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Paolo Virno: Zwei Anmerkungen zur Grammatik der Multitude *)

Die folgenden zwei Texte, die uns Paolo Virno freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat, können als Vertiefungen von Thematiken gelesen werden, die der Autor in der Grammatik der Multitude[1] behandelt. Die erste dieser beiden Anmerkungen bezieht sich auf eine Überlegung im Kapitel „Gemeinplätze und General Intellect“, bei der es um die Frage nach der Orientierung der Subjekte im sozialen Kontext der modernen Großstädte geht. Wie Walter Benjamin stößt Virno dabei auf das Problem der Geschwindigkeit, mit der sich „Zersetzung der (traditionellen) Merkwelten“ vollzieht. Formen der Wahrnehmung und des Gedächtnisses sind technisch reproduzierbar, was die kindliche Begeisterung für die Wiederholung inmitten hochtechnisierter Erfahrungswelten wieder auftauchen lässt. Mit ihr verbindet sich damit auch eine Perspektive der Kritik. Der zweite Text führt eine Überlegung weiter, die in Zusammenhang mit der Thematisierung des Phänomens „Angst“ angestellt wird. Das Zurückgeworfensein auf die Welt als solche in der postfordistischen Produktion verstellt uns den Weg „zurück“ zu „Heimaten“, „Ursprüngen“, „substanziellen Gemeinschaften“. Und doch eröffnet sie die Sicht auf das, was uns in Form von noch niedergehaltenen Vermögen gemeinsam ist..

Kindheit und Kritik

Es ist kein kritisches Denken vorstellbar, das nicht zugleich immer auch eine Meditation über die Kindheit ist.

Dennoch hat sich von Rousseau bis zu den antiautoritären Kommunen von 1968 die Aufmerksamkeit der ReformerInnen und RevolutionärInnen gegenüber den heranwachsenden menschlichen Wesen immer in Pädagogik verwandelt; in den Versuch also, die Erziehung der Kinder dem Ideal einer gerechteren Gesellschaft entsprechend zu gestalten. Auf diese Weise jedoch wurde stets verkannt, worum es in Wirklichkeit ginge: aus der kindlichen Erfahrung selbst Kriterien und Begriffe zu gewinnen, die imstande sind, die gesellschaftlichen Verhältnisse und die Beziehungen innerhalb der Produktion weiter zu erhellen, sowie die Position der Kritik damit zu verbinden. In einer Umkehr der pädagogischen Perspektive müssen wir also davon ausgehen, dass wir diesbezüglich von der Kindheit etwas lernen können.

Die Gesellschaft, die auf dem verallgemeinerten Prinzip der Kommunikation fußt, sodass sogar die Arbeit im Wesentlichen sprachlichen Charakter annimmt, muss von der Erfahrung derer aus befragt werden, die noch nicht sprechen und sich erst allmählich den Zugang zur Sprache erwerben. Die neuesten Formen der Technik, jene Bereiche der künstlichen Intelligenz also, deren Zweck es ist, die kognitiven Prozesse und die Selbstreflexion zu objektivieren, können einem besseren Verständnis zugeführt werden, wenn man sie mit der kindlichen Aufnahme der Welt vergleicht. Das sinnlose und parasitäre Wesen der Lohnarbeit offenbart sich in aller Schärfe angesichts der Spielformen der Kleinkinder, in denen die Abwesenheit bestimmter Zwecke und der Hang zum Experimentieren wunderbar vereint sind. Schließlich weisen die traditionslosen und erfahrungsarmen urbanen Lebensformen puerile (albern-kindliche) Züge auf, die von der Kindheit, auch wenn sie sich stets zu ihrer Rechtfertigung auf sie berufen, ein recht blasses und parodiehaftes Bild  bewahren.

Weder leichtfertig hingeworfene Metapher, die nur dazu dient, um über anderes zu sprechen, noch Anrufung eines Zustands der noch unversehrten „Authentizität“, beschäftigt sich die Reflexion über die Kindheit mit einer stets aktuellen Seinsweise und einer Form der Erfahrung, die verschiedensten Bereichen eigen ist. Die buchstäbliche Kindheit, mit der wir immer zu tun haben, ist als solche auch eine Kategorie der Erkenntnis und Kritik.

Im Laufe der 80er Jahre hat eine schwache utopische Kraft fast ausschließlich in der Auseinandersetzung mit der Kindheit überlebt, die von denen, die sich ansonsten in den „Realismus“ und die Resignation einübten, vorangetrieben wurde. Obgleich sie meist nicht direkt zum Ausdruck gebracht wurde, hat in jener Auseinandersetzung eine Position der radikalen Transformation überlebt, die gleichzeitig mit aller Kraft aus dem Kreislauf der gesellschaftlichen Produktion ausgeschlossen und an den Schauplätzen des politischen Diskurses verhöhnt wurde.

Wenn sie sich auch in viele vereinzelte private und berufliche Erfahrungen verästelt hat, hat die Beschäftigung mit der Kindheit doch eine solche Kraft bewahrt, dass sie stets über den unmittelbaren Zusammenhang, aus dem sie jeweils hervorgeht, hinausweist. Ob es sich um das aktive Interesse an selbstverwalteten Kindergärten, an der alternativen Jugendkultur handelt, oder um Fragen, die mit den Arbeitszeiten der Eltern zusammenhängen, um exemplarische Darstellungen und Gleichnisse bezüglich der Kindheit  in Film und Literatur oder um die psychiatrische Arbeit von Marco Lombardo Radice, in jedem dieser Fälle (und natürlich in vielen weiteren) waren Fragen nach der Möglichkeit eines gelungenen Lebens, nach Freiheit und Glück deutlich vernehmbar. Alles andere als gebrochen und aufgesplittert war hingegen der Zugang der Frauenbewegung zum Thema der Kindheit: Angefangen vom Buch Dalla parte delle bambine (Auf der Seite der Mädchen) von Elena Belotti kann man sagen, dass dieses Thema zur Gänze das politische Projekt des Feminismus durchzieht.

Nicht immer frei von Ambiguität (wie etwa der mutwilligen Regression in ein früheres Stadium, um sich vor den Einschnitten der Geschichte zurückzuziehen, oder der Sehnsucht nach einer illusorischen heilen Natur, nach einer an die Wiege erinnernden Sicherheit), hat die Reflexion über die Kindheit in den 80er Jahren dennoch kritische Energien angesammelt, die – wie das bei einer vollen Batterie der Fall ist – nur darauf warten, sich in alle möglichen Zusammenhänge entladen zu können. Dabei handelt es sich allerdings um kritische Energien, die sich ausgehend vom Wissen um die eigene Prekarität und Verwundbarkeit entwickelt haben; vom Wissen um jenes Der-Welt-ausgeliefert-Sein, das in der noch nicht zusammengewachsenen Fontanelle auf dem Kopf des Neugeborenen einen sichtbaren Ausdruck findet. Es sind also Energien, die das Bewusstsein der Grenze nicht verdrängen, sondern eben daraus entstehen. Energien, die aus der „Enttäuschung“ gestärkt hervorgegangen sind.

Es ist bekannt, dass Walter Benjamin niemals seinen Blick von der Kindheit abwandte. Und es ist ebenso bekannt, dass er erstaunlich früh die Wesenszüge der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks erkannte. Was jedoch bislang verborgen blieb, ist die enge Verbindung zwischen diesen beiden Fakten. Benjamin begriff die neuen Bedingungen der Kulturproduktion (Fotografie, Radio, Kino, Genreroman) deshalb so schnell, weil er sich den Zugang zur kindlichen Erfahrung niemals verstellte und aus diesem sogar Lehren hinsichtlich der grundlegenden Tendenzen seiner Zeit zog.

Nur weil er sich lange mit dem kindlichen Spiel beschäftigt hatte – das durch die unerschöpfliche Wiederholung derselben Gesten und derselben sprachlichen Formeln gekennzeichnet ist –, war er imstande, die Bedeutung der massenhaft hergestellten Serialität zu begreifen, die heute nicht mehr nur die Kulturindustrie auszeichnet, sondern jeglichen Aspekt der unmittelbaren Erfahrung. In einer Rezension eines Buches über Spielzeug schreibt Benjamin einige Sätze, die in gewisser Hinsicht auch auf die BewohnerInnen der heutigen Metropolen bezogen sein könnten: „Endlich hätte eine solche Studie dem großen Gesetz nachzugehen, dass über allen einzelnen Regeln und Rhythmen die ganze Welt der Spiele regiert: dem Gesetze der Wiederholung. Wir wissen, dass sie dem Kind die Seele des Spiels ist; dass nichts es mehr beglückt als „noch einmal“. [...] „Es ließe sich alles trefflich schlichten, / Könnte man die Sachen zweimal verrichten“, nach diesem Goetheschen Sprüchlein handelt das Kind. Nur gilt ihm: nicht zweimal, sondern immer wieder, hundert- und tausendmal. Das ist nicht nur der Weg, durch Abstumpfung, mutwillige Beschwörung, Parodie, furchtbarer Urerfahrungen Herr zu werden, sondern auch Triumphe und Siege immer wieder durchzukosten.“[2]

Das für die Kindheit typische Streben nach dem noch einmal setzt sich in der technisch reproduzierbaren Erfahrung fort. Schon diese Feststellung erlaubt es Benjamin nicht, in ein nostalgisches Nachtrauern zu verfallen: Insofern in der Reproduzierbarkeit ein tiefes Bedürfnis des menschlichen Wesens Befriedigung erlangt, ist es ihr gegenüber einfach nicht angebracht, verächtlich die Mundwinkel zu verziehen. Die entscheidende Frage lautet: Wie kommt es dazu, dass die Gesellschaft des entwickelten Kapitalismus ein Wesenselement der Kindheit wieder aufnimmt? Was ist beiden gemeinsam? Das Fehlen fester Gewohnheiten, die die Praxis in bestimmte Bahnen lenken, um diese vor der Zufälligkeit zu schützen: darin liegt die Antwort. Sowohl die Kinder als auch die BewohnerInnen der Großstädte müssen ohne Traditionen und Orientierungshilfen auskommen. Bar jeden Schutzes in Form einer „Gewohnheit“, müssen sowohl die einen als auch die anderen auf die Wiederholung zurückgreifen, um die Schocks des Unvorhergesehenen abzuschwächen und sich, so gut es geht, zu orientieren.

Die spielerische Wiederholung der ersten Lebensjahre zeugt davon, dass es noch keine Gewohnheiten gibt, bereitet aber auch darauf vor, solche anzunehmen, sie ist deren Matrix. In der gegenwärtigen Situation wird dieses vorbereitende Stadium jedoch in gewisser Weise zur permanenten Bedingung. Die Erfahrung verbleibt im Stadium der Wiederholung, sie verwandelt sich nicht in Gewohnheit. Die Matrix verschwindet nicht unter der Aufhäufung ihrer Ausgestaltungen, sondern verharrt als solche stets sichtbar im Vordergrund. Unter dieser Voraussetzung verkehrt sich die Analogie zwischen Kindheit und technischer Reproduzierbarkeit in einen unlösbaren Konflikt.

Wenn ein Kind das gleiche Märchen noch einmal zu hören verlangt oder dasselbe Spiel noch einmal spielt, nimmt es jedes Mal das Gleiche als einzigartig wahr. Jede Wiederholung hat den Wert eines Prototypen, eines Meilensteins. Mit der Instanz des „noch einmal“ ist stets das „ein für alle Male“ verbunden: In jeder einzelnen Wiederholung wird eine Art von Vollkommenheit gesucht. Umgekehrt spielt die technische Reproduzierbarkeit, indem sie die Gleichheit sogar im Einzigartigen geltend macht, das „noch einmal“ gegen das „ein für alle Male“ aus. Der Wiederholung im Spiel setzt sie den Wiederholungszwang der Warenwelt und der Lohnarbeit entgegen. Während die Kindheit dem Fehlen von Gewohnheiten über eine besondere Form der „ewigen Wiederkehr“ beizukommen versucht, stellt die Kulturindustrie die nackte Wiederholung als Surrogat der Gewohnheit dar, sie äfft das Verlorengegangene nach und konstruiert falsche, aber scheinbar verbindliche „Traditionen“.

Die Gesellschaft des reifen Kapitalismus ist bloß pueril: Es gilt, gegen sie die Kräfte der Kindheit zu mobilisieren, aus denen sie auf beliebige Weise schöpft, diese jedoch zu einem alptraumhaften Kindergarten verkommen lässt. 

Die Entgegensetzung von stets aktueller Erfahrung der Kindheit und ihrer Karikatur, die wir „pueril“ genannt haben, zeigt sich auf Schritt und Tritt. Dies gilt in besonderem Maße für die so genannte Freizeit, deren Anwachsen die westlichen Gesellschaften auf ambivalente Weise prägt. Sobald die Ethik der Arbeit, die so viel zur Definition der „Erwachsenen“ beigetragen hat, an Einfluss verliert, passt sich die Gestaltung der überschüssigen Zeit entweder einem zerstreuten und „puerilen“ Modell an (dies entspräche der Perspektive der erwachsenen ArbeiterInnen auf die Kinder), oder es wird versucht, an die Ernsthaftigkeit der Kindheit anzuschließen. Eine Kritik der Freizeit muss sich an diese Alternative halten: Für diejenigen, die im Namen der Arbeit auf pedantische und besserwisserische Weise die eigene „Reife“ ins Treffen führen, gibt es indessen nichts zu holen.

Auch und vor allem in einer Notsituation hat der Schrecken etwas „Pueriles“ an sich und verlangt nach einem „kindlichen“ Gegenmittel. Die Gefängniszelle zum Beispiel stellt eine gewohnte menschliche Umgebung dar: ein Zimmer, das mit dem Notwendigsten ausgestattet ist, das jedoch einer leicht parodistischen Veränderung unterzogen wurde. Es handelt sich um die „puerile“ Version der gewohnten Dinge und Verrichtungen. Das am Fußboden festgenagelte Bett lässt an eine alte Wiege auf einem Bauernhof denken. Wenn es einen Eimer gibt, dann erinnert dieser an einen Nachttopf, wenn auch auf bedrückende und fast boshafte Weise. Die Hocker sind zu klein und meist aus Plastik. Das zu hohe Fenster flößt jenes Gefühl der Einschüchterung ein, das die Kinder so gut kennen. Die Einrichtung ist lilliputanisch, sie besteht aus an die Wand gehängten Zigarettenschachteln, Gegenständen aus Altpapier und Kartons oder kleinen Holzstücken. Die Zelle hat etwas von einem unheimlichen, aus wieder verwendeten Materialen zusammengebauten Puppenhaus. Und sie macht allen Umständen zum Trotz einen vollgerammelten Eindruck.

Der erfahrenen Häftlinge, die den Betrieb kennen, wissen, dass es sinnlos ist, der Albernheit des Gefängnisses eine eingebildete erwachsene „Autonomie“ entgegen zu setzen, sondern dass sie sich in jedem Augenblick den kindlichen Sinn für das Unbehagen und die Prekarität lebendig erhalten müssen, um sich der Gewöhnung an die Umstände zu widersetzen. Deshalb muss die Zelle so karg wie möglich ausgestattet sein, damit sie immer ungewohnt erscheint.

In seinem bedeutenden Buch über Kindheit und Geschichte[3] bemerkt Giorgio Agamben, dass, würden wir mit einer perfekt ausgebildeten Sprache zur Welt kommen, diese die gleiche Funktion hätte wie etwa der Geruchssinn bei den Tieren. Sie wäre also wie ein Orientierungsorgan in einer Umwelt, in die wir eingetaucht wären wie in eine Art Fruchtwasser, ohne dass wir die Möglichkeit hätten, daraus auszubrechen oder sie zu verändern. Umgekehrt ausgedrückt, bedeutet eine Kindheit zu haben und die Erfahrung des Zugangs zur Sprache durchzumachen, einen dauerhaften Bruch zwischen dem menschlichen Wesen und jeglicher bestimmten Umwelt. Besser gesagt, haben wir dank des schrittweise vollzogenen Übergangs von der Stummheit des sinnlichen Lebens zur artikulierten Rede keine „Umwelt“, sondern eine Welt. Eine Welt, der wir zugehören, wobei mannigfache Widerstände und die Unvollkommenheit der wechselseitigen Durchdringung weiter bestehen bleiben. Eine historische Welt, die zu verändern ist. Die Kindheit, die einen der Umwelt entreißt, öffnet die Möglichkeit der Geschichte.

Wollte man nun die Gesellschaft des Spektakels mit einer kurzen Formel bestimmen, so müsste man sagen, sie sei jene Gesellschaftsform, die die Sprache selbst auf eine unmittelbare Umwelt reduziert hat, indem sie aus der verallgemeinerten Kommunikation etwas gemacht hat, das dem sehr nahe kommt, was der Wald für die Bären oder der Fluss für die Krokodile ist. Die objektivierten Codes und materialisierten Grammatiken, die den quasi natürlichen Kontext der urbanen Erfahrung bilden, scheinen uns ohne Residuum zu umfassen, genau so wie das Fruchtwasser die Embryonen. Darüber hinaus verfestigt der Umstand, dass die Sprache als Instrument und Rohstoff der Arbeitsprozesse auftritt, über alle Maßen den Anschein einer nicht veränderbaren „Umwelt“. Daraus geht der niederschmetternde Eindruck hervor, die Geschichte sei ihrem Verlauf nach festgeschrieben oder eingefroren, ein Eindruck, den das postmoderne Denken nicht müde wird, zu untermauern und auszuschmücken.

Sich der Gesellschaft des Spektakels entgegenzustellen bedeutet, die Kindheit neu zu entdecken; d. h., den hartnäckigen Schein einer „sprachlichen Umwelt“ aufzulösen und in der Sprache das zu entdecken, was uns der Umwelt entreißt und eine „Welt“ entstehen lässt. Wenn man so will, gilt es, das kindliche Gefühl für die Sprache als etwas Zugängliches, für die Sprache als Vermögen zu erneuern.

Die „egozentrische Sprache“ des Kleinkindes (mit der sich auf jeweils verschiedene Weise Piaget und Vygotskij beschäftigen) hat keinerlei denotative oder kommunikative Funktion. Es ist eine Sprache, die das Kind für sich selbst spricht, zu seiner eigenen Befriedigung, und auf diese Weise erfährt es nichts anderes als das reine Ereignis des Wortes. In jenen endlosen Litaneien zählt nur der Zugang zur Sprache, das Auskosten des Übergangs von ihrer Abwesenheit zu ihrem Auftreten. Diese Erfahrung erneuert sich jedes Mal, wenn die Sprache zur „Egozentrik“ zurückkehrt, wenn also jegliche Entsprechung zwischen Wort und Ding ausfällt (eine „Entsprechung“, die dem Geruchssinn des Wolfes, der eine Gefahr oder eine Beute wittert, allzu ähnlich wäre).

Die Kindheit wird demnach in den Metaphern und Metonymien vernehmbar, die von der direkten Sprechweise (und den daran gebundenen Lebensformen) abweichen. In den rhetorischen Figuren, die eine wahre Physiognomie der Begriffe vorzeichnen, erkennt man noch die Grimassen des Kindes, das von der greifenden Geste zur verbalen Indikation übergeht. Darüber hinaus lebt die Kindheit auf Dauer in der hypothetischen Sprache fort, in der sich andere Möglichkeiten hinsichtlich des gegenwärtigen Standes der Dinge auftun: Jede bestimmte Möglichkeit geht aus der Erfahrung der Sprache selbst als Möglichkeit hervor.

Die SoziologInnen behaupten, wir sähen uns einer nicht enden wollenden Pubertät gegenüber, die industrielle Welt sei von ewigen SchülerInnen und StudentInnen bevölkert. Diese Definitionen gehen oft mit einer offensichtlichen Geringschätzung für die neue Spezies einher. In Wirklichkeit registrieren sie aber nichts anderes als die Krise der Arbeitsgesellschaft. Insofern kann man diese Definitionen ruhig als Auszeichnung verstehen. Man muss sie allerdings radikalisieren: ewige Kinder.

Vertrauter Schrecken

Um sich im fürchterlichen Dickicht der „Wurzeln“ besser zurechtzufinden, sollte man einen kleinen Text von Freud mit dem Titel „Das Unheimliche“ heranziehen. Auf wenigen Seiten findet man dort das Wichtigste hinsichtlich der Beschwörungen der „Ursprünge“ (Nation, Ethnie, kulturelle Traditionen usw.), die von Zeit zu Zeit die postmodernen Metropolen heimsuchen.

Freud bemerkt, dass das deutsche Wort heimlich, mit dem man das bezeichnet, was an den „Herd“ erinnert und ein Gefühl der Intimität vermittelt, „seine Bedeutung nach einer Ambivalenz hin entwickelt, bis es endlich mit seinem Gegensatz unheimlich zusammenfällt.“[4] Das Vertraute geht ins Beunruhigende über, das Schützende ist auch bedrohlich, die ersehnte Wurzel enthüllt ihr finsteres Wesen. Von seiner eigenen Sprache geleitet (er benutzt das Grimmsche Wörterbuch, in dem die Märchensammler die Dialektik des Heimlichen auf wunderbare Weise darstellen), deutet Freud den Schrecken, der uns angesichts des Unheimlichen (der Gespenster, z. B.) befällt, als eine traumatische Reaktion auf das „Vertraute“, das unvermutet in veränderter Form zurückkehrt. Der Wahrnehmungs- und der Gefühlsgehalt des Altvertrauten und des jähen Schreckens sind identisch, bis auf die Tatsache, dass sich das Idyll in einen Alptraum verkehrt hat.

Das Begriffspaar heimlich/unheimlich hätte es verdient, im Mittelpunkt der ethischen Reflexion der Gegenwart zu stehen. Um sich davon zu überzeugen, genügt es, daran zu erinnern, dass der Begriff ethos seinerseits nichts anderes bedeutet als „Gewohntsein“. Wenn man der Etymologie Glauben schenkt, so ist nicht die an „Werten“ und „Seinsollen“ reiche Lebensform ethisch, sondern diejenige, die den Vorteil der rechten Gewohnheiten genießt, die von den Einzelnen bis ins Innerste anerkannt werden. Allerdings ist heute nichts so paradox und exzentrisch, letztlich so ungewöhnlich, wie die Forderung nach einer festen „Gewohnheit“, die den Blick und das Handeln sicher zu leiten imstande ist. Nichts klingt so falsch, so verdächtig und so unheimlich.

Man weiß, die Hauptleidenschaft der kapitalistischen Moderne bestand darin, alle Wurzeln, eine nach der anderen, abzutrennen, die traditionellen Gesellschaften zu zerstören, das Gewohnte durch die Wiederholung zu ersetzen (eigentlich durch den Wiederholungszwang). Gegenüber dem blendenden Schein der Technik und allgemein angesichts des Universalismus der gesellschaftlichen Produktivkräfte geraten die Wege des Heimlichen ins Zwielicht. Alles ist vertraut und zugleich fremd; ohne Geheimnis und dennoch unvorhersehbar. Gerade in dieser Situation der unumkehrbaren Entwurzelung kehren unbestreitbar Formen archaischer Zugehörigkeit, Schutzwälle und schicksalhafte Identitäten zurück.

Es wäre ein Fehler, dieses Wiederaufflammen als den „romantischen“ Widerstand der VerteidigerInnen einer traditionellen Ordnung zu verstehen. In Bezug auf diese Ordnung haben wir keine direkte Erinnerung mehr. Seit langer Zeit revolutioniert die „Modernisierung“ nur mehr Bereiche der Erfahrung, die sich bereits durch Konventionen und technische Entwicklung auszeichnen, die bereits und immer wieder von einschneidenden Innovationen erfasst worden sind. Das Beschwören der vertrauten Wurzeln ist selbst ultramodern: Es ist genauso virulent wie verschroben, handelt es sich im besonderen Fall doch immer um die Plastikversion von „Blut und Boden“, um künstliche Supermarkt-Archaismen. Das einstmals Heimliche  kehrt als mediales Pogrom, als Werbespot über den „ethnischen Stolz“, als postindustrielle Unterwerfung der Körper wieder: als Unheimliches also. Wer Heimat, Gemeinschaft, authentisches Leben zu sagen versucht, stößt unartikulierte und furchterregende Schreie aus, die eines Wiedergängers würdig sind. Die Vermischung des Vertrauten und des Erschreckenden gestaltet sich nunmehr systematisch: Das Erste erfährt man nur, wenn man auf das Zweite stößt.

Jean Améry (Pseudonym von Hans Mayer, einem österreichischen Juden, der vor den Nazis nach Belgien floh, später gefangen, gefoltert und in ein Konzentrationslager deportiert wurde) widmet ein Kapitel seines Buchs Jenseits von Schuld und Sühne[5] der Frage: „Wieviel Heimat braucht der Mensch?“. Heimat wird hier wohlgemerkt nicht als Nationalstaat verstanden, sondern als der vertraute Ort, an dem man aufgewachsen ist.

Auf wenigen Seiten entwirft Améry eine wunderbare Phänomenologie des Exils. Die Erfahrung der Entwurzelung enthüllt ihre Grausamkeit vor allem für Menschen, die weder religiös sind (der Glaube der Vorfahren ist eine Art von Reserveheimat, insofern er von konkreten Orten unabhängig ist), noch über Geld verfügen (mittels Banknoten kann man sich jederzeit ebenso druckfrische Wurzeln verschaffen), noch berühmt sind. In vielerlei Hinsicht ähnelt die Emigration dem Altern. Die typischen Erscheinungen des individuellen Verfalls werden auf die soziale Ebene projiziert, angefangen vom Gefühl, man „verstehe die Welt nicht mehr“.[6] In Belgien leidet Améry unter einer unheilbaren „Instabilität“: Er orientiert sich nur schlecht in der neuen Umgebung und hat jene instinktive Fähigkeit verloren, die Dinge zu erkennen und zu unterscheiden, jene Fähigkeit also, die allein vor den Fährnissen des Zufalls Schutz bieten kann. Bei den Gesten der anderen kann er die Gleichgültigkeit ihm gegenüber nicht auf Anhieb von einer eventuellen Bedrohung unterscheiden. Kulturelle Rituale, die sich vor seinen Augen abspielen, entgehen ihm, selbstverständliche Verweise auf einen gemeinsamen Hintergrund versteht er nicht zu entschlüsseln, die Freude an den Nuancierungen kommt ihm abhanden.

Die Diagnose, die Améry über das Exil erstellt, weist viele Entsprechungen zu einer Beschreibung der gewöhnlichen urbanen Erfahrung auf (der Autor ist sich dessen bewusst), zur Erschütterung, die die ständige Wandlung in den Arten, zu arbeiten und zu kommunizieren, im Bewusstsein und in den Sinnen auslöst. Wer kann – angesichts der Elastizität der Beschäftigungen und Tätigkeiten im Postfordismus – heute schon von sich sagen, er oder sie sei seiner selbst vollkommen sicher und verfüge über ein gewisses Maß an Voraussicht? Wer könnte schon mit einem Sicherheitsnetz gegen die Zufälle und Verwerfungen des „Neuen“ prahlen? So wie Belgien dem Flüchtling Améry fremd war, bleibt die urbane Landschaft den Menschen, die doch an sie gewohnt sind und woanders nicht leben könnten, fremd.

Wenn uns das Exil arm macht, so erdrückt uns förmlich die Sehnsucht nach dem vermeintlichen Reichtum des „Ursprungs“. Diesbezüglich berichtet Améry von einem exemplarischen Erlebnis: 1943 hielten sich der Autor und seine Freunde vom Widerstand öfters in einer Wohnung auf, die genau über einer von der SS besetzten Wohnung lag. „Eines Tages nun ereignete es sich, daß der unter unserem Versteck wohnende Deutsche sich durch unser Reden und unsere Hantierungen in seiner Nachmittagsruhe gestört fühlte. Er stieg hoch, pochte hart an die Tür, trat polternd über die Schwelle.“ Mit aufgeknöpfter Uniformjacke und vom Schlaf geröteten Augen hatte er offensichtlich kein Interesse daran, Fragen zu stellen, sondern verlangte bloß, sie sollten keinen Lärm machen. Und nun kommt der entscheidende Punkt: „Er stellte seine Forderung – und dies war für mich das eigentlich Erschreckende an der Szene – im Dialekt meiner engeren Heimat. Ich hatte lange diesen Tonfall nicht mehr vernommen, und darum regte sich in mir der aberwitzige Wunsch, ihm in seiner eigenen Mundart zu antworten. Ich befand mich in einem paradoxen, beinahe perversen Gefühlszustand von schlotternder Angst und gleichzeitig aufwallender familiärer Herzlichkeit, denn der Kerl [...] erschien mir plötzlich als ein potentieller Kamerad. Genügte es nicht, ihn in seiner, meiner Sprache anzureden, um dann beim Wein ein Heimat- und Versöhnungsfest zu feiern?“[7]

In diesem Augenblick erkennt Améry ein für alle Mal, wie abstoßend Heimatgefühle sind. Mehr noch, er ahnt, dass es so etwas wie einen gewohnten Ort nie gegeben hat und dass es selbstzerstörerisch wäre, ihm nachzutrauern („Unsere Reisen nach „Hause“ erfolgten mit falschen Dokumenten und gestohlenen Stammbäumen.“ ). Wer nach seinen Wurzeln sucht, den (die) wird  früher oder später wegen des Dialekts eines SS-Mannes ein Gefühl der Rührung überkommen. Dabei handelt es sich um eine Art von Rührung, zu der auch Menschen neigen, die in der modernen Großstadt den Traum einer kleinen imaginären Heimat hegen und pflegen, die es ihrer Ansicht nach mit allen Kräften wieder zu erschaffen gilt.

Es ist besser, sich an das seelische und sinnliche Elend des Exils oder der sozialen Entwurzelung zu halten, als Bilder einer mit verstörenden Versprechen aufgeladenen „Vertrautheit“ zu hegen. Allerdings drängt sich hier ein „Aber“ auf: Trotz allem ist es nutzlos (und letzten Endes gefährlich), sich achselzuckend vom Bedürfnis nach einem gewohnten Ort abwenden zu wollen. Améry weiß das natürlich. Wenn man auch die Fallen des Heimwehs sorgsam umgangen hat, bleibt man „darauf gestellt, in Dingen zu leben, die uns Geschichten erzählen“[8], dem eigenen Lebenszusammenhang gegenüber so etwas wie sinnliches Wohlbefinden zu verspüren.

Wir wandeln also auf einem schmalen Grat: Das Wohlbefinden stellt eine historische Wette dar, nicht einen vorab zugesicherten Besitz. Eine Aufgabe, die vor uns liegt, nicht ein uns zufallendes Erbe. Besser noch, es ist eine Erfahrung, die nur aufgrund eines Exils in Belgien oder des umfassenden Unbehagens in der Großstadt entstehen kann. Man muss also die Gewohnheit, den ethos, als das verstehen, was den „Wurzeln“ diametral entgegengesetzt ist, und also das, was sich erst zu erkennen gibt, wenn von den Wurzeln nichts mehr übrig geblieben ist. Was aber ist letztlich diese nicht-ursprüngliche, nicht vorausgesetzte „Gewohnheit“ zweiten Grades? Grob gesagt und ungefähr gesprochen, annäherungsweise und mehr oder weniger genau ausgedrückt, fällt ihre Möglichkeit mit der stets aufgeschobenen Aktualität dessen zusammen, was man seit zweihundert Jahren mit dem Namen Kommunismus bezeichnet. 

*) aus dem Italienischen von Klaus Neundlinger


Anmerkungen

[1] Paolo Virno: Grammatik der Multitude / Der Engel des General Intellect. Wien: Turia & Kant 2005.

[2] Walter Benjamin: Kritiken und Rezensionen. Gesammelte Schriften Band III. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1972, S. 131.

[3] Giorgio Agamben: Kindheit und Geschichte. Zerstörung der Erfahrung und Ursprung der Geschichte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004.

[4] Sigmund Freud, „Das Unheimliche“, in: Studienausgabe Band IV, Frankfurt am Main, 1982, Seite 250

[5] Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1988.

[6] Viele Stellen in Amérys Buch Über das Altern kann man als Ergänzung zum Kapitel über den Verlust der Heimat in Jenseits von Schuld und Sühne lesen, und umgekehrt.

[7] Améry, Jenseits von Schuld und Sühne, 67/8.

[8] Ebd., 76.

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