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Gundula Ludwig, Birgit Mennel:
Ganz normal prekär? Feministische Aspekte zur Prekarität von Arbeits- und Lebensverhältnissen.

Der Begriff der Prekarisierung wird gegenwärtig äußerst kontrovers diskutiert. Einerseits wird er mit der Hoffnung besetzt, dadurch die Zunahme an unsicheren Arbeits- und Lebensbedingungen analytisch fassen und kritisieren zu können. Andererseits beziehen sich die Argumente dagegen vor allem darauf, dass der Bezugspunkt des Begriffes im so genannten Normalarbeitsverhältnis liegt und somit „für sich genommen“ keine Aussagekraft besitzt.

Aus feministischer Sicht erweist sich der zweite Argumentationsstrang als Ausdruck der männlichen gesellschaftlichen Hegemonie, die sich auch in dieser Debatte niederschlägt: Denn gerade aus der Perspektive von Frauen stellten bezahlte Arbeitsverhältnisse, durch welche sie „ausreichend“ abgesichert wurden, nicht das bislang gängige „Normalmodell“, welchem nun die soziale Sicherheit entzogen wird, dar. Vielmehr baute das fordistische Gesellschaftsmodell darauf auf, dass „im Normalfall“ der Mann als Familienernährer über einen „Familienlohn“ verfügte, der die (relative) soziale Sicherheit für sich und seine Familie gewährleistete. Dies wiederum wurde durch die Regulationen der Lohnverhältnisse mittels Kollektivverträgen sowie durch ein umfassendes Arbeits- und Sozialrecht ermöglicht und war eine zentrale Voraussetzung für den Erfolg des fordistischen Massenkonsums. Da es für Frauen die Norm war, entweder über gar keinen oder lediglich einen Zuverdienst zu verfügen, wurde ihre materielle Absicherung „normalerweise“ über ihre Rolle als Ehefrau – durch „Haushaltsgeld“ – garantiert.[1]

Dies zeigt, dass die fordistische Produktionsweise auf einer ganz bestimmten geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung aufbaute. Die männlichen Lohnarbeiter mussten eine bestimmte Lebensführung verfolgen, die den Anforderungen der auf monotonen Routinetätigkeiten und klar vorgegebenen Arbeitsabläufen beruhenden fordistischen Produktionsweise entsprach. Dies wiederum wurde sichergestellt durch die fürsorgenden Haus- und Ehefrauen: „Seine (des Arbeiters, Anmerkung der Autorinnen) Verausgabung bedingt spezifische Moral und Lebeweise, Monogamie als nicht zeitvergeudend-ausschweifender Sex, wenig Alkoholkonsum, die Einsetzung von Hausfrauen, die über Disziplin, Lebensführung, Gesundheit, Ernährung der Familie, also das Wie des Konsums wachen und entsprechend tätig sind“ (F. Haug, 2001, S. 772).

Damit soll jedoch nicht gesagt sein, dass dieses „Ideal“ der Geschlechterverhältnisse auch tatsächlich fordistische Realität war. Es handelt sich bei dieser Normvorstellung vielmehr um das imaginierte Selbstbildnis einer Gesellschaft zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt denn um die „tatsächliche Realität“. Das Ideal des alleinverdienenden Ehemannes mit Hausfrau fungierte demnach als hegemoniale Ideologie, die als gelebte Normvorstellung wirksam war.

Gegenwärtig lässt sich beobachten, wie die Formen jener politischen und ideologischen Regulierungen – wie sie im Fordismus galten – abgebaut werden. Die politische Konsensformel, hergestellt durch (teilweise) staatliche Regulierung des Produktions- wie auch des Reproduktionsbereichs, wird in Zeiten des „Sachzwangs Weltmarkt“ (Altvater, 1987) als Standortnachteil innerhalb der globalisierten Konkurrenz verhandelt. Dies bedeutet einerseits die Deregulierung (fremdbestimmte Flexibilisierung) der Arbeitsverhältnisse und andererseits den Abbau des Sozialstaats.

An die Stelle dieser fordistischen Regulierungen treten neue Formen politischer Arrangements, die den Anforderungen eines flexiblen Kapitalismus entgegentreten sollen. Von diesen neoliberalen Umbauprozessen sind Frauen in doppelter Hinsicht betroffen: Zum einen befinden sich ohnehin weitaus mehr Frauen in prekären – verstanden als sozial unsicheren, schwierigen und bedenklichen – Arbeitsverhältnissen als Männer und diese Tendenz ist steigend. Zum anderen geht mit den Um- und Abbauprozessen der fordistischen Regulierungen auch eine Reprivatisierung vormals sozialstaatlich abgesicherter Lebensbereiche einher. Die Übernahme der Kosten der Reproduktion sowie die Absicherung der Individuen gegen Risiken, welche die Produktionsweise selbst hervorbringt, wird immer weniger von der (staatlich vermittelten) Kapitalseite abgedeckt und zunehmend als private Aufgabe der Einzelnen definiert.

Demnach kommt es neben der Prekarisierung des Produktionsbereichs auch zu einer Prekarisierung des Reproduktionsbereiches. Da sich jedoch auch nach dreißig Jahren Frauenbewegung nur sehr wenig an der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung verändert hat, sind es weiterhin in überwiegendem Maße Frauen, die diese Reprivatisierung des Reproduktionsbereichs lebbar zu machen bestrebt sind: Sei es unentgeltlich als Mutter, Ehefrau, (Schwieger)Tochter und (Teilzeit)Hausfrau oder in Form von privaten Pflegedienstleistungen wie Tagesmütter oder ehrenamtliche Helferinnen. Gerade hierin zeigt sich die Widersprüchlichkeit der postfordistischen Anforderungen an Frauen: Einerseits sollen Frauen genauso mobil und (fremdbestimmt) flexibel ihre Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt anpreisen. Gleichzeitig wird dies jedoch dadurch behindert, dass Frauen die Lücken des Reproduktionsbereichs, die der  Abbau des Sozialstaats hinterlässt, durch Eigenverantwortung zu kompensieren versuchen.

Hier wird eine Ungleichzeitigkeit in den ideologischen Anforderungen deutlich: Während im Produktionsbereich Elemente neoliberaler Anrufungen wirksam sind, haben im Reproduktionsbereich die fordistischen Ideologien der fürsorgenden Weiblichkeit ihre Gültigkeit nicht verloren. Im Unterschied zum Fordismus „muss“ die fürsorgende und pflegende Frau/Mutter nun nicht mehr gleichzeitig Ehefrau und Hausfrau sein, sondern kann sich in verschiedensten Lebensgemeinschaften „selbst verwirklichen“; auch im Reproduktionsbereich weichen die starren Strukturen zwar auf, dies bedeutet jedoch nicht, dass geschlechtsspezifische Herrschaftsdimensionen dabei verschwinden.[2]

In der Transformation des Fordismus zu einer postfordistischen Form der Regulation des Sozialen lassen sich somit politische Neubestimmungen beobachten, welche die Trennlinie zwischen Arbeit und Freizeit ebenso wie jene von öffentlich und privat neu vermessen. Auf einer ideologisch-kulturellen Ebene werden diese neoliberalen Umbauprozesse vom Versprechen nach (mehr) Autonomie, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung begleitet. Diese Verheißungen stimmen in einem hohen Grade mit den Forderungen sozialer Protestbewegungen der 1960er und 1970er Jahre überein. Eingebettet in ihren ursprünglichen Kontext fungierten diese Begriffe innerhalb der „Neuen Sozialen Bewegungen“ wie auch innerhalb der Frauenbewegung als Momente einer Kritik, die den hegemonialen Arbeitsbegriff des Fordismus sowie die Form der Lohnarbeit insgesamt in Frage stellten. Die Kritik richtete sich gegen die Trennung von entlohnter Produktionsarbeit und privater – und folglich nicht entlohnter – Reproduktionsarbeit, ebenso wie gegen Paternalismus, Autoritarismus, aufgezwungene Arbeitszeit und vorgegebene Arbeitsbereiche.

Diese Forderungen wurden demnach ihrer emanzipatorischen Stoßrichtung entledigt, integriert und richten sich gegenwärtig als Anforderungen gegen die (Arbeits-)Subjekte. In der Sphäre der Arbeit finden sich somit jene Werte und Normen wieder, welche die Trennung zwischen dem Bereich der Arbeit und der privaten Zeit mehr und mehr verschwimmen lassen und die Arbeit zu einem Bereich der Selbsterfüllung verklären. Die tatsächlich erreichte Selbstbestimmung  trennt jedoch die gegenwärtigen Tendenzen hin zu prekären Arbeits- und Lebensbedingungen von den ehemaligen kritischen Forderungen. K. Pühl konstatiert daher: „Unter den gegenwärtigen Bedingungen wird auf emanzipative Beschreibungen Bezug genommen, wird die ursprünglich als Gegen-Wissen formulierte Erfahrung politisch enteignet und zu Gestaltungswissen mit anderer Stossrichtung umformuliert. (...) Diese Strategien stehen hartnäckigen Beharrungstendenzen gesellschaftlicher Interessen gegenüber, die auch in Geschlechterasymmetrien bezüglich Anerkennung, Macht, Ausstattung mit Ressourcen und geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung ihre Form finden“ (Pühl, 2003, S. 65).

Gerade in dieser Aneignung von ehemaligen emanzipatorischen und kritischen Forderungen liegt ein zentrales Moment für die Stabilität auch des „neuen Kapitalismus“.[3] Demzufolge kann argumentiert werden, dass ökonomische, politische und gesellschaftliche Veränderungen nicht nur über direkt repressive Mechanismen, sondern vor allem über die Organisation der Zustimmung der Individuen durchgesetzt werden (vgl. u.a. Gramsci, 1991). In diesen ideologischen Versprechen lassen sich neue Führungstechniken erkennen, die verstärkt auf dem Prinzip der Selbstführung aufbauen, die allerdings zugleich durch den „Schein der Freiwilligkeit“ unsichtbar bleiben (sollen): „Die Individuen werden in einer Weise sich selbst überlassen, dass sie frei sind, eben das zu tun, was ihnen auferlegt wurde. Zurückgeworfen auf sich selbst, haben sie die Freiheit, aus ihrem Leben etwas zu machen, wofür nur sie selbst verantwortlich sind“ (Krasmann, 2000, S. 201). Während hegemoniale Ideologien im Fordismus sich primär auf die imaginäre nationalstaatliche Solidarität bezogen, lässt sich im Postfordismus beobachten, dass diese nun das vereinzelte Individuum und ihre/seine Eigenverantwortung in ihr Zentrum stellen. Somit werden die gegenwärtigen Veränderungen der Arbeits- und Lebensbereiche zentral über ideologische Versprechen abgestützt, die vormals als Kritik gegen Ausbeutung und Herrschaft fungierten (vgl. dazu u.a. Boltanski/Chiapello, 2003).

Aus dem bisher Dargelegten lässt sich entnehmen, dass der Begriff der Prekarisierung ambivalent besetzt ist. „Prekarisierung steht also für ein umkämpftes Terrain: ein Terrain, auf dem die Ansätze, einen neuen Ausbeutungszyklus in Gang zu setzen, auf die Wünsche und subjektiven Verhaltensweisen treffen, in denen das Aufbegehren gegen das »alte«, fordistisch genannte Arbeitsregime und die Suche nach einem anderen, freien, ja auch »flexiblen« Leben sich äußert.“ (Frassanito-Netzwerk, 2005). Darüber hinaus bedeutet(e) insbesondere für Frauen die Aufnahme eines wenn auch prekären Lohnarbeitsverhältnisses auch einen emanzipatorischen Schritt aus dem persönlichen Abhängigkeitsverhältnis, wie es in der (fordistischen) Ehe institutionalisiert war, um so in neuer Form in den gesellschaftlichen Prozessen eingebunden zu sein. Der Preis dafür ist aber eben meist der Eintritt in ein sozial und rechtlich unsicheres Lohnarbeitsverhältnis, das den Prämissen der Selbstführung und des Selbstmanagements folgt.

Unseres Erachtens nach liegen genau in dieser Brüchigkeit bzw. Ambivalenz die Potentiale des Begriffs „Prekarisierung“. Denn ähnlich wie die (feministische) Kritik an dem fordistischen Arbeitsbegriff aufzuzeigen intendierte[4], könnte nun der Begriff der Prekarisierung wiederum die allgemeinen Strukturen kapitalistischer Arbeit und die Reduzierung der einzelnen Individuen auf Mittel zur Mehrwertproduktion sichtbar machen. Denn gerade am Grad der tatsächlichen Selbstbestimmung lässt sich der ideologische Gehalt neoliberaler Versprechen nach mehr Autonomie, Verantwortung und Flexibilität aufzeigen. Nimmt man diese Versprechen ernst, zeigt sich, dass sich die gegenwärtige Flexibilisierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse unter den Vorzeichen der kapitalistischen Akkulumationsdynamik gegen die ursprüngliche Stoßrichtung der Forderungen der Individuen richtet.

Aus einer historischen Perspektive heraus kann also mit dem Begriff der „Prekarisierung“ aufgezeigt werden, dass hinter dieser herrschaftlichen Aneignung der einstigen Forderungen der Wunsch nach selbstbestimmten Arbeits- und Lebensbedingungen stand und steht. Darin liegen folglich auch die Möglichkeiten für widerständiges Denken und Handeln: Wenn die gegenwärtige Debatte über Prekarisierung auch ein Nachdenken über jene Frage initiiert, wie das „ursprünglich“ kritische Potential wieder sichtbar und politisierbar gemacht werden kann, wäre diese Widersprüchlichkeit in Handlungsfähigkeit übersetzbar. Dadurch ließe sich auch das gegenwärtige Bedrohungsszenario, das sich um den Begriff der Prekarisierung und „a-typischen“ Beschäftigung gebildet hat und so als Herrschaftsmittel fungieren kann, durchbrechen. Denn dann könnte aufgezeigt werden, dass die Prekarisierung der Arbeits- und Lebensweisen und damit einhergehend die Tendenz des gegenwärtigen Kapitalismus, die Grenzen zwischen Arbeit und Leben im Dienste steigender Mehrwertproduktion aufzulösen, nicht wie ein Naturgesetz in einem neoliberalen Kapitalismus über die Individuen hereinbricht, sondern Ausdruck widersprüchlicher gesellschaftlicher Prozesse ist. Diese Sichtweise eröffnet die Frage, wie an diese kritischen Forderungen – nach selbstbestimmten Arbeits- und Lebensbedingungen – „von unten“ wieder anzuschließen wäre.

e-mail: gundulaludwig/ at /yahoo.de, birgit@subnet.at

Literatur:

Altvater, Elmar; Sachzwang Weltmarkt.  VSA-Verlag,, Hamburg, 1987

Boltanski, Luc / Chiapello, Eve; Der neue Geist des Kapitalismus. UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz, 2003

Frassantio-Netzwerk: Prekär, Prekarisierung, Prekariat. Bedeutungen, Fallen und Herausforderungen eines komplexen Begriffs, und was das mit Migration zu tun hat …, 2005. http://www.labournet.de/diskussion/arbeit/realpolitik/prekaer/frassanito.html, abgefragt am 11.5.2005

Gramsci, Antonio. Gefängnishefte; Kritische Gesamtausgabe. Hg. vom Deutschen Gramsci-Projekt unter der wissenschaftlichen Leitung von Klaus Bochmann und Wolfgang Fritz Haug et.al. Argument-Verlag, Hamburg, 1991ff

Haug, Frigga; Zur Theorie der Geschlechterverhältnisse. In: Das Argument 243, Hamburg, 2001, S. 761-787

Krasmann, Susanne; Gouvernementalität der Oberfläche. Aggressivität (ab-)trainieren beispielsweise. In: Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Hg. von Ulrich Bröckling, Susanne Krasmann, Thomas Lemke, Suhrkamp, Frankfurt/ Main, 2000,  S. 194-226

Pühl, Katharina; Geschlechterpolitik im Neoliberalismus. In: Widerspruch 44, Beiträge zu sozialistischer Politik: Feminismus, Gender, Geschlecht, Zürich, 2003, S. 61-83


[1] Selbst wenn Frauen in Lohnarbeitsverhältnissen beschäftigt waren bzw. sind, verfüg(t)en sie über ein deutlich geringeres Einkommen als ihre männlichen Kollegen, was als Ausdruck dieser ideologischen geschlechtsspezifischen Normalitätsvorstellungen interpretiert werden kann.

[2] Ein (kleiner) Teil der Frauen verfügt über die Mittel, diesen Widerspruch durch Delegation der Arbeit aufzulösen: Dabei lässt sich eine neue Form der Arbeitsteilung beobachten, die sich entlang der Linie der nationalstaatlichen Herkunft von Frauen vollzieht. In diesem Zusammenhang übernehmen zunehmend MigrantInnen nicht nur die Haus- und Pflegearbeiten, sondern werden auf einer ideologischen Ebene zur (neuen) Verkörperung „weiblicher Eigenschaften“ wie beispielsweise Wärme und Fürsorge.

[3] Andererseits liegt aber auch gerade hierin die Brüchigkeit des „neuen Kapitalismus“. Darauf wollen wir im weiteren Verlauf des Artikels zurückkommen.

[4] Wie oben angeführt bezog sich diese Kritik darauf, dass die bestehende Form der Arbeit respektive der Arbeitsteilung von herrschaftlichem Charakter ist.

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