt diesen Prozess eine „Wahrheitsprozedur“. Für ihn gibt es im Charakter dieser Prozeduren ganz wesentliche Unterschiede. Ein Ereignis ist politisch, wenn „ein virtueller Anspruch an alle transportiert“ (Badiou, S 151) wird. Jeder ist in gleicher Weise angesprochen. Das Denken der politischen Wahrheit ist kollektiv. Es macht keinen Unterschied. Ein Beispiel für ihn ist z. B. der Kampf der „sans papier“ in Frankreich für volle Rechte unter Losung: „Alle, die hier sind, sind von hier.“ Diejenigen, die sich als Subjekte einer solchen Politik konstituieren – die Militanten – sind virtuell alle, niemand darf ausgeschlossen sein.

Anders ist es nach Badiou in der Wissenschaft. Zur Anerkennung eines Ereignisses in der Wissenschaft braucht es im Extremfall – z. B. in der Mathematik – einen einzigen anderen Wissenschafter. Während es für die Politik entscheidend ist, dass die „Leute unterschiedslos zu dem Denken, welches das politische Subjekt nach dem Ereignis konstituiert, befähigt sind“ (ebenda), ist das für die Wissenschaft (und auch für die anderen Wahrheitsprozeduren) nicht notwendig. Badiou bezeichnet deshalb die Wissenschaft (neben der Kunst und Liebe) als aristokratische Wahrheitsprozeduren.

Im Gegensatz zu den Darlegungen von Badiou gibt es für mich Wahrheitsprozeduren auch in der gesellschaftlichen Produktion – Produktion im umfassenden Sinn ähnlich wie bei Negri und Hardt skizziert. Das Entstehen der „free software“ zeichnet alles aus, was nach Badiou ein Ereignis kennzeichnet: Aus einem benannten Ereignis – hier wir machen free software – entsteht eine Wahrheitsprozedur im Denken der Militanten der „free software“, die diesem Konzept die Treue halten. Der Prozess der Produktion von „free software“ zeigt die Wahrheit der Produktion von Software generell – nämlich den kooperativen Charakter, der mit Markt und Austausch nichts zu tun hat. Es ist hier nicht der Platz, im Detail diese philosophische Metaüberlegung in allen Facetten nachzuzeichnen, was aber entscheidend ist: Auch die „free software“ ist überwiegend eine aristokratische Wahrheitsprozedur. Sicher richtet sich das Verfahren der „free software“ auch an alle, aber sie unterscheidet die Beiträge nach der besseren Konzeption und die Beurteilung und Entscheidung wird letztlich hierarchisch organisiert.

Aber auch bei der „free software“ gibt es „politische“ Entscheidungen. Die Frage, welche funktionelle Eigenschaft die nächste Version der Software unterstützen soll, ist eine Frage des ganzen Kollektivs, z.B. der Linux-Entwickler und Anwender. Hier muss jeder gleich zählen. Diejenigen aber, die nach einer kollektiven Festlegung der nächsten Ziele das, was sie dringend benötigen, nicht rechtzeitig bekommen, müssen die Entscheidung treffen, ob sie warten oder ob sie sich mit einem Fork selbständig machen.

Zusammenfassend scheint mir der Begriff der Demokratie der Multitude für alle diese Prozesse den Kern der Sache nicht zu treffen. Die taktischen Überlegungen aber, mit dem Begriff der Demokratie an den bestehenden reformerischen Bestrebungen anzuknüpfen, sind nicht nur ungenügend ausgearbeitet. Wie das geringe Echo auf das Buch „Multitude“ generell und auf den Abschnitt über die Demokratie im Besonderen zeigt, konnte damit auch nicht ein breiteres Interesse erzeugt werden. Eigentlich war es gerade die tabulose Verwendung des Begriffs des Kommunismus in „Empire“, was einen Teil des Interesses an dem Buch erklärt.

Alain Badiou und die Demokratie

Alain Badiou und die Organisation, die er mitbegründet hat – die „Organisation politique“ –, ist einer der schärfsten Gegner des Diskurses über den demokratischen Staat, wie die zu Beginn des Artikels angeführten Zitate zeigen. Badiou meint auch in verschiedenen Interviews und Artikeln, die leider nur auf Französisch vorliegen, dass es eine der wichtigsten Aufgaben der Philosophie sei, das Denken der Demokratie, so wie es in der gegenwärtigen Situation des Kapitalismus als subjektiver Fetisch auftritt, zu untersuchen.

Im Zentrum steht dabei der Gedanke, dass es keinesfalls ausreicht, um die herrschenden Ideologien zu verstehen, von der Kritik des Kapitalismus auszugehen. Die Kritik des Neoliberalismus, des Horrors der Ökonomie gehöre zum Repertoire der „kritischen“ Presse, darüber werden Bestseller geschrieben. Diese Kritik sei aber laut Badiou wirkungslos und führe im besten Fall zu Reformvorschlägen, die grundsätzlich nichts ändern und weitgehend illusorisch seien. Die dominante Ideologie sei aber die Demokratie. „Die Demokratie ist ein Tabu, sie ist der wichtigste Fetisch des allgemeinen Einverständnisses. Sie ist das wirkliche subjektive Prinzip der Bindung an den liberalen Kapitalismus überall in der Welt.“[21]

Andererseits versucht auch Badiou und die „Organisation politique“, ihren eigenen Begriff von Demokratie praktisch werden zu lassen und ihn nicht einfach der herrschenden Meinung zu überlassen.

Badiou sieht den Begriff der Demokratie abseits der Staatsform als „ein(en) stets singuläre(n) Ausgleich zwischen Freiheit und Gleichheit.“ (ebenda S 161) Gleichheit ist dabei für Badiou nicht ein (staatlicher) Zustand oder Programm, sondern Inhalt jeder politischen Wahrheitsprozedur, die gekennzeichnet ist durch eine egalitäre Maxime, wie sie „jeder Emanzipationspolitik“ eigen ist. Diese egalitäre Maxime ist aber erst möglich, wenn „der Staat konfiguriert, auf Distanz gebracht, gemessen ist.“ (S 159). Wesentliches Kennzeichen des Staates ist nämlich – diese Überlegungen basieren auf seinen Theorien der mathematischen Mächtigkeiten von Präsentation und Repräsentation (Staat)[22] – die nicht messbare Mächtigkeit der staatlichen Übermacht: „Heute (…) wird jede egalitäre Politik im Namen einer maß- und begriffslosen Notwendigkeit der liberalen Ökonomie unmöglich gemacht und für absurd erklärt. Charakteristisch für diese blinde Macht des entfesselten Kapitals ist jedoch eben, dass sie an keinem Punkt messbar und fixiert ist. (…) Sie ist übermächtig.“ Eine politische Präskription (Vorschrift) kann das Irren des staatlichen Machtexzesses unterbrechen und „es wird möglich, in militanten Parolen einen freien Abstand zum Staat herzustellen und zu kalkulieren.“ (Seite 157) Beispiele solcher „Parolen“ in der Vergangenheit sind für Badiou die bolschewistische Insurrektion von 1917, die zeigen konnte, dass der zaristische Staat mit seiner nicht messbaren Machtfülle, in der Situation von 1917 durch den Krieg bedingt, ein schwacher Staat ist. Oder ein anderes Beispiel: Die Fixierung der Staatsmacht, wie sie– beschrieben in den 30er Jahren von  Mao in der Schrift „Warum kann die rote Macht in China existieren“ – gelang, in welcher er die Staatsmacht unter Führung der Kuomintang als stark, aber nicht in der Lage, die roten Gebiete vollständig zu zerschlagen, beschrieb.

Laut Badiou ist es „keineswegs die bloße Macht des Status der Situation (für Badiou die „staatliche“ Metastruktur), welche die egalitären Politiken unmöglich macht, sondern die Dunkelheit und Maßlosigkeit, mit der sich diese Macht umgibt. Erst wenn das politische Ereignis eine Klärung, eine Fixierung, einen Nachweis dieser Macht autorisiert, ist, mindestens lokal, die egalitäre Maxime praktikabel.“ (S 159)

Die Freiheit ist für Badiou aber genau dieses Distanzschaffen zum Staat und die Gleichheit die egalitäre Maxime einer politischen Prozedur. Beispiele für die singulären Namen, die die Demokratie annimmt, waren daher für ihn die „Sowjets“ oder die “befreiten Zonen“ in China und sind heute z. B. die Zapatisten, die Sammlungsbewegung der Kollektive von Arbeitern ohne Papiere – sans papier und die Organisation politique.

Badiou will den Begriff Demokratie für die Politik in Distanz zum Staat retten und gleichzeitig das Ende der Politik der Staatsmacht und Parteien deklarieren. Demokratie „im starken Sinn“ wird daher zu etwas, das weder mit Wahlen noch mit Parteien noch mit dem Staat etwas zu tun hat.

In dem Papier „Was ist die Organisation politique - OP“ (auf französisch: http://orgapoli.net/spip.php?article86 ) wird deshalb versucht, den Begriff der Demokratie für die eigene Politik zu definieren. Die zentrale Idee dabei ist, dass in bestimmten Situationen, in denen politische Möglichkeiten erkennbar sind, sich diejenigen organisieren, die diese Möglichkeit abseits jeder Parteipolitik oder der Errichtung einer eigenen Partei annehmen wollen. Diese Situationen sind eingeschränkt und die OP betrachtet es als eine der Krankheiten der „Oppositionellen“ im Sinne der parlamentarischen Demokratie, das sie über alles, was passiert, etwas sagen zu müssen glauben.

Für die Situationen, in denen die Möglichkeiten politischer Interventionen erkannt werden, gibt es einen Ort (lieux);so gibt es für die Politik, dass jeder Arbeiter, auch wenn er gerade ins Land gekommen ist, gleich viel zählt (jeder, der hier ist, ist von hier), „die Versammlung des Kollektivs der Arbeiter ohne Papiere“. Dieser Ort ist für die OP demokratisch im starken Sinn:

Das Kollektiv, das sich zusammenschließt handelt nach dem Prinzip: „Komme, wer wolle“, und beschließt nach einer intensiven methodischen Diskussion die Etappen der Politik und die Aktionen, die gemacht werden sollen. Dabei kann jeder reden und jeder nimmt an den Entscheidungen teil. Dafür ist weder eine Delegation noch eine Repräsentation notwendig, denn es kommt derjenige, der kommen will - die Kollektive habe keine Delegierten –, und es gibt keine Wahl. Im Laufe der Diskussion gibt es entweder eine Entscheidung, die für alle klar ist oder alle sind der Meinung, dass man noch suchen muss, um in der Lage zu sein, zu entscheiden.

Dieser Ort der Politik ist vollständig außerhalb des Staates, seines Apparates, seiner Institutionen. Der Ort ist deshalb frei und eine Schöpfung derjenigen, die dieser Ort ausmacht. Diese demokratische Politik, die Sequenz, hat– so sehen es die OP und Badiou - einen Anfang und ein Ende; sie hört auf, wenn der Ort aufhört, zu existieren. Daher gibt es parallel und hintereinander eine Reihe von solchen Sequenzen an unterschiedlichen Orten.

Wenn man eine Politik vom Standpunkt des Staates macht, dann – meint die OP – verstümmelt und unterdrückt man die Vielfachheit der Orte zu Gunsten der Einheit des Ortes der Macht. (Bei den Stalinisten, der KPF ist der Ort der Macht die Partei, bei den parlamentarischen Parteien der Staat selbst – so die OP.) Die Vielzahl der nicht staatlichen Möglichkeiten von Politik zuzulassen und geeignete Orte zu konstruieren, darin liege die Macht ihrer Politik. Die OP selbst solle die Verbindung zwischen verschiedenen Sequenzen und daher Orten herstellen.

Da die OP ausschließlich entlang der Sequenzen mit ihren Orten organisiert ist, kann man mit der Demokratie am Ort rechnen: Jeder spricht in seinem eigenen Namen, jeder schätzt ab, was er macht, wobei ein Prinzip der OP ist, dass jeder die Konsequenzen aus dem, was er bereit ist zu tun, selber ziehen muss. Die Militanten der OP sind also diszipliniert durch ihr Denken und die Konsequenzen der Situation und nicht durch die formale Disziplin einer Organisation.

In der OP gibt es keine Hierarchien. Die Militanten der OP wählen frei den oder die Prozesse, in denen sie Untersuchungen machen, sich mit den Leuten zusammenschließen, Versammlungen einberufen, Ziele vorschlagen, etc.

Dieser kurze Überblick über die OP zeigt, dass Badiou und die GenossInnen der OP trotz oder vielleicht auch wegen ihrer radikalen Kritik der parlamentarischen Demokratie auf diesen Begriff und seine Entwicklung in ihrer eigenen Organisation nicht verzichten wollen und ihn sogar ganz zentral in den Gegensatz zum Staat stellen.

Die Auseinandersetzung mit „Demokratie“ lohnt sich!

Wie schon im ersten Teil des Artikels beschrieben zeichnen sich Diskussionen unter Linken über „Demokratie“ – falls sie überhaupt stattfinden – dadurch aus, dass einander scheinbar völlig widersprechende Positionen eingenommen werden. Bei wenigen Themen wird derart aus dem Bauch heraus argumentiert wie beim Thema „Demokratie“. Wie der Artikel zu zeigen versucht, sind diese Divergenzen zum Teil dem Thema selber geschuldet. „Demokratie“ hat unzählige Facetten und widersprüchliche Bestimmungen. Gleichzeitig wird es aber immer klarer, dass ohne eine breite Debatte über „Demokratie“ und ohne konkrete Einschätzung ihrer Bedeutung in den herrschenden Diskursen dieses Feld vollständig den Apologeten des Kapitalismus überlassen wird. Die Auseinandersetzung mit „Demokratie“ ist daher wichtig und lohnt sich. [23]

Daher ist die Wiedereinführung dieses Begriffs in die Debatte in den Büchern und Artikeln von Negri, Badiou und anderen zu begrüßen. Die Beiträge von Negri und Hardt, aber auch die von Badiou zeichnen sich dadurch aus, dass sie „Demokratie“ nicht auf Parlamentarismus beschränken, sondern zu entwickeln versuchen, was Demokratie für die Selbstorganisierung der Militanten bedeuten könnte; sie versuchen Demokratie zu einem Begriff zu machen, um den zu kämpfen es sich lohnt.

Beide Ansätze sind sehr unterschiedlich: Während Negri und Hardt mit Demokratie einfach an die Vorstellung des Kommunismus anschließen, deren kapitalistisch verzerrte Form auch schon an einer Reihe postfordistischer Produktionsverhältnisse zu Tage träte, haben die von Badiou mitgestalteten Demokratiekonzepte der Organisation politique viel Ähnlichkeit mit Konzepten, die ehemals als Basisdemokratie bezeichnet wurden. Was aber beide Darstellungen auszeichnet, ist, dass sie das Thema der Repräsentation nur beim Staat problematisieren. Die Demokratie der Multitude, die totale Demokratie scheint überhaupt keine Institutionen zu benötigen und daher stellt sich das Problem Repräsentation nicht, bei der Organisation politique von Badiou wird wiederum kein Wort über informelle Institutionalisierungen und Machtverhältnisse verloren, obwohl es gerade letztere waren, welche die Grenzen basisdemokratischer Organisierung zeigten.

Dennoch: die Debatte ist eröffnet. Sowohl eine gründliche und radikale Analyse der Demokratie als Staatsform, der Demokratie als postkapitalistischer Form der Vergesellschaftung als auch als praktischer Erprobung politischer Konzepte, in denen man den Begriff der Demokratie in einen anderen Kontext stellt, sind notwendig. Dieser Artikel hofft, dazu Anstöße gegeben zu haben.

Anmerkungen


[1] Weiter heißt es in dem Zitat: „Der Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus muss natürlich eine ungeheure Fülle und Mannigfaltigkeit der politischen Formen hervorbringen, aber das Wesentliche wird dabei unbedingt das eine sein: die Diktatur des Proletariats. (Staat und Revolution, Lenin Werke Bd. 25, http://www.mlwerke.de/le/le25/le25_413.htm )

[2] Thema des Seminars war: „Widerstand, Aufstand & Konstituierende Macht, Demokratie, oder: Ist eine (revolutionäre) Politik möglich?

[3] Bedingt durch die Ideologien der Neokonservativen in den USA und ihrer Ableger in Europa über „die demokratische Neuordnung des Nahen Osten“ in Form von so genannten Präventivkriegen, hat das Thema „Demokratie“ nicht nur bei den „grundrissen“ an Aktualität gewonnnen. Diverse linke Websites und Gruppen-Blogs haben sich des Themas angenommen. Unter anderen:

http://postdemocracy.org/category/post-democracy/

http://culturemachine.tees.ac.uk/Articles/neilson.htm

http://www.long-sunday.net/long_sunday/democracy/index.html

[4] Eine interessante Frage ist, wieso am Höhepunkt des Kalten Krieges in der Regel eher der Begriff der Freiheit in Stellung gebracht wurde – „Der freie Westen ist …, der freie Westen meint …“, etc. war der übliche Stehsatz in jedem Artikel und Radioprogramm – während demokratisch erst an zweiter Stelle verwendet wurde.

[5] Das Empire konstituiert sich nach Hardt/Negri aus drei Schichten der Macht, die in Form einer Pyramide angeordnet sind; oben: die monarchische Macht und ihr globales Gewaltmonopol (die USA), darunter: die aristokratische Macht der transnationalen Firmen und Nationalstaaten und an der Basis: die demokratisch-repräsentionalen Vereinigungen in Form wiederum der Nationalstaaten zusammen mit verschiedenen Arten von NGOs, Medienorganisationen und anderen.

[6] ebenda S 132, im Buch wird „militant“ mit Kämpfer übersetzt. Ich ziehe die Übersetzung Militante vor.

[7] Der Versuch der möglichst vollständigen bürokratischen Kontrolle der ProduzentInnen in den „sozialistischen“ Ländern (und auch das teilweise Fehlen der Zwänge eines Arbeitsmarktes) war sicherlich der wichtigste Faktor der Unterlegenheit dieser Länder in der Konkurrenz am Weltmarkt.

[8] Im Gegensatz zu verschiedenen weit verbreiteten Einschätzungen über die Herrschaft der Kommunistischen Partei Chinas bei gleichzeitiger Einführung eines kapitalistischen Treibhauses meine ich, dass ein wichtiger Teil der Kapitalisten, Bürokraten und Politiker sich der Probleme, das ihr starres politisches System hat, sehr wohl bewusst ist. Hauptkennzeichen dieser Starrheit ist, dass relativ kleine Konflikte schnell eskalieren. Neben dem Wunsch, durch einen Übergang zu demokratischen Staatsformen nicht von einer Konkurrenz aus den Ämtern der Macht entfernt zu werden – den ja jede demokratisch herrschende Schicht auch hat – ist es die Angst vor dem Verlust der Stabilität im Lande, das heißt Stabilität des Ausbeutungssystems, was ein nur zögerliches Umsetzen von üblichen demokratischen Einrichtungen bedingt. Wenn man die Debatten zwischen den Flügeln in der chinesischen KP und ihrem Umfeld in diesem Sinn liest, dann geht es dabei meist um die Frage, wie schnell die Einführung weniger starrer Mechanismen erfolgen soll, um mehr Flexibilität bei Aufrechterhaltung der Herrschaft zu erreichen. Meine Einschätzung ist, dass es – nicht unähnlich zu Singapur oder Malaysia – zu einem langsam sich erweiternden Pluralismus der Strömungen und Parteien (?) kommen wird, wenn nicht die Revolten und Aufstände diesen Plänen ein Ende bereiten.

[9] Dagegen könnte eingewendet werden, dass die Wahlbeteiligung in der Regel von Wahl zu Wahl sinkt. So wird auch in nicht wenigen Publikationen der autonomen und anarchistischen Linken jeder neue Rekord an Wahlabstinenz als Anzeichen gedeutet, dass die Bevölkerung sich von ihren Illusionen in das System verabschiedet. Nun zeigt aber die USA, dass auch bei 40 Prozent Wahlbeteiligung die Legitimität der Herrschaft nicht wirklich in Bedrängnis kommt. Obwohl Bush von kaum mehr als 20 Prozent der Bevölkerung gewählt wurde, wird die Legitimität dieses Herrschers vom Großteil der Bevölkerung nicht in Frage gestellt. Wie die ebenfalls sehr geringe Wahlbeteiligung im ehemaligen Ostblock eingeschätzt werden soll, ist für mich offen. Was meiner Meinung nach jedenfalls eine Untersuchung zeigen würde, ist, dass sowohl im Westen wie im Osten gerade diejenigen Teile der Bevölkerung, die meinen, dass das „kapitalistischen System“ überwunden werden soll und kann, in wesentlich größerem Ausmaß wählen gehen als der Durchschnitt der Bevölkerung. Eine wirkliche Analyse dieses Phänomens und Schlussfolgerung daraus für die Praxis der Linken fehlt jedenfalls.

[10] In Italien fand 2005 ein Seminar über „Demokratie und Krieg“ statt, an dem neben Tronti und Negri auch noch andere ehemalige Operaisten teilnahmen: http://www.globalproject.info/art-3436.html. Leider sind die Reden nur auf italienisch verfügbar: “L’Enigma Democratico”, veröffentlicht als „Per la Critica della Democrazia Politica“, in: M. Tarì (Hg.), Guerra e Democrazia, Sammelband, Rom, manifestolibri. In diesem Seminar sagt Tronti in einer Gegenposition zu Negri – zitiert nach Angela Mitropoulos und Brett Neilson, „Cutting Democracy’s Knot“ in http://culturemachine.tees.ac.uk/Articles/neilson.htm –, er besteht darauf, „dass die Zeit gekommen ist den ,Knoten der Demokratie‘ zu durchtrennen. Historisch zeigt die Demokratie sowohl eine Praxis der Herrschaft als auch ein Projekt der Befreiung. In Zeiten von Krise und Ausnahme kommen diese beiden Aspekte in Konflikt. In der gegenwärtigen Zeit jedoch – die für Tronti eine Periode der Normalität ist –, verbinden sich diese beiden Aspekte. (…)Es gibt nicht zwei Gesichter der Demokratie, sondern eine Verknüpfung beider. Mehr noch: Heute besteht ein derartiges Ungleichgewicht in diesen Beziehungen, dass nur der Aspekt der Herrschaft evident ist. Das ist der Grund – für Tronti – warum der Knoten der Demokratie nicht mehr entwirrt (…), sondern nur mehr durchtrennt werden kann.“ Weiter meint er, dass „die Kritik der Demokratie tief verbunden ist mit der Wiederbegründung und dem Neudurchdenken der Freiheit. (…) Die Demokratie ist nicht länger das beste der schlechten politischen Systeme, sondern der Horizont, an dem sich die Bedeutung von Politik erschöpft, (…) der Triumph der Ökonomie über die Politik. (…) Nicht Kapitalismus als solcher hat die Arbeiterbewegung besiegt, sondern die Demokratie: Die Arbeiterbewegung hat sicherlich Änderungen des Kapitalismus erzwungen, aber wie sich herausstellt, wurde sie durch die Demokratie umgebracht. Dafür gibt es zwei Symptome: die Gleichsetzung des homo democraticus mit dem homo oeconomicus und nicht zuletzt der Aufstieg der Gesellschaft der Eigentümer – der Massenbourgoisie –, die ihren Ausdruck in den aktuellen apolitischen Systemen findet. (…) Demokratie ist so vollständig verkörpert in der gegenwärtigen Situation, dass es nicht mehr möglich ist, die symbolische Ordnung wiederherzustellen, die früher von diesem Wort beschworen wurde.“ (Übertragung fn)

[11] Zu Recht wurde deshalb die ständige Flucht aus dem Ostblock und der Versuch, dies zu verhindern, als Zeichen der Schwäche der dortigen Herrschaft gedeutet.

[12] Die Federalist Papers sind eine Serie von 85 Artikeln und erschienen 1787/88 in verschiedenen New Yorker Zeitungen. Sie dienten vorrangig als Verteidigungsschrift der 1787 in Philadelphia entworfenen, aber noch nicht in Kraft getretenen Verfassung für eine amerikanische Union. Verfasst wurden die Artikel von John Jay, James Madison und Alexander Hamilton (aus: http://de.wikipedia.org/wiki/Federalist_Papers ).

[13] Checks and balances ist eine Bezeichnung für die gegenseitige Kontrolle (checks) von Verfassungsorganen eines Staates, zur Herstellung eines dem Erfolg des Ganzen förderlichen Systems partieller Gleichgewichte (balances), zunächst im Wesentlichen, um einer Diktatur vorzubeugen. Analytisch entstammt die Betrachtungsweise bereits der Antike, nämlich der Analyse des römischen Verfassungslebens durch den griechischen Historiker Polýbios. Dieses Prinzip, das in der Aufklärung 1748 (im Geist der Gesetze) von Montesquieu neu aufgegriffen worden ist, wurde 1789 erstmals in der Verfassung der USA festgeschrieben (aus: http://de.wikipedia.org/wiki/Checks_and_balances).

[14] Negri unterstützt bekanntlich die Versuche der europäischen Mächte (der Aristokratie des Empires), den Versuchen der Usurpation des Empires durch die USA Widerstand zu leisten. Sind diese Bemerkungen der Metadialog dazu?

[15] Clinamen ist der Name, den Lucretius den spontanen mikroskopischen Abweichungen der Atome vom vertikalen Fall gab. Nach Lucretius würde ohne Clinamen „kein Zusammenstoß der Atome stattfinden und keine Wirkung der Atome aufeinander würde entstehen. Die Natur hätte nie etwas kreieren können.“

[16] Metapolitik, S 92, Alain Badiou, diaphanes

[17] Wie bei allen Modellen, die in bestimmten Wissensgebieten entstehen, werden auch die konzeptionellen Bilder der Hirnforschung durch herrschende Paradigmen beeinflusst. Die Paradigmen (oder eher Ideologien) des „Neoliberalismus“ und des liberalen Kapitalismus generell sind gekennzeichnet von der Polemik gegen zentrale administrative Konzepte und Begeisterung für das freien Spiel der Kräfte (des Marktes). Widerspiegeln die neueren Konzepte des Gehirns ohne zentrale Schaltstelle nicht gerade die Konjunktur dieser Neuauflage liberaler Theorien?  Umgekehrt: In den Universitäten, die sich mit kognitiven Systemen „am Rande des Chaos“ wie dem Gehirn beschäftigen, wird meist auch in Richtung Markt als System geforscht – inklusive der Apologie des Kapitalismus als Realisierung eines sich selbst organisierenden Systems. Das heißt, dass das Beispiel, das Negri und Hardt bringen, auch von den Apologeten des Kapitalismus verwendet wird, um die Übereinstimmung des herrschenden ökonomischen Systems mit anderen (natürlichen) Systemen wie dem Gehirn zu zeigen. (siehe z. B. die Forschungen des multidisziplinären Instituts in Santa Fe : http://www.santafe.edu/index.php )

[18] Dieser Zwang zur Offenlegung ist der Grund, warum nicht aus kommerziellen Gründen ein Fork begonnen wird. Wäre dieser Zwang nicht vorhanden, würden kapitalistische Unternehmen die vorhandene Lösung nehmen, um einige wichtige Funktionen erweitern und das ganze als normales Produkt auf den Markt bringen. Tatsächlich erlauben einige „open source“-Lizenzen indirekt ein solches Vorgehen und das ist auch der Grund, warum Firmen wie IBM und andere Milliarden an Entwicklungen der „open source“-community schenken: Sie bekommen mit Hilfe tausender für sie kostenlos arbeitender Entwickler eine stabile Basis, auf der sie ihre eigenen kommerziellen Entwicklungen aufsetzen können.

[19] Ein solcher Fork erinnert daher ein wenig an Austrittsbewegung aus großen politischen Parteien, wie es z. B. der Austritt der Bolschewiken aus der Zweiten Internationale war.

[20] Treue ist immer etwas besonderes, sie ist kein subjektives Merkmal oder eine Tugend. Sie ist die Menge der Schritte und Interventionen, die in einer konkreten Situation unternommen werden, um der Benennung des (zufälligen) Ereignisses gerecht zu werden. Als Beispiel: die Treue in einer Liebe ist die über die Zeit hinweg feststellbare Differenz, welche die Folgewirkungen der Liebe vom gewöhnlichen Gang der Dinge – ohne Liebe - unterscheidet. Badiou meint, dass diese Interventionen ein Subjekt konstituieren und nennt diesen Prozess Wahrheitsprozedur. Wahrheit deshalb, weil alle diese Interventionen an einer Wahrheit gearbeitet haben werden; im Beispiel oben z.B. der (unendlichen, nicht abschließbaren) Wahrheit dieser Liebe.

[21] Interessanterweise deckt sich sein Urteil dabei weitgehend mit dem von Tronti, der mit anderen Argumenten zu fast identischen Schlussfolgerungen kommt. (Siehe die Fußnote weiter oben.)

[22] Was über das, was es gibt, ausgesagt werden kann, hat für Badiou, wenn von jeden konkreten Merkmal abstrahiert wird, die Form einer Mannigfaltigkeit von Mannigfaltigkeiten. Erstere bezeichnet Badiou als in der Aussage präsentierte Situation. z. B. die Mannigfaltigkeit „Österreicher“ ist aus den Mannigfaltigkeiten „Huber“, „Meier“ etc. zusammengesetzt, die ihrerseits Manigfaltigkeiten sind. Den Zustand (englisch und französisch ist Zustand = state/état und Staat = state/état dasselbe Wort) oder die Metastruktur über „Österreicher“ definiert Badiou als die Menge aller Teilmengen der ursprünglichen Menge „Österreicher“. Eine Teilmenge wäre z. B. die Österreicher, die unter 800,- Euro verdienen. Der Zustand ist dann die Menge aller möglichen Teilmengen. Ein fundamentaler Satz der axiomatischen Mengenlehre besagt nun, dass diese Menge aller Teilmengen (die Potenzmenge = für Badiou die Metastruktur oder Repräsentation) eine nicht deduktiv ermittelbare Mächtigkeit hat. In den 60er Jahren hat aber der Mathematiker P. J. Cohen bewiesen, dass man durch ein eingreifendes Verfahren erzwingen kann – Cohen nennt das forcing –,  dass die Mächtigkeit der Potenzmenge je nach der Art des forcing einen bestimmten Wert annimmt.

[23] Mehr Substanz hatte bisher die Debatte über einen Teilaspekt von „Demokratie“, nämlich das Thema Rechte, betrachtet als Menschenrechte, Rechte der Frauen, Emigranten, Lesben und Schwulen usw. Die Beziehung zwischen „Demokratie“ und „Rechte“ haben wir in diesen Artikel nur am Rande behandelt. Generell zeichnet „Rechte“ aus, dass sie vom Staat gewährt, garantiert werden und im Wesentlichen nur für die Staatsbürger gelten. Ausländer, legale und illegale Migranten und Asylanten sind von der Mehrzahl der „Rechte“ ausgeschlossen. Schon Hannah Arendt wies darauf hin, dass es für einen Staatenlosen oder sonstigen nicht anerkannten Bewohner eines Landes einen Vorteil darstellt, als Straftäter ins Gefängnis zu kommen, da er dort bestimmte Rechte hat, die ihm z. B. in Abschiebehaft oder Internierungslagern fehlen. Wie in Österreich selbst die primitivsten Rechte mit Füßen getreten werden, sieht man z. B. an der seit Jänner gültigen Regelung für Ehen von Österreichern mit Ausländern, bei denen letztere ohne jedes Verfahren jederzeit in (Schub-)Haft genommen und abgeschoben werden können.

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