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Paul Pop:
Rot-Schwarze Flitterwochen: Marx und Kropotkin für das 21.Jahrhundert

Anarchismus und Kommunismus waren im 20. Jahrhundert zwei feindliche Brüder. Beide gaben vor, eine soziale Revolution und klassenlose Gesellschaft verwirklichen zu wollen und doch bekämpften sie sich bis auf das Messer. Wer kennt sie nicht, die emotionalen Debatten um den Aufstand von Kronstadt von 1921 und den „Sommer der Anarchie“ in Spanien 1936. Während die AnarchistenInnen den KommunistenInnen vorwarfen, nur eine neue Diktatur einer Minderheit etablieren zu wollen, glaubten die KommunistenInnen die AnarchistenInnen sabotierten durch ihre Kritik an der „Diktatur des Proletariats“ die Revolution.

Heute, nach dem alle Versuche eines Staatssozialismus mit Parteiherrschaft gescheitert sind, ist es an der Zeit die Frage aufzuwerfen, ob sich die Widersprüche zwischen Kommunismus und Anarchismus[1] (wie Staatstheorie, Organisationsfrage und Verfasstheit der nachkapitalistischen Gesellschaft) relativiert haben. Dabei geht es darum, die Leseart der marxschen Staatstheorie von Lenin in „Staat und Revolution“ kritisch zu hinterfragen und Marx´ Theorie von der Kommune als „Revolution gegen den Staat“ als solche zu rekonstruieren, um sie mit der anarchistischen Interpretation der Pariser Kommune zu vergleichen. Der größte Gegensatz in der Frage „Staat und Revolution“ verläuft nämlich nicht zwischen Kommunismus und Anarchismus, sondern zwischen Marx und dem Anarchokommunismus auf der einen Seite und den bolschewistischen Theorien von Lenin, Stalin und Mao auf der anderen Seite. Es soll die Frage aufgeworfen werden, in welche der beiden Lager Bakunin gehört.

Die große Schwierigkeit das Verhältnis der AnarchistenInnen zu Marx zu bestimmen, liegt darin, dass sie meistens die Positionen der deutschen Sozialdemokratie (wie „Volksstaat“ und Staatssozialismus) für die Theorien von Marx hielten. Dadurch war ihre Kritik am „Marxismus“ häufig eine geniale Kritik an der von Lassalle etatistisch geprägten SPD.[2] Die deutsche ArbeiterInnenbewegung kritisierte Marx leider fast ausnahmslos in Briefen. Bakunin und Kropotkin scheinen hingegen wichtige Schriften von Marx nie gelesen zu haben.

In diesem Artikel soll es nicht darum gehen nun die wahre Lesart von Marx und Kropotkin vorzuschreiben und Unterschiede zu kaschieren, sondern die Frage nach der Vereinbarkeit von marxschem Kommunismus und kropotkinschem Anarchokommunismus zu stellen sowie zu untersuchen, was heute von beiden Konzepten übrig bleibt. Mein Ziel der Lektüre der AnarchistInnen ist nicht möglichst viele Stellen zu finden, die vom Marxismus abweichen, sondern Ideen herauszuarbeiten, die uns heute bei der Entwicklung einer Theorie der Befreiung weiterbringen.

A: Staat und Revolution: War Marx Anarchist?

Marx Stellung zum Staat in der Revolution und nachkapitalistischen Gesellschaft lässt sich im wesentlichen in zwei Phasen einteilen: Vor der Pariser Kommune von 1871 und danach:

Mit dem Staatskapitalismus zum Kommunismus

Im „Kommunistischen Manifest“ von 1848 stellten sich Marx und Engels  die Herrschaft des Proletariats als schrittweise Ausdehnung der staatlichen Kontrolle über die Wirtschaft- bis zur staatlichen Zentralisation des Eigentums- vor. Die Erkämpfung der Demokratie sei der erste Schritt zur Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse. „Das Proletariat wird seine politische Herrschaft dazu benutzen, der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen, alle Produktionsmittel in den Händen des Staates, d.h. des als herrschende Klasse organisierte Proletariat, zu zentralisieren und die Masse der Produktionskräfte möglichst rasch zu vermehren“ (Marx/Engels, Band I, 1972: S.437f.). Dazu seien „despotische Eingriffe“ ins Eigentumsrecht nötig, wie die Enteignung des Grundeigentums, Abschaffung der Erbschaftssteuer, Zentralisation des Kredits in den Händen der monopolitischen Staatesbank, Einführung des Arbeitszwanges u.s.w.. Wenn das Privateigentum und die Klassen schließlich abgeschafft seien, trete anstelle der öffentlichen Gewalt eine „Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“. Ein Jahr zu vor hatte Engels in „Grundsätze des Kommunismus“ die Idee vertreten, dass die Enteignung des privaten Kapitals auch durch die Konkurrenz der Staatsindustrie vorangetrieben werde könne (ebenda: S.347). ArbeiterInnen sollten auf Nationalgüter und Staatsfabriken beschäftigt werden und so die privaten Fabriken, solange sie noch bestehen würden, den selben Lohn wie der Staat zahlen müssen. „Ist einmal der erste radikale Angriff gegen das Privateigentum geschehen, so wird das Proletariat sich gezwungen sehen, immer weiter zu gehen, immer mehr alles Kapital, allen Ackerbau, alle Industrie, allen Transport, allen Austausch in die Hände des Staates zu konzentrieren (...). Endlich, wenn alles Kapital, alle Produktion und aller Austausch in den Händen der Nation zusammengedrängt sind, ist das Privateigentum von selbst weggefallen, das Geld überflüssig geworden“ (ebenda: S.348). Weder Marx und Engels reden hier von der Abschaffung des Kapitals, sondern von seiner Konzentration in den Händen des Staates. Das Kapital ist ja nicht nur tote Arbeit, sondern auch ein gesellschaftliches Verhältnis, das sich nicht aufhebt nur weil es staatlich wird. Aus heutiger Sicht ist Engels Argument, dass die Verstaatlichung der Schlüsselindustrien eine komplette Abschaffung des Privateigentums automatisch nach sich ziehen würde, nicht einleuchtend. In Ländern wie Großbritannien oder Österreich wurden nach dem 2.Weltkrieg große Teile der Industrie verstaatlicht, dass Privateigentum an Produktionsmitteln als solches wurde dadurch kein bisschen in Frage gestellt.

Engels Ausführungen nehmen teilweise Lenins Konzeption des Staatskapitalismus der „Neuen Ökonomischen Politik“ vorweg, in der Staats- und Privatsektor mit einander konkurrieren. Was Engels hier vorschlägt, ist nichts weniger als ein lückenloser Staatskapitalismus, der alles kontrolliert und wenn er alles kontrolliert, sich selbst überflüssig macht. Die Staatstätigkeit muss also verstärkt werden, damit sie überflüssig wird. Die Dialektik macht´s möglich. Was Bakunin und Kropotkin am „autoritären“ Kommunismus kritisieren, war in den meisten Fällen diese Konzeption von 1848.

Die Kommune als Revolution gegen den Staat

Als sich 1871 im Zuge der französischen Niederlage gegen Preußen die Pariser ArbeiterInnen und KleinbürgerInnen erhoben und die Pariser Kommune gründeten, vollzog sich eine radikale Wende in Marx Staatskonzeption. Er legte seine Interpretation der Pariser Kommune in der Schrift „Bürgerkrieg in Frankreich“ sowie in ihrem „Ersten Entwurf“ dar. Obwohl die Kommune später, besonders von Lenin, als die erste „Diktatur des Proletariats“ definiert wurde, kommt dieser Begriff in Marx´ Schrift kein einziges Mal vor. Marx schrieb, dass die Maßnahmen der Kommune außer ihrer Tendenz nichts Sozialistisches enthielten (Marx/Engels, Band 4, 1972: S.40), ihre wichtigsten Maßregeln zur Rettung der Mittelklasse ergriffen wurden (ebenda: S.36). Erst 20 Jahre später schrieb Engels in einer neuen Einleitung zu dieser Schrift, die Pariser Kommune sei die Diktatur des Proletariats gewesen (Schneider, Band II, 1971: S.57).

Die Beschlüsse und Pläne der Kommune umfassten: Verbot von Nachtarbeit für BäckergesellenInnen, Rückzahlung von Lohnabzügen an die ArbeiterInnen, kostenloser Schulunterricht und Lehrmaterial, Gründung von freien Universitäten, Trennung von Staat und Kirche, Nationalisierung der Kirchenländereien, Verbrennung der Guillotine, Entlassung der politischen Gefangenen, Entwaffnung der regierungstreuen Nationalgarde, Aufstellung einer Nationalmiliz, Entlastung der BäuernInnen von Kriegssteuern, Aufhebung der Gewaltenteilung und Einführung eines imperativen Mandats der Abgeordneten (jederzeitige Abwählbarkeit). Nur die Betriebe von UnternehmerInnen, die geflüchtet waren, sollten gegen Entschädigung in genossenschaftliches Eigentum überführt werden. Deutlich wird an diesen Beschlüssen, dass das Prinzip des kapitalistischen Privateigentums im wesentlichen unangetastet blieb und keine sozialistische Umwälzung durchgeführt wurde. Die ökonomischen Maßnahmen gingen keinesfalls über den Rahmen einer bürgerlichen Revolution hinaus.

Der größte Verdienst der Kommune sei die Schaffung der Kommune selbst gewesen, so Marx (vgl. ebenda: S.26). Das Neue und Revolutionäre an ihr war für Marx ihre Revolution gegen den modernen Staat: „Die Kommune war eine Revolution gegen den Staat selbst, gegen diese übernatürliche Fehlgeburt der Gesellschaft; sie war eine Rücknahme des eignen gesellschaftlichen Lebens durch das Volk und für das Volk. Sie war nicht eine Revolution, um die Staatsmacht von einer Fraktion der herrschenden Klasse an die andre zu übertragen, sondern eine Revolution, um diese abscheuliche Maschine der Klassenherrschaft selbst zu zerbrechen“ (ebenda: S.22f.). Die Regierung der Kommune löste den staatlichen Repressionsapparat auf und ersetzte das stehende Heer durch die Miliz.

Die Kommune wollte außerdem die alte zentralistische Regierung durch die Selbstverwaltung der ProduzentInnen in den Provinzen, bis in das kleinste Dorf hinein, ersetzen (ebenda: S.75). Für Marx war die Pariser Kommune im Wesentlichen eine Regierung der ArbeiterInnenklasse und die „endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte“ (ebenda: S.78). Für Marx war es also gar nicht so entscheidend, ob die Delegierten der Kommune alle ArbeiterInnen und sozialistische RevolutionärInnen waren. Tatsächlich bestritten weder Marx noch die AnarchistInnen, dass ihre VertreterInnen gegenüber den JakobinerInnen, also den radikalen KleinbürgerInnen in der Minderheit waren. Marx sah es als zentral an, dass die Kommune mit ihrem imperativen Mandat, also der Basisdemokratie, die Form für die künftige Befreiung entdeckt hatte. So ist es auch überflüssig nachweisen zu wollen, dass die Pariser Kommune ein Produkt des Kleinbürgertums und HandwerkerInnen ist und nicht eine Herrschaft des Industrieproletariats.

Marx argumentierte auch vom Standpunkt der gesellschaftlichen Kosten gegen den Staat. Die Rücknahme der Staatsgewalt durch die Gesellschaft und die Einführung eines ArbeiterInnenlohnes für Verwaltungstätigkeit bringe die Befreiung der Arbeit, indem sie „unproduktive und schädliche Tätigkeit der Staatsparasiten abschafft“ und die Ursachen beseitigt, „denen ein riesiger Anteil des Nationalproduktes für die Sättigung des Staatsungeheuers zum Opfer gebracht wird“ (ebenda: S.28). Die Verschwendung des gesellschaftlichen Reichtums für die Bürokratie war später für die LeninistInnen kein Argument mehr, das sie gegen den Staat anführten.

In der Einführung der Kommune in allen Städten sah Marx den entscheidenden Schlag gegen die Reaktion. „Ganz Frankreich würde sich zu selbstständigen und sich selbst regierenden Kommunen organisieren, das stehende Herr durch die Volksmiliz ersetzt, die Armee der Staatsparasiten beseitigt, die klerikale Hierarchie durch die Schullehrer ersetzt, die Staatsgerichte in Organe der Kommune verwandelt werden; die Wahlen in die nationale Vertretung wären nicht mehr eine Sache von Taschenspielerstücken einer allmächtigen Regierung; sondern der bewusste Ausdruck der organisierten Kommunen; die Staatsfunktionen würden auf einige wenige Funktionen für allgemeine nationale Zwecke reduziert“ (ebenda: S.27).

Während die Position zum Staat in der Kommune-Schrift glasklar ist (Revolution gegen den Staat als solches), gibt es aber auch bei Marx an anderen Stellen Hinweise auf die Idee einer Übergangsetappe und der Nutzung des Staates durch das Proletariat. So hieß in der „Kritik des Gothaer Programms“ der SPD von 1875: „Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andere. Der entspricht auch eine politische Übergangsperiode, deren Staat nichts andres sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats“ (Marx/Engels, Band IV, 1972: S.379). Diese Widersprüche können nicht ignoriert werden, aber es ist doch möglich, sich für eine „anarchistische“ Leseart von Marx zu entscheiden.

Lenin: Den alten Staat durch einen neuen ersetzen

Am Vorabend der Oktoberrevolution unternahm Lenin eine große Studie zur Staatstheorie. Er begann nicht die russische Verhältnisse zu untersuchen, sondern trug alle Äußerungen von Marx und Engels, die ihm wichtig erschienen, zusammen. Sie wurden später unter dem Titel „Marxismus und Staat“ herausgegeben und bildeten die Grundlage für die Schrift „Staat und Revolution“.

Lenin unterteilte 1917 die Gesellschaft nach dem Sieg der sozialistischen Revolution in zwei Phasen: In der ersten oder niederen Phase des Kommunismus, dem Sozialismus, seien die Produktionsmittel schon gesellschaftlich, aber das „bürgerliche Recht“ würde noch wie ein Muttermal an der neuen Gesellschaft haften (Lenin 1989: S.106f). Dieses „bürgerliche Recht“, alle werden nach ihrer Leistung entlohnt, sei ungleich, weil es auf völlig unterschiedliche Individuen angewandt würde. Der Staat bliebe in dieser ersten Phase des Kommunismus bestehen, erst um den Widerstand der ehemaligen Ausbeuterklassen niederzuhalten und dann um das „bürgerliche Recht“ zu wahren.

Damit alle Menschen lernen, an der Verwaltung des Staates teilzunehmen, nannte Lenin folgende Voraussetzungen:

  • Allgemeine Schulbildung

  •  „ferner die ‚Schulung und Disziplinierung’ von Millionen von ArbeiterInnen durch den umfassenden, komplizierten vergesellschafteten Apparat der Post, der Eisenbahnen, der Großbetriebe, des Großhandels, des Bankwesens“

  • die Ersetzung der KapitalistInnen und BeamtInnen bei der Kontrolle und Verteilung der Produktion durch die bewaffneten ArbeiterInnen und das bewaffnete Volk

  • sowie eine umfassende Rechnungsführung (ebenda: S.116).

„Alle Bürger verwandeln sich hier in entlohnte Angestellte des Staates, den die bewaffneten Arbeiter bilden. (....) Die gesamte Gesellschaft wird ein Büro und eine Fabrik mit gleicher Arbeit und gleichem Lohn“ (ebenda: S.116f.). Lenin betonte aber, dass die Verwirklichung dieser gesellschaftlichen „Fabrikdisziplin“ nicht das Endziel sei, sondern nur eine Stufe, um weiter vorwärts schreiten zu können (ebenda: S.117). Wie Engels 1847 stellt sich Lenin 1917 den Sozialismus als eine Ausdehnung der Staatstätigkeit vor, der sogar alle Bürger zu „Beamten“ macht.

In der zweiten Phase des Kommunismus würde, wenn alle die Fähigkeiten zum freiwilligen Arbeiten und zur Leitung der Produktion erworben hätten, das Leistungsprinzip durch das kommunistische Motto „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“ ersetzt werden (ebenda: S.110). Mit den Klassen und dem „bürgerlichen Recht“ würde dann auch der Staat völlig absterben. Für Lenin gab es im wesentlichem vier Merkmale der kommunistischen Gesellschaft: Gesellschaftliches Eigentum, das Verschwinden des „bürgerlichen Rechts“, der Klassen und des Staates.

In seiner Polemik gegen den späteren Linkskommunisten Pannekoek belehrt ihn Lenin: „Die Marxisten halten es für notwendig, dass das Proletariat nach der Eroberung der politischen Macht die alte Staatsmaschinerie völlig zerstört und sie durch eine neue, eine nach dem Typ der Kommune gebildete Organisation der bewaffneten Arbeiter ersetzt (...). Die Anarchisten verwerfen sogar die Ausnutzung der Staatsgewalt durch das revolutionäre Proletariat“ (ebenda: S. 130). „Die Revolution darf nicht darin bestehen, dass die neue Klasse mit Hilfe der alten Staatsmaschinerie kommandiert und regiert, sondern muss darin bestehen, dass sie diese Maschine zerschlägt und mit Hilfe einer neuen Maschine kommandiert und regiert ... (ebenda: S.132). Die Unterschiede zwischen den Auffassungen von Lenin in „Staat und Revolution“ und denen von Marx in „Bürgerkrieg in Frankreich“ sind gravierend: Während Lenin vertrat, dass die ArbeiterInnenklasse mit Hilfe des Staates als Unterdrückungsinstrument in der Periode des Sozialismus die Voraussetzung für das Abstreben des Staates vorbereiten sollte, war für Marx die proletarische Revolution gegen den modernen Staat als solches gerichtet und ihr Hauptinhalt die Zerstörung der Staatsmacht und ihre Ersetzung durch die Selbstverwaltung der ProduzentInnen. Lenin ging es hingegen um den Austausch der alten Maschine durch eine neue. Eine Übergangperiode des Sozialismus kommt bei Marx zumindest in der Kommune-Schrift nicht vor.

Stalins Staat im Kommunismus

Nach dem Tod Lenins wurde das Erbe der Rätedemokratie völlig verworfen. Im Unterschied zu Lenin spielte das Modell der Pariser Kommune in Stalins Staats- und Kommunismusauffassungen keine Rolle mehr. Im „Kurzem Lehrgang der Geschichte der KPdSU (B)“, der voll mit Lenin-Zitaten ist, gibt es kein einziges Zitat aus „Staat und Revolution“. Da für Lenin der Staat ein Instrument zur Unterdrückung einer Klasse durch die andere war, glaubte er, der Staat würde mit den Klassen untergehen. Stalin korrigierte auf dem 18.Parteitag der KPdSU 1939 diese Auffassung. Wenn die UdSSR in den Kommunismus einträte, während der Sozialismus noch nicht weltweit gesiegt habe, würde der Staat weiter bestehen bleiben (Stalin, Band 14, 1976: S.229). Diese Theorie muss im Zusammenhang mit Stalins These betrachtet werden, dass sich der Klassenkampf mit Voranschreiten des Sozialismus verschärfen würde und deshalb die Diktatur nicht abgeschwächt, sondern verstärkt werden müsse (ebenda: S.136 sowie Stalin 1974: S.53f.). Während bei Lenin die Gesellschaft ohne Staat und Klasse noch als Belohnung für die Übergangsphase der disziplinierten „Gesellschaft als eine Fabrik“ propagiert wird, verschiebt Stalin das Absterben des Staates auf den Sankt-Nimmerleinstag.

Stalin führte in „Die ökonomischen Probleme des Sozialismus in der UdSSR“ von 1952 seine Vorstellungen über Bedingungen für die Verwirklichung des Kommunismus aus:

  1. Ununterbrochenes Wachstum der Produktion bei vorwiegender Steigerung der Produktion von Produktionsmitteln (vor allem Schwerindustrie)

  2. Allmählicher Übergang vom Kollektiv- zum Volkseigentum und Ersetzung der Warenzirkulation durch ein System des Produktenaustauschs, damit die Zentralgewalt oder ein anderes gesellschaftliches Zentrum die Gesamterzeugung der Produktion erfassen kann

  3. Erreichung eines kulturellen Wachstums der Gesellschaft, damit alle Mitglieder die körperlichen und geistigen Fähigkeiten erhalten, um ihren Beruf frei zu wählen. Dafür sei es notwendig, den Arbeitstag auf mindestens sechs bis fünf Stunden zu verkürzen, damit die Menschen genug Zeit zur Bildung bekämen (Stalin 1972: S.80f.).

Der Staat war für Stalin nicht nur der Haupthebel zum Aufbau des Sozialismus, sondern auch für den Übergang zum Kommunismus. Besonders die richtige Anpassung der Produktionsverhältnisse an die Produktivkräfte sei Aufgabe der leitenden Organe (Stalin 1972: S.80). So sprach Herbert Marcuse in seiner Analyse des sowjetischen Marxismus zu Recht davon, dass in Stalins Konzept der Kommunismus als eine „Verwaltungsmaßnahme“ eingeführt werden sollte (Marcuse 1969: S.162).

Stalin legte dar, dass, solange der Staat besteht (also bis zum weltweiten Sieg des Sozialismus), die Produktionsmittel Eigentum des Staates bleiben müssen. Danach werde der Staat absterben, aber die Gesellschaft bestehen bleiben. „Folglich wird das allgemeine Volkseigentum dann nicht mehr vom Staat übernommen werden (...), sondern von der Gesellschaft selbst, vertreten durch ihr zentrales leitendes Wirtschaftsorgan“ (Stalin 1972: S.103). An diesem Zitat werden zwei Probleme deutlich: Zum einen verwaltet der Staat das Volkseigentum, damit scheint es keinen Unterschied zwischen Staats- und Volkseigentum zu geben, zum anderen: Was unterscheidet einen Staat von einem „zentralem leitendem Wirtschaftsorgan“?

Stalins kommunistischer Staat reiht sich ein in die Ideologie des „adjektivischen Sozialismus“ (Robert Kurz) (sozialistische Warenproduktion, sozialistisches Wertgesetz, sozialistische Ehe, sozialistische Kleinfamilie, sozialistischer Realismus u.s.w.), die eine sozialistische oder gar kommunistische Nutzung von bürgerlichen Kategorien suggerierte, von denen die „sozialistische Marktwirtschaft“ der KPCh der kreative Höhepunkt ist. Wenn mensch das Wort Kommunist von Kommune herleitet, dann war Stalin keiner.

Abschaffen statt Absterben!

Die AnarchistInnen sprachen im Unterschied zu Engels nicht vom Absterben des Staates, sondern von der Notwendigkeit ihn abzuschaffen. Engels kritisierte in einem Brief vom 24.1.1872 Bakunins Position zum Staat. Er behaupte, „der Staat habe das Kapital geschaffen, der Kapitalist habe sein Kapital bloß von der Gnade des Staats. Da also der Staat das Hauptübel sei, so müsse man vor allem den Staat abschaffen, dann gehe das Kapital von selbst zum Teufel; während wir umgekehrt sagen: schafft das Kapital, die Aneignung der gesamten Produktionsmittel in den Händen weniger, ab, so fällt der Staat von selbst“ (Marx/Engels Band IV: S.455). Bakunin (1814-1876) hatte mit seiner These bezogen auf Russland nicht ganz unrecht. Hier war es tatsächlich der Staat, der die Industrialisierung in Gang setzte. Das Industriekapital befand sich überwiegend im ausländischen Besitz. Einen modernen Kapitalismus kann es ohne Staat nicht geben. Auch war Engels´ Kritik ungerechtfertig, wenn er Bakunin unterstellte, er wolle die Abschaffung des Staates ohne vorherige soziale Umwälzung. Für Bakunin war beides ein Akt der Zerstörung, der in einem zusammenfiel. Aus heutiger Sicht wirkt Engels Position grotesk. Gerade die Enteignung des Kapitals hat in Russland und China einen noch nie vorher dar gewesenen starken Staat geschaffen, der alle Bereiche des Lebens kontrollieren wollte. Stalins „Säuberung“ fanden nach der „Abschaffung der AusbeuterInnenklassen“, Maos Krieg gegen die Bauernschaft während des „Großen Sprungs“ nach dem erfolgreichen Abschluss der Kollektivierung der Landwirtschaft statt. Der Staat wurde auch nach dem Verschwinden der „AusbeuterInnenklassen“ immer stärker und repressiver.

Deshalb haben die AnarchistInnen heute Recht, dass der Staat abgeschafft werden muss. Es gibt keinen Automatismus der Befreiung. Nur durch die bewusste Ersetzung des Staates durch die „generalisierte Selbstverwaltung“ (Guy Debord), nur durch den bewussten Akt der Menschen kann der Staat gleich neben die Axt ins Museum gestellt werden und nicht durch das Warten auf das Durchsetzen einer stalinschen Dialektik, wie: Wenn wir wollen, dass der Staat eines schönen Tages abstirbt, müssen wir ihn verstärken. Die soziale Umwälzung fällt zum Teil mit dem Aufbau der „generalisierten Selbstverwaltung“ zusammen. Bis die Gesellschaft aber wirklich in der Lage ist, sich ohne Staat selbst zu verwalten, kann es einige Zeit dauern. Die Verwirklichung der Selbstverwaltung ist ein schöpferischer Prozess und nicht nur einfach ein Akt der Zerstörung, indem ein Revolutionsführer im Hotel de Ville die Abschaffung des Staates verkündet.

B. Die Organisationsfrage: War Bakunin Leninist?

Neben der Stellung zum Staat war die Organisationsfrage immer ein kontroverser Streitpunkt zwischen KommunistInnen und AnarchistInnen. Schon zwischen Bakunins „Internationaler Allianz der sozialistischen Demokratie“ und dem von Marx geführten „Generalrat der Internationen Arbeiterassoziation“ tobte ein heftiger Kampf um die Frage der Organisation, bei dem auf beiden Seiten mit vernichtenden Vorwürfen nicht gespart wurde. Marx und Engels bezeichneten Bakunin mehrfach als „russischen Spion“. Bei Bakunin vermischte sich der Hass auf die Beiden schließlich mit seinem Antisemitismus.[3] Hier sollen nur einige inhaltliche Fragen der Auseinandersetzung bzgl. der Revolutionstheorie behandelt werden.

Die AnhängerInnen Bakunins forderten, dass die Organisation der RevolutionärInnen den Keim der zukünftigen Gesellschaft bilden und deswegen sich möglichst ihrem Ideal von Freiheit und Förderation annähern sollte. Marx und Engels machten sich in der Schrift „Die angebliche Spaltungen in der Internationale“ über diese Position lustig: „Mit anderen Worten, wie die Klöster des Mittelalters das Ebenbild des himmlischen Lebens repräsentieren, soll die Internationale das Ebenbild des neuen Jerusalems werden, dessen ‚Keim’ die Allianz in ihrem Schoß trägt. Die Pariser Föderierten hätten keine Niederlage erlitten, wenn sie begriffen hätten, dass die Kommune‚ ‚der Keim der künftigen menschlichen Gesellschaft’ war, und sich jeder Disziplin und aller Waffen entledigt hätten, Dinge, die verschwinden müssen, sobald es keine Kriege mehr gibt“ (Marx/Engels, Band IV, 1972: S.155). Sicher haben Marx und Engels hier Recht, dass es unmöglich ist, eine Organisation im Kapitalismus nach dem Ebenbild der kommunistischen Gesellschaft zu bilden. Die Menschen, die in ihr arbeiten, sind auch als RevolutionärInnen von der bürgerlichen Gesellschaft geprägt. Außerdem wissen wir nicht im Detail, wie eine nachkapitalistische Gesellschaft aussehen wird. Im Kampf gegen den Kapitalismus kann es unter Umständen nicht immer möglich sein, autoritäre Strukturen, Geheimhaltung und Konspirativität zu vermeiden.

So einfach, wie es sich Engels in einem Brief an einen italienischen Anhänger Bakunins machte, ist es aber auch nicht: „Es war der Mangel an Zentralisation und an Autorität, der die Pariser Kommune das Leben gekostet hat. Machen sie mit der Autorität usw. nach dem Siege, was Sie wollen, doch für den Kampf müssen wir alle unsere Kräfte zusammenballen und sie auf einen Angriffspunkt konzentrieren“ (ebenda: S.454). Die Kommune wäre in der damaligen Situation wahrscheinlich auch mit mehr Zentralisation und Autorität im Blut erstickt worden. Engels legte hier die Grundlage für die späteren leninistischen und trotzkistischen Legenden, die fast jede Niederlage von Aufständen mit dem Mangel einer richtigen und zentralistischen Führung erklärten.

Dass die Organisationsform nach und vor dem Sieg der Revolution gerade in einem logischen Zusammenhang steht, hat die Geschichte gezeigt. Eine Partei, wie die KPChina, die durch 20 Jahre Bürgerkrieg als Armee-Partei an die Macht kam, konnte sich aus dieser geschichtlichen Erfahrung zu Lebzeiten der Hauptakteure nie befreien. Die Kriegswirtschaft des Bürgerkrieges wurde als Vorwegnahme des Kommunismus idealisiert, innerparteiliche Demokratie entwickelte sich nie und Mao Zedong sah in der Führung eines Krieges und dem wirtschaftlichen Aufbau einer neuen Gesellschaft im Grunde keine unterschiedlichen Aufgaben. Auch in Russland prägte der Bürgerkrieg die Bolschewiki. Hatte man im Kampf gegen die Weißen schon „Läuse“ zerquetscht (Ernst Busch) und die Welt von „Ungeziefer“ gereinigt (Lenin), so dehnte sich der Terror gegen die als „Schädlinge“ (Stalin) eingestuften Teile der Bevölkerung immer weiter aus- bis schließlich in die eigene Partei. In allen Volksdemokratien wurden demokratische Rechte gerade nach der sozialistische Umwälzung abgeschafft, weil die Phase der demokratischen Etappe vorbei war. Der autoritäre und undemokratische Charakter einer Organisation scheint sich „nach dem Siege“ zu verstärken und nicht abzuschwächen.

Den Zusammenhang zwischen der Vorstellung mit Hilfe des Staates die Gesellschaft zu verändern und der Organisationsform hier und heute, hat John Holloway überzeugend herausgearbeitet. Wird die Eroberung der Staatsmacht als Schlüssel begriffen, dann werden die jungen RevolutionärInnen, zu BürokratInnen oder SoldatInnen ausgebildet und es entsteht folgende Logik: „ ‚Baut zuerst die Armee auf, baut zuerst die Partei auf, dann können wir uns der Macht, die uns unterdrückt, entledigen.’ Der Aufbau der Partei (oder Aufbau der Armee) überschattet dann bald alles andere. Was ursprünglich negativ war (die Ablehnung des Kapitalismus), wird in etwas Positives verwandelt (Aufbau von Institutionen, Aufbau der Macht). Die Einführung in die Eroberung der Macht wird zwangsweise zu einer Einführung der Macht selbst. Die Eingeweihten lernen die Sprache, Logik und Beherrschung der Macht (...). Differenzen innerhalb der Organisation werden zu Machtkämpfen. Manipulation und Beeinflussung werden zum Lebensstil“ (Holloway 2004: S.26).

Dorfgemeinschaft als Sozialismus

Diese Kritik von Holloway gibt auch für Bakunin, der in der Organisationsfrage nicht frei von Widersprüchen war. Er vertrat, obwohl er viel von Freiheit redete, in vielen Schriften ähnlich wie Lenin eine autoritäre Avantgarde-Theorie der Revolution. In einen Brief an Sergej Necaev, dem Autor des legendären „Revolutionären Katechismus“, legt Bakunin seine Revolutionstheorie für Russland dar. Im Gegensatz zu Necaev glaubte er nicht, dass eine revolutionäre Geheimorganisation ohne das Volk den Staat stürzen könnte (Bakunin 1980: S.64f.). Die Revolutionäre könnten dem Volk, sprich den BäuerInnen, kein Programm aufzwingen, weil es schon eines hätte, nämlich die freie Dorfgemeinde befreit vom staatlichen Druck. Den dörflichen Gemeindebesitz hätten die BäuerInnen in Aufständen gegen die GroßgrundbesitzerInnen immer wieder verteidigt. Die oberste Pflicht der Geheimorganisation sei, die Massen wachzurütteln und die einzelnen BäuerInnenaufstände zu einem großen Volksaufstand zu vereinigen (ebenda: S.68). Im Westen müsse die künftige soziale Ordnung erst durch die Revolution neu geschaffen werden. „Bei uns ist die Arbeit schon getan. Sobald die Revolution ausbrechen wird, sobald der Staat – und mit ihm alle Beamten – zusammenbrechen wird, wird sich das russische Dorf von sich aus organisieren ... (ebenda: S.71). Um diese Bewegung ins Rollen zu bringen, bräuchte man aber eine Avantgarde. Bakunin denkt hier an die ¾ der akademischen Jugend, die ohne Anstellung sind, und verarmte Adelige. „Wenn das Volk das revolutionäre Heer ist, ist das unser Stab, ist das die wertvolle Substanz der geheimen Organisation“ (ebenda: S.72). Im Prinzip haben wir es hier mit exakt derselben Avantgarde-Theorie wie bei Lenin zu tun, nur das Lenin sich auf die ArbeiterInnen stützen will. Als die Bolschewiki im Oktober 1917 in Russland die Macht erobern, bleibt Lenin nichts anderes übrig, als das Programm der BäuerInnen und SozialrevolutionärInnen umzusetzen, nämlich mit dem „Dekret über Grund und Boden“ ganz Russland zur Dorfgemeinschaft zu erklären, obwohl Lenin über 15 Jahre lang deren unwiderruflichen Untergang durch den Kapitalismus vorausgesagt hatte. Die russischen Verhältnisse von Dorfgemeinschaft, Zarendiktatur und Rückständigkeit verleiten sowohl den Kommunisten als auch den Anarchisten zu einer ähnlichen Avantgardekonzeption. Im Zuge der Oktoberrevolution führen die BäuerInnen aber eigenständig die „schwarze Umverteilung“ des Bodens durch und stellten die Dorfgemeinde wieder her – ohne die Führung von Lenins BerufsrevolutionärInnen oder Bakunins deklassierten AkademikerInnen und verarmten Adeligen.

Die unsichtbare Diktatur der Geheimorganisation

Während Lenin in 1917 in „Staat und Revolution“ noch eine Mischung aus Parteidiktatur und Rätedemokratie vertritt, schwebt Bakunin eine „gemeinschaftliche Diktatur der geheimen Organisation“ vor (Bakunin 1980: S.76). Da man nach dem Sieg der Revolution die Errichtung jeder staatlichen Diktatur über das Volk unmöglich machen wolle, müsse die Organisation eine unsichtbare Gewalt errichten, die keinen öffentlichen Charakter habe. Diese unsichtbare Diktatur könnte inmitten einer „furchtbaren und sinnlosen“ Anarchie nach der Abschaffung der Gesetze und Regierung die Wünsche und Bedürfnisse des Volkes vertreten. Bakunin, der wiederholt die Entstehung von „roten Bürokraten“ und neuer Unterdrückung in der Konzeption der Diktatur des Proletariats angelegt sah, schrieb: „Diese Diktatur kennt weder Habsucht, noch Eitelkeit, noch Herrschsucht, weil sie unpersönlich ist, sich nicht zeigt, und weil durch sie keine derjenigen, die die Gruppen bilden, auch nicht die Gruppen selbst, weder zu Gewinnen, noch zu Ehren, noch zu offizieller Anerkennung irgendeine Macht erlangen“ (ebenda: S.76). Während staatliche Macht die Ausübenden verdirbt, bleiben die „unsichtbaren“ Diktatoren edel und rein! Dieser Stab bräuchte auch nur ein paar Hundert Revolutionäre. „Die Gesellschaft ist wie ein einziger Körper, ein fest zusammengeschlossenes Ganzes, das, vom Zentralkomitee geleitet, einen ständigen verborgenen Krieg führt gegen die Regierung ...“ (ebenda: S.84). Vor dem Komma nimmt Bakunin die leninistische Rhetorik der 30er Jahre vorweg, um sie hinter dem Komma mit einem angeblichen anarchistischen Ziel zu verbinden.

Erst nach der Lektüre dieses Textes wurde mir klar, was Bakunin damit meinte, wenn er sagte, die revolutionäre Organisation müsse schon die neue Gesellschaft vorweg nehmen. Wie in dem Avantgarde-Konzept der Kommunistischen Internationalen bildet die Organisation die Keimzelle der revolutionären Diktatur nach dem Sieg. Nach der Machtübernahme dehnt sich ihre Herrschaft auf alle Bereiche der Gesellschaft aus.

Bei Bakunin überzieht die Organisation Russland mit einem „mächtigen Netz“ (ebenda: S.83) – nur ist alles geheim, unsichtbar und antistaatlich, da es ja weder Gesetze noch Regierung gibt. Aber trotz der ständigen Vergleiche mit dem Leninismus soll hier Wladimir Iljitsch kein Unrecht getan werden. Bakunins „Prinzipien und Organisation einer internationalen revolutionär-sozialistischen Geheimgesellschaft“ von 1866 ähneln eher einer totalitären Sekte als einer leninistischen Kaderpartei und umfassen über 100 Seiten an Regeln und Schwüren (siehe Bakunin 1972: S.3-105).

Lenin erkannte außerdem, dass ohne Industrialisierung und umfassende Bildung in Russland kein Sozialismus möglich ist. Bakunin hielt hingegen den gemeinschaftlichen Stumpfsinn der russischen Dorfgemeinde für die Grundlage der neuen Gesellschaft. Mit dieser Art von Auffassungen setzte sich Engels 1894 in der Schrift „Soziales aus Russland“ auseinander. Marx hatte zuvor betont, dass seine Theorie des „Kapitals“ nur für Westeuropa gelte und die Dorfgemeinschaft in Verbindung mit einer Revolution im Westen der Ausgangspunkt für den Aufbau des Kommunismus unter Umgehung des Kapitalismus werden könnte. Engels betonte hingegen, dass gerade die isolierte „freie Dorfgemeinde“ (mir) die Grundlage für den staatlichen orientalischen Despotismus von Indien bis Russland sei (Marx/Engels, IV: S.353). Bauernaufstände hätten sich in Russland deshalb zwar gegen den Adel und einzelne BeamtInnen gerichtet, aber nie gegen den Zaren. Eine wirkliche soziale Veränderung sei von der Dorfgemeinde nie ausgegangen, so Engels.

Basisdemokratie und Avantgarde

Der Einfluss der russischen Verhältnisse auf die Theorie Lenins und Bakunins ist nicht zu übersehen und in gewisser Weise verständlich. Schlimm ist dagegen, dass beide die Konzeption einer Führung der Revolution durch eine intellektuelle Avantgarde (in Form einer Kaderpartei oder Geheimorganisation) auf Westeuropa übertrugen. Für Bakunin waren die ArbeiterInnen im Westen und in Russland auf Grund ihrer sozialen Lage sozialistisch ohne es zu wissen. Die Aufgabe der RevolutionärInnen sei es deshalb, diesen Instinkt in sozialistische Gedanken zu verwandeln. „Das Ziel ist also, ihm (dem Arbeiter) volles Bewusstsein dessen, was er will, zu geben, in ihm einen seinem Instinkt entsprechenden Gedanken entstehen zu lassen; denn vom Moment an, da der Gedanke der Arbeitermassen sich zur Höhe ihres Instinkts erhoben haben wird, wird ihr Wille bestimmt sein und ihre Macht unwiderstehlich werden (Bakunin 1972: S.161f). Der Revolutionär ist also so etwas wie ein „Ingenieur der menschlichen Seele“, der die Instinkte der ArbeiterInnen genau kennt und sie von außen in Gedanken verwandeln kann.

Auch wenn Bakunins Avantgardetheorie der von Lenin ähnelt, so hat er in der Staatsfrage natürlich eine andere Position bezogen. Die Pariser Kommune gab auch der anarchistischen Theorie neue Impulse. Bakunin bezeichnete sich als ihr Anhänger, weil sie eine kühne, sehr ausgesprochene Verneinung des Staates war (Schneider, Band I, S.11). Er unterstrich, dass die SozialistInnen gegenüber den JakobinerInnen in der Kommune nur eine Minderheit blieben und deshalb die soziale Revolution nicht durchgeführt wurde. Die Organisation der Kommune diente Bakunin auch als Vorbild: „Die zukünftige soziale Organisation darf nur von unten nach oben errichtet werden durch die freie Assoziationen und Föderierung der Arbeiter zunächst in den Assoziationen, dann Gemeinden, den Distrikten, den Nationen und zuletzt in einer großen internationalen und universellen Föderation“ (ebenda: S.16). Jedes Individuum und jede Kommune sollte das Recht haben sich zusammenzuschließen oder von anderen zu trennen. Wie bei Marx sollte die Zentralgewalt durch die Kommunalverfassung ersetzt werden. Die Staatsmacht wird dabei als „Schmarotzerauswuchs“ gesehen. Bettschart kommt beim Vergleich der Positionen von Marx und Bakunin zur Kommune zu dem Ergebnis, dass eine „bruchlose Übereinstimmung“ der angestrebten Lebensformen vorhanden sei (Bettschart 1980: S.42). Bei Bakunin stand aber die neue Gesellschaft als freie Föderation der Kommune völlig unvermittelt neben dem Konzept der revolutionären Geheimgesellschaft. Wie sollen „Brüder“ der Geheimgesellschaft, die jahrzehntelang mit Verschwörung und Unterordnung leben, sich plötzlich in Basisdemokraten der Kommune verwandeln. Die Logik der Macht und Verschwörung ist ihnen so tief eingebrannt, dass es fraglich ist, ob sie sich je davon befreien können.

Bakunins Konzeption einer nachrevolutionären Gesellschaft hat neben der „unsichtbaren Diktatur“ auch noch andere repressive Elemente. Für ihn sind die zu zerstörenden Feinde Staat, Gott und Eigentum und zwar in dieser Reihenfolge. An der Pariser Kommune kritisiert er: „Die Abschaffung der Kirche und des Staates muss die erste und unausweichliche Bedingung der wirklichen Befreiung der Gesellschaft sein; erst nachher kann und muss sich die Gesellschaft anderes organisieren, aber nicht von oben nach unten und nach einem idealen von einigen Weisen oder Gelehrten erträumten Plan ...“ (Schneider I, 1971: S.16). Erst wenn die Kirche abgeschafft und die Religion verboten ist, lässt sich die neue Gesellschaft verwirklichen. Engels polemisierte in „Flüchtlingsliteratur“ gegen diese Auffassung: „Soviel ist sicher: Der einzige Dienst, den man Gott heutzutage noch tun kann, ist der, den Atheismus zum zwangsmäßigen Glaubensartikel zu erklären und die Bismarckschen Kirchenkulturkampfgesetze durch ein Verbot der Religion zu übertrumpfen“ (Marx/Engels Band IV, S.332). Was Enva Hoxha in Albanien durch den Staat verbieten ließ, wollte Bakunin durch die Revolution in einem Akt zerstören. Alle Versuche Religion und Glauben durch Zwang zu beseitigen, haben sich im 20.Jahrhundert als kontraproduktiv erwiesen. In China, welches wohl die radikalste „Kulturrevolution“ erlebte, breiten sich heute Sekten und Religionsgemeinschaften im rasanten Tempo wieder aus.

C. Die nachrevolutionäre Gesellschaft: War Kropotkin Marxist?

In der Kritik des Anarchismus haben die KommunistInnen oft versucht ihn als eine Bewegung von vorindustriellen HandwerkerInnen darzustellen. Fritz Brupbacher schrieb später in seinem Buch über Marx und Bakunin, in welchem er eher mit dem Russen sympathisierte, dass der Anarchismus nach 1870 als Massenbewegung verschwand, weil die Großindustrie den relativ selbstständigen FacharbeiterInnen (eher männlich) des Handwerks durch ungelernte IndustriearbeiterInnen (eher weiblich) ersetzte, die der Maschine unterworfen wurden. Als Beispiel nannte er die UhrmacherInnen, die die Basis des Schweizer Anarchismus darstellten und mit dem Aufschwung Industrie untergingen (Brupbacher 1976: S.205f). „Marx konnte Bakunin totschlagen, weil die Gefolgschaft von Bakunin durch die Großindustrie totgeschlagen wurde..., die geistig das Proletariat dezimierte“ (Brupbacher, Umschlag). Brupbacher setzte hier ungerechtfertigter Weise den Sieg der deutschen Sozialdemokratie, die stärker von Lassalle als von Marx geprägt war, mit der Theorie Marxens gleich. Zumal war gerade die autoritäre und staatsgläubige deutsche ArbeiterInnenbewegung sehr stark von den FacharbeiterInnen der Kleinbetriebe geprägt. Erst das Bündnis mit den Junkern und die Anerkennung der Gewerkschaften im 1.Weltkrieg öffnete der SPD die Tür zu den industriellen Großbetrieben. Bakunin erklärte den Unterschied zwischen dem „autoritären Sozialismus“ der Deutschen und dem „freiheitlichen Sozialismus“ der romanischen Länder eher mit dem Nationalcharakter der Völker, wobei er nicht selten auf antisemitische Argumente zurückgriff. Eine Gleichsetzung des Anarchismus als Ganzes mit einem romantischen Handwerker- oder Dorfsozialismus ist nicht gerechtfertigt, auch wenn es bei Bakunin oft in diese Richtung ging.

Das Recht auf Luxus und die Automatisierung der Produktion

Peter Kropotkin (1842-1921) entwarf in seiner Textsammlung „Die Eroberung des Brotes“ eine Gesellschaft des „anarchistischen Kommunismus“, die auf modernster Technik und Wissenschaft beruhen und den Arbeitstag auf vier Stunden reduzieren sollte.[4] Anstelle des zentralistischen Staates sollte eine Föderation der selbstständigen Kommunen treten. In dieser wichtigen Sammlung entwickelte Kropotkin vor dem Hintergrund der Erfahrungen der französischen Revolution und der Pariser Kommune eine Kritik an den Sozialisten und kollektivistischen Anarchisten (Bakunin).

In der Revolution müssten die ArbeiterInnen das Privateigentum an Produktionsmitteln, Banken und Boden expropriieren. Da Kropotkin mit schweren wirtschaftlichen Rückschlagen durch die revolutionären Unruhen rechnete, wurde für ihn die Versorgungsfrage zum zentralen Problem. Die Pariser Kommunen von 1793 und 1871 scheiterten vor allem deswegen, weil sie nicht zur „Eroberung des Brotes“ schritten, das heißt auch alle notwendigen Lebensmittel und Häuser enteigneten, um Nahrung und Wohnung an die Hungernden und Kämpfenden zu verteilen (Kropotkin 1991: S.36f.). Die Revolution kann nur überleben, wenn sie die Versorgung sichert. Aus dieser Erfahrung heraus entwickelt Kropotkin die Idee der Selbstversorgung der Städte. In seiner Schrift „Landwirtschaft, Industrie und Handwerk“ legte er dar, dass Paris durch die Vororte mit moderner Landwirtschaft sich selbst ernähren könnte. Diese Autarkievorstellungen sind im Zeitalter der Globalisierung natürlich überholt.

Im Laufe der Entwicklung des „anarchistischen Kommunismus“ sollen nach Kropotkin aber nicht nur die Grundbedürfnisse befriedigt, sondern das „Recht auf Wohlstand“ verwirklicht werden. Das bedeutet eine Reduzierung der notwendigen Arbeitszeit und eine Befriedigung der unterschiedlichsten „Luxusbedürfnisse“, wie Kunst oder Kultur, der jede und jeder nach seinen bzw. ihren eignen Wünschen nachgehen kann. Anstelle des „Rechts auf Arbeit“, das die Parole für die Beschäftigung der Arbeitslosen in Nationalwerkstätten in der französischen Revolution von 1848 war, setzte er deshalb „Recht auf Wohlstand“. „Das Recht auf Wohlstand ist die soziale Revolution, das Recht auf Arbeit ist günstigstenfalls ein industrielles Zuchthaus“ (Kropotkin 1999: S.18). Um eine solche Gesellschaft des Überflusses zu verwirklichen, schlug Kropotkin die Dezentralisierung der Industrien sowie die Mechanisierung der Landwirtschaft und Hausarbeit vor.

Kropotkin ging es nicht einfach nur um eine Vergesellschaftung der Produktionsmittel und Steigerung der Produktivkräfte, sondern um eine völlige Umwälzung der Gesellschaft. Gegen Staatssozialisten und Kollektivisten schrieb er: „ ‚Nichts wird sich ändern’ – hat man uns bisweilen gesagt. – ‚Man wird die Werkstätten, die Fabriken expropriieren, man wird sie zu nationalen oder kommunalen Eigentum erklären; - und Jeder wird dann zu seiner gewohnten Arbeit zurückkehren“ (ebenda: S.154). Kropotkin wollte hingegen mit Hilfe von Wissenschaft und Maschinerie die Arbeit so verändern, dass „abstoßende und ungesunde Arbeit“ verschwindet (ebenda: S.92). Die neue Gesellschaft sollte die Arbeitsteilung auf volkswirtschaftlicher und internationaler Basis aufheben. Nicht nur die Trennung von Hand- und Kopfarbeit kritisierte er, sondern auch die Zerstückelung des Wissen über die Gesamtheit der Produktion (ebenda: S.146).

Abschaffung der Lohnarbeit

Das aus heutiger Sicht beeindruckenste Kapitel der Sammlung ist die Kritik am „kollektivistischen Lohnsystem“. „Die Kollektivisten proklamieren zuerst ein revolutionäres Prinzip – die Abschaffung des Privateigentums – und verneinen es nachher wieder durch die Aufrechterhaltung einer Organisation innerhalb der Produktion und Konsumption, die ihren Ursprung im Privateigentum hat“ (ebenda: S.128). Kropotkin wandte sich gegen die Idee der „Zettelwirtschaft“, nämlich die Arbeit nach der in ihr enthaltenen gesellschaftlich notwendigen Durchschnittsarbeit zu entlohnen. „Es kann kein exaktes Wertmaß für das, was man unkorrekter Weise Tauschwert genant hat, geben und ebenso wenig für den Gebrauchswert“ (ebenda: S.133). Die geleistete Arbeitszeit sagt nicht darüber aus, wie viel tatsächlich produziert worden ist. Nicht nur die Fabrik, sondern die ganze Gesellschaft sei ein Produktionszusammenhang, bei dem die unterschiedliche Wichtigkeit der Arbeit unmöglich objektiv festzulegen sei. „Es bleibt nur eins: die Bedürfnisse über die Leistungen zu stellen und zuerst das Recht auf Leben anzuerkennen, alsdann darauf bedacht zu sein, für den Wohlstand aller derer zu sorgen, welche irgendwie einen Anteil an der Produktion nehmen (ebenda: S.134). Kropotkin sprach nicht nur von industrieller Produktion, sondern auch von „moralischer Arbeit“, Erfindungen oder Krankenpflege.

Auch die „großen Ökonomisten“ würden merken, dass sie die Bedürfnisse der Produzenten mit ihrem Leistungsprinzip oder der Zettelwirtschaft ignorieren. „Nur überlassen sie es dem Staat, sie zu begutachten, dem Staat die Bestimmung darüber, ob die Bedürfnisse auch im rechten Verhältnis zu den geleisteten Diensten stehen. Der Staat wird die Almosenpflege übernehmen. Von hier bis zum Armengesetz und dem englischen Workhouse ist es nur ein Schritt“ (ebenda: S.136). Kropotkin arbeitete hier den repressiven Charakter des Sozialstaates heraus. Was er hier schriebt, gilt sowohl für Harz IV als auch für das leninistische Prinzip „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“, mit dem die Kader in Krisenzeiten über Leben und Tod der Bauern entscheiden konnten.

In die „Eroberung des Brotes“ finden sich einige Stellen, die man als frühe Wertkritik deuten kann, auch wenn der Fürst nur sehr rudimentäre Kenntnisse im Bereich Ökonomie besaß und davon auszugehen ist, dass er das „Kapital“ nie studiert hat. Er hielt vielmehr die Staatskapitalismus-Konzeption von 1848, die die deutsche Sozialdemokratie übernahm, für die Position von Marx oder warf sie mit der Politischen Ökonomie in einem Topf. Gegen einen Distributions-Sozialismus schrieb er aber: „Das Übel der gegenwärtigen Produktion besteht nicht darin, dass der ‚Mehrwert’ der Produktion dem Kapitalisten zufällt –wie Rodbertus und Marx gesagt haben (...). Das Übel liegt darin, dass es einen Mehrwert geben kann (...) denn, damit es einen Mehrwert geben kann ist, es notwendig, dass Männer, Frauen und Kinder gezwungen sind, ihre Arbeitskräfte für einen Lohn, der gegenüber dem Werte dessen, was sie produzieren und namentlich dessen, was sie zu produzieren imstande wären, verschwindet, zu verkaufen.“ (ebenda: S.73). Es ging Kropotkin also nicht nur um eine gerechte Verteilung, sondern um die Abschaffung des Lohnsystems überhaupt.

Kropotkin wollte nicht die Produktion, sondern die menschlichen Bedürfnisse zum Ausgangspunkt der gesellschaftlichen Analyse machen. Produziert wird erst, wenn ein Bedürfnis da wäre (ebenda: S.138). Mit der Abschaffung des Privateigentums könnten alle Bedürfnisse der Menschen befriedigt werden. Um den Kapitalismus zu analysieren, ist es problematisch, die Bedürfnisse zum Ausgangspunkt zu machen, weil die Steigerungen des Mehrwerts das Ziel der Produktion ist.

Kommunismus als ökonomische Freiheit

In dem Artikel „Kommunismus und Anarchie“ erteilte Kropotkin jeder Vorstellung, die neue Gesellschaft in einer kleinen Gemeinschaft oder Kommune zu verwirklichen, eine klare Absage (siehe Kropotkin 1901). In den ländlichen Kommunen in den USA oder Russland hätten sich ihre Mitglieder wie Mönche benommen und unter der Parole der „Großen Familie“ die Freiheit des Einzelnen unterdrückt. Auf Grund der Größe von ein paar Hundert Leuten gingen sich die Menschen schnell auf die Nerven und persönliche Konflikte würden dominieren. Die Landkommunen hätten sich von der Gesellschaft isoliert und eine Form der patriarchalischen Familien nachgeahmt. Nur der Kommunismus (der ganzen Gesellschaft) würde ökonomische Freiheit garantieren, weil die Bedürfnisse der Individuen befriedigt werden können und die Arbeitszeit auf ein paar Stunden reduziert wird. Gerade die Ausdehnung der freien Zeit würde die Menschheit von der schwersten Last der Sklaverei befreien. Als Ergänzung der ökonomischen Freiheit des Kommunismus forderte Kropotkin die politische Freiheit des Anarchismus. Ohne Anarchismus könne der Kommunismus nicht existieren oder würde sich in Sklaverei verwandeln.

Eine Anmerkung am Rande: Für mich stellt sich die Frage, wie die politischen Freiheiten und Rechte in einer nachrevolutionären Gesellschaft garantiert werden sollen. Kropotkin wollte staatliche Gesetze durch die „freie Vereinbarungen“ der Individuen und Kommunen ersetzen. Was passiert mit Menschen, die sich nicht an die „freien Vereinbarungen“ halten? Sollte es nicht universelle Rechte geben, die weder Partei noch Kommune einschränken oder aufheben können? Welchen rechtlichen Schutz hat das Individuum noch, wenn es keine Gesetze mehr gibt? Ich meine, bezüglich der Gesetze machen es sich die AnarchistInnen zu einfach.

Weg mit dem Objektivismus!

Was heute an Kropotkins Werk am problematischsten scheint, ist das objektivistische Weltbild des 19.Jahrhunderts. Wie viele seiner Zeitgenossen nahm auch der Fürst an, dass Natur und Gesellschaft auf ähnlichen und objektiven Gesetzmäßigkeiten beruhen, die für den Wissenschaftler erkennbar sind. Während bei Bakunin der Wille zur Anarchie entscheidend war, versuchte Kropotkin (1975) Darwin zu widerlegen mit der These, dass Zusammenarbeit und nicht Konkurrenzkampf die vorherrschende Form im Tierreich sei. Wie die Tiere tendierten auch die Menschen zur Kooperation und würden bloß von Staat und Kapital daran gehindert. Die Kooperation aus dem Tierreich abzuleiten, ist nur ein umgekehrter Sozialdarwinismus, der die Konkurrenz und Auslese zur menschlichen Natur erklärt. Diese Ansichten sind heute ebenso antiquiert, wie Engels Versuch Natur und menschlicher Gesellschaft die gleichen dialektischen Eigenschaften anzudichten. Der Kommunismus ist heute auf dem Boden des entwickelten Kapitalismus möglich, wenn wir ihn wollen- nicht weil er eine Gesetzmäßigkeit von Natur oder Geschichte ist.

Stalin kritisierte an Kropotkin gerade nicht dessen Objektivismus, sondern das Fehlen der „geschlossenen Weltanschauung“ des dialektischen und historischen Materialismus. Dabei vertrat er schon 1907 einen Materialismus, der deterministisch, dogmatisch und objektivistisch sowie an Plattheit nicht mehr zu überbieten war.[5]

In Kropotkins Geschichtsbild gibt es die Tendenz, jede Form des gemeinschaftlichen und der Selbstverwaltung als Verboten des anarchischen Kommunismus zu sehen. Die Handwerkergilden des Mittelalters oder die Stadtverwaltungen sind nicht fortschrittlich, nur weil sie nicht vom Staat geschaffen wurden. Während es bei den SozialdemokratInnen und BolschewistInnen die Tendenz der Gleichsetzung von staatlich und sozialistisch gab, so wurden bei Kropotkin und Bakunin oft gemeinschaftlich und anarchistisch gleichgesetzt. Dass es Kropotkin gerade nicht um die Wiederherstellung von vormodernen Selbstverwaltungsstrukturen ging, hat er in die „Eroberung des Brotes“ deutlich gezeigt.

So gilt es heute Kropotkins Werk (und ebenso Marx´) von den Ideen des 19.Jahrhunderts zu befreien und es in den Dienst der Revolution des 21.Jahrhunderts zu stellen.

Schluss: Postfordismus und die rot-schwarzen Flitterwochen

Ziel des Artikels ist es, die historisch entstandenen Fronten zwischen Anarchismus und Kommunismus aufzubrechen. Die AnarchistInnen dienen nicht im Namen der Revolution der Reaktion (Plechanow 1995: S.80) oder sind „richtige Feinde des Marxismus“ (Stalin 1950, Band 1: S.258). Bezüglich der Staatstheorie und der Verfasstheit der nachkapitalistischen Gesellschaft sind Marx Positionen wesentlich näher an Kropotkin als an Lenin. So können viele Ideen aus den Werken Kropotkins heute eine Ergänzung zu einer Theorie der Befreiung sein, die im wesentlichem auf Marx „Kapital“ und der Kommune-Schrift basiert. Die autoritären Knochen, Bakunin und Lenin, können heute hingegen im Fossilienmuseum abgestellt werden. Ihre Revolutions- und Avantgardetheorien sind Produkte der russischen Gesellschaft des 19.Jahrhunderts, die keinen Bezug zur modernen bürgerlichen Gesellschaft mehr haben. Die Frage ist heute nicht mehr „Anarchismus oder Sozialismus“ (Stalin), sondern (Anarcho)Kommunismus oder Staatssozialismus?

Neben den historisch übersehenen Gemeinsamkeiten im Werk von Marx und Kropotkin, verschwinden mit dem Übergang vom Fordismus zum Postfordismus weitere Widersprüche zwischen Anarchokommunismus und Kommunismus im marxschen Sinne:

  • Die Schrumpfung der Industrie und der Übergang zur „Dienstleistungsgesellschaft“ haben den Widerspruch zwischen der kommunistischen Konzeption vom industriellen Großbetrieb als Kerneinheit der staatlichen Planwirtschaft und des anarchistischen Konzepts vom Kleinbetrieb als bestmögliche Einheit der Selbstverwaltung in Frage gestellt. Durch Outsourcing wurde und wird die Industrie weiter dezentralisiert. Der fordistische Industriearbeiter, der in der kommunistischen Bewegung oft als der „Neue Mensch“ verherrlicht worden ist, stellt heute nur noch eine Minderheit der Gesellschaft dar. Es gibt nun weder eine Grundlage für kommunistischen „Proletenkult“ noch für eine Idealisierung von gemeinschaftlichen vorkapitalistischen Strukturen wie die russische Dorfgemeinde. Im Moment findet Flexibilisierung, Verstärkung der Eigenverantwortung, Aufbrechung von alten Rollen und Einbeziehung der Angestellten und ArbeiterInnen in die Planung und Organisation der Arbeit unter kapitalistischen Vorzeichen statt. Sollte es eine soziale Revolution geben, so könnte diese Entwicklung die Vorbereitung für die Selbstverwaltung der neuen Gesellschaft sein.

  • Mit der weltweiten Durchsetzung des Weltmarktes nach 1989 relativiert sich der ewige Streit um Etappen- und Stufenmodelle der Revolution zwischen KommunistInnen, LinkskommunistInnen und AnarchistInnen. Alle Modelle nationaler Befreiung in der „3.Welt“ (wie „afrikanischer“ oder „arabischer“ Sozialismus) sind kläglich gescheitert – ihre Organisationen haben nach der Machtübernahme neue korrupte Diktaturen geschaffen und konnten die soziale Frage nicht annähernd lösen. Der Kampf für politische, soziale und nationale Befreiung von Besatzern muss deswegen zusammenfallen, wenn er fortschrittlichen Charakter haben soll. Außerdem gibt es auf der Welt heute offensichtlich wenige Länder, in denen eine „demokratische Revolution unter Führung des Proletariats“ erst einmal vorkapitalistische Strukturen beseitigen müsste.

  • Weder Marx noch Kropotkin und Bakunin[6]  lehnten prinzipiell politische Forderungen oder Lohnkampf ab. Heute gibt es einige Gruppen, die unter dem Vorwand „Weltkommunismus als Minimalforderung“ alle konkreten Forderungen ablehnen oder Lohnkämpfe für reaktionär halten, weil das Lohnsystem nicht in Frage gestellt wird. Sollen wir uns diszipliniert unter das System unterordnen bis zu dem Tage, wo sich alle zum Sturm auf den Kapitalismus eingefunden haben? Der Kampf für die Befreiung kann nur ein kontinuierlicher Prozess sein, in dem wir lernen fragend voran zu gehen. So können es manchmal gerade banale politische Forderungen oder Lohnkämpfe sein, die an die Grenzen des Systems stoßen und die Frage nach einer Alternative aufwerfen.

  • Mit dem Zusammenbruch des Staatssozialismus nach 1989 ist das Modell über die Eroberung der Staatsmacht und mit Hilfe einer Kaderpartei eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen gescheitert. Die Siege der Revolution unter Führung von leninistischen Kaderparteien waren letztendlich scheinbare Siege, weil die Partei zwar die Macht für einige Perioden erhalten konnte, aber den Weg zu einer emanzipierten kommunistischen Gesellschaft verbaute. Jede Form von Automatismus und Determinismus ist historisch erledigt: Wenn die Geschichte eins bewiesen hat, dann, dass die Weltgeschichte nicht automatisch auf den Sozialismus zu steuert, dass die Verstaatlichung der Produktionsmitteln keineswegs zur Emanzipation der ArbeiterInnenklasse führen muss und dass kein Staat automatisch abstirbt, nur weil die „AusbeuterInnenklasse“ verschwindet. Auch Zerfall von Staatlichkeit bedeutet nicht automatisch Fortschritt, sondern kann auch in die Barbarei führen, wie wir in den BürgerInnenkriege in Zentralafrika sehen.

  • Der positive Bezug soll nicht heißen, dass man sie dogmatisch als einziges Modell der Selbstverwaltung und Basis Demokratie hinstellen muss. Mit gefällt der Begriff des Kommunismus als „generalisierte Selbstverwaltung“ des französischen Situationisten Guy Debord. Jede Bewegung und Revolution muss ihn wieder neu mit Inhalten füllen.

Dieser Artikel soll nur ein Anstoß sein, neu über das Verhältnis von Kommunismus und Anarchismus nachzudenken. Für die Konstruktion einer Theorie für die Befreiung von Kapital, Staat, Ware und Lohnarbeit steht nach wie vor viel Arbeit an.

grundrisse/ at /gmx.net

Literatur

  • anarchismus.at (hrsg.): Das Staatsbild im kommunistischen Anarchismus, in: www.anarchismus.at/txt1/bakunin5.htm

  • Bakunin, Michael (2004): Konflikt mit Marx, Teil 1: Texte und Briefe bis 1870, Berlin.

  • Bakunin, Michael (1980): „Gewalt für den Körper.Verrat für die Seele?“ – Ein Brief von Michael Bakunin an Sergel Necaev, Berlin.

  • Bakunin, Michael (1972): Staatlichkeit und Anarchie und andere Schriften, Frankfurt (M).

  • Berkman, Alexander (2002): ABC des Anarchismus, Grafenau.

  • Bettschart, Roland (1980): Bakunin-Marx – Eine Analyse des Diskurses mit besonderer Rücksicht des Stellenwertes der Commune de Paris, Wien (Diplomarbeit).

  • Brupbacher, Fritz (1976): Marx und Bakunin, Berlin (West).

  • Communismus (Hrsg.): kropotkins marxismuskritik, in: http://communismus.de/kropotkin.html

  • Communismus (Hrsg.): Staatsfeind Marx zu Staat und Revolution, in: http://communismus.de/staatsfeind.html

  • Holloway, John (2004): Die Welt verändern ohne die Macht zu übernehmen, Münster.

  • Kropotkin, Peter (1989): Die Eroberung des Brotes, Grafenau.

  • Kropotkin, Peter (1901): Communism and Anarchy, in: www.endpage.com/Archives/Subversive_Texts/Kropotkin/AnarComm.htm.

  • Kropotkin, Peter (1920): The Wage, in:  http://www.endpage.com/Archives/Subversive_Texts/Kropotkin/Wage.htm

  • Kropotkin, Peter (1978): Der Staat, Frankfurt (M).
  • Kropotkin, Peter (1975): Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt, Frankfurt (M).
  • Lenin, W.I. (1989): Staat und Revolution, Berlin (Ost).
  • Lenin, W.I. (1984): Ausgewählte Werke in drei Bänden, Berlin (Ost).
  • Lenin, W.I. (?): Marxismus und Staat, Berlin (Ost).
  • Marcuse, Herbert (1969): Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus, Luchterhand, Berlin.
  • Marx/Engels (1972-1974): Ausgewählte Werke in sechs Bänden, Berlin (Ost).
  • Plechanov, Georg (1911): Anarchismus und Sozialismus, (reprint), Köln.
  • Schneider, Dieter Marc (Hrsg.) (1971): Die Pariser Kommune (Texte von Bakunin, Kropotkin, Lavrov, Marx, Engels, Lenin und Trotzki), zwei Bände, Reinbek bei Hamburg.
  • Stalin, Josef (1972): Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR, Peking.
  • Stalin, Josef (1974): Marxismus und Fragen der Sprachwissenschaft, Peking.
  • Stalin, Josef (1950): Gesammelte Werke, 13 Bände, Berlin (Ost).
  • Verlag der Jugendinternationalen (1998): Wegbereiter des Kommunismus, (reprint), Köln.
  • Verlag der Sowjetischen Militärverwaltung in Deutschland (Hrsg.) (1946): Geschichte der KPdSU (B), Kurzer Lehrgang, Berlin.

[1] Diese Untersuchung behandelt nur den „Anarchokommunismus“, der für die soziale Revolution eintritt und Staat und Privateigentum schaffen will. Theoretiker wie Max Stirner oder Proudhon werden deshalb nicht behandelt. (Zur Unterscheidung von kommunistischen und individualistischen Anarchismus siehe Berkman 2002: S.46).

[2] Der Vater der leninistischen Auffassung von Materialismus Plechanow warf den Anarchisten gerade ihre Kritik an der deutschen Sozialdemokratie vor: „Der korrumpierende Einfluss der parlamentarischen Umgebung auf die Arbeiterdeputierten ist bis auf den heutigen Tag das geschätzteste Argument der Anarchisten bei ihrer Kritik der politischen Tätigkeit der sozialistischen Demokratie (...). Es genügt die geringste Kenntnis der Geschichte der deutschen sozialistischen Partei, um zu erkennen, wie das praktische Leben die anarchistischen Befürchtungen widerlegt“ (Plechanow 1911: S.56).

[3] In „Persönliche Beziehungen zu Marx“ schrieb er 1871: „Nun diese ganze jüdische Welt, die eine ausbeuterische Sekte, ein Blutengelvolk, einen einzigen fressenden Parasiten bildet, eng und intim nicht nur über die Staatsgrenzen hin, sondern auch für alle Verschiedenheiten der politischen Meinungen hinweg, - diese jüdische Welt steht heute zum großen Teil einerseits Marx, andererseits Rothschild zur Verfügung. Ich bin sicher, dass die Rothschild auf der einen Seite die Verdienste von Marx schätzen, und dass Marx auf der anderen Seite instinktive Anziehung und großen Respekt für die Rothschild empfindet. Dies mag sonderbar erscheinen. Was kann es zwischen dem Kommunismus und der Großbank gemeinsames geben? O! der Kommunismus von Marx will die mächtige staatliche Zentralisation, und wo es solche gibt, muss heutzutage unvermeidlich eine zentrale Staatsbank bestehen, und wo eine solche Bank besteht, wird die parasitische jüdische Nation, die in der Arbeit des Volkes spekuliert, immer ein Mittel zu bestehen finden (...)“ (Bakunin 1972: S.400f.). Diese Argumentation erinnert an die nationalsozialistische Theorie der Einheit vom “jüdischen Finanzkapital” und „jüdischem Marxismus”.

[4] So ist es eine Verleumdung, wenn Stalin Kropotkin verwarf, er wolle einen Gemeindesozialismus ohne breite industrielle Basis errichten (Stalin, Band 1, 1950: S.287f.).

[5] „Alles, was wirklich ist, d.h. alles, was von Tag zu Tag wächst, ist vernünftig, und alles das, was sich von Tag zu Tag zersetzt, ist unvernünftig und wird deshalb der Niederlage nicht entgehen (Stalin, 1950, Werke I: S.261).“ „..so ist es von selbst klar, dass die sozialistische Ordnung mit der gleichen Unvermeidlichkeit dem Kapitalismus folgen wird, wie der Nacht der Tag folgt“ (ebenda: S.296).

[6] Siehe Bakunin 2004: S.126f.

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