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Editorial Nr. 14 Liebe Leserinnen, liebe Leser, willkommen in der 14. Ausgabe der grundrisse. Bevor wir euch unserem diesmal im Baukastensystem angelegten Editorial überlassen, hier noch ein kurzer Ausblick auf das nun Folgende: In dieser Nummer findet ihr den ersten Teil unserer Reihe „MIT NACHDRUCK“, in der wir wichtige nicht mehr erhältliche Texte wieder zugänglich machen wollen. Außerdem gibt´s noch einen Rückblick auf den Euromayday 2005 in Wien und eine Einladung zur Vorstellung von Beverly J. Silver´s Buch über „Arbeiterbewegungen und Globalisierung seit 1870“. Anschließend bitten wir um Beachtung der Einladung zu unserem diesjährigen Sommerseminar in Ungarn. Beschließen wird das bislang längste Editorial ein Aufruf „Für eine Produktion emanzipativer Bilder“ von Linda Bilda, die auch ab sofort in der Bildpolitik der grundrisse ihren Niederschlag finden wird. Eine anregende Lektüre sowie einen schönen Sommer wünscht die grundrisse-redaktion MIT NACHDRUCK In dieser Ausgabe findet sich der erste Teil der Reihe „MIT NACHDRUCK“ (an dieser Stelle einen Dank an Martina für die Namensfindung). Unter diesem Label sollen in Zukunft ältere, nicht mehr zugängliche Texte, die entweder sehr interessant, wenig verbreitet oder überhaupt erstmals in deutscher Übersetzung vorliegen, in unregelmäßigen Abständen veröffentlicht werden. Als erstes Dokument haben wir die Arbeit „Zum Begriff der Negation in der Dialektik“ von Herbert Marcuse aus dem Jahr 1966 ausgewählt. Wir bedanken uns an dieser Stelle beim Suhrkamp Verlag für die Nachdruckgenehmigung. In der nächsten Nummer der grundrisse veröffentlichen wir das wichtige fünfte Kapitel aus „Reading Capital Politically” von Harry Cleaver, einem Klassiker des us-amerikanischen Operaismus, hierzulande wenig bis kaum bekannt. Marcuses Text ist deshalb von besonderem Interesse, weil er den endgültigen Beginn seiner Reflexion der 68er Bewegung markierte, die in den USA, wo Marcuse zu diesem Zeitpunkt lehre, früher als in Europa einsetzte. Der Inhalt selbst benötigt keinen Kommentar, zumal seine Ausführungen knapp, klar und sehr allgemeinverständlich formuliert sind. Diese, und seine folgenden Arbeiten, insbesondere „Versuch über die Befreiung“ sowie „Konterrevolution und Revolte“ widerlegen das weit verbreitete Gerücht, Herbert Marcuse sei im Gegensatz zu Adorno und Horkheimer innerhalb des Projekts der Kritischen Theorie als Theoretiker der zweien Garnitur einzustufen. Es spricht vielmehr einiges dafür, den gegenteiligen Standpunkt einzunehmen. Bis zu seiner geistigen Auseinandersetzung mit der 68er Bewegung zählte Marcuse tatsächlich zum Mainstream der „Frankfurter Schule“, deren methodisches Instrumentarium salopp als Hegelmarxismus bezeichnet werden kann, erweitert durch theoriebildende Bezügen zu zusätzlichen philosophischen Strömungen. Im Falle Marcuses beruhte diese Erweiterung wesentlich auf der existentialistisch gelesenen Philosophie Heideggers. Im Gegensatz zu Adorno und Horkheimer, die die 68er Bewegung nur kommentierten, reagierte Marcuse theoretisch auf die wichtigste Revolution des späten 20. Jahrhunderts und erkannte, dass dieses Ereignis ein neues philosophisches Instrumentarium erfordert. Marcuse verstand Theorien nie als Selbstzweck sondern als veränderbares Werkzeug, das sich in der geschichtlichen Wirklichkeit zu bewähren hätte. Geschlossene, durchkomponierte philosophische Systeme erzeugen leicht den Schein intellektueller Brillanz, doch dieses Funkeln wird regelmäßig durch Abschottungstendenzen gegenüber der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit erkauft. Marcuse ging immer einen anderen Weg. Um zu begreifen was ist und was sein könnte war er stets bereit, seine theoretischen Ansätze umzubauen, auch wenn dies weder eine Schulbildung noch die Rezeption im akademisch-universitären Milieu förderte. Eine der wesentlichsten Konsequenzen der 68er Bewegung konnte Marcuse bereits 1966 formulieren: Um den Prozess der Befreiung, seine Bedingungen, sowie seine Perspektiven angemessen verstehen und formulieren zu können, bedarf es eines klaren Bruchs mit der Hegelschen Dialektik. Einige Argumente dafür findet ihr in seinem Text. Buchvorstellungen & Diskussion Beverly J. Silver: Forces of Labor. Arbeiterbewegungen und Globalisierung seit 1870. Assoziation A & Wildcat (2005) Steve Wright: Den Himmel stürmen. Eine Theoriegeschichte des Operaismus. Assoziation A (2005) Das soeben in deutscher Übersetzung erschienene Buch von Beverly J. Silver „Forces of Labor. Arbeiterbewegungen und Globalisierung seit 1870“ (Assoziation A & wildcat) bringt frischen Wind in die Debatten über Krieg, Kapitalismus und die zukünftige Bedeutung der Klassenkämpfe. Aus einer globalen Sicht auf die letzten 150 Jahre proletarischer Kämpfe werden langfristige und weltweite Zusammenhänge sichtbar, die in vielen modischen Theorien eher verdeckt und mystifiziert, denn geklärt werden. Gegen die Auffassung einer eigengesetzlichen Kapitalentwicklung, der wir ohnmächtig gegenüberstehen, wird hier auf lebendige und historische Weise ein Kapitalbegriff entfaltet, der in dem ständigen Antagonismus zwischen Arbeit und Kapital die treibende Dynamik der Geschichte ausmacht. Hier ergeben sich auch interessante Parallelen zu einer Anfang der sechziger Jahre in Italien entstandenen Strömung, deren Werdegang in einer –ebenfalls gerade auf Deutsch erschienenen – Untersuchung nachgezeichnet wird: Steve Wright: 'Den Himmel stürmen. Eine Theoriegeschichte des Operaismus' (Assoziation A). Buchbesprechungen der englischsprachigen Ausgaben finden sich in der Nummer 4 (Wright) bzw. 9 (Silver) der grundrisse. Wann und Wo? Wien: Amerlinghaus, 1060 Wien, Stiftgasse 8. Freitag 17. Juni 2005 – 18:00 Uhr Linz: Dachstock-Kapu, 4020 Linz, Kapuzinerstraße 36. Samstag, 18. Juni 2005 - 19:00 Uhr Euro? May? Day? 2006? Eine Zwischenbilanz Eine Menge Leute sammelten sich am wie immer sonnig-heißen 1. Mai am Wiener Mexikoplatz, um den ersten „Euromayday“ der Stadt „würdig zu begehen“. An die tausend Menschen zogen entlang ausgewählter Orte der Prekarisierung durch Wien, um lustbetont der Veränderung sozialer Subjektivitäten Ausdruck zu verleihen – wie auch in 18 weiteren europäischen Städten (siehe www.euromayday.org). Verkleidete, Einrad fahrende, tanzende, Sticker klebende, sprayende, Parolen rufende, weiße Handabdrücke hinterlassende, am Bus der Volxtheaterkarawane chillende, flanierende, trommelnde (v.a. Samba-ATTAC), pfeifende Menschen setzten sich für einige Stunden gemeinsam in Bewegung. Es wurden keine Reden geschwungen, vielmehr wurden zu den Stationen der Prekarisierung von Arbeit und Leben Texte in Jingleform via CD eingespielt: eine von mehreren Versuchen, die Repräsentation der Unrepräsentierbaren, nämlich der Multitude der prekär Arbeitenden und Lebenden, zu verhindern. Die Route: Mexikoplatz (Sexarbeit) – Billa (Teilzeitarbeit, insbesondere von Frauen) – Flexwork („gemeinnützige“ Arbeitskräfteüberlassung) – News-Tower (Boulevard-Illustrierte) – Schubhaftgefängnis Rossauer Lände – Universität Wien – Ballhausplatz (Regierungssitz) – Museumsquartier – Karlsplatz („Schutzzone“). Begleitet von einigen, allerdings doch eher spärlichen Aktionen zog die Parade durch den 2., 9. und schließlich 1. Bezirk, wo am Karlsplatz mit Musik, Tanz und guter Laune der Mayday schließlich zu Ende ging. Angesichts der überlangen Route konnten die ursprünglich angedachten „Nachaktionen“ leider nicht mehr durchgeführt werden … Die Mayday-Parade war als politische Artikulation in erster Person gedacht und wurde als solche von den Teilnehmenden zum überwiegenden Teil positiv bewertet. Der erste Wiener Euromayday kann (und soll) also durchaus als Erfolg gewertet werden. Im Gegensatz zu anderen Ländern wurden jedoch die offenen theoretischen Fragestellungen um inhaltliche Fragestellungen hierzulande bisher nur am Rande diskutiert. Der „pragmatischen“ Organisierung der Parade wurde der Vorzug gegeben. Dies könnte für die Zukunft des Projekts Mayday sich durchaus positiv auswirken, haben doch in der Vorbereitungsphase weit über 20 Leute unterschiedlichster Erfahrungshintergründe, verschiedener organisatorischer und theoretischer Zugänge für Wiener linke Verhältnisse ungewohnt solidarisch und effektiv zusammengearbeitet. Dieses solidarische Klima könnte in zweierlei Hinsicht genutzt werden: zum einen, um die ausständigen inhaltlichen Diskussionen über Prekarisierung von Arbeit und/oder Leben, über Organisierung und/oder hierarchische Organisation, über Event und/oder Prozess anzugehen. Denn die Idee „Euromayday“ ist die eines Prozesses, in dessen Rahmen die Parade am 1. Mai nur ein Ereignis darstellen soll. Das Beispiel der Organisation „Chainworkers“ in Italien (sie war an der Entstehung des ersten Mayday – 2001 in Milano – maßgeblich beteiligt) kann dabei als positives Beispiel partei- und gewerkschaftsunabhängiger Organisierung prekär Beschäftigter dienen. Im Unterschied zu Italien muss allerdings in Österreich der Prozess der „Alltagsorganisierung“ erst geleistet werden – wobei Ansätze, wie die Interessensvertretung work/ at /flex der GPA, bereits existieren, allerdings im letztlich doch einschränkenden Rahmen der traditionellen Gewerkschaftsbewegung. Dieser Fragenkomplex von Organisierung und von Euromayday als Prozess muss begleitend zur Reflexion der Vorbereitung und Durchführung des vergangenen Mayday selbst in Angriff genommen werden. Bei dieser „praxisorientierten“ Reflexion sollten zwei Aspekte im Mittelpunkt stehen, die die meines Erachtens kritikwürdigen Aspekte dieser gelungenen Maydayparade darstellen: Wie können – angesichts des relativ geringen Spontaneitäts- bzw. Aktionsimsufaktors bei der Parade – aktionistische Interventionen entwickelt und durchgeführt werden, ohne wieder in Muster stellvertretender Politik hineinzurutschen? Wie kann eine stärkere und breitere Beteiligung der prekär Arbeitenden und Lebenden erreicht werden – nicht zuletzt angesichts der Tatsache, dass sowohl sehr junge Menschen als auch MigrantInnen deutlich „unterrepräsentiert“ waren. In naher Zukunft wird auch die Auseinandersetzung mit der internationalen Koordination des Euromayday ins Haus stehen, hat doch die Wiener Vorbereitungsgruppe aus nahe liegenden Gründen u.a. den gesamteuropäischen Slogan verworfen, der zur „Verschwörung“ der Prekären sowie zum Kampf für ein „freies, offenes und radikales Europa“ aufrief. Abgesehen von diesen seltsamen Entwicklungen wird wohl auch die Diskussion über den Eurozentrismus zu führen sein. Mir jedenfalls würde „WorldWideMayDay2006“ um einiges besser gefallen … Martin Birkner PS: Die KPÖ-nahe Zeitschrift „Volksstimmen“ fragt sich, was einer „gemeinsamen kreativ-kämpferischen und prekär tanzenden 1. Mai/Mayday-Kundgebung 2006 entgegensteht“. Ich gebe kund: ein äußerst prekäres besetztes Haus im zehnten Wiener Gemeindebezirk (siehe www.ekhbleibt.info). FÜR eine PRODUKTION EMANZIPATIVER BILDER Die Ebene der visuellen Wahrnehmung ist eine sehr wichtige Fläche, auf der Ideologie und Ideenwelten produziert und verbreitet werden. Imagekampagnen, Filme und Bildstrategien arbeiten ständig daran in unsere Wahrnehmung zu dringen, sie zu formen und sie zu manipulieren. Die von der Medien, Unterhaltungs- und Werbeindustrie erzeugten warenförmigen Bilder sind handlungsanleitend und funktionieren in diesem Sinne als ideologisches Werkzeug, um als Mehrheitsdenken zur Abstützung der herrschenden Ordnung zu dienen. Trotz der oft eingebildeten Erhabenheit der KonsumentInnen über die Werbung und die Medien mobilisieren diese immer aufs Neue, in der Regel im Unbewußten ohne Gegenkontrolle, eine Angst zu kurz zu kommen oder etwas zu verpassen. Im Allgemeinen beschäftigt sich die „Linke“ mit Bildproduktion meistens nur soweit, als sie sich über einen kulturellen Distinktionsgewinn einrichtet: die besseren Filme sehen, die cooleren Comics lesen und vielleicht noch Kunst rezipieren. Der Versuch Meinungshegemonie auch in der Bildpolitik zu gewinnen scheint ein wenig beachtetes Thema. Um diesen Bereich eingehender wahr zu nehmen, haben wir vor, in den nächsten Nummern unsere Bildleisten dem Thema Film zu widmen, um darin visuelle Denkprozesse sichtbar und evtl. diskutierbar zu machen. Wir beginnen damit, an dieser Stelle das Werk der Wiener Filmemachers Ernst Schmidt jr. Vor zu stellen, der 1988 früh gestorben, sich sehr grundlegend mit der Frage der Manipulation durch Film auseinander gesetzt hat. Auszug aus seinem Manifest von 1968, das auch heute noch eine Programmatik für diesen Bereich bietet: Handlung im Film ist Manipulation, kontrolliert von der Klasse der Wenigen. Film als Industrie ist Ausdruck einer globalen gesellschaftlichen Ordnung, die in den verschieden Staaten nur graduelle Unterschiede aufweist. Kunst ist Können, Kritik ist Reklame, Film ist Reklame, Kunstfilm ist gekonnte Reklame – spricht nur wenige an – Filmkritik ist Reklame der Reklame einer gesellschaftlichen Ordnung. Die Handlung im Film ist Ausdruck einer ideologischen Konstellation, die jeden Zufall ausschließt und einen gesellschaftlichen Zustand propagiert, was jedoch nicht heißen soll handlungsloser Film sei frei von Manipulation. Man weiß sich geschickt zu helfen, wechselt in das Lager des Gegners und breitet sich dort aus. Die Möglichkeiten des Films direkt Teile der Wirklichkeit wiederzugeben, werden nur von wenigen Außenseitern genützt. Manipulieren Sie, werden sie Filmregisseur! Linda Bilda |
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