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Die Reife der Zeit: Zur Aktualität der Multitude
Gespräch
von Colectivo Situaciones mit Paolo Virno[1]
Übersetzt von Birgit Mennel
Colectivo Situaciones: Wir
glauben, ein Gespräch mit dir muss von einer Prämisse ausgehen, die sowohl für
deine Werke als auch für die so vieler anderer italienischer GenossInnen von
großer Bedeutung ist: die Theoretisierung des Postfordismus vom Standpunkt der
Arbeit und ihrer Veränderungen. Offensichtlich bringt der Postfordismus deiner
Ansicht nach nicht spezialisierte Charakter- oder Wesenszüge der Art ins Spiel,
die vorher außerhalb der kapitalistischen Produktion waren. Lässt sich nun gemäß
dieser Sichtweise in deinen jüngsten Texten eine gewisse Kontinuität zwischen
den Anliegen, die in der Grammatik der Multitude aufkommen, und diesen
Erörterungen zum menschlichen Tier, zur Sprache, zur Innovation und zum
„Offenen“ finden? Würdest du sagen, dass die Untersuchung des Postfordismus und
der Multitude die Neurowissenschaften, die Anthropologie sowie die moderne
Linguistik durchlaufen muss, um derart zur Natur des sprachbegabten Tieres und
seinen aktuellen politischen Perspektiven vorzudringen? Wenn ja, warum? Ist es
immer dasselbe politische Anliegen, das deine Untersuchungen durchzieht?
Paolo Virno: Ich kann mich
sicherlich täuschen, aber mir scheint, dass selbst meine abstraktesten
Untersuchungen der letzten fünfzehn Jahre von der zeitgenössischen Multitude
ausgegangen sind. Die Multitude ist das grammatikalische Subjekt; die Analyse
zur Struktur der historischen Zeit (Il ricordo del presente, 1999) sowie
zu den wesentlichen Voraussetzungen der verbalen Sprache (Quando il verbo si
fa carne, 2003) bezieht sich auf die Prädikate. Ich bin überzeugt davon,
dass die Multitude die kollektive Seinsweise ist, die dadurch charakterisiert
ist, dass alle natürlichen Voraussetzungen unserer Art unmittelbar politische
Bedeutung erlangen. Daher erschien es mir wichtig, diese Bedingungen zu
ergründen. Kurzschlüsse und brillante Formeln, mit denen man sich um jeden Preis
einen Applaus zu sichern sucht, nützen offensichtlich überhaupt nichts. Wenn man
von der verbalen Sprache oder von der historischen Zeit spricht, ist es, als ob
man die Wüste durchquert: Man sieht sich vor Paradoxa und Sackgassen ohne Ausweg
gestellt und verliert sich in komplizierten, nach bestimmten Instrumenten
verlangenden Analysen. Erst am Ende eines nicht wenig gewundenen theoretischen
Weges – und genau dank diesem – findet man (selbstverständlich nur manchmal)
heraus, dass die gestellten Probleme es ermöglichen, die gegenwärtigen
Handlungen und Leidenschaften – nicht metaphorisch, sondern wörtlich – besser zu
verstehen.
Die Erörterung der
„menschlichen Natur“ hat ganz zentral mit dem politischen Kampf zu tun, jedoch
selbstverständlich nur unter der Bedingung, dass man einige signifikante
Dummheiten vermeidet. Die dümmste dieser Dummheiten besteht darin, aus den
unterschiedlichen Charakterzügen unserer Art eine politische Strategie – und im
schlimmsten Fall sogar eine Taktik – ableiten zu wollen. Das macht Chomsky (der
andererseits für die Kraft, mit der er gegen die Schurken der US-amerikanischen
Administration kämpft, zu bewundern ist), wenn er sagt, dass das menschliche
Tier, das mit phylogenetischen Mustern einer Sprache ausgestattet ist, die immer
Neues hervorzubringen vermag, gegen die Mächte kämpfen muss, die seine
angeborene Kreativität abtöten. Sehr gut. Was geschieht jedoch, wenn die
sprachliche Kreativität zur wesentlichen ökonomischen Ressource im
postfordistischen Kapitalismus wird? Die Anthropologie ist das Schlachtfeld der
Politik, und nicht etwa eine Theatersouffleuse, die uns sagt, was wir tun
sollen. Die „menschliche Natur“ – d. h. die biologischen Invarianten unserer Art
– ist niemals Teil der Lösung, sie ist immer Teil des Problems.
Die großen Klassiker des modernen
politischen Denkens, Hobbes und Spinoza, um nur die bekanntesten zu erwähnen,
betrachteten die menschliche Natur als Rohstoff für die politische Handlung. Ein
Rohstoff, aus dem die politische Handlung sehr verschiedene historisch-soziale
Formen hervorbringen kann. Daher waren Hobbes und Spinoza nicht zuletzt
tiefgründige und realistische Anthropologen. Aber was hat sich heute im
Vergleich zu jener Epoche geändert, in der sich der moderne Staat formierte? Vor
allem eines: Die wesentlichen Vermögen des menschlichen Tieres sowie außerdem
seine charakteristischen Affekte verwandelten sich in die Antriebskräfte der
sozialen Produktion. Marx bestimmte die Arbeitskraft als Inbegriff aller
physischen und geistigen Fähigkeiten, die in der Leiblichkeit, der lebendigen
Persönlichkeit eines Menschen existieren.[2]
Nun gut, diese Definition bewahrheitete sich in den letzten dreißig Jahren.
Tatsächlich wurden die kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten erst kürzlich in
den Produktionsprozess eingespannt. Wer daher – unter Gesten der Verachtung –
die Nachforschung über die „menschliche Natur“ vernachlässigt, ist außerstande,
die herausragenden Charakteristika der zeitgenössischen Arbeitskraft zu
begreifen. In der gegenwärtigen theoretischen Landschaft gibt es eine Menge
NaturalistInnen, die für die Geschichte blind sind, sowie eine Menge
HistorikerInnen, die sich empören, wenn von der Natur gesprochen wird. Der
Mangel der einen wie der anderen liegt nicht in der Einseitigkeit ihrer
Annäherungen, sondern im Gegenteil in ihrer jeweiligen Unfähigkeit, die Aspekte
zu begreifen, auf die sie einseitig ihre Aufmerksamkeit richten. Jene, die eine
ihrer geschichtlichen Dimension beraubte menschliche Natur kultivieren,
begreifen diese Natur in letzter Instanz nicht; jene, die eine vom biologischen
Hintergrund abgespaltene Geschichte kultivieren, erläutern mitnichten die
Geschichte. Die Theorie der Multitude muss sich dieser doppelten Engführung
entziehen.
Colectivo Situaciones:
Vielleicht ist es nicht zutreffend, von einem „Pessimismus“ zu sprechen, aber
zweifellos stellt die Frage nach dem „Bösen“ im „offenen Tier“, das nun nicht
mehr durch die Souveränität eines jetzt in der Krise befindlichen Staates
geschützt ist, auch jene des Negativen wieder ins Zentrum deiner Reflexion und
verleiht so dem Begriff der Ambivalenz mehr Schärfe. Woher rührt die
Notwendigkeit, jetzt auf dem „Negativen“ zu beharren? Ist das auf politische und
theoretische Konjunkturen zurückzuführen, die du uns erklären kannst, oder
vielmehr auf einen anderen Typ reflexiven Anspruchs? Welche Konsequenzen hat
diese Betonung in deiner Arbeit? Wie würdest du den theoretischen und
politischen Status der „nicht-dialektischen Negation“ definieren?
Paolo Virno: Ich habe in den letzten
Jahren vor allem zu zwei Fragen gearbeitet – eine sprachlogische sowie eine
anthropologische Frage –, die beide mit der Multitude in Verbindung stehen. Die
erste, die sprachlogische Frage lautet: Welche mentalen Ressourcen erlauben es
uns, unsere Lebensform zu ändern? Worin besteht eine innovative Handlung? Was
geschieht genau, wenn eine Regel nicht mehr funktioniert, sich aber noch keine
andere gefunden hat, die sie ersetzt? Ich habe versucht, auf diese Fragen eine
Antwort zu finden, indem ich ein signifikantes Beispiel für sprachliche
Kreativität im Detail untersuchte: den Witz. Der Witz ist ein Mikrokosmos, in
dem dieselben Kräfte wirken, die uns im großen Maßstab den sozialen und
politischen Exodus ermöglichen. Während ich also eigentlich von der
Funktionsweise des humoristischen Satzes sprach, fand ich mich unter anderem
mitten in der Erörterung des Ausnahmezustands und der Krise eines normativen
Systems.[3]
Die zweite, die
anthropologische Frage betrifft die unserer Art eingeschriebene destruktive
Last, die „Negativität“, mit der ein mit Sprache begabtes Sein kämpfen muss.
Diese beiden Fragen sind eng miteinander verknüpft. Es mag paradox anmuten, aber
es sind dieselben Voraussetzungen, die einerseits die Innovation ermöglichen und
andererseits die Aggressivität in den Konfrontationen zwischen Mitmenschen
nähren. Man muss nur an die sprachliche Verneinung denken. Diese erlaubt es
einerseits, dass man sich gegen ein ungerechtes Gesetz auflehnt, aber eröffnet
gleichzeitig die Möglichkeit, dass man jemanden (z.B. eine JüdIn oder eine
AraberIn) nicht wie einen Menschen behandelt. Die Essais dieses Sammelbandes
sind der „Logik der Veränderung“ und dem so genannten „Bösen“ gewidmet. Ich
wiederhole, dass beide Termini in der postfordistischen Multitude verkörpert
sind. Man könnte es sogar so ausdrücken: Die Multitude oszilliert zwischen
Innovation und Negativität.
Aber eure Frage bezieht
sich vor allem auf die Negativität, auf das Gefährliche des menschlichen Tieres.
Ich werde daher versuchen, etwas mehr zu diesem Aspekt zu sagen. Die Überlegung
zur Negativität und zum Bösen entspringt nicht einem pessimistischen Urteil über
die Gegenwart oder einem Misstrauen hinsichtlich der neuen Bewegungen. Im
Gegenteil, die Zeit ist reif für diese Überlegung. Heute ist eine Öffentlichkeit
außerhalb des Staates, ja sogar jenseits des Staats denkbar. Das heißt, es ist
ganz und gar realistisch – in den sozialen Kämpfen – Institutionen aufzubauen,
die keinen „Souverän“ als Oberhaupt haben und die jedes „politische
Entscheidungsmonopol“ zerstreuen. Diese post-staatlichen Institutionen müssen
bezüglich des Problems, wie die Aggressivität des menschlichen Tieres besänftigt
und seine (selbst)zerstörerische Bürde, die es trägt, gezügelt werden kann,
unterschiedliche Umgangsweisen anbieten – und es auf unterschiedliche Weisen
lösen. Die Aktualität der Überwindung des Staates lässt Fragen wie diese
dringlich werden. Ich wiederhole: Meine Überlegungen rühren gerade nicht von
einer ungerechtfertigten Melancholie angesichts des Laufs der Welt her. Zu
denken, die Multitude sei eine absolute Positivität, ist eine unentschuldbare
Dummheit. Die Multitude ist vielmehr der Zerstreuung, der Korruption und der
inneren Gewalt unterworfen. Andererseits sind ihre ersten Anzeichen nicht sehr
überschwänglich. Als der Fordismus – in den 1980er Jahren – schnell in eine
Krise eintrat, präsentierten sich die neuen Figuren der gesellschaftlichen
Arbeit mit „schlechten“ Wesenszügen: Opportunismus, Zynismus und Angst. Wenn uns
der Exodus über das Zeitalter des Staats hinausbringt, dann müssen wir das
„Gerede in der Wüste“ berücksichtigen. Um das Gerede, also die der Multitude
eingeschriebene Negativität, zu begreifen (erinnern wir uns an die nachweislich
gegenüber den Schwächsten ausgeübte Gewalt im Stadion von New Orleans, wo jene
„Vielen“ in Sicherheit gebracht wurden, die nicht die Mittel hatten, dem
Wirbelsturm Katrina zu entkommen …), brauchen wir andere Kategorien als die
Dialektiken und andere Begriffe als z.B. jenen der „Antithese“. Einverstanden.
Aber wir brauchen Kategorien, die die Wirklichkeit des Negativen vollständig in
sich aufnehmen können, anstatt sie auszuschließen oder zu verschleiern. Ich
schlage daher die Begrifflichkeiten „Ambivalenz“ und „Oszillieren“ vor, so wie
außerdem eine nicht freudianische Verwendung des Freud’schen Terminus des
„Unheimlichen“. Nach Freud ist das, was uns Angst einjagt, nichts anderes als
das, was in einem anderen Moment die Fähigkeit hatte, uns zu beschützen und zu
beruhigen. Vielleicht kann diese dem „Unheimlichen“ eingeschriebene Bedeutung
dazu dienen, zu sagen, dass die Destruktivität lediglich ein „anderer“
Ausdrucksmodus eben jener Fähigkeit ist, die es uns andererseits erlaubt, neue
und bessere Lebensweisen zu erfinden.
Colectivo Situaciones: In deiner Arbeit
diskutierst du die Schmitt’sche Vorstellung der Souveränität. Zweifellos
relativiert sich diese Diskussion durch die Diagnose der profunden Krise der
Zentralstaaten. Dennoch kommt in deinen Texten die Absicht zum Ausdruck, einen
erneuten Rückfall in „staatliche“ politische Perspektiven zu verhindern. Um
welche Risiken handelt es sich, wenn die staatliche Souveränität in der Krise
ist? Außerdem durchzieht alle deine Texte ein der operaistischen Tradition
verschriebener Gedankengang, dem zufolge das Wertmaß in der Lohnform reaktionär
gewendet weiter besteht, obwohl es durch die Veränderungen im Produktionsprozess
in die Krise kam. Glaubst du, dass die politische Souveränität eine ähnliche
Entwicklung durchmacht? Ist auch sie eine anachronistische Form, die aber wie
der Lohn als Maßeinheit im zeitgenössischen Leben paradox gegenwärtig ist?[4]
Und wie fügt sich all dies mit der Vorstellung eines „permanenten
Ausnahmezustandes“ zusammen?
Paolo Vorno: Der moderne
Zentralstaat erfährt eine radikale Krise, er reproduziert sich aber durch eine
Reihe beunruhigender Metamorphosen weiter. Der „permanente Ausnahmezustand“ ist
zweifellos eine Art und Weise, wie sich die Souveränität selbst überlebt, wie
ihre Dekadenz unbestimmt weiter andauert. Für den „permanenten Ausnahmezustand“
gilt das gleiche, was Marx schon von den Aktiengesellschaften sagte. Seinem
Urteil zufolge erschienen letztere als Überwindung des Privateigentums auf
Grundlage des Privateigentums selbst. Anders ausgedrückt, die
Aktiengesellschaften ließen die Möglichkeit aufscheinen, das Privateigentum zu
überwinden, aber zugleich bildeten sie diese Möglichkeit auf eine Weise aus, die
das Privateigentum qualitativ stärkte und weiter entwickelte. In unserem Fall
könnte man sagen: Der „permanente Ausnahmezustand“ zeigt die Überwindung der
Staatsform auf Grundlage der Staatlichkeit selbst an. Er ist gleichermaßen eine
Perpetuierung des Staates und der Souveränität, wie er die Zurschaustellung
seiner eigenen irreversiblen Krise sowie der Hoch-Zeit einer schon nicht mehr
staatlichen Republik ist.
Ich glaube, dass der
„Ausnahmezustand“ einige Punkte nahe legt, um über die Institutionen der
Multitude, ihre mögliche Funktionsweise sowie ihre Bestimmungen auf positive
Weise nachzudenken. Nur ein Beispiel: Im „Ausnahmezustand“ wird der Unterschied
zwischen „Rechtsfragen“ und „tatsächlichen Fragen“ so weit abgeschwächt, bis er
beinahe gänzlich verschwindet. Normen werden zu empirischen Tatsachen und einige
empirische Tatsachen erlangen eine normative Macht. So kann diese relative
Ununterscheidbarkeit zwischen Norm und Tatsache – die heute Sondergesetze und
Sondergefängnisse wie Guantánamo produziert – zweifellos eine alternative Form
annehmen und sich in ein „konstitutionelles“ Prinzip für die öffentliche Sphäre
der Multitude verwandeln. Der springende Punkt ist, dass die Norm immer ihren
faktischen Ursprung zur Schau stellen und gleichzeitig die Möglichkeit aufweisen
muss, wieder in den Bereich der Tatsachen zurückzukehren. Sie muss schließlich
ihre Widerrufbarkeit und Ersetzbarkeit zur Schau stellen. Jede Regel muss sich
als Maßeinheit für die Praxis präsentieren und gleichermaßen als etwas, das
einem stets neuen Ermessen zu unterziehen ist.
Colectivo Situaciones: All
dies artikuliert sich in deiner Kritik an einer bestimmten naiven
Anti-Staatlichkeit, die im Namen eines vorausgesetzten ursprünglichen Gutseins
der Multitude ausgesprochen wird, immer wieder – auf Rousseau’sche Art und Weise
– ruiniert durch die Institution (der Sprache, des Eigentums etc.). Wir für
unseren Teil sehen ein großes Vermögen in dieser Argumentation, das, um es so
auszudrücken, „unseren Blick Richtung Ambivalenz“ wendet. Und wir schätzen diese
Bravourleistung, dass du an dem Punkt komplex wirst, an dem unsere Schwächen am
spürbarsten sind.
Dennoch wird dein Hinweis
in dem Zusammenhang nicht zum Skeptizismus, insofern du viele Verwendungsweisen
des Begriffs der „Institution“ der Multitude ins Gedächtnis rufst (das
Zurückgehaltene [katéchon], „Negation der Negation“ etc.). Wie sollen wir
uns nun die politische Dimension dieser „Institutionen“ (des Exodus?)
vorstellen, die sich einerseits der staatlichen Souveränität (zwar in der Krise,
aber wieder belebt?) widersetzen und die andererseits das „Böse“ verkörpern, mit
dem die Multitude mittels der Mechanismen Verdrängung und Bezähmung koexistieren
muss? Gibt es in dem Zeitalter, in dem „das Offene“ des Sprachtieres die
tägliche Ausnahme (den postmodernen Faschismus?) bezwingt, eine Beziehung
zwischen dem „Bösen“ und der „Souveränität“? Könntest du uns erläutern, wie du
dir dieses institutionell-politische Spiel in seiner „neuen“ Komplexität
ausmalst?
Paolo Virno: Ich habe in
meinem Text „Das sogenannte Böse und die Staatskritik“ (Il cosidetto „male“ e
la critica dello stato) versucht, im Detail auf diese Frage einzugehen. Ich
glaube, dass eine teilweise Antwort schon im weiter oben Ausgeführten enthalten
ist. Dem würde ich jetzt gerne einige polemische Überlegungen hinzufügen.
Wirklich „skeptisch“ hinsichtlich des Schicksals der internationalen Bewegung
scheint mir derjenige zu sein, der die Multitude als „von Natur aus gut“,
solidarisch, dazu geneigt in Harmonie zu agieren sowie frei von jeglicher
Negativität schildert. Wer so denkt, reduziert die New-Global-Bewegung auf ein
Phänomen der Gegenkultur bzw. der Medien, auf ihre Metamorphose in einen Komplex
marginaler Gangs, die nicht wirklich in die Produktionsverhältnisse eingreifen
können. Wenn man hingegen das „Böse“ der (und in der) Multitude anerkennt,
bedeutet das, sich mit den Schwierigkeiten zu konfrontieren, die einer radikalen
Kritik am Kapitalismus inhärent sind, der auf seine Art und Weise die
menschliche Natur selbst in Wert setzt. Wer dieses „Böse“ nicht eingesteht, hat
sich schon damit abgefunden, nicht genügend Aufwind zu haben; oder um es auf
andere Weise zu sagen, er findet sich mit der Gefahr ab, dass die Bewegung unter
ihren Möglichkeiten bleibt.
Eine zweite Beobachtung:
Einigen wir uns auf die Verwendung des Wortes „Institution“. Ist es ein Begriff,
der ausschließlich zum Vokabular des Gegners gehört? Ich glaube nicht. Ich
glaube, dass der Begriff der „Institution“ auch (und möglicherweise vor allem)
für die Politik der Multitude Ausschlag gebend ist. Mittels der Institutionen
schützt sich unsere Art vor der Gefahr und gibt sich Regeln, um die eigene
Praxis zu potenzieren. Auch ein Piquetero-Kollektiv ist daher eine Institution.
Die Muttersprache ist eine Institution. Institutionen sind Rituale mittels derer
wir versuchen, die Krise einer Gemeinschaft abzuschwächen und zu lösen. Die
eigentliche Herausforderung besteht darin, im Einzelnen herauszufinden, welche
Institutionen sich jenseits des im Staat verkörperten „politischen
Entscheidungsmonopols“ setzen. Einschließlich der Frage: Welche Institutionen
befinden sich auf der Höhe des von Marx beschriebenen „General Intellect“, jenes
„sozialen Gehirns“, das zugleich die wichtigste Produktivkraft und auch ein
republikanisches Organisationsprinzip ist?
Colectivo Situaciones: Die
Betonung der Ambivalenz des sprachbegabten Tieres und seiner Beziehung zum Staat
scheint in deinen Argumenten im Unterschied zu anderen Überlegungen zum
Postfordismus eine Gleichgültigkeit hinsichtlich der Analysen zu den neuen
Formen der Kontrolle und Führung des Lebens, die weit über die Souveränität der
Nationalstaaten hinausgehen („Kontrollgesellschaften“, die „Noopolitik“, die
„Biopolitik“ etc.), mit sich zu bringen. Wie würdest du dich hier positionieren?
Paolo Virno: Nein, ich bin
ganz und gar nicht gleichgültig gegenüber anderen Analysen des Postfordismus.
Einige dieser Analysen schätze ich, andere kritisiere ich. Sie alle jedoch
veranlassen und verpflichten mich dazu, meine Fragen zu formulieren, um besser
nachdenken zu können. Zwei Beispiele: Erstes Beispiel, die
„Kontrollgesellschaft“. Eine gute Kategorie. Von der Kontrollgesellschaft zu
sprechen, bedeutet in groben Zügen, dass die Kooperation der gesellschaftlichen
Arbeit einiges an Vermögen (und Wirksamkeit für die kapitalistische Verwertung)
verlieren würde, würde sie nicht bis ins kleinste Detail gelenkt und
diszipliniert werden. Die Erfindung und die Innovation sind schon nicht mehr das
Vermögen des Schumpeter’schen Unternehmers, sondern Grundbedingungen der
lebendigen Arbeit. Der Kapitalist muss sich die Innovation a posteriori
aneignen, er muss aus ihr die der Akkumulation ähnlichen Aspekte herausfiltern
und alles eliminieren, was freien Institutionen der Multitude Raum gibt. In
einem gewissen Sinn haben wir es mit einer Kehrtwende von der „realen
Subsumption“ zur „formellen Subsumption“ der Arbeit zu tun. Oder um es anders
auszudrücken und den Marx’schen Jargon beiseite zu lassen, man kann einen
Übergang beobachten von jenen Herrschaftsformen, die auf der Negation jeglicher
Autonomie der Arbeitskraft basieren, hin zu solchen Herrschaftsformen, die die
Arbeitskraft dazu antreiben, Innovation, intelligente Kooperation etc. zu
produzieren. Man muss hinzufügen, dass die „Kontrollgesellschaft“ mit ihrer sehr
modernen „formellen Subsumption“ nach mehr und nicht nach weniger repressiver
Gewalt verlangt. Und warum, ist klar: Die kapitalistische Verwertung der
lebendigen Arbeit bezogen auf den „General Intellect“ verlangt einerseits, dass
die lebendige Arbeit eine gewisse Autonomie genießt, andererseits muss sie
verhindern, dass aus dieser Autonomie ein politischer Konflikt entsteht. Und die
kapitalistische Verwertung verhindert dies mit einer Grausamkeit, die der
Fordismus nicht nötig hatte.
Zweites Beispiel: die
Biopolitik. Die Regierung des Lebens ist von der Tatsache abhängig, dass sich
die Arbeitskraft selbst verkauft. Die Arbeitskraft ist sogar ohne effektive
Anwendung reines Vermögen: Vermögen zu sprechen, zu denken, zu handeln. Aber ein
Vermögen ist kein wirkliches Objekt. Es existiert insofern, als es einem
biologischen Organismus „einlagert“, im Körper der ArbeiterIn. Daher regiert das
Kapital das Leben, weil nämlich das Leben der Träger der Arbeitskraft ist,
Substrat eines reinen Vermögens. Nicht weil das Kapital die Körper als solche
befehligen möchte. Folglich entsteht die Regierung des Lebens aus der
Vorstellung der Arbeitskraft. Foucault kehrte Marx (wie so viele andere) allzu
rasch den Rücken, mit dem Effekt, einige Zeit später zu gewissen Marx’schen
Ergebnissen zu gelangen, indem er ihn aber von den Füßen auf den Kopf stellte.
Colectivo Situaciones:
Alle Nachrichten aus der Welt der Technowissenschaften und der Digitalisierung
berichten uns vom Versuch, die innere Zusammensetzung und die Form der Arten –
einschließlich der menschlichen – abzuändern. Gegenwärtig gibt es viele
Experimente, die mit dem Versprechen, „das Menschliche zu verbessern“ oder
einfach „das Leiden zu verhindern“, darauf abzielen, das Gedächtnis zu
modifizieren oder einen Eingriff in das Gehirn, das Nervensystem etc.
vorzunehmen. Die Technowissenschaften laborieren an der Hypothese eines
informatisierten Menschen, Genoms, DNA etc. Wie beurteilst du diese Versuche
tierischer und menschlicher Genmanipulation? Beginnen ihre Grenzen wirklich zu
verschwimmen? Welcher Art ist der Machttypus, der auf dieser Ebene des
Technokapitalismus operiert?
Paolo Virno: Das Problem
ist nicht neu. Das menschliche Tier ist das einzige, das – über das Leben hinaus
– das Leben selbst möglich machen muss. Dies hängt einerseits mit seiner Umwelt
zusammen, andererseits reformuliert das menschliche Tier selbst stets von neuem
die Beziehung zu dieser Umwelt. Es ist ein von Natur aus künstliches Tier. So
viel dazu, dass der Mensch immer, zumindest gewissermaßen, seine eigene Umwelt
samt seinem Körper modifiziert hat. Oder besser gesagt, die menschliche Praxis
wird immer auf eben jene Bedingungen angewendet, die die Praxis menschlich
machen. Heute steht dieser Aspekt im Vordergrund, er wurde eine Industrie.
Meines Erachtens müssten die Bewegungen eine vorsichtige Sympathie für die
Technowissenschaften zeigen. Offensichtlich vorsichtig, da diese von
kapitalistischen Interessen durchzogen sind. Aber eine Sympathie, weil die
Technowissenschaften – und sei es auf noch so abscheuliche Weise – die
Möglichkeit aufzeigen, den alten Bruch zwischen den Geisteswissenschaften und
den Naturwissenschaften zu überwinden.
Colectivo Situaciones: Zum
„Witz“ und zur Pointe. Angenommen die „Pointe“ ist ein der Innovation und
vielleicht sogar der Praxis inhärentes Diagramm, dann entsteht sofort das
Problem, das den Status der „Dritten“ betrifft, eine Figur, die zugleich
„öffentlich“ ist. Bei der ersten Lektüre schien es uns, dass selbst wenn der
„Witz“ drei Figuren oder Positionen vereint (die Person, die den Witz macht, die
Figur, über die die Pointe hereinbricht, und eine dritte Figur, die den Witz
positiv aufnimmt oder ablehnt), auf denen diese ganze, unmittelbar öffentliche
Struktur beruht, dennoch die PointenreißerIn eine aktivere Stelle innehat, d. h.
diejenige, die ihre Pointe-Hypothese erarbeitet, deren Erfolg dann bewertet
wird. Wir möchten dir daher folgende Frage stellen: Welche aktive und mögliche
Politik gibt es seitens der Dritten? Verlangt nicht die Eigentümlichkeit der
„allgemeinen Intelligenz“ eine stetige Sensibilisierung hinsichtlich der
Einfälle der anderen und nicht nur ein aufmerksames Suchen nach dem geeigneten
Augenblick, an dem man selbst eine WitzereißerIn werden kann?
Paolo Virno: Ich bin mit
der von euch formulierten Hypothese völlig einverstanden. Im Witz ist die
„dritte Person“ (so nennt sie Freud), d. h. das Publikum, ein wesentlicher, aber
passiver Bestandteil. Im Großen und Ganzen entspricht sie der Position jener,
die an einer politischen Versammlung teilnehmen und die Diskurse einschätzen,
die in ihr ablaufen. Ohne die Anwesenheit dieser BeobachterInnen würden die
artikulierten Diskurse keinerlei Sinn ergeben. Aber zumindest auf den ersten
Blick tun sie nichts. Ist das wirklich so? Vielleicht nein. Vor allem in der
neuen globalen Bewegung ist die Rolle der „dritten Person“, des Publikums, schon
für sich eine Form aktiver Intervention. Wer heute einem Einfall oder einem
politischen Diskurs sein Gehör schenkt, reartikuliert ihn, während er zuhört,
entfaltet seine möglichen Entwicklungen und verändert seine Bedeutung: Kurzum,
im Moment des Hörens wird der Diskurs oder der Einfall einer Veränderung
unterzogen. Schlussendlich hat es mit einem aktiven Publikum zu tun.
September 2006
Paolo Virno,
geboren in Neapel 1953. Er war Teil der
„Bewegung von 1977“, Aktivist bei Potere Operaio und später in der Autonomia
Operaia. Virno war angeklagt im „Prozess des 7. April“, der viele der Aktiven
ins Gefängnis brachte bzw. ins Exil trieb. Nach seiner Freilassung 1987 schrieb
er für die Zeitschriften Futur Antèrieur, Luogo Comune und Derive Approdi etc.
Er beschäftigte sich v. a. mit der Analyse der Transformationen produktiver
Subjektivitäten im Postfordismus und der Neuzusammensetzung der sozialen
Bewegung in Italien.
Publikationen: „Convenzione e materialismo“ (1986), „Parole con parole“ (1995),
„Mondanità“ (1994), „Il ricordo del presente“ (1999), „Quando il verbo si fa
carne“ (2004). Auf Deutsch
übersetzt wurde bislang die „Grammatik der Multitude“ (Turia + Kant: Wien 2005).
[1]
Dieser Text erschein als Vorwort zum Buch „Die Ambivalenz der Multitude:
Zwischen Innovation und Negativität“, Tinta Limón Ed. 2006)
[2]
Vgl. Grammatik der Multitude, Turia + Kant: Wien 2005, S. 112.
[3]
Vgl. P. Virno, Motto di spirito e azione
innovativa.
Rubettino 2005
[4]
Vgl. „Zehn Thesen zur postfordistischen Multitude“ in Grammatik der
Multitude, Turia + Kant: Wien 2005, S. 135 ff.
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