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Philippe Kellermann: Vom Geist und geistlosen Zuständen
Ein Versuch über den Anarchisten Gustav Landauer.

state of the sun!
i know you don’t exist
but you’re so much more real
than alles was wirklich ist

MAD MINORITY

Der von Paul Pop in der Nummer 14 der grundrisse unternommene Versuch „die historisch entstandenen Fronten zwischen Anarchismus und Kommunismus aufzubrechen“ (45) ist zu begrüßen und weiterzuführen. Während sich Pop in seinem Artikel vor allem mit den Gedanken von Marx, Lenin, Bakunin und Kropotkin auseinandergesetzt hat, möchte ich im Folgenden auf einige Aspekte der theoretischen Arbeit des Anarchisten Gustav Landauers hinweisen, der, wie ich finde, interessante Akzente innerhalb des linken Denkens zu Beginn des 20. Jahrhunderts gesetzt hat. Dabei geht es mir um den Versuch einer (schematischen) Rekonstruktion des Landauerschen Denkens und darum, die Ignoranz gegenüber den theoretischen Ausführungen des jeweils Anderen aufzubrechen, die, wie mir scheint, ein gewichtiger Grund für die sich immer weiter fortsetzende Spaltung in MarxistInnen auf der einen und AnarchistInnen auf der anderen Seite ist.

Vorher allerdings noch ein paar Anmerkungen zu den Ausführungen Paul Pops. Dieser schreibt, dass eine gegenwärtige emanzipatorische Bewegung aus den Gedanken von Marx und Kropotkin wichtige Anregungen ziehen könne, während Lenin und Bakunin, besonders wegen ihren Avantgarde-Vorstellungen, als „autoritäre Knochen im Fossilienmuseum abgestellt werden“ (46) können. Ich will nun nicht die Theorie Bakunins diskutieren, möchte aber vorab ein paar kritische Anmerkungen zu deren Darstellung in Pops Artikel machen.

I. Bakunin

Zum einen wirft Pop Bakunin vor, dass dieser „den gemeinschaftlichen Stumpfsinn der russischen Dorfgemeinde für die Grundlage der neuen Gesellschaft“ halte. Dieser Vorwurf scheint mir ein wenig merkwürdig, denn in einem Brief an Herzen und Ogarjow wirft Bakunin genau das den Adressaten vor.[1] Dass Bakunin wichtige Schriften von Marx nicht gekannt habe, wie Pop meint, ist insofern zu relativieren, als Bakunin immerhin damit begonnen hatte, das Kapital ins Russische zu übersetzen (Stowasser 1995, 40). Gerade den Marxschen Analysen gegenüber war Bakunin stets aufgeschlossen,[2] während Marx Bakunin als theoretischen Akteur kaum ernst nahm.[3] Und selbst wenn man Pops Behauptung zustimmt, nach der die AnarchistInnen Positionen kritisiert hätten, die eher von Lassalle und der Sozialdemokratie ihrer Zeit als von Marx selbst vertreten worden seien, so ist damit nicht die Frage beantwortet, warum Marx sich eindeutig auf Seiten der deutschen Sozialdemokraten gegen die Anarchisten in der Internationale positioniert hat.[4]

 

Diese kurzen Anmerkungen sollten kein Rettungsversuch Bakunins sein, denn dass Bakunins Denkens nicht ohne Widersprüche und frei von Autoritätsgebaren ist, möchte ich keineswegs behaupten. Besonders zwei seiner Gedanken scheinen mir nichtsdestotrotz wichtig und weiterhin aktuell: Zum einen der Grundsatz, dass „Freiheit ... nur durch Freiheit geschaffen werden“ könne (Bakunin 1972, 615), der die Bedeutung der Selbstbestimmung im Prozess der Befreiung hervorhebt und zumindest als regulativer Maßstab des Handelns jede linke Bewegung begleiten sollte; zum anderen Bakunins Konzeption der freien Föderation, in der die Freiwilligkeit des Zusammenschlusses genauso betont wird wie die Möglichkeit zur Abspaltung. In den Worten Bakunins: „ich meine ..., dass das Recht auf Förderation selbstverständlich auch das Recht auf Sezession beinhaltet“ (Bakunin 2000, 18).[5] Wie wichtig dieser Gedanke für herrschaftsfreie Gesellschaften ist, hat Wagner (2004) am Beispiel des Irokesenbundes herausgearbeitet[6] und Spehr (2003) ist bemüht, auf diesem Axiom eine „Theorie der freien Kooperation“ auszuformulieren.

II. Landauer

Gustav Landauer wird 1870 als zweiter Sohn jüdischer, allerdings nicht religiöser Eltern in Karlsruhe geboren. Seit den 1890er-Jahren engagiert er sich in politischen Projekten und zeigt sich dabei schon früh von autoritären sozialistischen Strömungen abgestoßen, so von den bürokratischen Strukturen innerhalb der SPD. Von vielfältigen Interessen getrieben schreibt er unter anderem Romane, ist Mitherausgeber der anarchistischen Zeitschrift Sozialist, übersetzt den mittelalterlichen Mystiker Meister Eckhart und den frühneuzeitlichen „Prä-Anarchisten“ Etienne de La Boetie[7] ins Deutsche. 1908 gründet er eines seiner großen politischen Projekte, den Sozialistischen Bund, der mit seinen dezentral organisierten Kommunen ein Bild des künftigen Sozialismus vermitteln sollte. Das Projekt scheitert jedoch. Landauer wendet sich von Beginn an gegen den Ersten Weltkrieg und lehnt es später ab, eine Kulturtagung zu besuchen, an der eine Person teilnimmt, die in „wüsten Worten sich bis zu Mordrufen an der Völkerverhetzung beteiligt“ hätte (Landauer zitiert nach Hinz 2000, 162). Nach Ende des Krieges schließt er sich der revolutionären Bewegung in Bayern an und übernimmt im April 1919 in der kurzzeitig bestehenden Räterepublik den Posten des Kultusministers. Nur kurze Zeit später wird er nach dem Einmarsch gegenrevolutionärer Truppen verhaftet und ermordet.

Auf seine Zeitgenossen hatte Landauer einen nicht zu unterschätzenden Einfluss. Man denke nur an Martin Buber oder Ernst Bloch, die beide wesentlich von Landauer beeinflusst waren[8]. Vor diesem Hintergrund überrascht es zunächst, dass Landauer heute „nahezu ein Vergessener“ ist, wie Siegbert Wolf meint (Wolf 1993, 73). Was genau aber macht den deutsch-jüdischen Anarchisten Gustav Landauer für das Denken einer sich als emanzipatorisch verstehenden Bewegung interessant?

Das Problem des Staates

Interessant ist vor allem die Art und Weise, in der Landauer das Problem des Staates diskutiert. Die anarchistische Staatskritik wird üblicherweise unter dem Schlagwort der „Zerstörung des Staates“ subsumiert. Das Beispiel Landauers zeigt, dass dieses Schlagwort wichtige Differenzen innerhalb der anarchistischen Theoriebildung nicht fassen kann. So schreibt Landauer: „Einen Tisch kann man umwerfen und eine Fensterscheibe zertrümmern, aber die sind eitle Wortmacher und gläubige Wortanbeter, die den Staat für so ein Ding oder einen Fetisch halten, den man zertrümmern kann, um ihn zu zerstören“ (zitiert nach Wolf 1988, 60). Wenn Landauer betont, dass man den Staat nicht zertrümmern könne, so spricht jedoch nicht die Stimme eines resignierenden Mannes, der jeden Glauben an die Befreiung von staatlicher Herrschaft aufgegeben hat. Vielmehr verweist die Aussage auf ein Verständnis von Staatlichkeit, das mit dem Konzept des „Zerstörens“ nicht zu erfassen ist, denn der Staat ist Landauer zufolge „ein Verhältnis, ist eine Beziehung zwischen den Menschen, ist eine Art, wie die Menschen sich zueinander verhalten“ (ebd.). Während das Konzept des „Zerstörens des Staates“ traditionellerweise ein Verständnis von Staat voraussetzt, in dem dieser als ein dem Individuum äußerliches Zwangsinstrument oder dem Individuum gegenübertretendes Ding verstanden wird, nähert sich Landauer einer relationalen Staatstheorie an, in der sich nicht mehr Staat und Gesellschaft unvermittelt gegenüberstehen, sondern in der der Charakter einer verstaatlichten Gesellschaft betont wird, in der folgerichtig das Verhalten der Individuen zueinander staatliche, das heißt herrschaftsförmige Formen angenommen hat. Am Grad der herrschaftsförmigen Durchdringung der Gesellschaft lässt sich für Landauer dann auch der Unterschied zwischen den absolutistisch-personalen und dem modernen Staat anzeigen: „Der absolute Monarch konnte sagen: ich bin der Staat: wir, die wir im absoluten Staat uns selbst gefangengesetzt haben, wir müssen die Wahrheit erkennen: wir sind der Staat“ (ebd.).

Über die freiwillige Knechtschaft

Wenn Landauer den modernen Staat also dadurch gekennzeichnet sieht, dass wir selbst dieser Staat sind und dementsprechend durch unsere herrschaftsförmigen Verhaltensweisen selbst immer wieder dieses Gebilde erschaffen, dann verweist dies auf die aktive Teilnahme der Menschen für die Aufrechterhaltung des staatlichen, also herrschaftsförmigen Zustandes der Gesellschaft. Auch Bakunin bemerkte schon, dass  es zur Aufrechterhaltung des Staates mehr bedarf als der „machiavellistischen Künste der herrschenden Klasse“, dass vielmehr in den „Massen selbst eine freiwillige, schwindelartige Bewegung“ existiere, „die sie dazu treibt, sich immer von neuen einer dieser Abstraktionen [Kirche und Staat] zu opfern“ (Bakunin zitiert nach Mümken 2003, 44). Er scheint jedoch seine Beobachtung selbst nicht ganz ernst zu nehmen, da er vom Staat gleichzeitig simplifizierend als einem „Gefängnis“ schreibt, dem ein Volk gegenübergestellt wird, das prinzipiell kein Interesse daran haben könne, dieses zu befestigen (Bakunin 1972, 494). Landauer nimmt das von Bakunin angemerkte Problem der Zustimmung zur Herrschaft wesentlich ernster. Die Schrift Über die freiwillige Knechtschaft von Etienne de La Boetie (1530-1563) rezipierend betont er im Einklang mit dem Franzosen, dass sich nur durch das Mitwirken der Menschen Herrschaft erhalten kann[9]. Besonders die Gewohnheit, welche den Menschen das Knecht-Sein gelehrt habe, tritt dabei in den Mittelpunkt der Betrachtung und erscheint als gewichtiges Problem (Landauer 2003, 92). Wie der Begriff der „freiwilligen Knechtschaft“ andeutet, finden wir hier in Ansätzen eine Fragestellung formuliert, wie sie später die marxistische Ideologietheorie (z.B. Gramscis Frage nach der Hegemonie oder Althussers Theorie der ideologischen Staatsapparate), aber auch Denker wie Foucault[10] oder Deleuze immer intensiver beschäftigen wird.

Die Ausführungen Landauers zur Frage, warum es einen Staat überhaupt gebe, zeigen also, dass dieser nicht alleine als Resultat eines äußeren Zwangs verstanden werden kann, sondern vielmehr auch als Ergebnis der herrschaftsförmigen Verhaltensformen aller Gesellschaftsmitglieder. Diese charakterisiert Landauer vor allem als Mangel. In einer etwas problematischen Sprache[11] spricht er in diesem Zusammenhang von fehlendem Geist. So heißt es im Aufruf: „Wo kein Geist und keine innere Nötigung ist, da ist äußere Gewalt, Reglementierung und Staat. Wo Geist ist, da ist Gesellschaft. Wo Geistlosigkeit ist, ist Staat. Der Staat ist das Surrogat des Geistes.“ (1998, 30) Mit Geist meint Landauer ein auf die gemeinsame Freiheit und Gleichheit bezogenes Ethos. Während dieser echte Geist also eine horizontale Vergesellschaftung ermöglichen soll, tritt bei dessen Fehlen der Staat, die Staatlichkeit an dessen Stelle. Die Terminologie Landauers ist hier allerdings nicht eindeutig, denn an manchen Stellen wird anstelle von Staat auch von Ungeist gesprochen.

Zwischen Schuld und Leid

Wenn Landauer auf den Kapitalismus zu sprechen kommt, fällt als Erstes seine Perspektive auf: Ob es um das Leiden an den kapitalistischen Verhältnissen oder um das Interesse an der Aufrechterhaltung dieser Verhältnisse geht, sein Denken entzieht sich dem polarisierenden Dualismus vom bösen Kapitalisten auf der einen und der guten Proletarierin auf der anderen Seite. So stellt er fest, dass „alle Menschen ohne Ausnahme ... bis zur Maßlosigkeit“ litten, und „wenig Freude, gar keine rechte Freude haben unter diesen kapitalistischen Zuständen“ (1998, 94). Das schließt konsequenterweise auch den Kapitalisten selbst mit ein, der „unwürdige und erdrückende Sorgen“ habe (1998, 94). Ist eine solche Perspektive einerseits hellsichtig, da sie die Getriebenheit des Kapitalisten innerhalb des Systems erkennt, läuft sie andererseits Gefahr die Unterschiede von Lebensbedingungen, Handlungsfähigkeiten und Interessenlagen von Menschengruppen innerhalb der herrschenden Ordnung einzuebnen. Landauer begegnet dieser Gefahr ansatzweise, indem er meint, dass es durchaus „Schuldige“ gebe, denn „für uns besteht die Menschheitsgeschichte nicht aus anonymen Prozessen und nicht bloß aus der Häufung kleiner Massengeschehnisse und Massenunterlassungen“ (1998, 52).

Wie sich eigenes Leiden, eigene Schuld und eigene Getriebenheit zueinander in Beziehung setzen lassen, lässt sich an Landauers Behandlung der Figur des Kapitalisten aufzeigen. An einer Stelle seines Aufrufs spricht er davon, wie der Kapitalist den Mechanismus der Industrie eingeführt habe – insofern lässt sich von einer „Schuld des Kapitalisten“ sprechen. Andererseits verweist Landauer im Weiteren auf die Verselbständigung dieses Mechanismus, dem sich der Kapitalist schließlich auch selbst zu unterwerfen habe – hier findet dann dessen Leiden seinen Ort (1998, 92). Indem Landauer diese, in ihrer Diagnose sicherlich unzureichende und auch zu einfache Unterscheidung vornimmt, öffnet er immerhin das Problemfeld ethischen Handelns. Während sich Marx im Vorwort des Kapitals, wo es heißt, dass er Kapitalist und Grundeigentümer als „Personifikation ökonomischer Kategorien“ behandeln wolle und der Einzelne nicht verantwortlich gemacht werden könne „für Verhältnisse, deren Geschöpf er sozial bleibt“ (Marx 1867, 16), um das Problem drückt, warum sich manche dafür oder dagegen entscheiden, Kapitalisten zu sein, bzw. die Frage, ob es den Zeitpunkt einer solchen Entscheidung überhaupt gibt, in der Schwebe lässt, lassen sich die Ausführungen Landauers dahin gehend lesen, dass er die grundlegende Entscheidung der Einzelnen und die Frage, wie sich diese in den Kräfteverhältnissen der Gesellschaft positionieren[12], in den Vordergrund rückt.

Das Denken der Widersprüchlichkeit

Während von marxistischer Seite aus die revolutionäre Rolle des Proletariers auch aus der grundsätzlichen Differenz zwischen kapitalistischem Gewinn und proletarischer Aneignung gewonnen wird, hebt Landauer interessanterweise trotz des Interessenkonflikts die prinzipielle Gleichartigkeit im Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit hervor. So schreibt er: „Die Arbeiter benehmen sich in ihren Lohnkämpfen durchaus, wie sie sich als Teilhaber der kapitalistischen Gesellschaft benehmen müssen: als Egoisten, die mit dem Ellbogen kämpfen, und da sie allein nichts ausrichten könnten, als organisierte, vereinigte Egoisten. ... In den Kämpfen innerhalb des Kapitalismus können immer nur die wirkliche Siege, d.h. bleibende Vorteile erringen, die als Kapitalisten kämpfen“ (1998, 78). Dieses Verständnis der Klassenkämpfe ist heute der Kritik am so genannten „Arbeiterbewegungsmarxismus“[13] recht vertraut. Michael Heinrichs Einführung in die Kritik der politischen Ökonomie sei beispielhaft genannt. Dort heißt es: „Klassenkämpfe sind zunächst einmal Kämpfe innerhalb des Kapitalismus: das Proletariat kämpft um seine Existenzbedingungen als Proletariat, es geht um höhere Löhne oder bessere Arbeitsbedingungen. Insofern sind Klassenkämpfe kein Anzeichen einer besonderen Schwäche des Kapitals oder gar einer bevorstehenden Revolution, sondern die normale Bewegungsform der Auseinandersetzung von Bourgeoisie und Proletariat“ (Heinrich 2005, 197). Während allerdings gegenwärtig linke Strömungen - markantes Beispiel sind die so genannten „Antideutschen“ – hieraus eine von Ressentiments getragene Abkehr vom einst als revolutionär beschworenen Subjekt ableiten[14], macht Landauer die prinzipielle Ambivalenz des Problems deutlich und verweigert sich einfachen Lösungen. So sieht er das Dilemma, dass auf der einen Seite „die Gewerkschaft eine durchaus notwendige Organisation innerhalb des Kapitalismus ist“, welche die ArbeiterInnen benötigen, sind diese doch „nicht eine revolutionäre Klasse, sondern ein Haufen armer Schlucker ..., die im Kapitalismus leben und sterben müssen“ (1998, 79), andererseits, dass alles aber „nur immer im zwingenden Kreise des Kapitalismus“ herumführe und „alles, was innerhalb der kapitalistischen Produktion geschieht, nur immer tiefer in sie hinein, aber nie aus ihr“ herausführe (1998, 80). Und so schließt er, das existentielle Problem des Überlebens der Menschen im Auge: „Das alles und alles, wovon wir hier sprechen, sind Notwendigkeiten des Lebens, solange wir nicht aus dem Kapitalismus austreten: sind aber freilich nichts weniger als Mittel und Wege des Sozialismus“ (1998, 85). An solchen Betrachtungen, welche die Widersprüchlichkeiten benennen und nichtsdestotrotz versuchen, mit diesen umzugehen, hätte sich heutige linke Politik zu messen.

Der Wille zum Sozialismus

Nach den bisherigen Ausführungen mag es wohl nicht sonderlich überraschen, dass Landauer seinen Aufruf zum Sozialismus nicht an eine bestimmte Gruppe oder Klasse, sondern an alle „Menschen, die es nicht mehr aushalten können und wollen“ richtet (1998, 123). Dabei spielt das Wollen die zentrale Rolle. Sich polemisch gegen das richtend, was er als marxistische Geschichtsphilosophie bezeichnet, nämlich die Betonung der Zwangsläufigkeit der historischen Entwicklung, schreibt er: „Der Marxismus ist der Philister, und der Philister kennt nichts Wichtigeres, nichts Großartigeres, nichts was ihm heiliger ist als die Technik und ihre Fortschritte. ... Der Vater des Marxismus ist nicht das Geschichtsstudium, ist auch nicht Hegel, ist weder Smith noch Ricardo, noch einer der Sozialisten vor Marx, ist auch kein revolutionär-demokratischer Zeitzustand, ist noch weniger der Wille und das Verlangen nach Kultur und Schönheit unter den Menschen. Der Vater des Marxismus ist der Dampf. Alte Weiber prophezeien aus dem Kaffeesatz. Karl Marx prophezeite aus dem Dampf“ (1998, 55/56). Landauer hingegen sieht den Sozialismus nicht abhängig von historischen Gesetzmäßigkeiten, sondern vom Wollen der Menschen. „Sozialismus ist die Willenstendenz geeinter Menschen, um eines Ideals willen Neues zu schaffen“ (1998, 18). In diesem Sinn heißt es auch kämpferisch: „gar kein Sozialismus muss kommen .... Aber der Sozialismus kann kommen und soll kommen – wenn wir ihn wollen, wenn wir ihn schaffen“ (1998, 67). Man könnte Landauer eine Idealisierung des Willens vorwerfen, wenn er beispielsweise schreibt, dass, wo ein Wille ist, auch ein Weg sei (1998, 17). Andererseits betont Landauer aber auch, dass es hier um Massen von Wollenden geht und nicht um Einzelne. Somit ist er gar nicht so weit entfernt von Marx, der schließlich auch von der „materiellen Gewalt“ der Theorie sprach, „sobald sie die Massen ergreift“ (Marx 1843/44, 385).

Der Sozialismus ist/war immer möglich

Indem Landauer den Sozialismus allein vom Willen der Menschen abhängig macht – hierin unterscheidet er sich dann wiederum erheblich von Marx –, sich darüber hinaus gegen jede Form von Geschichtsdeterminismus richtet, besteht er darauf, dass der Sozialismus im Prinzip zu jeder Zeit „einführbar“ sei. „Der Sozialismus ist,“ so Landauer, „zu allen Zeiten möglich, wenn eine genügende Zahl Menschen ihn will“ (1998, 66). Thomas Heinrichs nimmt gegenwärtig eine ähnlich Position ein, wenn er darauf verweist, dass die „Abschaffung von Herrschaft ... grundsätzlich auf jeder Stufe der historischen Produktivkraftentwicklung möglich [ist]. Ökonomisch kann nie etwas dagegen sprechen. Die von der Herrschaft wahrgenommenen Organisationsfunktionen, durch die sie sich legitimiert, entsprechen von ihrem Entwicklungsstand her immer dem Entwicklungsstand der Produktionsverhältnisse ihrer Zeit überhaupt und sind somit ohne weiteres anders, kollektiv und nicht herrschaftlich erfüllbar“ (Heinrichs 2002, 113).

Woher kommt der neue Mensch?

Die große Frage ist jetzt: Woher kann ein sozialistischer Wille kommen, wenn die Menschen sich in der freiwilligen Knechtschaft befinden? Dieses Problem - und hier werden seine Ausführungen zunehmend schwächer - meint Landauer durch den Rekurs auf ein unverfälschtes Wesen des Menschen lösen zu können. So schreibt er: „Geist ist Gemeinschaft, und es gibt kein Individuum, in dem nicht, wach oder schlummernd, der Trieb zum Ganzen, zum Bunde, zur Gemeinde, zur Gerechtigkeit ruht“ (1998, 98). Man kann hier schon erahnen: Letztlich wird sich das Anliegen Landauers darauf reduzieren, an die Menschen den Appell zu richten, sich auf diesen ursprünglichen Trieb zurückzubesinnen. Damit hat sich jedoch die Ausgangsproblematik erst einmal nur verschoben, denn: Wer hat diesen Trieb überhaupt schon so vergegenwärtigt, dass er/sie an den Anderen bzw. die Andere appellieren kann? An dieser Stelle fällt Landauer dann anscheinend auch nicht mehr ein, als auf jene zu verweisen, „die ihrer Konstitution nach nie ihrer Zeit angehört haben“ (1998, 63). Eine solche Antwort mag kaum befriedigen. Hier hätte die sechste Feuerbachthese von Marx ernster genommen werden müssen, nach der das menschliche Wesen als „ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ (Marx 1845, 6) bestimmt wird. Es bedarf ja auch nicht des Verweises auf ein „ursprüngliches Wesen“, um die Gegenwart radikal in Frage stellen zu können. Da die herrschenden Verhältnisse eben nicht zu reibungsloser und totalitärer Subjektivierung fähig sind, ist es die Erfahrung des Leidens und der Zumutung innerhalb dieser Verhältnisse, die die Konstituierung einer radikalen Kritik möglich macht.

Geist als horizontale Vergesellschaftungsform

Wie schon angedeutet steht und fällt die Möglichkeit einer herrschaftsfreien Gesellschaft für Landauer mit der Existenz bzw. Nichtexistenz eines gemeinsamen Geistes; „ein verbindender Geist, sage ich, der die Menschen von innen her zum Zusammenarbeiten in den Dingen der Gemeinsamkeit, der Herstellung und Verteilung der gebrauchten Güter triebe“ (1998, 26). Obwohl er in seiner Schrift Die Revolution das Mittelalter als Epoche des Geistes verklärt hatte, betont er im Aufruf scheinbar entgegengesetzt: „Aber dieser natürliche Zwang der verbindenden Eigenschaft, des gemeinsamen Geistes hat bisher, in der uns bekannten Menschengeschichte, immer äußere Formen gebraucht: religiöse Symbole und Kulte, Glaubensvorstellungen und Gebetsvorkehrungen oder ähnliches solcher Art. Darum ist der Geist von den Völkern immer in Verbindung mit dem Ungeist ... Und dazu kommt dann die äußere Organisation: die Kirche und die Organisationen äußeren Zwanges weltlicher Art erstarken“ (1998, 20). Aus diesem Grund plädiert er auch nicht für ein romantisches Zurück, sondern schreibt, dass die „Versuche zu altem Aberglauben oder zu sinnlos gewordener Bildersprache zurückzukehren ... gefährliche Hemmnisse“ seien „und am letzten Ende wieder nur Symptome des Niedergangs“ (1998, 97). Wie aber kann dieser zukünftige Geist erschaffen werden? An dieser Stelle kommen wir zum Problem der Revolution.

„Wohl wissen sie, dass die Menschen Brüder sind; aber sie glauben, sie seien es schon wieder, wenn die Hemmnisse und Gewalten entfernt sind,“ schreibt er über die Naivität mancher Zeitgenossen (Landauer zitiert nach Hinz 2000, 196). Damit verweist Landauer auf ein Problem, das später in den Arbeiten Foucaults im Mittelpunkt stehen wird. So betonte der französische Philosoph in seinen letzten Lebensjahren programmatisch: „Ich war immer etwas misstrauisch in Bezug auf das allgemeine Thema der Befreiung ... . Ich will nicht sagen, dass es die Befreiung ... nicht gibt: Wenn ein kolonialisiertes Volk sich von seinen Kolonialherren befreien will, dann ist dies gewiss im strengen Sinne eine Befreiungspraxis. Aber in diesem übrigens sehr präzisen Falle weiß man sehr genau, dass diese Praxis der Befreiung nicht ausreicht, um die Praktiken der Freiheit zu definieren, die in der Folge nötig sind, damit dieses Volk, diese Gesellschaft und diese Individuen für sich annehmbare und akzeptable Formen ihrer Existenz oder der politische Gemeinschaft definieren können. Deshalb insistiere ich mehr auf den Praktiken der Freiheit als auf den Prozessen der Befreiung, die, um es noch einmal zu sagen, ihren Stellenwert haben, mir aber aus sich selbst heraus nicht in der Lage zu sein scheinen, alle praktischen Formen der Freiheit zu bestimmen“ (Foucault 2005, 876/877). In diesem Sinn und entgegen der vereinfachten marxistischen Lösung vom „Einschlafen des Staates“ bringt auch Martin Buber, der Weggefährte Landauers, das Problem auf den Punkt: „Gegensätze zwischen Individuen und zwischen Gruppen werden wohl nie aufhören und sollen es auch nicht; sie müssen ausgetragen werden; aber anstreben können und müssen wir einen Zustand, wo sich die Einzelkonflikte weder auf unbeteiligte große Gesamtheiten ausdehnen, noch zur Begründung zentralistisch-unbedingter Herrschaft verwenden lassen“ (Buber 1985, 82). Die grundsätzliche Frage, inwieweit eine postrevolutionäre Gesellschaft einer gemeinsamen Grundlage bedarf und wie sich ein solcher allgemeiner Grundkonsens denken lässt, kann nicht einfach mit dem Hinweis auf ein „Bilderverbot“ in Bezug auf das möglicherweise zukünftig Eintretende vom Tisch gewischt werden. Gerade die zum Teil furchtbaren Konsequenzen früherer Revolutionen zwingen dazu, eine solche Frage ernster zu nehmen, um postrevolutionärer Herrschaftsbildung zuvorzukommen.

Strategische Perspektive

Das Denken Landauers ist geprägt von Abscheu gegenüber einem Marxismus, der, sich selbst geschichtsphilosophisch legitimierend, das Handeln auf einen noch kommenden Augenblick vertagt. Gegen diesen „Appell an die Ohnmacht“ (1998, 106), wie er es nennt, setzt er sein Konzept des unmittelbaren Eingreifens. Denn was „wir nicht jetzt, im Augenblick tun, tun wir gar nicht“ (1998, 140). Dieses Handeln fasst Landauer unter den Begriff des Austretens: „Austreten aus dem Staat, aus sämtlichen Zwangsgemeinschaften; radikaler Bruch mit den Überlieferungen des Privateigentums, der Besitzehe, der Familienautorität, des Fachmenschentums, der nationalen Absonderung und Überhebung“ (Landauer zitiert nach Wolf 1993, 80).

So sollen all jene, welche den Sozialismus wollen, sich zusammentun und eigene Siedlungen gründen. Dabei ist Landauer sich des provisorischen und begrenzten Charakters solcher Vereinigungen durchaus bewusst: „Wir können Siedlungen gründen, die freilich nicht auf einen Schlag, nicht ganz und gar dem Kapitalismus entronnen sind. Wir wissen aber jetzt, dass der Sozialismus ein Weg ist, Weg aus dem Kapitalismus weg, und dass jeder Weg einen Anfang hat“ (1998, 140). Genauso wenig wie Landauer in diesen Siedlungen die Verwirklichung des Sozialismus sieht, genauso wenig soll dieses „Austreten“ aus der Gesellschaft als ein Rückzug verstanden werden. „Für uns aber gilt ... : nicht sich abwenden von der Welt“ (Landauer zitiert nach Hinz 2000, 54), vielmehr gelte es „Wirklichkeit zu schaffen“ (Landauer zitiert nach Hinz 2000, 116), wie Landauer in anderem Kontext sagt. Wirklichkeit zu schaffen heißt dabei vor allem ein Beispiel geben: „Zum Sozialismus sollen wir führen; wie anders können wir führen als durch unser Beispiel?“ (1998, 13). Es ist zum einen die Ablehnung von Gewalt, zum anderen der Glaube an die Wirksamkeit des vorgelebten Beispiels – denn „nichts in der Welt hat so unwiderstehliche Gewalt der Eroberung wie das Gute“ (1998, 13) – durch die Landauers politische Strategie gekennzeichnet ist. Hinz fasst zusammen: „Landauers Postulat ist die anarchistische Alternative, die bei sich selbst, dem Einzelnen beginnt und ein Ausbrechen aus den Um- und Zuständen mit Gleichdenkenden sucht. Was er vor Augen hat, sind autarke Gemeinschaften, denen durch ihre Existenz neben der Gesamtgesellschaft eine Beispielfunktion zukommt und die einen Dominoeffekt auslösen könnten, an dessen Ende eine zutiefst föderal ausdifferenzierte neue Welt stünde“ (Hinz 2000, 142). Mensch mag bei einem solchen Konzept leicht an irgendwelche Hippie-Spielereien denken, doch der Impuls selbstbestimmte Freiräume zu erkämpfen und sich nicht darauf auszuruhen, dass es kein richtiges Leben im falschen gäbe, verdient es, im Bewusstsein behalten zu werden. Wichtiger als die von Landauer konkret beschriebene Perspektive ist aber vielleicht die Offenheit, mit der er den Weg in den Sozialismus propagiert. Es erinnert an das „fragend gehen wir voran“ der ZapatistInnen (vgl. Holloway 2002, 248), wenn er schreibt: „Der Sozialismus als Wirklichkeit kann nur erlernt werden; der Sozialismus ist wie jedes Leben ein Versuch“ (1998, 138).

Schluss

Schon 1982 spricht Foucault von der „vielleicht ein wenig langweiligen Erfahrung unserer unmittelbaren Zeitgenossen ... , sich nur noch zum Verzicht auf die Revolution zu bekehren“ (Foucault 2004, 263). Mensch mag hierin ein utopisches Defizit ausmachen, kann dies aber auch mit Landauer ins Positive wenden, denn: „Es stellt sich heraus, dass das ins Auge fassen der Revolution in seinem Ergebnis immer dem Bangen vor ihr gleichkommt. Es ist zu raten, beim eigenen Handeln nicht an das, was verhängt sein kann, zu denken, sondern an das, was zu tun ist“ (1998, 76).

Was aber ist zu tun? Vielleicht hilft hier der Rat Agnolis weiter: „Wenn ihr euch nicht sagt: ’Wir müssen einfach wieder von vorne anfangen’, dann ist alles aus. ... Ganz allmählich vorgehen, ... ohne Hoffnung auf einen Erfolg, denn der Erfolg stellt sich dann unvermutet ein durch irgendein Ereignis. Nur muss man – das war der Grund des Durchbruchs 1968 – vorbereitet sein auf ein mögliches Ereignis. Aber bis das Ereignis eintritt, da muss man wirklich ganz sachte vorgehen und vor allem mit Leuten reden, aber nicht nur mit ihnen reden – man muss die Leute reden lassen! Man muss zuhören, sich die Sorgen und Bedürfnisse anhören, und man muss sich wirklich auf diese Ebene begeben. Es hat keinen Sinn, den Intellektuellen zu spielen“ (Agnoli zitiert nach Görres Agnoli 2004, 95/96).

E-Mail: philippe.kellermann /at/ gmx /punkt/ de

Literatur

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Wolf, Siegbert (1988): Gustav Landauer. Zur Einführung. Hamburg

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Foucault, Michel (2004): Hermeneutik des Subjekts. Vorlesung am Collège de France (1981/82). Frankfurt am Main.

Foucault, Michel (2005): Die Ethik der Sorge um sich als Praxis der Freiheit (Gespräch, 1984). In: Schriften (4 Bde.). Band 4 (1980-1988). Herausgegeben von Defert und Ewald. S.875-902. Frankfurt am Main.

Görres Agnoli, Barbara (2004): Johannes Agnoli. Eine biografische Skizze. Hamburg.

Haug, Wolfgang Fritz (2005): Dreizehn Versuche marxistisches Denken zu erneuern. Gefolgt von Sondierungen zu Marx/Lenin/Luxemburg. Hamburg.

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Marx, Karl (1843/44): Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. In: MEW 1. S.378-391. Berlin.

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Wolf, Siegbert (2003): Einführung. In: Landauer. Die Revolution. S.7-23. Münster.


[1]Ihr stolpert über die russische Bauernhütte, die selbst stolperte und mit ihrem Recht auf Grund und Boden seit Jahrhunderten in ihrer chinesischen Unbeweglichkeit steht. ... warum [hat] diese Dorfgemeinde, von der Ihr so viel Wunder für die Zukunft erwartet, im Laufe der zehn Jahrzehnte ihres Bestehens nichts als die traurigste und abscheulichste Sklaverei hervorgebracht ... – die empörende Erniedrigung der Frau ...“ (Bakunin 1972, 708/709).

[2] So schrieb Bakunin beispielsweise über die von Marx verfasste Prinzipienerklärung der Internationale, dass diese „bedeutend, ernst und tief“ sei, „wie alles aus seiner Feder, wenn er keine persönliche Polemik“ betreibe (Bakunin zitiert nach Eckhardt 2004, 13).

[3] „Das mit dem Anarchismus formulierte andere Sozialismuskonzept Bakunins begriff Marx schlichtweg als Unsinn“ (Eckhardt 2004, 98).

[4] Siehe Eckhardt 2004, 141/142.

[5] Hier äußert sich eine grundsätzliche Differenz zu Lenin der im Gegensatz zu Bakunin meinte, dass „die ganze Gesellschaft ... eine einheitliche Genossenschaft der Werktätigen“ sein sollte und von „einer Unabhängigkeit einzelner Gruppen ... keine Rede sein“ könne und dürfe (Lenin zitiert nach Haug 2005, 271).

[6] Wie Wagner betont, bildet gerade die Möglichkeit des Abspaltens ein „für die Verhinderung von herrschaftsaffiner Überintegration“ konstitutives Element von herrschaftsfreier Vergesellschaftung (Wagner 2004, 59).

[7] Zu Etienne de La Boetie als Prä-Anarchisten siehe Hoffmann (2005).

[8] Im Gegensatz zu Buber verschwieg Bloch allerdings den Einfluss Landauers, obwohl es Landauer war, der mit seinem Buch Die Revolution Blochs Geist der Utopie reichhaltige Inspiration lieferte (Wolf 2003, 18). Auf die insgesamt sehr breite Wirkung Landauers verweisen Wolf (1993, 73) und Löwy (2002, 205).

[9] Siehe Landauer (2003, 90ff.)

[10] Beispielhaft sei das Vorwort zu Deleuzes/Guattaris Anti-Ödipus genannt, wo Foucault dieses Problem umreißt: „Wie können wir unsere Diskurse und unsere Taten, unsere Herzen und unsere Lüste vom Faschismus befreien? Wie lässt sich der Faschismus austreiben, der sich in unserem Verhalten eingenistet hat?“ (Foucault 2003, 179)

[11] Die Sprache Landauer ist in vielerlei Hinsicht für die Gegenwart nicht mehr anschlussfähig. Begriffe wie „Volk“, „Gemeinschaft“ und „Gemeingeist“ sind in ihrem Gebrauch problematisch. Ohne an dieser Stelle berechtigte Kritik an Landauer für überflüssig zu erklären, sollte dennoch versucht werden, zu verstehen, was Landauer mit diesen Begriffen meinte. Man sollte sich also, wie Gramsci es fordert, „anstrengen ... zu verstehen, was sie [die Gegner] wirklich haben sagen wollen, und sich nicht boshaft bei den oberflächlichen und unmittelbaren Bedeutungen ihrer Ausdrucksweisen“ aufhalten (Gramsci zitiert nach Votsos 2001, 71/72).

[12] All jenen, welche das Kapitalverhältnis sowieso als totalen Verblendungszusammenhang begreifen wird das Problem und die Frage nach der Positionierung freilich ein albernes Ärgernis sein. Allerdings vermögen gerade jene nicht schlüssig anzugeben, warum sie sich überhaupt innerhalb des Kapitalverhältnis reflexiv positionieren können.

[13] Negativ konnotierte Begriffe wie „Arbeiterbewegungsmarxismus“ (Kurz) oder „Weltanschauungsmarxismus“ (Heinrich) scheinen mir im übrigen weder der Vielfalt noch der Produktivität der verschiedenen Marx-Rezeptionen gerade auch im Kontext der ArbeiterInnenbewegung gerecht zu werden.

[14] „Das Phänomen der ‚Antideutschen’ mag tatsächlich als negativer Effekt aus der Drei zu Eins-Debatte [Verhältnis von Rassen-, Geschlechts- und Klassenherrschaft] interpretiert werden. Etwas verkürzt dargestellt, sind jene über eine antirassistische und antifaschistische Politik, die in den 90er-Jahren im deutschen Großmachtstaumel ganz angebracht war, zu einer dezidierten Kritik des Antisemitismus übergegangen und sind damit, dass sie diesen zum neuen ‚Hauptwiderspruch’ erklärt haben, über das Ziel hinausgeschossen. Dazu griffen sie auf dogmatisch-marxistische Erklärungsmuster zurück, die ‚strukturell’ dem Hauptwiderspruchsgedanken der frühen K-Gruppen durchaus ähneln, wenn auch mit umgekehrter Konsequenz: Immer noch auf der Suche nach dem ‚revolutionären Subjekt’ landete ihr Projekt bei einer pauschalen Aburteilung der ArbeiterInnenklasse als konterrevolutionär und ‚strukturell antisemitisch’. Der typisch antideutsche Abscheu vor der ‚Masse’ – der sich prima mit traditionell autonomer Sektiererei versteht – bedeutete damit gleichzeitig eine Abkehr von Basis- oder Direktdemokratie und Konsensprinzip.“ (Bewernitz 2005, 64/65)

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ISSN 1814-3164 
Key title: Grundrisse (Wien, Online)

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