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Martin Dieckmann: Referat auf dem BUKO-Kongress in Hamburg, Mai 2005 Vorbemerkung: Dem Referat vorangegangen war ein Puppenspiel, das eine Talkshow mit verschiedenen Teilnehmerinnen, darunter auch eine DGB-Vertreterin, zum Thema Prekarisierung darstellte. Darauf nimmt das Referat anfangs Bezug. Stephan Born und Paula Thiede in der Talk-ShowIn diesen Tagen beginnen in der Druckindustrie Streiks um den Erhalt beziehungsweise um die Substanz des ältesten und besten Flächentarifvertrags aus der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Die Geschichte dieses Tarifvertrages ist ein guter Einstieg zum heutigen Thema beziehungsweise zur Fragestellung der folgenden Überlegungen. Dieses lautet: In welchem Verhältnis stehen Prekarität und Prekarisierung zum so genannten Normalarbeitsverhältnis – und welche Normen werden ins Zentrum neuer Klassenverhältnisse unter einem neuen Arbeitsregime gerückt werden? Um dies zu verdeutlichen, möchte ich in die eben aufgeführte Talkshow als Teilnehmende noch zwei Figuren einführen: Stephan Born und – Paula Thiede. Stephan Born werden einige hier im Raum vielleicht kennen, Paula Thiede dagegen wohl kaum jemand. Stephan Born war ein führendes Mitglied des Bundes der Kommunisten 1848, er selbst kam aus dem grafischen Gewerbe. Im Gefolge der Revolution 1848 gründete er die erste nationale Gewerkschaftsorganisation, die „Allgemeine Arbeiterverbrüderung“. In dieser Traditionslinie steht dann auch der legendäre, weil erste Flächentarifvertrag in Deutschland – der nationale Tarifvertrag der Buchdrucker, die ihn erkämpften, indem sie die Unternehmer jahrelang beharrlich unter Streikfeuer legten. Dies alles dank einer immensen Disziplin und Solidarität in den eigenen Reihen. Heute würde man sagen: An der Nahtstelle einer wichtigen Wertschöpfungskette zwangen sie den Unternehmern den Kartellgedanken auf. Dies alles würde auch Stephan Born zur Talk-Show beisteuern: die starke Idee der Brüderlichkeit, der Solidarität, das Ziel und schließlich die große Errungenschaft tariflich geschützter Arbeitsverhältnisse. Gegen das Koalitionsverbot aus den ersten Jahren der Französischen Revolution setzte man die Koalitionsfreiheit durch, indem man von ihr kämpferisch Gebrauch machte. Wie es Born betonen würde: „Die Internationale erkämpft das Menschenrecht!“ „Tarifschutz, vor wem?“ wird die Moderatorin fragen. Natürlich vor der Willkür der Unternehmer, schließlich als Ausgleich dessen, was auch das bürgerliche Arbeitsrecht die „strukturellen Unterlegenheit der Arbeitnehmer/innen“ nennt. In die Norm des regulierten Arbeitsverhältnisses ist der Klassengegensatz als Kräfteverhältnis eingeschrieben. In der Talk-Show wird die Gewerkschaftsvertreterin Stephan Born zustimmen: So war es, so soll es sein, so wird es sein! Fast unscheinbar dagegen tritt neben Stephan Born Paula Thiede auf. „Wer sind Sie denn?“ wird die Moderatorin fragen. Keine Frage, Stephan Born wird sie herzlich begrüßen, Paula Thiede gehörte schließlich zu seinen politischen Nachfolgerinnen. Doch auch für Insider ist sie heute die Nobody par excellence. Paula Thiede wird in die Runde fragen: „Tarifschutz, ja! Aber vor wem? Auch vor mir?“ Und sie wird die Geschichte der Tarifverträge der Druckindustrie ein wenig anders als Born erzählen, nämlich als eine Geschichte eines Schutzes vor Prekarität, der zugleich ein prekärer Schutz war. Denn der Tarifschutz der Buchdrucker im ersten Flächentarif Deutschlands galt erstens nur für Facharbeiter, zweitens nur für Männer und drittens nur für Deutsche. Paula Thiede aber war erstens eine Hilfsarbeiterin, zweitens eine Frau. Nur dass sie eine Deutsche war, hatte sie mit den Ein- und Ausschlusskriterien dieses Tarifvertrages gemeinsam. Und hier die Antwort auf die Frage: Wer war eigentlich Paula Thiede? Sie war nicht berühmt, aber von großer Bedeutung. Diese reicht so weit, dass man die Hausadresse der ver.di-Bundesverwaltung nach ihr benannte: „Paula-Thiede-Ufer“. Paula Thiede organisierte ab Ende des 19. Jahrhunderts die weiblichen Hilfskräfte in der Druckindustrie – dies in einer eigenen Branchengewerkschaft, neben der Hilfsarbeitergewerkschaft, die wie der Buchdruckerverband nur Männer aufnahm. So noch nach 1900! (Übrigens kamen Hilfsarbeiterinnen und Druckfacharbeiter erst nach 1945 in der IG Druck und Papier zusammen.) Was Stephan Born und Paula Thiede beizutragen haben zu unserem Thema, ist die Geschichte oder die historische Geburt des so genannten Normalarbeitsverhältnisses – auch als Geschichte von Vereinigungen, die erneut Spaltungen und Hierarchien erzeugten. Die Grundform „geschützter Arbeitsverhältnisse“ ist der Tarifvertrag. (So heißt er in der Schweiz: „Generalarbeitsvertrag“.) Und ein Tarifvertrag schützt immer nach zwei Seiten hin: Gegen Unternehmerwillkür einerseits, andererseits gegen die Konkurrenz durch andere Lohnabhängige, der man Grenzen zieht. (So was nannte man Abwehr von „Schmutzkonkurrenz“.) Die Integration durch Solidarität bedeutet also immer auch zwangsläufig Ausschluss – durch Solidarität. Denn das Tarifrecht ist so etwas wie das „Kartellrecht der kleinen Leute“. Und wie das Kartellrecht Marktverhältnisse regelt, regelt der Tarifvertrag Grenzen, Segmente eines Arbeitsmarktes, auch durch Zutrittsrechte. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Dies ist kein Ergebnis bösen Willens. Es hat damit zu tun, dass auch diese Grundform kollektiver Einkommenssicherung dem Kapitalismus eingeschrieben ist. Unter Umständen bringt sie den Kapitalismus erst richtig zum Funktionieren, worauf die DGB-Gewerkschaften heute nicht ganz zu Unrecht verweisen. Das so genannte Normalarbeitsverhältnis hatte es also mitnichten mit universeller Egalität als Gleichbehandlung zu tun, es ist – vom Tarifvertrag bis in die Sozialstaatlichkeit hinein – durchzogen von Hierarchisierungen und Segmentierungen. Und die Solidarbeziehungen darin sind entsprechend ungleich entwickelt. Die Bildung der formals modernen Arbeiterklasse aus dem frühen Proletariat heraus erfolgte zwar entlang der sozialen Antagonismen, schuf aber niemals aus sich heraus jenen homogene Block, den uns die Großen Erzählungen vom „historischen Subjekt“ erzählen wollen. „Prekarität“ ist „Proletarität“ In welchem Verhältnis steht nun dieses historische Normalarbeitsverhältnis zur so genannten Prekarisierung? Und, was ist das eigentlich – Prekarisierung? Das lässt sich durch eine kleine Textkorrektur erläutern, eine Korrektur an einem berühmten Marx-Text. Marx schrieb in den Grundrissen: „In dem Begriff des freien Arbeiters liegt schon, dass er Pauper ist: virtueller Pauper“. Ersetzt man nun den Begriff des Paupers (des Armen) durch den des Prekären, stimmt der Satz nach wie vor: „Im Begriff des freien Arbeiters liegt schon, dass er Prekärer ist: virtueller Prekärer.“ Was aber ist Prekarität? Ich bediene mich hier eines definitorischen Tricks und bemühe statt eines Fremdwörterbuchs das Lexikon einer romanischen Sprache, den Großen Langenscheidt Französisch-Deutsch. Da heißt es unter „Précarité“: „1. Unsicherheit, 2. (juristisch) Widerruflichkeit“. Für unser Thema gelten beide Bedeutungen zusammen. Etwa so: Prekarität ist die Unsicherheit von Lebensverhältnissen durch Widerruflichkeit des Erwerbs. Das hat mit der „freien Arbeiterin“ ja dahingehend zu tun, dass sie – per definitionem – frei von Arbeitsmitteln ist, dass sie nur im Besitz – wie Marx es schrieb – des „Arbeitsvermögens“ ist, also im weiteren Sinne getrennt ist von den Mitteln des eigenen Tuns (John Holloway). Und das ist auch die Voraussetzung des Paupers, zumindest als objektive Armut. Denn der „freie Arbeiter“ ist per definitionem objektiv arm. Der Klassengegensatz tritt nicht erst im Arbeitsprozesse zu Tage, sondern schon auf dem Arbeitsmarkt. Es sind dort nämlich keineswegs Freie und Gleiche, die (normale oder prekäre) Arbeitsverhältnisse eingehen. Es herrscht, sagt selbst das bürgerliche Arbeitsrecht, „strukturelle Überlegenheit“ des Kapitals. Prekarität ist also nicht mehr und nicht weniger als die Grundform von Lohnabhängigkeit. Nicht von Lohnarbeit, sondern von Lohnabhängigkeit, denn der „freie Arbeiter“ ist auch dann abhängig, wenn er erwerbslos ist, während es umgekehrt durchaus Lohnarbeiter gibt, die keineswegs zwingend lohnabhängig sind. Zugespitzt: Prekarität ist historisch wie grundsätzlich identisch mit der Proletarität. Die revolutionären Bewegungen des 19. Jahrhunderts kannten den Begriff der „Arbeiterklasse“ noch gar nicht, sondern lediglich den Begriff des „Proletariats“. Von den Urschriften der frühen Kommunisten bis zu Marx und auch später in wichtigen Differenzierungen bei Rosa Luxemburg fasst der Begriff des „Proletariats“ alles zusammen, was wir heute als Prekarität und Prekarisierung kennen. Karl-Heinz Roth hat für die Gegenwart des späten zwanzigsten und frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts von der „Wiederkehr der Proletarität“ gesprochen. Exakt an diesem Punkt treffen sich nämlich alte und neue Proletarität – und das bedeutet auch: Es treffen sich unterschiedliche Tendenzen, Richtungen von Prekarisierung. Da ist zum einen die Prekarisierung hin zum „freien Arbeiter“, etwas, das durchaus viel mit der „Hineingeworfenheit des Menschen“ in eine fremde Welt zu tun hat: Trennung der Menschen von den bisherigen Mitteln ihres bisherigen Tuns. Historisch ist dies das Bauernlegen, die Zerstörung der Zunftordnung und damit des Berufsschutzes für Handwerker zu Gunsten des Freihandels auf dem Arbeitsmarkt. Also das, was – wiederum laut Marx – eine notwendige Voraussetzung der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals ist. Das gilt aber nicht nur für die lange vergangenen Zeiten, sondern ist ein Prozess, der die Geschichte des Kapitals als Klassenverhältnis fortlaufend begleitet, und zwar in den Metropolen wie weltweit: an den „Rändern“, dort, wo Menschen in riesigen Massen proletarisiert werden. Niemals war deren Zahl weltweit größer als in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. (Diese gewaltige sozio-ökonomische Umwälzung im Weltmaßstab nach 1945 hat Eric Hobsbawm eindrucksvoll in seinem Buch „Zeitalter der Extreme“ belegt.) Eines der Merkmale dieser klassischen Proletarität sowohl in der Frühgeschichte wie in den späteren Phasen des Kapitalismus ist die Migration als Mobilität. Wenn überall die Einkommen gleich schlecht sind, wandert die erzwungen oder freiwillig frei gesetzte Arbeitskraft jeweils zu den besseren Arbeitsbedingungen. Oder aber, wenn überall gleich schlechte Arbeitsbedingungen sind, wandert die Arbeitskraft zum höheren Einkommen. Migration durch Mobilität war und ist auch ein stiller, dabei aber äußerst wirksamer Arbeitskampf: Krupp und andere Zechenherren bauten die Arbeitersiedlungen, um die nomadisierenden Bergleute an die Zeche zu „binden“. Auch die Mobilität der „freien Arbeiter“ wurde (in den Metropolen) hinterrücks zu einer Waffe im Kampf um die Voraussetzungen des „Normalarbeitsverhältnisses“. Ich habe von Prekarität als „Unsicherheit der Lebensbedingungen durch Widerruflichkeit des Erwerbs“ gesprochen. Das historische Normalarbeitsverhältnis zeichnete sich durch erhebliche Relativierung dieser „Widerruflichkeit“ aus. Aktuell ist diese Beschränkung der Widerruflichkeit auf allen Ebenen in Frage gestellt. Als Beispiele nenne ich den Kündigungsschutz, aber auch das Aushebeln von tariflichen Regelungen durch allgemeine Öffnungsklauseln zur betrieblichen Ausrichtung am Marktgeschehen. So ist das so genannte Normalarbeitsverhältnis als Ergebnis der Kämpfe des 18. und 19. Jahrhunderts bis weit hinein ins 20. Jahrhundert identisch mit der „Entproletarisierung der Arbeiterklasse“ geworden – bei fortlaufender Zuführung von Arbeitskraft im Zustand der Prekarität. Die Urenkel Stephan Borns und die Enkel Paula Thiedes gelangten, nicht immer durch die selben Kämpfe, aber dennoch zu gleichen, zumindest ähnlichen Rechtsverhältnissen. Grund dafür war die Entfaltung von Macht. Marx hatte von der „großen Masse“ gesprochen, die sich einer zunehmenden, erdrückenden Entfremdung entledigen müsse. Er meinte das Proletariat. Die Machtentfaltung als Arbeiterklasse lag aber vorrangig begründet in der enormen Zusammenballung von Arbeitskraft in großen industriellen Aggregaten. Die Integration ganzer Wertschöpfungsketten in Großfabrikstrukturen war dafür maßgebend. Sicherlich auch die besondere Stellung einzelner Arbeitergruppen innerhalb des Produktionsprozesses – also die besondere Macht der Facharbeit. Doch auch die „Massenarbeiterinnen“, die Un- und Angelernten der tayloristischen Massenproduktion konnten ihre ganze Macht analog der Macht der Facharbeit entfalten – eben als Fabrikmacht. Davon haben zuletzt die 1960er und frühen 1970er Jahre in Westeuropa, allen voran in Italien, in Gestalt der Fabrikkämpfe und der Kämpfe gegen die „Fabrikgesellschaft“ Zeugnis abgelegt. Die Aufspaltung der „Kerne“ Was wir nun seit den 1980er Jahren Prekarisierung nennen, fand seine erste Erscheinungsform in der Ausfransung der Ränder jener großen Aggregate der industriellen Arbeit. Dies betraf zum einen bestimmte Glieder der industriellen Produktionskette – als Auslagerung in so genannten Zulieferer –, zum anderen die Auslagerung einfacher Dienste aus Dienstleistungsunternehmen. So kam die klassisch gewordene Unterscheidung von „Kernen“ und „Rändern“, von „Stammbelegschaften“ und „Randbelegschaften“, zu Stande. Aus diesem Zeitraum ist auch bekannt, wie sich Spaltungen in Kern oder Stamm einerseits und die Ränder andererseits massiv in der Spaltung auch der arbeitsrechtlichen Verhältnissen niederschlugen, etwa in der Ausweitung von Leiharbeit, besonders aber der befristeten Arbeitsverhältnisse. Falsch war aber schon damals die Auffassung, es bliebe bei dieser einfachen Zweispaltung in ein externes Heer von Prekären einerseits und eine abgeschmolzene, ihre Stellung aber vehement verteidigende, dabei sich einigelnde „Kernbelegschaft“ andererseits. Denn außen wie innen handelte es sich um den selben Prozess, dessen Logik sich freilich erst später in Gänze erschloss. Es ist eine Logik der Spaltung und Neuzusammensetzung der Arbeit und diese Logik hat mit dem Megawort der Gegenwart – „dem Markt“ und „den Märkten“ – zu tun. Seit den 1990er Jahren sind wir nämlich mit einer systematischen Zerlegung beziehungsweise Aufspaltung der vormaligen „Kerne“ konfrontiert. Dies kann man industriesoziologisch beschreiben, man kann es ökonomisch erklären – es bleibt ein Klassenkampf zur Zerstörung der Reste der alten „zentralen Arbeiterklasse“ und ihrer Macht in der Arbeit. Dem liegt ein Paradigmenwechsel im Gefüge von Betrieb, Unternehmen und Markt beziehungsweise Märkten zu Grunde: Die klassische Unterscheidung eines kooperativen Arbeitsprozesses in einem Unternehmenszusammenhang einerseits und eines äußeren Produktmarktes wird aufgehoben. Stattdessen wird der Arbeitsprozess selbst in eine Vielzahl unternehmerischer Einheiten aufgegliedert. Der Markt wird in den Betrieb geholt und spaltet diesen – gleichgültig gegenüber der jeweiligen Rechtsform des Unternehmens – in unternehmerische Einheiten auf. Diese werde dann marktförmig aufeinander bezogen. Ein Unternehmen, oft ein riesiger Konzern, entfaltet in sich die Kooperationsbeziehungen der Arbeit als Marktbeziehungen, in denen ein und dieselbe Einheit jeweils in unterschiedlicher Funktion sowohl „Kunde“ wie „Dienstleister“ ist. Für die Macht der Arbeit hat das katastrophale Folgen: Sie implodiert. Einerseits stehen sich unter diesem neuen Regime einander zuarbeitende Einheiten nunmehr als Anbieter und Kunden gegenüber. Andererseits werden die unternehmensinternen Dienstleistungen in Konkurrenz gebracht mit internen Dienstleistungen anderer Unternehmen. So entstehen – matrixartig - eine Vielzahl einander überlagernder Märkte, auf denen Produkte als Dienstleistungen, Dienstleistungen als Produkte gelten – je nach Richtung von Angebot oder Nachfrage. Auch der Preis der Arbeitskraft, soweit er bislang tariflich bestimmt war, gerät unter immensen Druck dieser neuen Märkte. In einem Tarifsystem wie dem der deutschen Branchentarife waren die Märkte des Endproduktes mit entscheidend für die Höhe der Tarifleistungen. Mit der Aufspaltung der Arbeitsprozessketten in Marktbeziehungen löst sich dieser Zusammenhang auf. Nunmehr gelten „marktgerechte Preise“, wobei der Marktvergleich auf das Kostenniveau anderer Einheiten anderer Betriebe zielt. Kurzum, die „Märkte“, auf die bislang die gesamte Macht der Arbeit konzentriert war, werden matrixartig zerlegt und übereinander gelegt. Die Macht der Arbeit im Kapital wird systematisch zerlegt, dezentriert. Man spricht hier neuerdings auch von der Durchsetzung einer „marktzentrierten Produktionsweise“. „Rand“ und „Zentren“ spiegeln sich – Matrix reloaded? Diese etwas grobe Zusammenfassung mag verwirren. Aber auch in der Lebenswelt der Arbeit stellt sich Verwirrung ein. Denn das gesamte Gefüge von Innen und Außen wird auf den Kopf gestellt: Rand und Zentren spiegeln sich ineinander. „Matrix reloaded“ – wer ist noch drinnen und draußen? Ich kann es niemand ersparen – die Verwirrung wird noch gesteigert. Denn all das geht unter einer höchst effektiven Steuerung durch ein hoch zentralisiertes Kommandoregime vonstatten. Wie in einem Netzwerk hat die Dezentrierung so gut wie keine Grenzen, so lange es ein gemeinsames, verbindliches Protokoll gibt. Aus der IT-Technik wissen wir, dass aus Verdrahtungen erst dann Netzwerke entstehen, wenn ein gemeinsames Protokoll gilt. Das zentrale, aber nicht immer sichtbare Kommando zeichnet sich aber durch die Herrschaft über das Protokoll aus. Dies ist die Grundfigur der „Globalsteuerung“, die uns auf allen Ebenen – nicht nur im Arbeitsprozess – begegnet. Und wir haben allen Grund, hier nicht nur das Experiment der x-ten Managementreform zu suchen, sondern eine weiter und tiefer greifende Struktur von Gesellschaft und gesellschaftlicher Arbeit. Um die Mechanismen dieser Macht über die Arbeit zu erkennen, also auch das Protokoll der Globalsteuerung zu dechiffrieren, bedarf es heute keiner ausgedehnter Entdeckungsreisen mehr. Um das Bild des Spiegels erneut zu bemühen: Es geht darum, dass das Eine zum Spiegelbild des ganz Anderen wird. Die Freien und Selbstständigen, die Freelancer, werden zum Vorbild ganz anderer Arbeitsverhältnisse. Dafür hat man den Begriff des „Arbeitskraftunternehmers“ erfunden, bald darauf aber feststellen müssen, dass man hier aufs Spiegelbild reingefallen ist. Denn das wirklich Verrückte an diesem Prozess ist, dass die Arbeit keinesfalls massenweise zur Arbeit von Freien und Selbstständigen wird – dass sie aber so strukturiert wird, als ob sie Arbeit von Freien und Selbstständigen wäre. Der Unterschied zwischen beiden ist grundlegend und darf nicht verwischt werden, wenn man das Neue dieser „marktzentrierten Produktionsweise“ verstehen will. Um dies am Arbeitsvertragsrecht zu verdeutlichen. Hier unterscheidet man zwischen Werkvertrag und Dienstvertrag. Die Freien und Selbstständigen schließen Werkverträge ab, sie werden für das Produkt bezahlt. Diejenigen, die dabei gut verdienen, sind dann auch so frei, erst einmal nicht weiter arbeiten zu müssen. Im klassischen Arbeitsvertrag aber, dem Dienstvertrag, stellen die Lohnabhängige nur ihre Arbeitskraft für eine bestimmte Zeit zur Verfügung. (So hat es kürzlich auch der Europäische Gerichtshof festgestellt: Arbeitszeit in einem Dienstverhältnis ist nicht die Zeit, in der real gearbeitet wird, sondern in der dem Unternehmen die Arbeitskraft der Beschäftigten zur Verfügung steht.) Wenn nun die Angestellten beginnen, ihre Arbeitskraft nach unternehmerischen Gesichtspunkten einzusetzen, verhalten sie sich, als würden sie für die Arbeit und nicht für die Verausgabung ihrer Arbeitskraft bezahlt. Das, was Marx den Lohnfetisch genannt hat – der Glaube, für die Arbeit bezahlt zu werden –, wird dann zum realen Arbeitsverhalten, aber ohne die zumindest abstrakt gegebenen Freiheiten der Freien und Selbstständigen nutzen zu können, denn auf die unmittelbare Verfügbarkeit über die Lohnarbeit verzichtet das Unternehmen ungern. Diese Verkehrung von Zwang und Freiheit lässt sich als Muster überall wiederfinden, wenn es um dezentrierende Delegation von Unternehmerfunktionen geht. Manager nennen dies: „den Markt an jeden Schreibtisch bringen“. Jede Unternehmenseinheit wird einem besonderen Marktsegment zugeordnet und damit unmittelbar konfrontiert. Ins Bild gebracht hat dies Wilfried Glissmann: Stand der Unternehmer bislang zwischen Beschäftigten und Kunden, sozusagen an der Nahtstelle des Unternehmens zum Markt, tritt er nun beiseite und konfrontiert den abhängig Beschäftigten direkt mit dem Kunden. Das ist von Glissmanns Kollegen Klaus Peters, wiederum passend, auf die Formel gebracht worden: Von der unternehmerischen Freiheit bleibt die Entscheidungsfreiheit auf der Kommandobrücke, während die unternehmerischen Marktzwänge nach unten hin delegiert werden. So entsteht durch mehr „Selbstständigkeit“ mehr Druck. Wenn ein Subjekt sein Individuum beschädigt Das hat gravierende Folgen für das Verhältnis von Subjekt und Individuum. Zunächst erscheint dies alles wie der Ausstoß aus der bisherigen Integration, Ausstoß hinein in die Welt einer äußeren Prekarität. Denn der „Markt“ wird ja immer als das Außen gedacht und erfahren. Prekarisierung im Sinne eines Widerrufs von Normalität findet tatsächlich auch statt. Doch dies nun im Innern, im Herzen des Kapitals. So wie Marx einmal meinte, die Konkurrenz sei nichts anderes als die Art, in der das Kapital zu seiner Einheit fände, ist die marktförmige Dezentrierung des Gesamtarbeitsprozesses nichts anderes als eine neue, nunmehr netzwerkartige Integration der Arbeitsprozesses. So weit, so gut. Man hat dies alles durchschaut, also alles beim Alten? Nein, eben davon kann gar keine Rede mehr sein. Denn die Marktförmigkeit der Arbeitsbeziehungen wird real. Es sind – wieder einmal – die wirklichen Menschen, die diese Verhältnisse, wenn auch nicht immer aus freien Stücken, eingehen. Die Individuen beginnen mehr und mehr damit, sich selbst zu beschädigen. Provozierend zugespitzt: Das „Subjekt“ beschädigt „sein“ Idividuum. Denn es ist nunmehr das Subjekt des „unternehmerischen“ Menschen. Indem das Kommando dieses Arbeitsregimes unternehmerische Funktionen nach unten delegiert, werden die Menschen gezwungen, in sich selbst die Funktionen als Lohnabhängige und als Unternehmer zu integrieren. Dies alles unterm „stummen Zwang“ der Märkte. Im Extremfall setzen sie sich selbst einem permanenten Benchmarking aus. Als Beispiel nenne ich eine Angestellte, die einmal meinte, Gleitzeit sei für sie nicht gerecht. Es sei nicht einzusehen, warum sie, wenn sie in der Projektarbeit langsamer arbeite als die Anderen, mehr Stunden Freizeitausgleich nehmen dürfe als die Hochleister, die schließlich in kürzerer Zeit, also produktiver, die Prokjektziele erreichten. Im O-Ton: „Ich brauche länger für die selbe Arbeit, also kann ich doch nicht mit mehr Freizeit belohnt werden.“ Das unternehmerische Subjekt, um dies zu betonen, ist nicht bloß eine schizoide Verkehrung im Bewusstsein – es ist eine reale Verkehrung, in der sich das Subjekt dieses Handelns und Verhaltens gegen das Individuum und seine Ressourcen kehrt. Das kapitalistische, unternehmerische Subjekt unterwirft „sein“ Individuum. Der doppeldeutige Sinn liegt auf der Hand: Selbst-Ausbeutung ist Ausbeutung durch das fremd eigene Selbst. Dies wäre dann nicht mehr nur eine „innere Landnahme“ durchs Kapital. Als Ausschöpfung noch nicht verwerteter Ressourcen der Individuen und ihrer sozialen Beziehungen ist dies auch eine Landnahme des Innen der Individuen – durch deren „Subjekt“. Neue „Proletarität“ – neue Klassenverhältnisse So kann man im Modell der Globalsteuerung durch indirekte Steuerung bereits so etwas wie den Umriss einer neuen Norm von Arbeitsverhältnissen erkennen. Was heißt dies aber für die Klassenverhältnisse, für die Neuzusammensetzung alter wie neuer Proletarität? Die qualifizierte Arbeit erlebt eine regelrechte Implosion der Macht in der Arbeit. Dies betrifft große industrielle Einheiten eben so wie die vormals großen Unternehmenseinheiten der Angestelltenwelt. Sind nunmehr alle gleich, also alles paletti im Klassenkampf – es gibt ja ein neues Proletariat? Nein, dem ist keineswegs so und es dürfte erst recht nicht bei der derzeitigen Unübersichtlichkeit bleiben. Denn die Dezentrierung der Arbeitsprozesse und damit die Entmachtung der historischen „Klasse“ geht keineswegs einher mit einer einfachen Angleichung aller Arbeits- und Lebensverhältnisse. Neue Hierarchisierungen zeichnen sich dort ab, wo es um spezifische Funktionen und Qualifikationen geht. Und diese sind auf die Steuerung dieser Prozesse bezogen und leiten sich, netzwerktechnisch gesprochen, aus der Protokollmacht ab. Die neuen Eliten der Arbeit werden sich über das Wissen über derartig komplexe Prozesse und über die Mechanismen zu deren Steuerung auszeichen. Sie tun es im Übrigen heute schon. Wenn man so will, kann man Parallelen zur Geschichte der Fabrik und der Angestellten ziehen. Diese waren im 19. Jahrhundert ja noch nicht einbezogen in die industrielle Arbeitsorganisation, firmierten sogar als „Fabrikbeamte“. Ihre Macht war die Teilhabe an der herrschaftlichen Macht, es war nicht die Macht in der Arbeit. Die ersten Exemplare einer zukünftigen Elite postfordistischer Arbeit sehen wir heute schon in Gestalt der Accounter, die nichts herstellen können, wohl aber die Rahmenbedingungen jeder Herstellung definieren lernen. Und das ist dann auch das Kennzeichen ihrer Teilhabe an herrschaftlichen Machtverhältnissen: Ausübung der Definitionsmacht über „Märkte“ als Handlungsrahmen unternehmerischer Subjekte. Die gesamte Entwicklung scheint nun ganz und gar der Möglichkeit kollektiver Erfahrung als Klassenerfahrung zuwider zu laufen. Teilweise mag dies zutreffen, aber auch nur dann, wenn man die Klassenerfahrung reduziert auf die herrschaftliche Integration im Arbeitsprozess, damit auch die mögliche Kollektivität und Solidarität auf das Zwangskollektiv und die Fabrikdisziplin reduziert. Ganz anders dagegen, wenn man von der Grunderfahrung der Prekarität als Proletarität ausgeht. Um es zu wiederholen: Schon im Zustand objektiver Armut tritt der Klassengegensatz hervor. In den verschiedenen Varianten prekarisierter Arbeitsverhältnisse – sowohl der Auftrags- wie Lohnabhängigen – wird diese Trennung von den Produktionsmitteln im Besonderen und der „Protokollmacht“ im Allgemeinen deutlich erfahrbar. Insoweit haben wir es keinesfalls mit einer neuen, sondern der klassischen „Proletarität“ zu tun. Neu dagegen ist, dass es sich um die Proletarität hoch entwickelter kapitalistischer Subjekte handelt – um hochgradig vergesellschaftete Individuen. Weder Freelancer noch neue selbstständig Abhängige oder abhängig Selbstständige werden aus einer vor- oder nichtkapitalistischen Lebenswelt herausgerissen. Sie sind, manchmal bis auf die einfachsten Dienstleistungen heruntergebrochen, Manager ihres verkehrten Selbst. Darin verfügen sie aber auch über hohe Fähigkeit von Selbstorganisierung, die freilich kapitalistisch verkapselt bleibt. Der Antagonismus im Kapitalverhältnis ist keineswegs aufgehoben, an seiner Zentralität zu zweifeln, wäre fahrlässig. Doch er zerstreut sich auch zunehmend in die Individuen selbst – in den abgründigen Kampf um die Ressourcen der Selbstökonomisierung. Als entwickelte kapitalistische Subjekte können solche Individuen fürs Kapital zu Zeitbomben werden, wenn sie den Kampf zum Schutz ihrer Ressourcen aufnehmen. Und dies auch nur dann, wenn sie sich in einer neuen, freien Kollektivität gemeinsam ihrer Selbst-Ausbeutung und damit zu einem Gutteil ihres fremd eigenen Selbst widersetzen. Wie dies gelingen kann, lasse ich hier offen. Vorerst allgemein und ein wenig diffus bleibend kann aber schon gesagt werden, dass eine freie Kollektivität sich weder aus der alten Fabrikdisziplin noch aus einem Marktkartell postfordistischer Marktarbeiter ableiten lässt. Die Subversion beginnt dort, wo Menschen sich in ihren Besonderheiten, als Individuen, begegnen – und lernen, dass kollektiver Schutz eben der Entfaltung von realer Individualität und nicht von Standards dient. Wie und wo wird dies heute zur Diskussion gestellt? Die gesamte Diskussion über Prekarität und Prekarisierungen kreist zumeist um sozial- und wohlfahrtsstaatliche Absicherung oder auch nur die fürsorgliche Abfederung von Flexibiltät. Um die Absicherung eben der frei gesetzten Unfreien und der unfreien frei Gesetzten. Das ist zunächst auch erforderlich, denn die Sozialleistungen erhalten angesichts des Dumpings von Löhnen und Honoraren eine immense Bedeutung. Aber es gibt darin eine gefährliche Tendenz, die sich im Slogan nach mehr „Flexicurity“ ausdrückt: als Amalgam aus Flexibility und Security, also als sozial- und wohlfahrtsstaatliche Absicherung von unternehmerischer Flexibilität durch Grundsicherungsformen. „Flexicurity“. Darin findet man im Übrigen schon die Leitlinie eines postfordistischen Sozialstaats im Sinne von Globalsteuerung. Stattdessen müsste die Diskussion und auch die Aktion sich wieder direkt den Basisprozessen zuwenden und dort nach den Rissen im Grund des Kapitalverhältnisses fahnden (Risse im Grund, die man hin und wieder – und sogar immer öfter – in Schriften wie den Marxschen „Grundrissen“ findet). Diese Suche nach dem Riss im Grund des Kapitals ist auch eine höchst empirisch Angelegenheit. Eine Frage dabei wäre: „Wie haltet ihr es denn mit euch und eurem ‚Selbst‘, Genossinnen und Genossen?“ Ob alles darauf hinlaufen muss, die Spiegel zu zerschlagen, in denen man uns dies üble Subjekt des Selbst-Unternehmens als Spiegelbild hinhält, weiß ich nicht. Es wird schon reichen, die Spiegel zu verhängen – mit roten, schwarzen oder auch Regenbogenfahnen. Und sich dann einfach umzudrehen und den Anderen zuzuwenden, auch wenn diese noch vom fremd eigenen Spiegelbild gefangen sind. Und dann wird man sich auf einen Weg machen müssen, der nicht derselbe aber ähnlich dem von Paula Thiede und Stephan Born ist. Es ist nicht derselbe Weg, er geht aber in dieselbe Richtung. Und ich hoffe, wir kommen ein Stück weiter. Und das heißt auch – über die „Arbeit“ hinaus. E-mail: mail/ at /martin-dieckmann.com * „Schriftliche Fassung für DIE AKTION, Edition Nautilus.“ |
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