|
Stefan Nowotny& Gerald Raunig: Nietzscheanissimo Seit geraumer Zeit scheint es in linken wie in rechten Zusammenhängen gut eingeführt, gewisse, oder besser gesagt gerade ungewisse Bereiche der Theorie unter dem Begriff „Postmoderne“ zusammenzufassen. Im Allgemeinen wird den solcherart gelabelten AkteurInnen unterstellt, radikalen Relativismus zu forcieren, ein „Anything goes“ und gleichzeitig das Ende der Geschichte zu propagieren, und damit Alternativen zum pankapitalistischen System zu denunzieren oder überhaupt in Abrede zu stellen. Auf eine Auseinandersetzung mit jenen AutorInnen (wie etwa Lyotard), deren Diagnosen und Theoretisierungen am Anfang der Postmodernediskussion stehen, meint diese Bezeichnungspraxis seit längerem verzichten zu können. Vielmehr zeichnet sich das gleichzeitige Branding und Bashing der Postmoderne vor allem durch eine Unschärfe und Diffusität aus, anhand deren nicht nur einzelne rechte Autoren wie Francis Fukuyama, sondern auch extrem disparate Erscheinungen des neoliberalen Kapitalismus zusammengefasst und angegriffen werden: ein Aspekt, der zuletzt auch zum alarmistischen Begriffsungetüm „postmoderner Faschismus“ geführt hat. Seltsamerweise wird unter das Etikett der Postmoderne aber auch eine genauso großzügig durcheinander gewürfelte Mischung vor allem französischer und italienischer Philosophie zwischen Postmarxismus, Postkolonialismus, Poststrukturalismus und Postoperaismus mit einbezogen, dem Umstand zum Trotz übrigens, dass ein Teil der dergestalt Klassifizierten eine Zurechnung zur Postmoderne oder sogar die Relevanz dieses Begriffs mehrfach vehement und eindeutig zurückgewiesen hat.[1] Diese in mehrfacher Weise verwaschen-verwischende und umso beliebtere Strategie scheint nun eine kleine Schwester bekommen zu haben, die – invers zur bis zur Beliebigkeit in alle Richtungen ausufernden Bedeutung des Begriffs Postmoderne[2] – gerade die linken unter den als Postmoderne missverstandenen Strömungen extrem engführt: und zwar unter dem Namen des „Linksnietzscheanismus“ (sowie des „nietzscheanischen Linksradikalismus“ oder schließlich – in erneuter Verunklarung und Amalgamierung von Verwaschenheit und Engführung – des „postmodernen Linksnietzscheanismus“). Nietzsche als Fama und multipler Name „Man muss gefährlich leben“, jener Satz Friedrich Nietzsches, der seit den späten 1950ern durch einige Filme Godards geisterte, scheint heute merkwürdigen anti-nietzscheanischen Anverwandlungen zu unterliegen: „Nietzsche ist gefährlich“, tönt es allerorten, und begleitet wird dieser Zuruf zumeist von selbstgewissen Auskünften darüber, wie gelebt werden soll.[3] In der französischen Variante blieben die besorgten Mahnrufe vor 15 Jahren einer Gruppe von nouveaux philosophes um die unvermeidlichen Luc Ferry und Alain Renaut vorbehalten[4], jenen „neuen Philosophen“ also, die es sich zum Anliegen gemacht haben, den Typus des viel zitierten französischen Intellektuellen in Gestalt philo-konservativer Fernseh-Talker neu zu erfinden. Was sich auf der einen Seite als simpel, allzu simpel moralisierendes liberaldemokratisches Plädoyer gegen den Antidemokraten Nietzsche darstellt, ist indessen andererseits schlicht Abrechnung mit der Generation der philosophischen „Väter“: Nicht Nietzsche ist der wahre Gegner, sondern das poststrukturalistisch geprägte Denken von Foucault, Deleuze, Guattari, Lyotard, Derrida und anderen. Dasselbe gilt für die jüngsten deutschsprachigen Kassandrarufe in Sachen Nietzsche, und doch enthält die offenkundige Parallele eine feine Ironie: Denn während die französischen Angriffe auf den multiplen Namen „Nietzsche“ vorzugsweise von rechts kommen und Diskurse der politischen Linken bekämpfen, klingelt manchen deutschsprachigen Linken, wenn sie denselben Namen hören, reflexartig die Gefahr einer Reise nach rechts in den Ohren.[5] Das wäre in gewissen Maßen nachvollziehbar, läge der Grund dafür allein in den nazistischen Nietzsche-Rezeptionen oder auch in jenen Zügen und Motiven von Nietzsches Werk, die sich diesen Rezeptionen anboten und daher jegliche Kritik herausfordern (dass diese Kritik zuweilen unterlassen wurde, ist Gegenstand berechtigter Einwände). Doch Nietzsche ist eben längst zum multiplen Namen geraten, unter dem sich allerlei Verschiedenes attackieren lässt, und so unterbleibt mitunter jede ernsthafte Auseinandersetzung mit Werk wie auch mit Rezeption. Das Problem verweist zunächst auf einige Charakteristika der deutschsprachigen Nietzsche-Rezeption. Werner Hamacher fasste in seiner Einleitung zu dem zuerst 1986, in erweiterter Ausgabe 2003 neu aufgelegten Sammelband Nietzsche aus Frankreich die Wege und zugleich Erschwernisse dieser Rezeption treffend zusammen: „Nietzsche in Deutschland, das war in vieler Hinsicht die Geschichte einer Fama, die das Los der Texte bestimmte und das Gehör für ihre Stimmen betäubte.“[6] Die Fama, dahin gehören zum einen die unterschiedlichsten Idealisierungen Nietzsches, die ihn zum Aristokraten und Snob stilisierten, für die Zwecke bildungsbürgerlicher Distinktionsbegehren einspannten oder zur Identifikationsfigur (post)pubertärer Orientierungs- und Abgrenzungsbedürfnisse gerieten ließen und lassen. „Er wurde“, so Hamacher, „als ‚freier Geist‘ verstanden – aber der ‚freie Geist‘ war nur eine seiner ironischen Gestalten –, weil diejenigen, die ihn brauchten, nicht frei genug waren, ihn zu lesen.“[7] Und in diesen „idealisierenden“ Teil der Fama gehören natürlich vor allem die verschiedenen Vereinnahmungen Nietzsches für Antisemitismus, Rassismus und Nationalismus, angefangen von seiner Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche und deren Ehemann Bernhard Förster[8] über die umfangreiche manipulative Tätigkeit des – von Förster-Nietzsche nach Nietzsches Zusammenbruch gegründeten – Nietzsche-Archivs in Weimar[9] bis hin zum vernichtungspolitischen Biologismus der Nazis. Genau an diesem Punkt setzt der zweite Teil der Fama um Nietzsche an, nämlich der seiner „Diffamierung zum Protofaschisten, dessen ‚Irrationalismus‘ es erlauben sollte, ihn als Ideologen eines Systems der kalkulierten Menschenverachtung auftreten zu lassen“[10]. Wir begnügen uns hier damit, diese Fama der Diffamierung an ihrer überspitzten Artikulation in Gerhard Hanlosers Text in diesem Heft zu exemplifizieren: „Nietzsche hat nicht ohne Grund einen schlechten Ruf“, eröffnet Hanloser den Abschnitt mit der Zwischenüberschrift „Nietzsches Position“. Und um den LeserInnen den herbeibeschworenen Grund auch nicht (oder wenigstens nicht gänzlich) vorzuenthalten, füllt er ein gutes Drittel des entsprechenden Abschnitts mit einem Horkheimer-Zitat, das unter Beweis stellen soll, dass es mit Nietzsches „schlechtem Ruf“ seine versiegelte Richtigkeit hat. Weiters präsentiert uns Hanloser in einer Fußnote eine Passage aus Nietzsches Zur Genealogie der Moral, in der (nebst Demokratie-, Anarchismus- und Sozialismus-Bashing) von der „Eroberer- und Herren-Rasse“ und den „Ariern“ die Rede ist, und gelangt damit flugs von der Frage nach der „Position Nietzsches“ zur (mit der Anspielung auf Nietzsches Protofaschismus angereicherten) Erkenntnis der „klare[n] Klassenposition Nietzsches“, ja zur Qualifikation, dass Nietzsche „sogar […] Feind der Klasse war“. Größere Mühe muss eine solche „Analyse“ nicht aufwenden, sie begnügt sich mit der Fortschreibung des gegen Nietzsche gewendeten Grundverdachts; der „schlechte Ruf“ ist ihr Alpha und Omega, denn über den Charakter des Gerüchteverbreitens geht sie kaum hinaus. An Beispielen wie diesem wird zugleich der von Hamacher angedeutete Zusammenhang zwischen Fama und Leseverweigerung deutlich. Konkreter: Der neuere Nietzsche-Alarmismus in der deutschsprachigen Linken bedient sich – vielleicht weil auch er von vornherein weniger an Nietzsche interessiert ist als daran, den über Nietzsches Namen konstruierten „Linksnietzscheanismus“ zu skandalisieren – an Lektüretechniken, die im besseren Fall dem Zweck einer Kompilation „einschlägiger“ Stellen Genüge tun, die Nietzsche als Herrenmenschen-Theoretiker, Antisemiten, Rassisten, Frauenverächter usw. vorstellen. Wir werden uns hier nicht dazu versteigen, diesen Kompilationen mit einer ausführlichen Gegen-Kompilation entgegenzutreten, die beispielsweise den Nietzsche präsentiert, der die „antisemitischen Schreihälse des Landes zu verweisen“ empfiehlt[11], den Nietzsche, der seinen Zarathustra den Staat einen „Götzen“ und „das kälteste aller kalten Ungeheuer“[12] nennen lässt, den Nietzsche, der an zahllosen Stellen Rachsucht und Ressentiment geißelt, oder auch den Nietzsche, der gegen das „nationale Nervenfieber“[13] und „die fluchwürdige Aufreizung zur Völker-, zur Rassen-Selbstsucht“[14] anschreibt und der es als seinen Ehrgeiz ansieht, „als Verächter der Deutschen par excellence zu gelten“[15]. Eine solche Gegen-Kompilation hätte immerhin den Vorteil, nicht jene Art von „Auswahl“ aus Nietzsches Schriften zu wiederholen, die ihr Vorbild an den entstellenden Montagen Elisabeth Förster-Nietzsches hat.[16] Sie könnte auch mit einiger Wahrscheinlichkeit eine ähnliche Suggestionskraft entfalten wie jene Textmontagen, denen sie sich entgegensetzt. Aber sie würde mit diesen nicht nur die Geste teilen, alle Fraglichkeiten auf dem Altar zweifelhafter Eindeutigkeiten zu opfern, sondern darüber hinaus auch in der Tat Gefahr laufen, das an Nietzsche zu unterschlagen, was der kritischen Betrachtung bedarf. Es gibt eine Spielart der Textkompilation, die vor allem eines signalisiert: nämlich dass es sich nicht lohnt, zu lesen, oder dass das Lesen in schnell verdaulichen Häppchen von Fundstücken sein Auslangen findet. Problematiken: Antisemitismus und Ressentiment Interessanter wäre es demgegenüber, von Passagen auszugehen, die weder einen „bösen“ noch einen „guten“ Nietzsche vorführen, sondern einen im doppelten Sinn problematischen; einen Nietzsche, der bestimmte Probleme formuliert und, ja, zuweilen auf problematische Weise formuliert, sodass, wer sich zu einer Auseinandersetzung mit diesen Problemen bereit findet, sich zugleich mit den Bestimmungsgründen und Überdeterminiertheiten ihrer Artikulation zu beschäftigen hätte. Nehmen wir etwa folgende Passage, die einen Nietzsche der kritischen Selbstreflexion hervortreten lässt, der zugleich gewissen politischen Kräften seiner Zeit auf den (affektiven) Grund fühlt – nämlich auf das Ressentiment: „Möge man mir verzeihn, dass auch ich, bei einem kurzen gewagten Aufenthalt auf sehr inficirtem Gebiete, nicht völlig von der Krankheit verschont blieb und mir, wie alle Welt, bereits Gedanken über Dinge zu machen anfieng, die mich nichts angehn: erstes Zeichen der politischen Infektion. Zum Beispiel über die Juden: man höre. – Ich bin noch keinem Deutschen begegnet, der den Juden gewogen gewesen wäre; und so unbedingt auch die Ablehnung der eigentlichen Antisemiterei von Seiten aller Vorsichtigen und Politischen sein mag, so richtet sich doch auch diese Vorsicht und Politik nicht etwa gegen die Gattung des Gefühls selber, sondern nur gegen seine gefährliche Unmäßigkeit […] – darüber darf man sich nicht täuschen.“[17] Nietzsche, der Diagnostiker (in seinen Worten: der „Psycholog“), spricht hier, der seine Diagnose, soweit sie ihm Selbstkritik abverlangt, in die Sprache des „Physiologen“ Nietzsche kleidet, der von Infektion und Krankheit spricht. Wer darin nichts weiter liest als eine Selbstentlarvung von Nietzsches Biologismus (und damit den auf die Nietzsche-Fama gegründeten Verdacht bestätigt sieht), sei zumindest auf die ironische Wendung hingewiesen, in der Nietzsche das antisemitische Stereotyp der „schädlichen Ansteckung“ umkehrt und gegen den Antisemitismus selbst richtet: Nicht von „den Juden“ geht eine Gefahr der Infektion aus, sondern von den Antisemiten (wie etwa Richard Wagner, auf den und dessen Umfeld Nietzsche mit der Rede von seinem „kurzen gewagten Aufenthalt auf sehr inficirtem Gebiete“ vermutlich anspielt).[18] Doch das ist nicht alles, denn Physiologie ist nicht Biologie (daher die ständige Polemik Nietzsches gegen Darwinismus und Sozialdarwinismus), und so bezieht sich die physiologische Rede zunächst ausschließlich auf Nietzsche selbst: Nietzsche, den Kranken, der um seine Gesundheit ringt, um eine Gesundheit, die nicht durch eine reaktive Abwehr (sprich: Ressentiment) eines äußeren Infektionsherdes zu erlangen ist, sondern möglicherweise durch eine gewisse offensive Enthaltsamkeit („… und mir, wie alle Welt, bereits Gedanken über Dinge zu machen anfieng, die mich nichts angehn“) sowie durch eine Vertiefung der Fragestellung, die die „Gattung“ des antisemitischen „Gefühls“ in den Blick nimmt – die jedenfalls also eine Angelegenheit des Selbstvollzugs ist.[19] Es geht uns auch hier nicht darum, einen „unproblematischen“ Nietzsche aus dem Hut zu zaubern. Schon deshalb nicht, weil uns an vertrauens- und ehrwürdigen Vätern nichts gelegen ist; und dann auch deshalb nicht, weil die an die zitierte Stelle anschließenden Passagen genug an kritischen Fragen herausfordern, die allerdings, wenn sie denn – mit gutem Recht – an Nietzsches Texte herangetragen werden, auch mit einer aufmerksamen Lektüre dieser Texte verbunden werden sollten.[20] Wir können diese Art von Lektüre hier nicht weiterführen, sondern lediglich zu zeigen versuchen, dass sie möglich ist (wer an ausgedehnteren Lektüren interessiert ist, sei auf die Analysen Sarah Kofmans[21] verwiesen, die zugleich unter Beweis stellen, dass von einer unkritischen Nietzsche-Rezeption im Kontext des französischen Poststrukturalismus keine Rede sein kann); und, ja, wir wollen darüber hinaus auch nahe legen, dass sie sinnvoll ist: Wie eine Reihe von anderen Philosophen des 19. Jahrhunderts (Stirner, Marx, Schopenhauer etc.) ist Nietzsche keineswegs frei von dem, was er als „Krankheit“ des Antisemitismus bezeichnet.[22] Immerhin diagnostiziert er diese Krankheit jedoch als solche, und zwar nicht zuletzt an sich selbst, und er erstellt eine Diagnose, die auf einen affektiv-strukturellen Kernbestand des Antisemitismus zielt, nämlich die eines Ressentiments gegen die „Macht der Juden“ – eine antisemitische Figur, die Nietzsche teils entlarvt, teils in der spezifischen Ausformung seiner diesbezüglichen „genealogischen“ Analysen reproduziert und neu entwirft, aber ohne dass dieser bestimmte – in sich gebrochene, ins offen Anti-Antisemitische und mitunter ins Philosemitische gewendete – Antisemitismus Nietzsches eine einfache Überblendung oder Identifikation mit einem biologistischen oder dem vernichtungspolitischen Antisemitismus der Nazis zuließe. Im Gegenzug ließe sich Nietzsches Diagnose vielmehr nicht zuletzt auf die unzureichend aufgearbeitete und bis heute fortdauernde Geschichte linker Antisemitismen anwenden, die ihre Politiken des Ressentiments auf immer neue Phantasmagorien „jüdischer Macht“ gründen (im Motiv des Ressentiments lässt sich übrigens auch ein Grund für die bei Nietzsche an mehreren Stellen anzutreffende Nebeneinanderstellung von „Antisemiten“, „Anarchisten“ und „Sozialisten“ sehen[23]). Sie eröffnet, allgemeiner gesprochen, gerade in ihrer Gebrochenheit eine Perspektive auf ein bislang vielleicht zu wenig beachtetes Problem: jenes des anti-antisemitischen Antisemitismus oder des antisemitischen Anti-Antisemitismus. Ein Angelpunkt: Macht und Herrschaft Dass ein bestimmter deutschsprachiger Nietzsche-Alarmismus sich für derlei nicht interessieren will, ist nicht weiter verwunderlich, schneidet er sich doch hier wie im Übrigen jegliche Perspektive auf die präziseren theoretischen wie politischen Einsätze von Nietzsches Macht- und Willensbegriff von vornherein ab. Was bei Nietzsche einen offenen Problemherd darstellt, wird hier theoretisch auf „Herrschaft“ sowie politisch auf eine simple „Affirmation von Herrschaft“ herunterdekliniert, um die solcherart gewonnenen Einsichten bezüglich Nietzsches dann etwa auf dem Raster des Klassengegensatzes auszubuchstabieren. Es sei ein „Herren-Standpunkt“, schreibt beispielsweise Jan Rehmann, „von dem der späte Nietzsche seine Normen- und Ideologiekritik artikuliert hat“, und erblickt darin auch gleich den Maßstab, an dem „sowohl die Tragweite als auch die Problematik der postmodernen Umkodierung“ zu bemessen seien.[24] Wir können dem zunächst – schon weil hieran die Einsätze der „französischen“ Nietzsche-Rezeption besonders deutlich werden – als Antithese gegenüberstellen, was Deleuze als die ersten beiden von vier Missverständnissen formuliert hat, die es bei der Lektüre von Nietzsche zu vermeiden gilt: Zu „glauben, dass der Wille zur Macht ‚Wunsch zu beherrschen‘ oder ‚die Macht wollen‘ bedeutet“, ist das erste dieser Missverständnisse; das zweite besteht darin, zu „glauben, dass die ‚Mächtigsten‘ in einer Gesellschaft dadurch die ‚Starken‘ sind“[25]. Und in der Tat spricht Nietzsche an einer Reihe von Stellen unzweideutig aus, dass seine Analyse von „Kräfteverhältnissen“ jedwede bestehende gesellschaftliche oder politische Herrschaftsordnung keineswegs doppelt, sondern vielmehr kreuzt: Im so genannten Lenzer-Heide-Fragment beispielsweise ist von „ einer Rangordnung der Kräfte, vom Gesichtspunkte der Gesundheit“, die Rede: „Befehlende als Befehlende erkennend, Gehorchende als Gehorchende. Natürlich abseits von allen bestehenden Gesellschaftsordnungen.“[26] Wer den letzten Zusatz in dieser Passage gewaltsam ignoriert, wird die „Befehlenden“ und „Gehorchenden“ unvermeidlich als Doppel der Elemente einer Herrschaftsordnung auffassen (etwa als „herrschende“ und „unterdrückte“ Klasse). Eine Ordnung der Kräfte ist aber nicht dasselbe wie eine Ordnung der Herrschaft. Während Letztere z. B. immer daran interessiert ist, ihre Elemente zu identifizieren, um sich als Ordnung (und sei es in umgestürzter Form) aufrechtzuerhalten, steht Erstere quer zu einer solchen Ordnung: Die „Gehorchenden“ können unter dem Gesichtspunkt der Kräfte als jene begriffen werden, die die Ordnung der Herrschaft als Ordnung perpetuieren (wenn auch nicht unbedingt die Herrschaft, so wie sie im Konkreten besteht), die „Befehlenden“ als jene, die ihr ein Werden aufdrängen, das über einen bloßen Wechsel der Herrschaft hinausgeht, die also in einer Geste der produktiven Affirmation die Ordnung als Ordnung ins Wanken bringen. Darum kann Nietzsche schreiben: „Welche werden sich als die Stärksten dabei erweisen? Die Mäßigsten, die welche keine extremen Glaubenssätze nöthig haben, die, welche einen guten Theil Zufall, Unsinn nicht nur zugestehen, sondern lieben […]“[27]. Wir verkennen nicht die „herrschaftliche“ Rhetorik, die Nietzsche an einer Reihe von Stellen an den Tag legt (auch wenn diese Rhetorik vielfach den Status einer nachahmenden Beschreibung gesellschaftlicher und politischer Kräfte hat, was so manchen Nietzsche-InterpretInnen bis heute entgeht). Eine seriöse Auseinandersetzung mit diesem Umschlag in die Register der Herrschaft könnte ihren Ausgang erneut von Nietzsche selbst nehmen, konkret etwa von seiner Analyse des „commandirenden Gedanken[s]“, des „Affekt[s] des Commando’s“ sowie der „falschen Werthschätzungen des Willens“, die in Jenseits von Gut und Böse[28] als Ingredienzien, keineswegs aber als Wesen des Willens präsentiert werden: Das Kommando mit dem Wesen des Willens (diesem „so vielfachen Dinge“, wie Nietzsche im selben Aphorismus schreibt) zu identifizieren hieße, dem Willen ein Subjekt zu unterstellen, hieße, ihm eine Vorstellung als vorausgesetzt zu unterlegen (wie etwa jene „des synthetischen Begriffs ‚ich‘“ oder auch die Selbstrepräsentationen einer „regierenden Klasse“), die tatsächlich erst nachträglich und retroaktiv die immanente Vielheit des Willens auf eine trügerische Einheit reduziert.[29] Werner Hamachers Bemerkung, dass „Nietzsches Frage nach dem Willen […] ihn nie als unbedingtes Subjekt seiner selbst und seiner Wirkungen gelten lässt, sondern die Frage nach seiner Konstitution [stellt]“[30], wäre in einer solchen Auseinandersetzung also allemal Rechnung zu tragen – und sei es als kritische Folie gegen Nietzsches eigene herrschaftsrhetorische Anwandlungen. Festzuhalten bleibt jedoch, dass es angesichts des Anti-Systematikers Nietzsche[31] nicht oft im selben Maße möglich ist, eine bestimmte Lesart als schlicht und einfach falsch – oder wenigstens aufs Gröbste verkürzend – zu qualifizieren, wie im Falle der interpretativen Überblendung von Macht und Herrschaft. Am Beispiel Deleuze: Poststrukturalistische Nietzsche-Rezeption in poststrukturalistischer Lesart Wie sich die alarmistischen Erfinder des Etiketts „Linksnietzscheanismus“ selbst gern auf die Namen der Väter beziehen, mag es für sie auch nahe liegend sein, die Theorien des ausgehenden 20. Jahrhunderts nach ihren Bezügen auf die Väter, nach ihren Filiationen zu bewerten. Zunächst ist hier festzuhalten, dass – ähnlich wie im anfangs beschriebenen Fall des Labels Postmoderne – keiner der als Linksnietzscheaner bezeichneten Philosophen sich selbst so benannt hat.[32] Ein solches eindimensionales Label ist jedoch nicht nur deswegen in den meisten Fällen falsch, weil es die politischen Backgrounds, die theoretischen Einsätze und die Komplexität der Werke bis zur Unkenntlichkeit vereinfacht; es ist auch grotesk vor allem vor dem Hintergrund, dass die Arbeit von Deleuze, Foucault, Guattari und anderen als „nomadische Wissenschaft“ gerade gegen die Ein- und Unterordnung in derartige akademische Hierarchisierungen und Filiationen gerichtet war und sich dementsprechend einer Zuordnung zu einem philosophischen Eigennamen verschließt. Jene, wie es Deleuze und Parnet zum Beispiel bezeichneten, „hervorragende Schule der Einschüchterung“[33], die die Philosophiegeschichte darstellt, kann nur ins Produktive gewendet werden, wenn sie weit weg von ihren ersten Prinzipien und ihren endgültigen Schlüssen, weit weg von ihrer Selbstreferenzialität und Selbstgewissheit, wenn sie in der Mitte ihrer Probleme angeschnitten wird. Die Mitte, in der noch nichts entschieden ist, kein Ursprung, aber auch kein Telos in Sicht, das ist die Geographie, auf der sich die Ströme nomadischen Wissens entwickeln. Deleuze hat neben seinem Buch zu Nietzsche auch Monografien zu Kant, Hume, Proust, Bergson, Spinoza, Kafka (gemeinsam mit Guattari), Bacon, Foucault und Leibniz geschrieben. Allen diesen Büchern ist gemeinsam, dass Deleuze hier sein eigenes nomadisches Denken gegen den Strich der Filiation weiter entwickelt, ohne zwanghaft in den Baumstrukturen einer „monarchischen Wissenschaft“ hängen zu bleiben. In diesem Prozess der radikalen Aneignung vermitteln sich die „Väter“ oft genug nur mehr als „unkenntliche Kreatur[en]“[34]. Von Foucault etwa stammt das Bonmot, dass er die Leute, die er liebe, gerne gebrauche: „Das einzige Zeichen einer Anerkennung, die man gegenüber einem Denken wie dem von Nietzsche gelten lassen kann, besteht genau darin, es zu verwenden, zu verformen, es knirschen und schreien zu machen.“[35] Und wenn Deleuze wiederum in seinem nach Foucaults Tod geschriebenen Buch mit dem Titel Foucault zum „Linksfoucaultianer“ wird, dann wenigstens mit dem Resultat, dass Deleuze diesen „Vater“, seinen freundschaftlichen Kollegen Foucault, dermaßen kannibalistisch verdaut, dass dabei ein Buch herauskommt, in dem Foucault seinerseits zum „Linksdeleuzianer“ wird, so wie im Übrigen Deleuze darin in den nächsten Verdauungsprozess schlittert, zu den Falten und zu Leibniz. 24 Jahre davor, im Jahr 1962, erscheint Deleuze’ Nietzsche-Studie, ein frühes Lehrstück poststrukturalistischen Umgangs mit einer spezifischen Philosophiegeschichte. Nietzsche und die Philosophie verbindet die auch für das späte 19. Jahrhundert außergewöhnliche Sprache Nietzsches mit der beginnenden Begriffsschöpfung Deleuze’, verkettet die philosophischen Sprünge Nietzsches mit Anfang der 1960er Jahre noch keineswegs etablierten Themen- und Begriffsfeldern, die um 1968 in die revolutionären Maschinen nicht nur des Pariser Mai fließen. Allem voran ist das Gefüge Nietzsche-Deleuze ein anti-hegelianisch/anti-dialektisches. Jener verallgemeinerte Anti-Hegelianismus, den Deleuze 1968 in der Einleitung seiner als „Hauptwerk“ gehandelten Habilitationsschrift Differenz und Wiederholung anspricht und dann ausführt, ist im Nietzsche-Buch schon angelegt; explizit geht es von Anfang an um „den entschieden anti-dialektischen Charakter der Philosophie Nietzsches“[36]. Deleuze wird nicht müde zu betonen, dass Nietzsche es war, der zuerst die Differenz aus dem dialektischen Gefängnis von Negation und Gegensatz befreit hat: „Das spekulative Element der Negation, des Gegensatzes oder des Widerspruchs ersetzt Nietzsche durch das praktische Element der Differenz: dem Objekt von Bejahung und Genuss.“[37] Die Affirmation, die Bejahung, das Ja Nietzsches flieht den Widerspruch, die Verneinung, das Nein der Dialektik.[38] Während die Differenz in der Hegelschen Dialektik in eine höhere Identität aufgehoben wird, ist sie für Nietzsche-Deleuze ein dionysisches Spiel der Bejahung und Lust. Den aktiven Kräften der Bejahung treten allerdings re-aktive Kräfte entgegen[39], die das genealogisch-differenzielle Element der Bejahung umkehren, die Differenz zur Negation, die Bejahung zum Widerspruch machen. Ein ganzer „reaktiver Apparat“ des Ressentiments lässt diese Kräfte im Gegensatz und in der Arbeit des Negativen zum Ausdruck kommen. Dabei ist das Ressentiment nicht einmal Re-aktion; statt einer agierenden Antwort auf eine Aktion ist es nur ein Sentiment, ein Fühlen, das sich der Aktion, der Bejahung entgegenstemmt.[40] Die Methode Nietzsches jedoch, die Genealogie, die genealogische und differenzielle Kritik ist „keine Reaktion des Re-ssentiments, sondern der aktive Ausdruck eines aktiven Existenzmodus“[41]. Statt des „reaktiven Apparats“ eine Verkettung der aktiven Kräfte, eine jasagende Maschine. Bejahung meint hierin nicht bloßes Auf-sich-Nehmen, Last auf sich zu laden, sondern im Gegenteil ein Leichter-Werden, eine Erschaffung, Erfindung neuer Lebensformen. Das Jasagen hat als Vorbedingung den „Willen zur Macht“, der – in der bereits ausgeführten Differenz von Macht und Herrschaft – keineswegs impliziert, die Macht wäre im Sinne von Herrschaft oberstes Ziel oder auch nur vorausgesetztes Motiv eines Willens. Viel eher dreht es sich dabei um eine Kategorie, die Macht anti-repräsentationistisch wendet. Wille, Wollen heißt hier soviel wie Erschaffen, mit Nietzsche ist der Wille „ein Schaffender“[42]. Wenn die Macht ebenso herkömmlich wie fälschlich als Objekt der Repräsentation verkauft wird („Was uns als Macht dargeboten wird, ist nichts als deren Repräsentation“[43]), wird der Wille zur Macht ein machtbegieriger Wille, eine Wille, der Herrschaft begehrt. Der Wille zur Macht will aber eben nicht die Macht, auch nicht die Macht als Repräsentation, sondern er ist in seiner anti-repräsentationistischen Funktion eine affirmative, eine erschaffende Macht. An dieser Stelle wird nicht nur klar, dass Nietzsche einen operativen Machtbegriff der Kräfteverhältnisse entwickelt, an den v. a. Foucaults Machtanalytik anknüpfen kann, sondern dass sich diese Macht gleichsam auf zwei Ebenen abspielt: Ähnlich wie das oben beschriebene Begriffspaar der „gehorchenden“ und „befehlenden“ Kräfte kein Verhältnis und schon gar keine Herrschaftsordnung ausdrücken muss, ist die Differenz von konstituierter und konstituierender Macht als Unterschied zwischen einer Logik der Übernahme des Staatsapparats und einem maschinischen Gefüge, „abseits von allen bestehenden Gesellschaftsordnungen“, zu denken. Die erschaffende Macht kommt also jenem Begriff nahe, den Antonio Negri in Anknüpfung an die verfassungsrechtlichen Diskussionen seit der (US‑)Amerikanischen und Französischen Revolution als „konstituierende Macht“ eingeführt hat: Aktiv-Werden als Macht zu bejahen, als „Erschaffung neuer Werte“, Erschaffung aber auch neuer sozialer Formen und neuer Lebensformen.[44] Und schließlich findet sich hier auch eine Nachbarschaftszone des Willens zur Macht (als Tätigkeitsvermögen) und der potentia, die Verkettung also von Nietzsche und Spinoza; Deleuze wird das die „spinozistische Inspiration bei Nietzsche“[45] nennen und später von der „großen Einheit Spinoza-Nietzsche“[46] sprechen. Wenn das Negative dahinscheidet und der Gegensatz seine Arbeit einstellt, dann beginnt die Differenz ihr dionysisches Spiel: „Auf Dionysos aber bezogen bilden Lachen, Tanzen und Spielen die bejahenden Mächte der Reflexion und der Entwicklung.“[47] 1. Das Lachen bejaht das Viele. Das dionysische Lachen erzeugt die Vielheit. Das Subjekt wird durch den Intellekt als Totalität und Identität konzipiert: Tatsächlich ist es bloß die nachträgliche und trügerische Synthese einer Vielheit, einer Vielheit, die von mannigfaltigen Kräften und „Unter-Seelen“ durchzogen ist. „Darum glaubt Nietzsche nicht an die lärmenden ‚großen Ereignisse‘, sondern an die schweigende Pluralität des Sinns in einem jeden Ereignis. Kein Ereignis, kein Phänomen, kein Wort und kein Gedanke, die nicht mehrdeutig wären.“[48] Nietzsches Philosophie ist wesentlich durch das Viele geprägt, durch – wie Deleuze es nennt – einen pluralistischen Empirismus. Die Kräfte, seien sie aktiv oder reaktiv, sind immer im Verhältnis zu anderen Kräften zu verstehen, der Wille zur Macht bildet das differenzielle Element dieser Kräfte. Und auch hier steht Nietzsche zwischen Spinoza und Negri, aber nicht in einem linearen Verhältnis der Filiation, sondern als streitbarer Proponent einer spezifischen Form von multitudo. 2. Das Tanzen bejaht das Werden. Gegen die Dominanz der Vergangenheit und der Zukunft, gegen die Herrschaft nicht nur der Philosophiegeschichte, sondern der Geschichte überhaupt, des Ursprungs und des Wesens, setzt Nietzsche (und mit ihm Foucault) die Genealogie, Deleuze die Geophilosophie des gegenwärtigen Werdens. In diesem Konzept ist das Werden weder ein Gewordenes noch ein Zu-etwas-Werden. Nietzsches ewige Wiederkunft ist mitnichten die Wiederkehr dessen, was ist, die Wiederkehr ein und desselben. Nicht das Eine kehrt wieder, sondern im Werden der ewigen Wiederkunft bejaht sich das Viele. Und mit Nietzsche-Deleuze ist die ewige Wiederkunft das Gesetz des Werdens, „Reproduktion des Werdens, aber die Reproduktion des Werdens ist auch die Produktion eines aktiven Werdens“.[49] Die ewige Wiederkunft wiederholt das Werden nicht einfach auf reproduzierende Weise, sie ist auch bei Nietzsche – als Vorschein von Deleuze’ Differenz und Wiederholung – schon: Wieder‑holung der Differenz. 3. Das Spielen bejaht den Zufall. Wenn bei Nietzsche von Werfen und Fallen der Würfel die Rede ist, bedeutet dies keineswegs den Einzug von Relativismus, Beliebigkeit und Indifferenz, vielmehr ein Denken und eine Praxis des „gefährlichen Vielleicht“[50]; das Wurfspiel als Chance, Niedriges in Hohes zu verwandeln, umzuwerten. Nietzsches „Umwertung der Werte“, die das Aktive an die Stelle des Reaktiven setzt, ist verbunden mit der Erfindung einer neuen Art zu fühlen, zu denken, zu werden. Wenn es darum geht, andere, nicht-reaktive Typen aufzuspüren, die andere Kräfteverhältnisse ausdrücken, um die Transmutation der allzumenschlichen Nuancen, spricht Nietzsche vom Unmenschlichen und vom Übermenschlichen. In Analogie zu den Begriffen des Unzeitgemäßen, des Unhistorischen und des Überhistorischen soll mit dem Übermenschen kein Frankenstein’sches Ungeheuer aus der Retorte geboren und auch nicht die Gefühle aus den Menschen ausgetrieben werden; es geht vielmehr um die Entwicklung neuer Subjektivierungsweisen: „Ein anderes Werden, eine andere Sensibilität: der Übermensch.“[51] Der Übermensch ist kein Mensch, der sich überwindet, dem es gelingt, über sich hinaus zu gehen (sei es in der Stählung oder Verstümmelung seines Körpers oder der Erweiterung und Entgrenzung seines Körpers durch Prothesen oder technische Apparate), vielmehr ist er/sie/es in Abwendung von jedweder humanistischer Zentralperspektive eine Verkettung, die ein neues Verhältnis von Kräften etabliert. Normativ formuliert: Da die Verneinung derart hartnäckig dem Menschen anhängt, braucht es etwas außerhalb des Menschen, damit die Bejahung sich manifestiert. Nietzsche denkt hier vor allem über die anthropologische Komponente des Menschen hinaus an die Inverhältnissetzung, die Verkettung verschiedener Kräfte. Das mögen menschliche, technische und/oder soziale Kräfte sein, jene Gefüge der Verkettung, die bei Deleuze/Guattari mit dem Begriff Maschine bezeichnet werden.[52] Keine rein technologischen Apparate, keine Mensch-Maschinen, Monster nur in dem Sinn, dass sie als Ungeheuer der Differenz die Vielheit, das Werden, die Affirmation ausdrücken: „Dies Element der Bejahung macht das des Übermenschlichen aus“.[53] Der Begriff des Übermenschen wendet sich keineswegs gegen konkrete Menschen, sondern gegen einen humanistischen Konsens, der den Menschen auf die Menschen-Form beschränkt. Es handelt sich allerdings darum, dass Kräfte im Menschen mit anderen Kräften in Beziehung treten und damit eine bestimmte Form bilden. Dabei müssen sie nicht zwangsläufig Menschen-Form annehmen, sondern möglicherweise eine neue Form, „die weder Gott noch Mensch wäre“.[54] Wenn also Nietzsche den „Übermenschen“ propagiert, Deleuze/Guattari die „Kriegsmaschine“, Donna Haraway „die Cyborg“ oder Hardt/Negri die „posthumanen Körper der Multitude“, so hat das keineswegs mit einem „Ernst Jünger’schen Körperbild eines gestählten Arbeiter-Soldaten“[55] zu tun, sondern vielmehr mit Kräfteverhältnissen und Gefügen, die unter anderem auch Menschen durchziehen, mit der Ankunft einer neuen Form, mit der Gewinnung affirmativer Lebensformen[56]: „die Bejahung nicht als Auf-sich-nehmen, sondern als Schaffen; nicht der Mensch, sondern der Übermensch als neue Lebensform.“[57] Antifiliatorische Philosophie und die Nachbarschaftszonen von Militanz und Intellekt So weit das Beispiel des Gefüges Nietzsche-Deleuze – und um noch einmal auf die unangemessene Praxis der Bezeichnung für die vorher fälschlich als postmodern abgestempelten und nun auch noch als Linksnietzscheaner kategorisierten Autoren zurückzukommen: In Deleuze’ Nietzsche-Studie werden Linien auch zu Heraklit, Lukrez, Spinoza und Max Stirner gezogen. Während die Bücher Deleuze’, die im Titel Namen anderer Philosophen oder Künstler anführen, sich darum bemühen, diese Namen nicht als festgefahrene Geister zu verewigen, verzichten die umfangreichen gemeinsamen Werke mit Guattari überhaupt über weite Strecken auf ein Arbeiten an fremden Begriffen und kommen meist mit eher randständigen Bezügen aus: Anti-Ödipus und Tausend Plateaus sind zwar in ihrer Üppigkeit an neuen Begriffsfeldern reich an versteckten philosophischen Bezügen[58], im Apparat findet sich aber eine ebenso bescheidene wie wilde Mischung von Bezügen auf meist unbekanntere wissenschaftliche und künstlerische Veröffentlichungen; Ähnliches lässt sich von den meisten Werken Foucaults sagen. Was beide Buchsorten aber durchgehend ausmacht, ist, dass es nicht Bücher über Personen, Bücher über Begriffe sind, sondern vielmehr, um einen Begriff aus Deleuze/Guattaris letzter Zusammenarbeit Was ist Philosophie? zu übernehmen, „Begriffspersonen“, Heteronyme des Philosophen: „Die Eigennamen aber, mit denen sich die Äußerung auf diese Weise verknüpft, mögen noch so sehr historische und als solche bezeugt sein, sie sind doch Masken für andere Werdensprozesse, sie dienen nur als Pseudonyme für geheimere singuläre Entitäten.“[59] Nicht Filiation, nicht radikale Fundamentalkritik an den Vätern: Hier wird eine affirmative Kritik entwickelt, die die Genealogien der Philosophie für das eigene Denken produktiv macht, als Masken für andere Werdensprozesse. Ein letzter relevanter Aspekt der nomadischen Wissenschaft liegt im spezifischen Werdensprozess des Revolutionär-Werdens der Verkettung von Denken und politischem Handeln. Und auch diese Verknüpftheit und Kontextualisierung der poststrukturalistischen und postoperaistischen Theorieproduktion im politischen Handeln entgeht Gerhard Hanlosers Blick auf die „Postmoderne“. Deleuze und Guattari etwa erscheinen hier in einem „militanten Gestus der Kulturkritik, die sich dem Klassenkampf an Radikalität überlegen fühlt“: da, am Schreibtisch, die „Kulturkritiker“ als ExponentInnen des radical chic, und hier, auf der Straße, die bodenständigen KlassenkämperInnen? Von der unsäglichen Punzierung der beiden Autoren als Kulturkritiker abgesehen: Was hier vor allem ausgeblendet wird, sind die politischen Interventionen und die Militanz von Foucault, Guattari, Deleuze[60], aber auch des über seinen Kontakt mit Deleuze und Guattari im Pariser Exil gleichsam nietzscheanistisch angesteckten Antonio Negri oder der nächsten postoperaistischen Generation von Paolo Virno, Maurizio Lazzarato und anderen. Die Konzepte und Theoreme dieser Philosophen sind nicht von den lokalen und globalen Kämpfen zu trennen, die in den jeweiligen historischen und geografischen Kontexten relevant waren: für Foucault, Deleuze und Guattari etwa der Kampf des Pariser Mai 1968, der ja nicht nur gegen die reaktionäre Regierung de Gaulle gerichtet war, sondern auch gegen die Staatsapparate, die die damaligen linken Parteien und Gewerkschaften in Frankreich darstellten, später in den 1970ern gegen die Strukturalisierung der Linken; für die Italiener ihre Erfahrungen um 1977/78, in den 1980ern und 1990ern im Pariser Exil und aktuell in den Bewegungen gegen die neoliberale Globalisierung und gegen die Prekarisierung von Arbeit und Leben. Intellekt und Militanz sind in diesen Erfahrungen nicht voneinander zu trennen, auch nicht auf eine Zeitlinie zu stellen, die eine Avantgarde der TheoretikerInnen vorsieht oder umgekehrt ein Schreiben aus der Erfahrung des Kampfes. Gerade um die Überlappungen, Schnittflächen und Nachbarschaftszonen geht es in diesem besonderen Verhältnis einer Praxis des Denkens und einer des Kampfes. Vor diesem Hintergrund der mikropolitischen Interventionen und vielfältigen Involvierungen der linksnietzscheanisierten „Subjekte“ in molekulare Revolutionen müssen wir von keinerlei „Nietzscheanismus“ ausgehen, um einen gründlich verdauten nietzscheanischen Impuls im hier an das Ende gestellten Ende eines Dialogs des Gefüges Foucault-Deleuze zu bemerken: F: „Das heißt, dass sich die Allgemeinheit des Kampfes gewiss nicht in der Form [der] Totalisierung vollzieht […], jener theoretischen Totalisierung in der Form der „Wahrheit“. Die Allgemeinheit des Kampfes stellt das System der Macht selbst her, all die Formen einer Ausübung und Anwendung der Macht.“ D: „Und man wird an nichts rühren können, an einem Punkt welcher Anwendung auch immer, ohne dass man sich mit jenem diffusen Ganzen konfrontiert findet, und folglich wird man zwangsläufig gar nicht anders können, als dieses schon aufgrund der geringsten Forderung in die Luft sprengen zu wollen. Jede Verteidigung oder jede partielle revolutionäre Attacke schließt sich auf diese Weise dem Arbeiterkampf an.“[61] Wir danken Birgit Mennel für den Impuls zu diesem Text, Austausch und wertvolle Hinweise sowie der gesamten grundrisse-Redaktion und Isabell Lorey für die kritische Diskussion des Textes. E-Mail: raunig @ eipcp.net Anmerkungen: [1] Vgl. etwa F. Guattari, „L’impasse postmoderne“, in: Quinzaine littéraire, 21 (456), 1986, 21; M. Foucault, „Strukturalismus und Poststrukturalismus“, in: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. 4, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005, Nr. 330, 521–555, hier bes. 542. [2] Dass es den diese Strategie verfolgenden Autoren nicht darum geht, das Objekt ihrer negativen Begierde auf den Begriff zu bringen, lässt sich in der terminologisch hilflos anmutenden Einleitung des im deutschen Sprachraum maßgeblichen Bandes erkennen: Jan Rehmann (Postmoderner Links-Nietzscheanismus. Deleuze und Foucault. Eine Dekonstruktion. Hamburg: Argument 2004) demontiert seinen Hauptbegriff bis zum Punkt des Zweifels, „ob der Postmoderne-Begriff als analytische Kategorie überhaupt tragfähig ist“ (14), und überrascht schließlich mit dem Eingeständnis, es sei zu erwarten, „dass man die ‚Postmoderne‘ durch präzisere Begriffe ersetzen wird“ (17). [3] Wir haben hier in der Tat eine erste Opposition der Antilinksnietzscheaner zu Nietzsche: Denn Nietzsches Satz „Man muss gefährlich leben“ zielt weniger darauf, dem Leben sein Sollen vorzuschreiben, als vielmehr auf ein Denken und eine Praxis des „gefährlichen Vielleicht“ (Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, München: dtv 1999, 17), das keineswegs eine Beliebigkeit darstellt, sondern den der „Wahrheit“ eingeschriebenen Wertschätzungen auf den Grund fühlt; das „Müssen“ korrespondiert hier nicht mit einer Wahrheit, deren man sich versichern könnte, sondern beschreibt eine Maxime der „Redlichkeit“. Demgegenüber ist es „nicht redlich genug“ (ebd., 18), die Wahrheit auf ein Sollen, auf „vorweggenommene Sätze“ (vgl. ebd., 19) zu gründen: Es ist derselbe Mangel an Redlichkeit, der etwa in den theologischen Gottesbeweisen angetroffen werden kann, die nach Erkenntnis zu streben vorgeben, wo sie immer schon das erwünschte Resultat ihrer „Beweise“ kennen. [4] A. Boyer et al., Pourquoi nous ne sommes pas nietzschéens, Paris: Grasset 1991. [5] Entsprechend wird Nietzsche auch zum negativen Gewährsmann für die Verderbtheit von Hardt/Negris Empire in Detlef Hartmanns „Empire“ – Linkes Ticket für die Reise nach rechts (Berlin: Assoziation A 2002). In die Linie des neuesten Nietzsche-Alarmismus scheinen sich nach dem oben schon erwähnten Buch Jan Rehmanns auch die Texte Gerhard Hanlosers und Karl Reitters in dieser Ausgabe der Grundrisse einzureihen, auf die wir im Weiteren noch eingehen werden. [6] W. Hamacher, „Echolos“, in: Ders. (Hg.), Nietzsche aus Frankreich, Berlin/Wien: Philo 2003, 12. [7] Ebd.; hätten sie ihn gelesen, so wäre dem hinzuzufügen, dann wären manche vielleicht auch auf die Warnungen gestoßen, die Nietzsches Werk selbst diesbezüglich zu entnehmen sind: So heißt es in der Götzendämmerung unter der Überschrift Der Enttäuschte spricht: „Ich suchte nach grossen Menschen, ich fand immer nur die Affen ihres Ideals“ (Götzendämmerung, KSA 6, München: dtv 1999, 86). Und einen dieser „Affen“-Idealisierer lässt Nietzsche in seinem Zarathustra gleichsam in ureigenster Angelegenheit auftreten – nämlich als „Affen Zarathustra’s“; vgl. Also sprach Zarathustra, KSA 4, München: dtv 1999, 222–225, bes. 225: „Und wenn Zarathustra’s Wort sogar hundert Mal Recht hätte: du würdest mit meinem Wort immer – Unrecht thun.“ [8] Bernhard Förster war als Publizist und politischer Agitator seit Ende der 1870er eine der Zentralfiguren der antisemitischen Bewegungen im Deutschen Reich. Vgl. dazu z. B. Nietzsches Brief an seine Schwester vom Dezember 1887: „Jetzt ist so viel erreicht, dass ich mich mit Händen und Füßen gegen die Verwechslung mit der antis[emitischen] Canaille wehren muss; nachdem meine eigene Schwester, meine frühere Schw[ester] […] zu dieser unseligsten aller Verwechslungen den Anstoß gegeben hat. Nachdem ich gar den Namen Z[arathustra] in der antis[emitischen] Korrespondenz gelesen habe, ist meine Geduld am Ende – ich bin jetzt gegen die Partei Deines Gatten in Notwehr“ (zit. nach B. Nessler, „Nachtrag des Übersetzers“, in: S. Kofman, Die Verachtung der Juden. Nietzsche, die Juden, der Antisemitismus, Berlin: Diaphanes 2002, 85). [9] Vgl. die Bemerkungen von Deleuze und Foucault über die willkürliche Zusammenstellung von Der Wille zur Macht in der „Allgemeinen Einführung“ zur von ihnen verantworteten französischen Ausgabe der Werke Nietzsches: M. Foucault, Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. 1, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001, Nr. 45, 723–726. [10] W. Hamacher, „Echolos“, 12. [11] Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, 194. [12] Also sprach Zarathustra, KSA 4, 61. [13] Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, 192. [14] Nachgelassene Fragmente 1887–1889, KSA 13, München: dtv 1988, 640. [15] Ecce Homo, KSA 6, 362. [16] Es ist kein Zufall, dass der alarmistische Teil der Nietzsche-Fama die Bedeutung dieser Montagen, wo er sie überhaupt der Rede wert findet, konsequent herunterspielt: Es liegt in seinem skandalisierenden Interesse, das redaktionelle Verfahren E. Förster-Nietzsches zu wiederholen und den „wahren Nietzsche“ – wenn auch unter umgekehrten Vorzeichen – an ähnlichen Texten vorzuführen, wie sie die antisemitische, faschistische und nazistische Rezeption zusammenfügte. Zu denken geben sollte dabei allerdings zumindest (einmal abgesehen von den historischen Nivellierungen, die ein solches Verfahren in Kauf nimmt, um den eigenen Antifaschismus zu zelebrieren) die briefliche Auskunft Nietzsches vom Mai 1884, mit seiner Schwester „radical gebrochen“ zu haben: „[…] zwischen einer rachsüchtigen antisemitischen Gans und mir giebt es keine Versöhnung“ (zit. nach B. Nessler, „Nachtrag des Übersetzers“, in: S. Kofman, Die Verachtung der Juden, 85). – Hat sich der Nietzsche-Alarmismus diesen „radikalen Bruch“ jemals zu erklären versucht? [17] Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, 192 f. [18] Diese Art von Ironie ist bei Nietzsche kein Einzelfall; vgl. S. Kofman, Die Verachtung der Juden. Nietzsche, die Juden, der Antisemitismus, 22 f., bes. Fußn. 45. [19] Zum nicht zuletzt höchst persönlichen Thema von Gesundheit und Krankheit bei Nietzsche vgl. eine ganze Reihe von Passagen in Ecce Homo, die sich ins Bild des alles Schwache verachtenden herrschaftlichen Kraftlackels nicht recht fügen wollen; z. B.: „Die Krankheit brachte mich erst zur Vernunft“ (KSA 6, 283), oder: „[…] ich bin selbst in Zeiten schwerer Krankheit nicht krankhaft geworden“ (ebd., 296). Worin besteht die Krankhaftigkeit, worin die Gesundheit? Nietzsche verlagert sie auf die Ebene der Instinkte, also des im existenziellen Selbstvollzug der inneren Kraft gelegenen Richtungssinns, wenn er im zuletzt zitierten Abschnitt „Krankheit“ und „rachsüchtige Instinkte“ parallelisiert und beide den „gesunden Instinkten“ gegenüberstellt. [20] Ein längeres Wort an dieser Stelle zu Karl Reitters Text in diesem Heft, der sich durch die Besonderheit auszeichnet, seine Kompilation von politisch verwerflichen Nietzsche-Stellen durch eine Reflexion abzustützen, die kaum anders denn als Vorab-Diffamierung möglicher Kritik an seiner Vorgehensweise verstanden werden kann: „Wer so wie ich über Nietzsche spricht, hat offenbar etwas nicht verstanden“, eröffnet Reitter diese Reflexion, und natürlich handelt es sich um eine rhetorische Finte, denn Reitter wird uns unmittelbar danach sagen, was er nicht verstanden hat, und damit unter Beweis stellen, dass nicht er es ist, der etwas nicht verstanden hat, sondern diejenigen, die vielleicht Einwände vorbringen könnten. Um was also geht es in diesem Verstandenen/Unverstandenen? Es geht um die „Konstitutionsbedingungen der bürgerlichen Philosophie“: „Ich habe die Konstitutionsbedingungen der bürgerlichen Philosophie, ihre Form übersehen. […] Ich habe die Worte und Aussagen Nietzsches offenbar umstandslos auf ein gesellschaftliches, politisches Feld bezogen, aus dem sie aber nicht stammen und in dem ihr Sinngehalt nicht aufgeht.“ Halten wir uns nicht länger mit dem Vexierspiel um die Frage auf, wer das Problem mit der bürgerlichen Philosophie nicht verstanden hat; Reitters Text klärt uns unter dem Verweis auf einige Aspekte einer triftigen Analyse, die sich bei Bourdieu diesbezüglich findet, darüber ohnehin auf. Leider legt er allerdings im Zuge dessen nahe, dass, wer die Konstitutionsbedingungen der bürgerlichen Philosophie einmal verstanden hat, die „Worte und Aussagen Nietzsches“ (oder wessen auch immer) nun „umstandslos auf ein gesellschaftliches, politisches Feld“ beziehen kann, während, wenn jemand in Letzterem ein Problem sieht, dies wohl nur mit einem darin waltenden Unverstand bezüglich der bürgerlichen Philosophie zu tun haben kann (und vielleicht treibt dieser Jemand gar selbst bürgerliche Philosophie …). Nun wäre das alles in einem Kontext, der von der bürgerlichen Philosophie Abstand hält, vielleicht – und ungeachtet der darin enthaltenen Vorab-Diffamierung – nicht der Rede wert, wenn Reitters Argumentation nicht über der polemischen Absicht einigen linken (marxistisch ebenso wie poststrukturalistisch geprägten) Spezialdisziplinen wie etwa der Ideologiekritik oder der Diskursanalyse den Boden unter den Füßen wegziehen würde: Diese beziehen nämlich die „Worte und Aussagen“ von diesem oder jener sehr wohl auf „ein gesellschaftliches, politisches Feld“ – aber sie tun dies nicht umstandslos und nicht ohne eine präzise historische Reflexion. So wenig im Übrigen Reitter dies tun würde, wenn es etwa um Spinoza geht; bleibt die Frage, warum er sich damit zufrieden gibt, wenn es um Nietzsche geht. [21] Bes. die Studie Die Verachtung der Juden, auf die bereits Bezug genommen wurde. [22] Tatsächlich finden sich in Nietzsches Briefen bis zum Bruch mit Richard Wagner eine Reihe von unmittelbar antisemitischen Stellen; vgl. S. Kofman, Die Verachtung der Juden, 65–73. [23] Als unmittelbare Verbindungsfigur zwischen Antisemitismus und Sozialismus stand Nietzsche insbesondere Eugen Dühring vor Augen. Es geht in Nietzsches Ressentimentkritik jedoch nicht allein um solch direkte Verbindungen zum Antisemitismus, sondern um die Zurückweisung jeglicher Politik, „die Rache unter dem Namen der Gerechtigkeit zu heiligen“ antritt, „wie als ob Gerechtigkeit im Grunde nur eine Fortentwicklung vom Gefühl des Verletzt‑seins wäre“, und die dergestalt aus dem Blick verliert, dass „Gerecht‑sein […] immer ein positives Verhalten“ ist (vgl. Zur Genealogie der Moral, KSA 5, 310). [24] J. Rehmann, Postmoderner Links-Nietzscheanismus, 18. [25] Nietzsche. Ein Lesebuch von G. Deleuze, Berlin: Merve 1979, 43. Vgl. auch unten den Abschnitt über das Gefüge Nietzsche-Deleuze. [26] Nachgelassene Schriften, 1885–1887, KSA 12, München: dtv 1988, 217. [27] Ebd. [28] Vgl. KSA 5, 32 f. [29] Einer solchen Identifikation von Wille und Kommando sitzt letztlich J. Rehmann in seiner Interpretation dieser Stelle auf (vgl. Postmoderner Links-Nietzscheanismus, 48 f.), u. a. um den Preis, Nietzsches auf immanente Verhältnisse zielende Willensanalyse auf ein äußerliches Verhältnis, ja auf einen „Dualismus zweier Substanzen“ à la Descartes abzublenden, nur um an Nietzsches Philosophie die Konstruktion eines befehlenden Subjekts ablesen zu können. [30] W. Hamacher, „Echolos“, S. 15. [31] Vgl. Götzendämmerung, KSA 6, 63: „Ich misstraue allen Systematikern und gehe ihnen aus dem Weg. Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit.“ [32] Vgl. etwa M. Foucault, „Strukturalismus und Poststrukturalismus“, bes. 538: „Ich glaube, dass es in der Tat keinen Nietzscheanismus gibt …“ [33] G. Deleuze / C. Parnet, Dialoge, Frankfurt: Suhrkamp 1980, 20. [34] A. Badiou, Deleuze. „Das Geschrei des Seins“, Zürich/Berlin: diaphanes 2003, 7. Vgl. auch die Beschwerden Karl Reitters in diesem Heft über die unstatthafte Verkettung von Spinoza und Nietzsche durch Deleuze. [35] M. Foucault, „Gespräch über das Gefängnis; das Buch und seine Methode“, in: Ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. 2, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002, Nr. 156, 913–932, hier 932. [36] G. Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, Frankfurt/M.: Europäische Verlagsanstalt 2002, 13. [37] Ebd. [38] Die Frage nicht-dialektischer Figuren des Widerstands wird vor allem virulent in Formen des schöpferischen Zurückweichens, Ausweichens, des Aufschubs, des Abfallens, des Verrats, der Desertion, des Verschwindens, des Exodus, der Flucht; einer Flucht allerdings, die nie rein re-aktiv im Sinne Nietzsches wäre: Fliehen, ja, aber im Fliehen eine Waffe suchen, das ist die diesbezügliche Wendung, die Deleuze gebraucht (vgl. z. B. Deleuze/Parnet, Dialoge, 56), um die nur scheinbar defensive, re-aktive Figur der Flucht in ein Suchen, Finden, Erschaffen umzuwandeln. [39] Vgl. oben den Abschnitt über den Angelpunkt Macht und Herrschaft. Gängige Komponenten dieses Begriffsfelds sind bei Nietzsche die mitunter in eine Herrschaftslogik kippenden Kategorien von „hoch“, „vornehm“, „stark“, „Herr“ auf der Seite der aktiven, schaffenden Macht, „nieder“, „gemein“, „schwach“, „Sklave“ für die re-aktive, durch die Konstitution gezähmte Macht. [40] Vgl. das vierte Kapitel von G. Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, „Vom Ressentiment zum schlechten Gewissen“, 122–160. [41] G. Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, 7. [42] Ebd., 92. [43] Ebd., 89. [44] Vgl. zur Entwicklung des Begriffs „konstituierende Macht“: A. Negri, Insurgencies. Constituent Power and the Modern State, Minneapolis/London: University of Minnesota 1999; ders., „Repubblica Costituente. Umrisse einer konstituierenden Macht“, in: T. Negri / M. Lazzarato / P. Virno, Umherschweifende Produzenten. Immaterielle Arbeit und Subversion, Berlin: ID-Verlag 1998, 67–81; G. Raunig, Kunst und Revolution, Wien: Turia + Kant 2005, 56–61; M. Birkner / R. Foltin, (Post-)Operaismus. Von der Arbeiterautonomie zur Multitude. Geschichte und Gegenwart, Theorie und Praxis, Schmetterling Verlag: Stuttgart 2006, 105–107. [45] G. Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, 69. [46] G. Deleuze, Unterhandlungen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993, 197. [47] G. Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, 209. [48] Ebd., 8. [49] Ebd., 204 f. [50] Vgl. Fußnote 3. [51] G. Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, 73. [52] Vgl. G. Raunig, „Einige Fragmente über Maschinen“, in: Grundrisse 18, 41–49. [53] G. Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, 185. [54] Vgl. den Anhang in G. Deleuze, Foucault, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1992, „Der Tod des Menschen und der Übermensch“, 175–189, hier 186. [55] So Gerhard Hanloser in diesem Heft. [56] Das Interesse für den Begriff der Lebensformen teilen Nietzsche und Deleuze auch mit Giorgio Agamben und Paolo Virno, die seit Ende 2004 eine philosophische Zeitschrift mit dem Namen Forme di vita herausgeben. [57] G. Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, 200. [58] Vgl. z. B. F. Balke, Gilles Deleuze, Frankfurt/M. u. New York: Campus 1998, 140 f., über die stillschweigende Einführung von Nietzsches „kunterbuntem Gemälde“ in den Anti-Ödipus. [59] G. Deleuze / F. Guattari, Was ist Philosophie?, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2000, 31. [60] 1971 gründeten Foucault und Daniel Defert gemeinsam mit Deleuze und vielen anderen die Groupe d’information sur les prisons. Foucault und Deleuze setzten sich ähnlich für MigrantInnenrechte ein, Guattari arbeitete an der kollektiven antipsychiatrischen Reflexion und Vernetzung und reiste als Aktivist in den 1980ern etwa nach Polen und zu ausgedehnten Vortragsreisen nach Brasilien, um die dort aktiven Bewegungen zu unterstützen. [61] G. Deleuze / M. Foucault, „Die Intellektuellen und die Macht“, in: M. Foucault, Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. 2, Nr. 106, 393. |
|