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Martin Birkner, Robert Foltin: Autonomist & Open MarxismOperaistInnen und PostoperaistInnen schauten gerne auf die Klassenkämpfe in den USA. Das hatte zum einen mit der Radikalität und Militanz der sozialen Auseinandersetzungen zu tun, und außerdem damit, dass sie so wenig ideologisch waren. Die Klasse stand dem Kapital ohne Vermittlung durch sozialistische Parteien gegenüber, die Kämpfe konnten nicht so leicht diszipliniert werden. Weiters ist es die spezifische Situation des Regimes, das aus einer antikolonialen Revolution entstanden war und dadurch – etwa nach dem Dafürhalten Negris – sich durch Druck von unten dynamischer weiterentwickelte als die alten Kolonialmächte. Das widerspricht der Sichtweise der meisten Linken, die den Mangel an revolutionärer Organisation beklagen. Nach einem schlaglichtartigen Überblick über die sozialen Auseinandersetzungen des letzten Jahrhunderts sollen in diesem Kapitel einige intellektuelle Strömungen mit Bezug zum Operaismus nachgezeichnet werden, die sowohl in das Aufbrechen der globalen Protestbewegung eingingen wie auch eine Grundlage für den Erfolg des Buches „Empire“ im angloamerikanischen Raum darstellen. Die Autonomie der ArbeiterInnenklasse in den USA drückte sich immer wieder in militanten Kämpfen bis hin zu bewaffneten Auseinandersetzungen aus, wie Louis Adamic (1974) in „Dynamit, Geschichte des Klassenkampfes in den USA“ beschreibt. Aber auch die Ergebnisse können sich sehen lassen: Der New Deal als entscheidender Schritt in Richtung des fordistischen Wohlfahrtsstaates war nicht nur eine Antwort auf die revolutionäre Drohung nach der Oktoberrevolution, sondern auch auf die ausgedehnten Kämpfe in den USA der 1930er, etwa in der Autoindustrie. Es waren die berühmten sit-down-Streiks von 1936/7, die einen Zyklus von Kämpfen und anschließenden Lohnsteigerungen einleiteten und damit die Anti-Krisenmaßnahmen der Roosevelt-Regierung in eine wohlfahrtsstaatliche Richtung lenkten (vgl. Silver 2005, S. 69ff). Der wichtigste historische Bezugspunkt der (Post)OperaistInnen aber sind die Industrial Workers of the World (IWW, auch bekannt als Wobblies, vgl. Bock 1976, Renshaw 1999, zur Rezeption durch den Operaismus Wright 2005, S. 204ff). Sie konstituierten sich gegen die Dominanz der FacharbeiterInnengewerkschaften in den USA. Sie wurden 1905 als radikale Industriegewerkschaft (One Big Union) gegründet und führten einige der erfolgreichsten Streiks vor Beginn des ersten Weltkrieges durch. Sie organisierten hauptsächlich ungelernte ArbeiterInnen und ihre Mitglieder repräsentierten das multinationale Spektrum der häufig erst kürzlich in die USA eingewanderten MigrantInnen vor allem, aber nicht nur, im Osten der USA. Sie überwanden die Spaltung in Nationalitäten, die von den KapitalistInnen gefördert wurde. Vor allem im Westen der USA vertraten sie die mobile Arbeitskraft, TagelöhnerInnen, die von Arbeitsstelle zu Arbeitsstelle zogen, um ihr Geld zu verdienen. Sie benutzten das aber auch, um zu agitieren und radikale Ideen zu verbreiten. Die erzwungene Mobilität wurde im so genannten Free Speech Movement in ein Kampfmittel umgewandelt: wurde in einer Stadt revolutionäre Agitation verboten, machten sich tausende Hobos – so wurden die mobilen WanderarbeiterInnen genannt – auf den Weg, um sich wegen Agitation verhaften zu lassen und in den überfüllten Gefängnissen weiterzuagitieren. Und drittens setzten sich die Wobblies in ihrer Agitation mit dem alltäglichen Widerstand auseinander, sie propagierten langsames Arbeiten und Sabotage als Kampfmittel. Zerschlagen wurden sie nicht durch die Repression im ersten Weltkrieg und danach, sondern sie scheiterten an inneren Streitereien (vgl. Renshaw 1999, 195ff): Die Wobblies waren nie eine länger bestehende Massenorganisation mit kontinuierlicher Mitgliedschaft. Großen Einfluss erlangten sie hauptsächlich in kämpferischen Phasen. Das Abflauen der Kämpfe und die Streitereien zerstörten ihre Anziehungskraft. Nach dem Ersten Weltkrieg vertraten die AnarchistInnen in der Organisation ein dezentrales Konzept, Unterstützung fanden sie dabei bei den mobilen ArbeiterInnen des Westens. In den großen Fabriken des Ostens erschien eine zentralistische Organisation Erfolg versprechender. Ein Teil der AktivistInnen sympathisierte darum nach der Oktoberrevolution mit den Bolschewiki. Nach Bock (1976, S. 168ff) verloren die Wobblies ihren Einfluss, weil sie nicht fähig waren, die im und nach dem Ersten Weltkrieg auf den Arbeitsmarkt strömenden Frauen und AfroamerikanerInnen zu organisieren. Die BürgerInnenrechtsbewegung in den 1950er und 1960er Jahren versuchte, die AfroamerikanerInnen in die Demokratie zu integrieren; Hauptziel war die Registrierung als WählerInnen. Afroamerikanische Studierende beschränkten sich aber schon bald nicht mehr auf institutionelle Maßnahmen, sondern gingen zu direkten Aktionen über; ziviler Ungehorsam wurde ins Zentrum gestellt. Die Aktivitäten wurden über das Free Speech Movement (von den Wobblies übernommen) auf die Universitäten getragen. Der Widerstand gegen den Krieg in Vietnam vereinigte dann die verschiedenen Sektoren und radikalisierte die Kämpfe. In den Gettos 1965 in Watts und 1967 in Newark probten die AfroamerikanerInnen als unterstes Segment der Klasse den bewaffneten Aufstand. Und schließlich war der Widerstand innerhalb der Armee der Hauptgrund für die USA, sich aus Vietnam zurückzuziehen. Die OperaistInnen interessierten sich speziell für die Bewegung der AfroamerikanerInnen, da es bei den Gettoaufständen wie auch beim Widerstand innerhalb des Militärs um die untersten Segmente der Klasse ging. Es waren außerdem die AfroamerikanerInnen, die die wilden Streiks in den 1960ern und 1970ern trugen, etwa in den Autofabriken in Detroit. Die Bewegungen wurden niedergeschlagen und seit Beginn der 1970er herrschte dann fast drei Jahrzehnte relative Ruhe. Auch die Studierendenbewegung wurde integriert, aber immerhin konnte eine Reihe radikaler Intellektueller überwintern, die auch operaistische Theorieansätze weiterführten. Daraus ist die Situation entstanden, dass sich in den USA eine „Theorie ohne Bewegung“ entwickelte, wie Michael Hardt in seiner Einleitung zu „Radical Thought in Italy“ schreibt (Hardt 1996, S. 5). Diese linken Intellektuellen bezogen sich auf die radikalen Bewegungen und begründeten die Tradition des autonomen Marxismus. Seine Wurzeln speisen sich aus fünf Quellen: Aus der französischen post-trotzkistischen Gruppierung Socialisme ou Barbarie, dem italienischen Operaismus, der Geschichtsschreibung der ArbeiterInnenbewegung „von unten“ (E.P. Thompson), den Erfahrungen der Industrial Workers of the World (IWW), jener als „Wobblies“ bekannten, sagenumwobenen Basisgewerkschaft der 1920er Jahre, und last but not least aus der ebenfalls aus dem Trotzkismus hervorgegangenen Johnson-Forrest-Tendency in den USA. Letztere, vertreten durch den aus der Karibik stammenden Historiker und Marxisten CLR James und der Aktivistin, Theoretikerin und Historikerin Raya Dunayevskaya (Johnson bzw. Forrest waren ihre Pseudonyme), analysierten bereits kurz nach dem zweiten Weltkrieg die Sowjetunion als staatskapitalistisch und stellten die Kämpfe der ArbeiterInnen ins Zentrum ihrer Betrachtungen, was bald zu ihrer Trennung vom Trotzkismus und seiner Theorie der „degenerierten Arbeiterstaaten“ sowie seiner Parteifixiertheit bedeutete. Was den „Autonomist Marxism“ mit dem italienischen operaistischen und postoperaistischen Strömungen verbindet, ist eine Marxinterpretation, die von den Kämpfen der ArbeiterInnenklasse selbst ihren Ausgang nimmt. Weder die Selbstbewegung des Kapitals als „automatisches Subjekt“ noch die analytische wie politische Konzentration auf die Schachzüge der offiziellen ArbeiterInnenorganisationen erlangten die Bedeutung, die sie in den orthodoxen Organisationen und Theorien hatten. Harry Cleaver (2000, Introduction) sieht die Unterschiede zwischen der Entwicklung in den USA und in Italien in der Differenz der in ihr aktiven Subjekte: Waren es in den Industriebetrieben Norditaliens vor allem die – oft aus Süditalien zugezogenen – MassenarbeiterInnen, die die durch die Institutionen nicht kontrollierbaren Kämpfe der 1960er Jahre ausfochten, so war die autonom kämpfende ArbeiterInnenklasse in den USA „jung und schwarz“. Die Frage des Rassismus stand dementsprechend bereits in den frühen Texten von CLR James im Zentrum auch des theoretischen Interesses. Mit dem Aufkommen der BürgerInnenrechtsbewegung in den 1960er Jahren und den anschließenden sozialen Kämpfen gegen den Vietnamkrieg war die Frage nach der Unterdrückung der Schwarzen überhaupt zum entscheidenden Politikum geworden. Obwohl die Klassenkämpfe der jungen schwarzen AutoarbeiterInnen (v.a. in und um die „Motorcity“ Detroit) auch die Auseinandersetzungen in den fordistischen Großfabriken kannten, wurden im Zuge der Bewegungen gegen die Rassendiskriminierung und gegen den Krieg bald andere Einflussgrößen wichtiger, vor allem der „Black Nationalism“ mit seinen militant antiimperialistischen, separatistischen und oft auch religiös (wie z.B. in der einflussreichen „Nation of Islam“) bestimmten Schwerpunkten. Ein weiterer Unterschied ist, so Cleaver, dass die TheoretikerInnen des autonomen Marxismus in den Vereinigten Staaten nicht direkt in die Auseinandersetzungen involviert waren. (Cleaver 2000) Diese Distanz zu den Schauplätzen der Kämpfe lässt sich auch daran ablesen, dass kaum militante Untersuchungen durchgeführt wurden und im Umfeld des autonomen Marxismus auch keine Organisierungsbemühungen bekannt sind. Die Debatte wurde, hier wiederum vergleichbar mit Italien, hauptsächlich über Zeitschriften geführt, deren wichtigste in Folge hier vorgestellt werden. Dabei soll auch versucht werden, die verschiedenen Einflüsse auf TheoretikerInnen und Zeitschriftenredaktionen nachzuzeichnen, deren Zusammenarbeit mit anderen – meist aus Italien stammenden – AutorInnen und AktivistInnen sowie die Ausdifferenzierungen der Szene, die schließlich auch zur teilweisen Ablöse des Begriffes „Autonomist“ durch den eines „Open Marxism“ geführt haben.[i] Die Entwicklung eines spezifisch autonomen Marxsismus im angloamerikanischen Raum begann Mitte der 1970er Jahre. Organisierte Formen in dieser Frühphase waren die „Conference of Socialist Economics“ in Britannien sowie die Zeitschrift „Zerowork“ in den USA. Die Conference of Socialist Economics entwickelte sich im Laufe der 1970er Jahre auf der britischen Insel als Projekt heterodoxer und marxistischer ÖkonomInnen. Als breites Forum war der strategische Hintergrund der CSE, einen Gegenpol zur Allmacht der neoklassischen Ökonomie zu bilden. Es wurden auch Verbindungen zu den neu entstehenden sozialen Bewegungen sowie zur Gewerkschaftslinken in Großbritannien geknüpft. In den Ortsgruppen von Coventry und Edinburgh wurden mittlerweile auch staatstheoretische Fragestellungen diskutiert, aus denen unter anderem ein Text hervorging, der für die Entwicklung des „Open Marxism“ besondere Bedeutung erlangte: „Capital, Crises and the State“, eine Coproduktion von John Holloway und Sol Picciotto (Holloway/Picciotto 1977). Darin wurde ein analytischer Zugang gewählt, der sich sowohl von den stalinistischen Theorien des so genannten Staatsmonopolkapitalismus als auch von den neogramscianischen Staatstheorien und ihrer (relativen) „Autonomie des Politischen“ (vgl. Poulantzas 1973), aber auch jener von Poulantzas Gegenspieler Ralph Miliband (vgl. Miliband 1971) grundsätzlich unterschied (Holloway/Picciotto 1977, 81ff.). Im Gegensatz dazu, so Holloway und Picciotto, muss der kapitalistische Staat als Verhältnis gedacht werden, welches niemals von den sie begründenden ausbeuterischen Klassenverhältnissen abstrahieren darf. Allein diese Erkenntnis der kapitalistischen Staatsform als eine durch Klassenverhältnisse bedingte genügt noch nicht, um historisch spezifische Phänomene staatlicher Herrschaft adäquat zu begreifen (Holloway/Picciotto 1977, 85ff.). So müssen aus einer revolutionären Perspektive die konkreten Phänomene kapitalistischer Herrschaft wie z.B. das Recht, aber auch ökonomische Krisen als spezifische Einsätze im Klassenkampf von oben verstanden werden. Dieser nimmt zwar unterschiedliche Erscheinungsweisen (wie eben „Politik“, „Recht“ oder „ökonomische Krise“) an, ist aber letztlich immer durch die Erfordernisse der Kapitalakkumulation bestimmt. Diese sind wiederum in letzter Instanz von den Bewegungen der ArbeiterInnenklasse abhängig bzw. bereits Reaktionen auf vergangene Klassenkämpfe. Holloway beispielsweise beschreibt in einem späteren Text die Weltwirtschaftskrise von 1929 als späte Antwort auf die Russische Oktoberrevolution und die Klassenkämpfe der 20er Jahre (Holloway 1995). Der damals bereits entwickelte und spätestens mit Ende des 2. Weltkriegen sich allgemein durchsetzende Keynesianismus wird so als jene Form begreifbar, in welcher das Kapitalverhältnis zwar die Kampfkraft der organisierten ArbeiterInnen anerkennen musste, gleichzeitig dies aber – nicht zuletzt über die traditionellen ArbeiterInnenorganisationen – zum Zwecke der Kapitalakkumulation selbst produktiv machen konnte. Erst die in den 1960er Jahren ihren Ausgang nehmenden multiplen Kämpfe bringen dann dieses keynesianisch-fordistische Verhältnis selbst in die Krise. Ein anderer wichtiger Bezugstext der angloamerikanischen undogmatischen Linken ist das erstmals 1979 erschienene Reading Capital Politically von Harry Cleaver (Cleaver 2000, kritisch dazu: Aufheben).[ii] Cleaver unterrichtet an der Universität von Austin (Texas) Marxismus (sic!), war und ist langjähriger Aktivist in verschiedenen linken Projekten (zuletzt besonders in der internationalen Solidaritätsarbeit für die aufständischen ZapatistInnen) und betreibt die „Texas Archives of Autonomist Marxism.[iii] In der umfangreichen Einleitung zu Reading Capital Politcally werden sowohl methodische Abgrenzungen zu den ökonomischen und philosophischen Lesarten des Kapitals vorgenommen als auch eine skizzenhafte Geschichte all jener Ansätze, die Cleaver als Vorläuferinnen oder frühe Vertreterinnen einer politischen Kapitallesart vorstellt. In dieser Geschichte der Entwicklung des „Autonomist Marxism“ wird sowohl die aus dem Trotzkismus hervorgehende Johnson-Forrest-Tendency genannt wie auch die ebenfalls ex-trotzkistische französische Gruppe Socialisme ou Barbarie, und natürlich die italienische „Neue Linke“. Cleaver schlägt mit seinem Buch eine grundsätzlich neue Lesart des Marxschen Kapitals vor. Während der orthodoxe Marxismus dieses als politische Ökonomie, womöglich noch mit dem Zusatz „der ArbeiterInnenklasse“, verstand und die philosophische Lektüre des Marxschen Werkes auch vor seinem Hauptwerk nicht halt machte, geht es Cleaver eben um eine politische Lesart des Kapitals. Vom methodologischen Zugang her durchaus mit jenem des italienischen Operaismus vergleichbar liest Cleaver in seinem Buch das berühmte erste Kapitel des ersten Abschnittes vom Kapital mit dem Namen „Die Ware“ sowohl als Analyse als auch als Kritik politischer Herrschaft einer Klasse über eine andere (vgl. auch Reitter 2006). In Cleavers Analyse des Kapitals als unmittelbarem Herrschaftsverhältnis spielt die ArbeiterInnenklasse den gleichzeitig im und gegen das Verhältnis kämpfenden Teil, hier folgt Cleaver weitgehend der Analyse Mario Trontis in „Arbeiter und Kapital“ (Tronti 1974). Dem emphatischen Begriff des Klassenkampfes wird allerdings sowohl bei Cleaver als auch bei anderen autonomen MarxistInnen jede Möglichkeit einer Eigenlogik kapitalistischer Vergesellschaftung genommen. Entlang dieser Problematik hakt auch die Kritik am „Autonomist Marxism“ an, nämlich dass er zwar versuche, in Verhältnissen zu denken, über die Reduktion jeglicher gesellschaftlicher Phänomene auf den Kampf zwischen den (zwei) Klassen aber selbst wiederum zu einer Verdinglichung von „Arbeit“ und „Kapital“ als eigenständige Entitäten gelangt. Dies führt mitunter zu ultraradikalen Positionen, die sowohl analytisch zu kurz greifen wie auch für praktische Kämpfe eigentlich keinen Spielraum mehr lassen. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Mario Montano schrieb in der ersten Ausgabe der Zeitschrift Zerowork 1975[iv] den damals breit diskutierten Artikel „Bemerkungen zur internationalen Krise“ (Montano 1988), in dem er eine mehr oder weniger globale Analyse der damaligen Situation gibt (Das Währungssystem von Bretton Woods war 1973 zusammengebrochen, auch die Ölkrise begann in diesem Jahr). Dabei sieht er in den vielfältigen politischen Bewegungen der ArbeiterInnenklasse die Haupttriebkraft der Entwicklung. Da der Keynesianismus nicht mehr in der Lage war, die ArbeiterInnen ruhig, d.h. arbeitend zu halten, mussten schärfere Mittel gewählt werden: Inflation, Arbeitslosigkeit, hoher Ölpreis. So wichtige Einsichten diese Verschiebung des Blickwinkels in die Bewegungen des Kapitalismus auch liefert, die Tendenz alles und jedes auf unmittelbare Effekte des (einen) Klassenkampfes zu reduzieren, treibt mitunter seltsame Blüten. In einem Absatz über Chile (die Regierung unter dem demokratisch-sozialistischen Präsidenten Salvador Allende wurde durch einen Militärputsch unter der Führung von General Pinochet – und unter maßgeblicher Unterstützung höchster US-Kreise und -Konzerne 1973 gestürzt) beschreibt Montano dahingehend „Demokratie“ als auch „Faschismus“ „dem Kapital nicht als gegensätzliche Strategien [...], sondern als taktische Waffen“ (Montano 1988, 58, Herv.i.O.). Hier zeigt sich deutlich, wie das Kapital zum Subjekt der Geschichte gemacht wird, das sich ganze politische Systeme rein taktisch aneignet und diese auch anwendet – natürlich immer gegen die ArbeiterInnen: „In Chile beispielsweise hat sich das Kapital der Reihe nach zunächst der Christlichen Demokratie, dann der Unidad Popular und schließlich der Armee bedient, um die Klasse unter Kontrolle zu halten“ (ebd., Herv.i.O.). Spätere Kritiken von Seiten des „Open Marxism“ an den Autonomen zielen in eine ähnliche Richtung, wie beispielsweise ein Beitrag von Werner Bonefeld in Common Sense, dem wohl wichtigsten Zeitschriftenprojekt des „Open Marxism“.[v] Common Sense existierte von 1987 bis 1999 und fällt besonders durch ihren tatsächlich „offenen“ Zugang auf. Texte von Vertretern der „neuen Marxlektüre“ aus Deutschland (Georg Backhaus) finden sich darin ebenso wie Aufsätze Toni Negris (etwa jener über die Repubblica Costituente, Negri 2003) und John Holloways wichtige Vorarbeit zu Die Welt verändern ohne die Macht zu übernehmen, „In the Beginning was the Scream“ (Holloway 2003) . Werner Bonefelds, „Human Practice and Perversion: Beyond Autonomy and Structure“ (Bonefeld 2003) ist ein Beitrag in diesem Band. Er öffnet zunächst ein Spannungsfeld zwischen „Strukturalismus“ und „Autonomie“, die beide nur unzureichende methodische Zugangsweisen zur Verfügung stellen. Dem gegenüber stellt er einen dialektischen Zugang, orientiert an der Kritischen Theorie im Allgemeinen und an Georg Backhaus´ „Dialektik der Wertform“ (Backhaus 1997) im Besonderen. Ähnlich wie sein Freund Holloway versucht Bonefeld den Widerspruch zwischen Kampf und Struktur (Bonefeld 2003, 81) dialektisch zu lösen. Dass er sich dabei lediglich an einer Karikatur „des Strukturalismus“ abarbeitet, der angeblich das „Kapital als autonomes Subjekt“ ansieht, interessiert uns hier nicht weiter; spannender hingegen ist seine Kritik des autonomen Marxismus. Dieser verstehe das Kapital oft als „maschinenähnliches Ding“ (ebd.) und verfehle so die notwendige Formanalyse kapitalistischer Grundkategorien. Demgegenüber wird dann ein autonomes Klassensubjekt ausgemacht, das sich außerhalb grundsätzlicher Bewegungsgesetze des Kapitals befände (wobei hier allerdings die Frage zu stellen wäre, welcheR „autonomeR“ TheoretikerIn dies so behaupten würde ...). „Im Gegensatz dazu“, so Bonefeld, „betont die Vorstellung von Arbeit als im und gegen das Kapital existierend das interne Verhältnis zwischen Materialität und sozialer Form“ (ebd.). Dieser dialektische Zugang, der das Wechselspiel von „Integration“ und „Transzendenz“ (Bonefeld 2003, 83) nur als Negation gegen eben jenes begründende Kapitalverhältnis auflösen kann, wird uns im Kapitel über John Holloway, dem derzeit wohl meist diskutierten „offenen Marxisten“ wieder begegnen. Nachdem Common Sense 1999 eingestellt wurde, trat die Webzeitung Commoner (www.commoner.org.uk) die Nachfolge an. Eine thematisch breit gestreutes, sämtliche Spielarten des „Autonomist“ wie auch „Open Marxism“ in sich aufnehmend, diskutiert der Commoner neuerdings jene grundsätzlichen Begriffe wie „Wert“ oder auch das namengebende „Gemeinsame“ (vgl. unten) – notwendige Begriffe zum Denken des Kommunismus angesichts der veränderten globalen Bedingungen. Das eher dem autonomen Spektrum zurechenbare Midnight Notes Collective (www.midnightnotes.com) ist eine seit 1979 aktive Gruppierung. Sie war Teil des radikalen Flügels der Ökologiebewegung (und hier vor allem jener gegen Atomkraft) und überlebte die Krise der Linken in den 80er und vor allem 90er Jahren. Nicht unähnlich der zentralen Thesen Cleavers – auch er stellt Nahrung und Energie neben der Arbeitskraft als besondere und besonders umkämpfte Waren im Kapitalismus heraus – entwickelten die Midnight Notes einen internationalistischen Ansatz, was sich auch in ihrer bislang letzten größeren Publikation, einem 2001 erschienenen Buch über die ZapatistInnen sowie an mehreren Artikeln in Auseinandersetzung mit der globalen Protestbewegung zeigt. Der von ihnen entwickelte Begriff der „Neuen Einhegungen“ (The New Enclosures lautet auch der Titel der zehnten Ausgabe der Midnight Notes von 1990, siehe auch die Debatte in Nummer 2 und 4 des Commoner) stellt dabei die Bewegung des Kapitals als permanente „ursprüngliche Akkumulation“ (Marx) ins Zentrum, die vor allem noch nicht kapitalisierte Weltgegenden in den globalen Akkumulationsprozess miteinbezieht (Midnight Notes 1991)[vi]. Dabei ist die Zerstörung der lokalen Subsistenzgrundlagen von besonderer Bedeutung. Gemeinsam mit der zunehmenden finanziellen Abhängigkeit der Länder des Trikont führt dies zu einer verschärften globalen Ausbeutungssituation, an den Kämpfen gegen diese Einhegungen lassen sich aber auch die globalen Widerstände ablesen. Und schon damals artikulierten die Midnight Notes eine Problematik, der auch in den nachfolgenden Bewegungen und ihrer Theoretisierung – vom Aufstand der ZapatistInnen 1994 bis zur Frage nach einem „Urbanen Zapatismus“ bei John Holloway (2006, 56ff.) – besondere Bedeutung beigemessen wird, nämlich der Frage nach der Räumlichkeit der Einhegungen und jener des Widerstandes dagegen. Während das Midnight Notes Collective 1990 noch pathetisch verlautbart: „For class war does not happen on an abstract board toting up profit and loss, it is a war that needs a terrain“, schlägt Holloway gut 15 Jahre später vor, vor allem in den metropolitanen Kämpfen das Hauptaugenmerk auf die Zeitlichkeit von Herrschaft und die „Zwei Zeiten der Revolution“ zu legen (Holloway 2006). Beginnend mit den 1980ern wurden im englischsprachigen akademischen Diskurs die poststrukturalistischen PhilosophInnen aus Frankreich rezipiert, besonders Jacques Derrida, aber auch Gilles Deleuze und Felix Guattari. Michael Hardt, ein Philologe für romanische Sprachen arbeitete seit den 1980ern mit der Gruppe um Futur Anterieur und besonders mit Toni Negri zusammen. Ende der 1980er begann in seinem Umfeld die Übersetzung von Texten von Negri auf Englisch, die die Arbeiten von Harry Cleaver und der Gruppe um die Midnight Notes ergänzten. 1989 erschien von Negri The Politics of Subversion: A Manifesto for the Twenty-First Century, 1994 gemeinsam mit Michael Hardt Die Arbeit des Dionysos und 1996 gaben Paolo Virno und Hardt den Sammelband Radical Thought in Italy heraus. Aber erst nach Seattle 1999 konnte Hardt / Negris Buch „Empire“ ein Weltbestseller werden. Mit dem Aufstand der ZapatistInnen, der globalen Protestbewegung und der breiten Diskussion um Empire und Die Welt verändern ohne die Macht zu übernehmen hat auch die postoperaistische Theorie eine breitere Rezeption erfahren. Dabei zeichnet sich die Theorieproduktion im angloamerikanischen Raum gegenüber hierzulande nach wie vor durch seine erfrischende Art aus. Nicht nur, dass sich die TheoretikerInnen schon sehr früh der neuen Technologien und vor allem um das Internet annahmen (vgl. Dyer-Witheford 1999, 2004, 2005), es ist auch die unbeschwerte gleichzeitige Verwendung bei uns als unvereinbar geltender Theorieansätze (wie z.B. Kritischer Theorie, anarchistischer Ansätze und Poststrukturalismus), die die Lektüre vieler neuer Bücher aus dem angloamerikanischen-postoperaistischen Spektrum so gewinnbringend machen. Diese Texte sind allerdings nicht nur als theoretische interessant, sondern auch vor dem Hintergrund der politischen Herausforderungen der sozialen Bewegungen heute. So gibt es beispielsweise jede Menge Anknüpfungspunkte für eine produktive Überwindung des Widerspruches zwischen Marxismus und Anarchismus. Gerade derartige Bemühungen würden auch der deutschsprachigen Linken mehr als gut tun, will sie aus ihrer Traditionsverhaftetheit und der notwendig damit einhergehenden sektiererischen Tendenzen herauskommen; positive Ausnahmen, wie z.B. die Diskussion über Postanarchismus (siehe www.postanarchismus.net oder auch Pop 2005), bestätigen leider (noch) die Regel. E-mail: pyrx@gmx.li, r.foltin@aon.at Literatur: Atzert, Thomas / Müller, Jost (Hg) (2004): Immaterielle Arbeit und imperiale Souveränität. Analysen und Diskussionen zu Empire. Münster. Backhaus, Hans-Georg (1997): Dialektik der Wertform. Untersuchungen zur marxschen Ökonomiekritik. Freiburg. Bock, Gisela (1976): Die “andere” Arbeiterbewegung in den USA von 1905-1922. Die Industrial Workers of the World. München. Bonefeld, Werner (2003): Human Practice and Perversion: Beyond Autonomy and Structure. In: Revolutionary Writing. Bonefeld, Werner (Hg) (2003): Revolutionary Writing. Common Sense Essays in Post Political Politics. London. Bonefeld, Werner / Holloway, John (Hg) (1995): Global Capital, National State and the Politics of Money. London. Cleaver, Harry (2000): Reading Capital Politically. Leeds. Dyer-Witheford, Nick (1999): Cyber-Marx: Cycles and Circuits of Struggle in High-Technology Capitalism. Urbana, Washington. Dyer-Witheford, Nick (2004): Boomendes kognitives Kapital. Klassenzusammensetzung in der Video- und Computerspieleindustrie. In: Atzert / Müller: Immaterielle Arbeit und imperiale Souveränität. Dyer-Witheford, Nick (2005): Cyber-Negri: General Intellect and Immaterial Labor. In: Murphy / Mustapha: Resistance in Practice. Hardt, Michael (1996): Introduction: Laboratory Italy. In: Virno / Hardt: Radical Thought in Italy. Hardt Michael / Negri, Antonio (1994): Labor of Dionysos. A Critique of the State-Form. Minneapolis. Hardt Michael / Negri, Antonio (2000): Empire. Cambridge, London. Holloway, John (1995): Global Capital and the National State. In: Bonefeld / Holloway: Global Capital, National State and the Politics of Money. Holloway, John (2002): Die Welt verändern ohne die Macht zu übernehmen. Münster. Holloway, John (2003): In the Beginning was the Scream. In: Bonefeld: Revolutionary Writing. Holloway, John (2006): Die zwei Zeiten der Revolution. Würde, Macht und die Politik der Zapatistas. Wien. Holloway, John / Picciotto, Sol (1977): Capital, Crisis and the State. In: Capital & Class Nr. 2. Midnight Notes (1991): Die neuen Enclosures. In: Thekla 14, Ölwechsel. Miliband, Ralph (1971): Marx und der Staat. Berlin. Montano, Mario (1988): Bemerkungen zur internationalen Krise. In: Thekla 10, Zerowork. Murphy, Timothy S. / Mustapha, Abdul-Karim (2005): Resistance in Practice. The Philosophy of Antonio Negri. London. Negri, Antonio (1989): The Politics of Subversion. A Manifesto for the Twenty-First Century. Cambridge. Negri, Antonio (2003): Republicca Costituente. In: Bonefeld: Revolutionary Writing. Pop, Paul (2005): Rot-Schwarze Flitterwochen: Marx und Kropotkin für das 21. Jahrhundert. In: grundrisse 14. Poulantzas, Nicos (1973): Zum marxistischen Klasenbegriff. Berlin. Reitter, Karl (2006): Das Kapital wieder lesen. Eine Alternative zur wertkritischen Interpretation. In: grundrisse 17. Renshaw, Patrick (1999): The Wobblies. The Story of the IWW and Syndicalism in the United States. Chicago. Silver, Beverly (2005): Forces of Labor. Arbeiterbewegung und Globalisierung seit 1870. Berlin, Hamburg. Thekla 10, Zerowork (1988): Politische Materialien aus den USA von 1975 und 1977 zum nordamerikanischen und internationalen Klassenkampf. Berlin. Tronti, Mario (1974): Arbeiter und Kapital. Frankfurt. Virno, Paolo / Hardt, Michael (1996): Radical Thought in Italy. A Potential Politics. Minneapolis, London. Wright, Steve (2005): Den Himmel stürmen. Eine Theoriegeschichte des Operaismus. Berlin, Hamburg. [i] „Open Marxism“ entwickelt gegen das „autonome“ Denken einen an der Kritischen Theorie orientierten, dialektischen Zugang. [ii] Eine deutsche Übersetzung des zentralen fünften Kapitels des Buches (über die Wertform) findet sich in: grundrisse.zeitschrift für linke theorie & debatte, Nr. 15/2005, S. 47-64. [iii] Siehe die äußerst informative Homepage von Harry Cleaver: http://www.eco.utexas.edu/facstaff/Cleaver/. Dort finden sich jede Menge Informationen, die meisten Texte Cleavers, darunter das vollständige Buch „Reading Capital Politically“ sind dort online abrufbar. [iv] Auch Harry Cleaver war bei Zerowork engagiert. Von der Zeitschrift erschienen nur 2 Ausgaben (1975 und 1977), sämtliche Texte sind in Thekla 10 (Thekla 1998) auf Deutsch versammelt. [v] Eine Art „Best Of Common Sense“ stellt (wenngleich dies im Vorwort bestritten wird) der 2003 erschienene und von Werner Bonefeld herausgegebene Sammelband „Revolutionary Writing. Common Sense Essaysin Post-Political Politics“ dar (Bonefeld (Hg.) 2003). [vi] In ihrer politischen Kritik sind die Midnight Notes – aber eigentlich gilt dies für weite Teile autonom-marxistischer Zusammenhänge und weitgehend auch für den „offenen Marxismus“ – sehr in der Nähe des Subsistenztheoretischen Ansatzes der Bielefelder Entwicklungssoziologinnen (Veronika Benholt-Thomson, Maria Mies, Claudia Werlhof). |
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