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Gerhard Hanloser: Attac, Globalisierungskritik und „struktureller Antisemitismus“

Ende der 90er Jahre entstand eine neue Bewegung, die die kapitalistische Globalisierung ins Fadenkreuz der Kritik nahm und die Orte der Treffen der Mächtigen der Welt (G7, WEF, WTO, ...) aufsuchte und blockierte. Diese Bewegung war  bunt, vielfältig und schwer auf ein politisches  Programm zu fixieren. Von christlichen Vereinen und Umweltschützern über traditionskommunistische Parteien bis zu militanten anarchistischen Gruppen fanden sich unterschiedlichste GegnerInnen der kapitalistischen Globalisierung zusammen. Die in Frankreich gegründete Gruppe Attac war die organisierteste und medienwirksamste Gruppierung und versuchte der Bewegung ein Programm zu geben: der aktuelle Kapitalismus wurde als entfesselte Diktatur der Finanzmärkte begriffen, den man über Steuern auf Finanztransaktionen in geordnete Bahnen zu lenken habe. Diese Finanzkapitalkritik wurde in den deutschsprachigen Ländern recht schnell von KritikerInnen aus dem wertkritischen Spektrum (z.B. Krisis), aus dem publizistisch recht breiten und einflussreichen antideutschen Spektrum und auch von neoliberaler Seite in die Nähe des Antisemitismus gerückt. Denn auch die Nazis hätten ein Programm der Brechung der Zinsknechtschaft erhoben und im Antisemitismus käme ein „verkürzter Antikapitalismus“ zum Ausdruck, der sich am Finanzkapital, am Geld und dem „Unfassbaren“ festmacht. Jede Kritik am Finanzkapital komme demnach einem „strukturellen Antisemitismus“ gleich und es gäbe eine „strukturelle Ähnlichkeit verkürzter Kapitalismuskritik mit dem modernen Antisemitismus“ (Schmidinger 2001).

Zurück zu Postone

Am Anfang der Vorstellung vom „strukturellen Antisemitismus“ stand eine wirkliche Revolution in der Erklärung des Antisemitismus. Moishe Postone trat an, den Antisemitismus aus seinem inneren Zusammenhang mit den allgemeinen Erkenntnisstrukturen im Kapitalismus abzuleiten (Postone 1988).[1] Der Theoretiker der Neuen Linken bezog sich auf die Marxsche Kategorie des Fetischs, der seinen Grund in der realen Verkehrung der Gesellschaft hat. Auf Grund des eigentümlichen gesellschaftlichen Charakters der Arbeit entwickeln die produzierten Dinge ein Eigenleben, ihnen scheinen Natureigenschaften zu- zukommen, sie bilden Sachzwänge heraus. Der Fetischismus ist der Tanz um diese Dinge, der ihre Produziertheit vergessen macht.

Für Adorno und Horkheimer war das jahrhundertelange Eingesperrt-Sein der Jüdinnen und Juden in die Zirkulationssphäre ein entscheidender Grund für den Antisemitismus, aber sie stellten darauf ab, dass man zum Verständnis des Antisemitismus auch sozialpsychologische Erklärungen brauche. Postone wendet sich von der Zirkulationssphäre und psychologischen Prozessen ab und der Ware zu. Der gesellschaftliche Zusammenhang ist nach Postone  im Fetischcharakter der Ware selbst versteckt, da diese sich verdinglicht als Gegensatz von Konkretem und Abstraktem, Gebrauchs- und Tauschwert darstellt. Die fetischisierte Wahrnehmung spaltet das Kapitalverhältnis in eine stoffliche Natur von Arbeit und Produkten einerseits und dem als abstrakt empfundenen Geld und Zins andererseits auf.  Der fetischisierte „verkürzte 'Antikapitalismus'“ meint, im einseitigen Angriff auf das Abstrakte (Vernunft, Recht, Geld, Zins) den Kapitalismus bekämpfen und überwinden zu können.

Doch Postone selbst argumentiert hier verkürzt, unhistorisch und strukturalistisch. Er will über die kritisch-theoretische Analyse des Antisemitismus hinausgehen, die das jahrhundertelange Eingesperrt-Sein der Jüdinnen und Juden in die Zirkulationssphäre, die „Verkleidung der Herrschaft“ und falsche Projektion als Gründe des Antisemitismus angibt. Doch von ihm wird zu schnell eine historisch-genetische Erklärung des Antisemitismus zugunsten seines strukturellen Warenkritik-Marxismus gekippt. Auf der anderen Seite entzieht sich Postone seiner eigenen strukturalistischen Ableitungslogik mehrfach; er spricht lapidar von der Biologisierung des Abstrakten durch die Identifizierung mit „dem Juden“. Obwohl Postone vorgibt, allein mit dem Bezug auf den Fetischcharakter der Ware – also der allgemeinsten Bestimmung aller kapitalistischer Gesellschaften – den Antisemitismus ableiten zu können, muss er doch immer wieder auf Erklärungen wie die Biologisierung, den Rassismus, das Staatsbürgerverständnis zu sprechen kommen, um den nationalsozialistischen Antisemitismus sinnhaft erklären zu können.

Gerade die Untersuchung der Angriffe auf die mit der Zirkulationssphäre verbundenen oder assoziierten Gruppen würde die strukturellen Ähnlichkeiten zum klassischen Antisemitismus offen legen. In der Geschichte gab es immer wieder Beispiele, dass Gruppen in Gesellschaften angegriffen wurden, weil sie eine ähnliche Funktion wie Jüdinnen und Juden einnahmen, beispielsweise viele chinesische EinwandererInnen in Indonesien, die bereits vor Jahrhunderten nach Indonesien migrierten und die Position des Zwischenhandels zwischen kolonialem Großkapital und einheimischen ProduzentInnen und KonsumentInnen ausfüllten. Angriffe auf diese Gruppe – wie jüngst in der Asienkrise – weisen Ähnlichkeiten mit dem europäischen Antisemitismus auf, es macht jedoch schlichtweg keinen Sinn, die angegriffenen ChinesInnen als Opfer eines „strukturellen Antisemitismus“ zu bezeichnen (vgl.: Naetar 2003). Dabei wäre gerade die Personalisierung eines abgespaltenen Aspekts des Kapitalverhältnisses  in „dem Juden“ als entscheidendes Moment zu untersuchen, wodurch aus der Möglichkeit des Antisemitismus tatsächlich Antisemitismus wird. Um von Antisemitismus in sinnhafter Weise sprechen zu können, muss eine Identifizierung und Personalisierung eines gesellschaftlichen Phänomens und Verhältnisses im „Juden“ vorliegen. Der Begriff des „strukturellen“ ignoriert diese entscheidende spezifische Personalisierung, die dem Antisemitismus inhärent ist.

Besonders ärgerlich ist die Tatsache, dass Postone den Antisemiten eine subjektiv ernst gemeinte Revolte gegen den Kapitalismus attestiert. Hier bietet Postones Text dann auch den Anschluss zum antideutschen Jargon, der mittlerweile jede in fetischisierten Bahnen verlaufende Revolte mittels der Gleichsetzungsformel „struktureller Antisemitismus“ des Antisemitismus beschuldigt. Damit wird aber auch im Kern der Prozesscharakter von Fetischisierung und Ent-Fetischisierung geleugnet. Der Rückschritt zur „Elementarform Ware“ erweist sich bei Postone als schlichte Ableitungstheorie, die von jeder sozialen Spannung gereinigt ist. Es gibt vielerlei Konstitutionsbedingungen des Antisemitismus: die Kollaboration mit der Herrschaft, die Affirmation der eigenen Existenz als Arbeitskraft, das Abspalten und moralische Verdammen eines Phänomens der kapitalistischen Totalität. Bereits die Etikettierung des NS-Antisemitismus als „verkürzter Antikapitalismus“ und als „Revolte“, wie es bei Postone geschieht, weist in die falsche Richtung: viel mehr als eine „Revolution“ oder „Revolte“ zu sein kam im Antisemitismus vieler Deutscher ihre Bereitschaft zur konterrevolutionären Komplizenschaft zum Ausdruck (vgl.: Enderwitz 1991).

Das Verschwinden der Ausbeutung

 Postones Theorie hat darüber hinaus entscheidende Lücken: er geht zwar ideologiekritisch auf die Fetischformen des Kapitalismus ein, doch welches Verhältnis fetischisiert wird, erscheint in recht blasser Gestalt. Nach Marx würde es darum gehen, den Kapitalismus dahingehend zu durchschauen, dass die Aneignung fremder Arbeit in den Formen von Freiheit und Gleichheit und mittels „gerechter“ Bezahlung der Ware Arbeitskraft vonstatten geht, was den spezifischen Ausbeutungscharakter des Kapitals ausmacht. Dieses Wesen der kapitalistischen Gesellschaft tritt nicht offen zu Tage, sondern erfordert eine wissenschaftlich-ideologiekritische Anstrengung um den „realen Schein“ der Verhältnisse zu destruieren, der sich in allerlei fetischistischen Vorstellungen über die Gesellschaft manifestiert. In „Nationalsozialismus und Antisemitismus“ werden allerdings ganz unterschiedliche Fetischformen – der Waren- und der Kapitalfetisch – durcheinander geworfen. Bei Marx erscheinen diese Fetischformen auf unterschiedlichen Ebenen der Darstellung, erst die Analyse des Kapitalfetischs im dritten Band des Kapitals  hat alle Formen und Bestimmungen des Kapitalverhältnisses in sich aufgenommen. Hier findet sich auch nicht mehr das eine Subjekt, der eine „Warenhüter“ im Kapitalismus – wie es auf der Ebene der Konkurrenz und der Zirkulationssphäre erscheint, sondern die Subjekte sind Klassenpositionen zugeordnet, auch wenn der Fetischismus nach wie vor als „realer Schein“ dominant ist und die Individuen sich ideologische Vorstellungen von der Gesellschaft machen. Der Kapitalfetisch ist die unmittelbare Vertauschung von Subjekt und Objekt, das Kapital wird als Agens der Produktion vorgestellt. In G-G' , dem zinstragenden Kapital, existiert die am meisten fetischisierte Form des Kapitalverhältnisses, in dem Subjekt und Objekt nicht bloß vertauscht sind, sondern das Subjekt – die Arbeit – ganz verschwunden zu sein scheint.

Gerade die Entstehung des Zinses ist nach Marx  aus dem aus lebendiger Arbeit gewonnenen Mehrwert zu erklären. Der Geld und „Zinsherrschaft“ verdammende Antisemit sieht ähnlich wie die Vulgärökonomie diesen Zusammenhang nicht (Hanloser 2003). Um das falsche Bewusstsein aufzuklären, gilt es nach Marx vor allem, die Vorstellung der Eigenmächtigkeit von sozialen Verhältnissen zu kritisieren; die eigene Potenz erscheint als fremde, als ausbeuterische Macht. Für Postone ist jedoch der Begriff des Mehrwerts und der Ausbeutung – wie er in seinem Werk „Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft“ einräumt – lediglich eine  abgeleitete Kategorie. Eine Interpretation, die durch die VertreterInnen der hiesigen Wertkritik (Krisis, Exit) noch überboten wird, die Mehrwert und Ausbeutung nicht als analytische Begriffe gelten lassen wollen, sondern als „moralisch“ abkanzeln. Bei Marx sind diese Begriffe aber kritisch-analytische, um die spezifische Aneignung fremder Arbeit im Kapitalismus unverschleiert in den Blick zu bekommen. Diese Möglichkeit verbaut sich die an Postone anschließende Wertkritik der Krisis-Gruppe. Er will von der spezifischen Vermittlung des kapitalistischen sozialen Verhältnisses nichts mehr hören, obwohl Marx recht deutlich beispielsweise in „Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses“ die entscheidende Rolle des Mehrwerts festgehalten hat.

Die neue deutsche Wertkritik spricht jedoch lieber vom „Selbstzweckcharakter“ des Kapitals und von Mehrwert und Klasse als „bloß abgeleitete Formen“, so als wären Mehrwert, Profit und Klasse keine entscheidenden Marxschen, – um im Krisis-Jargon zu bleiben – „basalen Kategorien“, sondern überholte ML-Begriffe. Robert Kurz schreibt beispielsweise: „Indem der Marxismus den „Mehrwert“ lediglich als „unbezahlte Arbeit“ begreift, die (so die implizite oder explizite Schlussfolgerung) von Rechts wegen bezahlt werden müsste, bleibt er ebenso wie Proudhon und die GesellianerInnen in der Vorstellung bloßer Verteilungsgerechtigkeit befangen und lässt die basalen Fetischformen des modernen warenproduzierenden Systems ganz unangetastet, die eigentlich die 'Bedingung der Möglichkeit' sind, dass die Reproduktion überhaupt die Form von Geldeinkommen annimmt.“ (Kurz 1995, S.204). Dem Marxschen Begriff des Mehrwerts geht es aber nicht um das Einklagen einer von Rechts wegen bezahlten Arbeit, sondern darum, dass dem Gebrauchswert der spezifischen Ware Arbeitskraft  eigentümlich ist, mehr Wert zu schaffen, als diese zu ihrer eigenen Reproduktion benötigt – und das  bei vollkommen gerechter Bezahlung. Kritisch wäre dagegen eine Untersuchung der verschleierten Formen der Mehrwertauspressung, die Darstellung des Zusammenhangs von G-G' und der Ausbeutung der spezifischen Ware Arbeitskraft.

An diesem Punkt wird auch ersichtlich, dass sich VertreterInnen und die KritikerInnen des „verkürzten Antikapitalismus“ ähneln. Der (antideutschen wie nicht-antideutschen) Wertkritik ist es nicht mehr möglich, das Kapital in seiner Ausgestaltung als Produktionsprozess in den Blick zu bekommen, wo es ein „Instrument ist, fremde Arbeit zu fischen“ (Marx). Ähnlich ergeht es den KritikerInnen von Geldkapital und Finanzinstitutionen als scheinbar eigenständige Mächte; sie alle – von André Gorz über Michael Chossudovsky[2]  bis zu Attac – ignorieren die Tatsache, dass sich produktives und spekulatives Kapital nicht fein säuberlich voneinander trennen lassen. Beide Varianten des Räsonierens über den Kapitalismus sind folglich nicht „verkürzte“, sondern – will man Marx folgen - falsche Kapitalismus-Kritik.

Robert Kurz hat bereits vor Jahren eine „Politische Ökonomie des Antisemitismus“ diagnostiziert (Kurz 1995). Über weite Strecken ist dieser Text eine Illustration der von Postone  gelieferten Erkenntnisse über den modernen Antisemitismus und seiner Verdammung des spekulativen Kapitals. Doch Kurz zäumt das Pferd von hinten auf: Bei ihm ist die politische Ökonomie des Antisemitismus die vorgängige und nicht eine spezifische, aggressive Form vulgärökonomischen Räsonierens. Während  Marx zwei Formen der Ideologie kritisiert – die Vulgärökonomie und die klassische politische Ökonomie, wobei vor allem erstere (von Marx nicht weiter verfolgte) Anschlussstellen zum Antisemitismus offeriert – ist bei Kurz die unmittelbar vorliegende, erste Form der Ideologie die antisemitische. Auch hier ist das wichtige Moment der antisemitischen Personalisierung suspendiert.

Wo Kurz einer ominösen „Subjektivierung und Soziologisierung des Fetischverhältnisses“ den Marsch blasen will, also auf die nicht unbedeutende Fragestellung des Verhältnisses von abstrakter Herrschaft und Subjekten kommen müsste, gerät auf einmal auch der klassische Marxismus in den Verdacht des Antisemitismus. Der Marxismus habe die politische Ökonomie des Antisemitismus „bloß“ von der „Dämonisierung des zinsnehmenden Geldkapitalisten“ auf die Figur des „Produktionskapitalisten“ „erweitert“, schreibt Kurz (1995, S.206). Man könnte dies als wertkritischen Antitotalitarismus und Antikommunismus abtun, aber dahinter steckt tatsächlich eine folgenschwere Verwechslung. Der Kapitalist ist nämlich die Personifizierung des Profits und der Profit ist nach Marx eine Form des Mehrwerts, „die einigermaßen an seinen Ursprung erinnert“, aber dennoch die wahren Zusammenhänge kaschiert. In der Tat ist die ArbeiterInnenbewegung mit ihren Vorstellungen vom „gerechten Lohn“, von der „Selbstverwaltung“ und der „Enteignung der Kapitalisten“, der Mehrwertfixierung aufgesessen, doch sie hat – anders als die antisemitische Bewegung – an den Ursprung von Herrschaft, Ausbeutung und Leiden immerhin, wenn auch falsch, erinnert.

Die wertkritische Fraktion rund um Krisis und ihre Folgeprojekte betreibt in ihrer eiligen Distanz zum „Arbeiterbewegungsmarxismus“ Form- und Fetischismuskritik ohne überhaupt noch vom Inhalt sprechen zu wollen oder zu können. Was aber  nützt eine Fetischismuskritik, die nicht mehr angeben kann, was fetischisiert wird? Die ganze Kritik von Marx am Kapitalfetisch zielt darauf, den ausbeuterischen Kern des Kapitalismus zu entschleiern und die Subjekt-Objekt-Vertauschung zu kritisieren. In der fetischisierten Wahrnehmung erscheinen nach Marx die Nicht-ProduzentInnen, die sich den Mehrwert aneignen, als Produzenten, das Kapital schafft Arbeit, nicht die Arbeit Kapital. An die Marxsche Fetischismuskritik haben Adorno und Horkheimer auch vollkommen korrekt in ihrer Schrift „Elemente des Antisemitismus“ angeknüpft: Adorno und Horkheimer sprachen vom Kapitalisten, vom Fabrikanten als dem „wahren Shylock“. Im Gegensatz zu Handelsherr und Bankier „raffte er nicht bloß am Markt sondern an der Quelle ein: als Funktionär der Klasse sorgte er dafür, daß er bei der Arbeit seiner Leute nicht zu kurz kam.“ (...) „Er nannte sich den Produzenten, aber er wie jeder wußte insgeheim die Wahrheit“, drum musste von seiner ausbeuterischen Tätigkeit abgelenkt werden. „Der Jude“ ist „in der Tat der Sündenbock, nicht bloß für einzelne Manöver und Machinationen, sondern in dem umfassenden Sinn, daß ihm das ökonomische Unrecht der ganzen Klasse aufgebürdet wird“ (Horkheimer/Adorno 1969, S.182/183). Nun mag man über die Formulierung vom „Unrecht“ stolpern, doch hier wird zumindest noch der Zusammenhang von Ausbeutung, Unterdrückung und Antisemitismus als beispiellose Verschiebungsleistung deutlich, mit deren Hilfe man „den Juden“ den „von Herrschaft Verstümmelten“ als Quidproquo des suspendierten Klassenkampfs anbot. Nach Kurz' Definition hätten demnach Adorno/Horkheimer bloß die politische Ökonomie des Antisemitismus „erweitert“ – eine Bestimmung die blanker Unfug wäre. Adorno und Horkheimer wussten noch, dass es „Kapitalisten“ gibt, die Zeit des subjektlosen Marxismus-Luhmannismus a la Stefan Breuer („Ende der Revolutionstheorie“) war noch nicht angebrochen, schließlich ist es offensichtlich, dass ein soziales Verhältnis auch TrägerInnen aus Fleisch und Blut benötigt. Doch wie Marx wussten Adorno und Horkheimer auch, dass nicht „die Kapitalisten“ das Problem darstellen, sondern vielmehr die zur „zweiten Natur“ gewordenen Verhältnisse, die die Menschen – egal ob Kapitalist oder Arbeiterin – nicht selbstbewusst meistern. Vielmehr sind sie in den von den Verhältnissen produzierten „realen Schein“ verstrickt. Auf die irrsinnige Idee, jede Kritik an den Trägern unterschiedlicher Formen des Mehrwerts gleich in den Verdacht des Antisemitismus zu bringen, wären sie zu Recht nicht gekommen.

Politik der Verdächtigung

Die zum Jargon geronnene Kritik am „strukturellen Antisemitismus“ und am „verkürzten Antikapitalismus“ hält das schützende Händchen über die „Charaktermasken“ des Kapitalismus und ihre Institutionen – ohne dass diese danach verlangt hätten. Sie verharmlost Antisemitismus, wenn sie meint, ihn bereits bei jeder fetischisierten Unmutsäußerung am Kapitalismus vorliegen zu sehen. Ihre Vertreter selbst haben die antisemitischen Konnotationen soweit verinnerlicht, dass sie sie zuweilen lediglich auf den Gegenstand projizieren: Verdammung des A-Nationalen, Finanzkapitalkritik, moralisierende Geldkritik – das ist alles im Kern reaktionär und hat mit Kommunismus nichts zu tun, wer allerdings gleich meint, damit liege Antisemitismus vor und „eigentlich“ seien „die Juden“ gemeint, betreibt ein gefährliches Spiel: „Konsequent zu Ende gedacht müsste jene Antisemitismuskritik, die sich darin ergeht, einen verkürzten, ‚fetischisierten’ Kapitalbegriff als Beleg des strukturellen Antisemitismus nachzuweisen, der Vorwurf gemacht werden, die Personalisierung des Unverstandenen zu entskandalisieren, was nichts anderes bedeuten würde, als die den Juden zugeschriebenen Eigenschaften als ‚wahr’ anzuerkennen“ (Schatz 2004, S.203).  Diese Theorie eröffnet einer Politik des Verdachts und der Unterstellungen Tür und Tor, eine stalinistische Politiktradition lebt in ihr wieder auf, die an der Behauptung eines „objektiven Antisemiten“ strickt (Naetar 2003). Wer als solcher erkannt wurde, kann erstmal schauen, wie er den Verdacht wieder los kriegt. So wurde die BürgerInnenbewegung Attac, die ihren Anfang in Frankreich nahm und auch in Deutschland und Österreich als organisierter Teil der Globalisierungskritik auftauchte, recht bald von verschiedener Seite mit dem Antisemitismus-Vorwurf belegt. Zum einen meldeten sich Stimmen zu Wort, die sich „linksradikal“ wähnten und  der antideutschen political-correctness-Politik folgend, nicht nur den offensichtlichen Reformismus der Bewegung, der sich in ihren Re-Regulierungsversuchen mittels Tobin-Tax ausdrückt, kritisierten, sondern auch noch versuchten, die neue Bewegung über den Antisemitismusvorwurf moralisch zu diskreditieren.  Zum anderen argumentieren pikanterweise interessierte IdeologInnen der kapitalistischen Globalisierung wie beispielsweise die Autoren der bundesrepublikanischen rechts-liberalen Zeitschrift „Merkur“ seit einigen Jahren ganz ähnlich.

Attac und die Kritik

Im letzten Jahr hat nun der wissenschaftliche Beirat von Attac Deutschland eine Broschüre herausgebracht, die sich den Vorwürfen stellt und die Diskussionen zum Antisemitismus in Attac öffentlich macht (Attac 2004). Peter Wahl erklärte, dass sich Attac einer „Erziehung nach Auschwitz“ in der Tradition Adornos  verpflichtet sieht. Die einzelnen Beiträge arbeiten sich an den gegen Attac erhobenen Vorwürfen ab und lassen dabei ihre KritikerInnen sehr blass aussehen. Auch die schnell geschrieben Replik von Norbert Trenkle auf die Broschüre (Trenkle 2004) bleibt oberflächlich, wenn er die These vom „strukturellen Antisemitismus“ dadurch abermals erhärten will, indem er redundant von einem nicht näher explizierten „kollektiven Unterbewussten“ spricht, das aus Attac in ihrer Kritik der Finanzmärkte spreche.

In der Attac-Beirats-Broschüre wird plausibel herausgestellt, welchen Täuschungen, Syllogismen und eigenen Projektionen die Kritiker erliegen, bzw. wie die interessierte Demagogiestruktur des Vorwurfs angeordnet ist: „Wer den Begriffsjoker des ‚strukturellen Antisemitismus’ benutzt, geriert sich als Herr eines Verdachts, der keine Beweise braucht“ (W.F. Haug, in: Attac 2004, S.55) Auffallend ist nach der Lektüre der Broschüre, wie sehr sich neoliberale und antideutsche Argumente zuweilen ähneln und kompatibel sind.

Von einiger Wichtigkeit sind aber auch die Bemerkungen, die weit über den Antisemitismusvorwurf hinausgehen, für einen Terrainwechsel in der Antisemitismusdebatte plädieren und das Richtige der Kritik heraus zu destillieren versuchen. Öfters wird Attac nämlich der nostalgische Rückgriff auf den Keynesianismus vorgehalten. KritikerInnen rückwärtsgewandter Kapitalismuskritik stellen unter Bezugnahme auf Marx´ und Engels´ Kommunistischem Manifest die historisch fortschrittliche Rolle des Kapitalismus heraus und loben das Grenzen sprengende des Kapitals. Die kommunistische Position wird demzufolge als fortschrittlich-fortschreitende und nicht romantisch-antiprogressistisch definiert. Ausgerechnet Wolfgang Fritz Haug versucht sich der in Attac grassierenden Ignoranz solchen Positionen gegenüber zu stellen und macht darauf aufmerksam, dass „inmitten der barbarischen Züge (des Kapitalismus) gleichwohl seine ‚civilizing influence’ nicht erschöpft ist“. Gehe der Sinn hierfür verloren, entstünde eine offene Flanke zu allerlei reaktionären Verarbeitungen.  Haug bezieht sich auf den Marx der Grundrisse, wo er von einer gesteigerten Intellektualisierung der Arbeit spricht und aufgrund der Technologisierung ein „Mehr“ an frei verfügbarer Zeit diagnostiziert. Diese Position könnte durchaus damit konfrontiert werden, dass ländliche Bewegungen im Trikont sich gegen die „new enclosures“, die nicht beendete „ursprüngliche Akkumulation“ und die damit einhergehenden Landenteignungen wehren. Marx selbst setzte sich gegen Ende seines Lebens mit den populistisch-sozialrevolutionären Argumenten in Russland auseinander, wonach man nicht durch das Joch des Kapitalismus gehen müsse, um ein kommunistisches Gemeinwesen aufzubauen. (vgl.: Rubel 1972) Eine solche Position als „reaktionär“ zu bezeichnen, käme einem ähnlichen Diskussionsverbot gleich wie es antideutsche Publizisten ausrufen. 

Bei aller Genauigkeit und Inhaltsschärfe der Attac-Broschüre bleiben doch einige Bedenken. Die recht hierarchische Politikform von Attac, vor allem das grassierende SpezialistInnentum, das jeder libertär-kommunistischen Bewegung widerspricht, wird in Form der Auslagerung eines inhaltlichen Problems in wissenschaftliche Beiräte verlängert.  Nicht nur wird so versucht, mit allen Mitteln wissenschaftlicher Autorität den moralisierenden Vorwürfen zu begegnen, es findet auch eine für klassische Politik übliche Problemauslagerung statt, die einzig dazu dient, weiterzumachen wie bislang. Die Broschüre selbst und die darin angestellten Überlegungen scheinen auch keinem internen Diskussionsprozess der Anti- oder Alterglobalistas entsprungen zu sein. Wenn Thomas Sablowski in einem der lesenswertesten Beiträge vollkommen richtig auf den Klassencharakter der kapitalistischen Gesellschaft aufmerksam macht und den Zusammenhang von Mehrwert und Zins herausstellt, dann stellt sich hier die Frage, in wieweit diese Erkenntnis auch zu Attac als Bewegung vorgedrungen ist. Hält Sablowski der antideutschen und wertkritischen Kritik vor, einen Standpunkt außerhalb der Bewegung einzunehmen, so bleibt zu befürchten, dass seine Marxschen Bestimmungen in ähnlicher Weise jenseits des Bewegungsbewusstseins angesiedelt sind. Die kapitalistische Spaltung in geistige und körperliche Arbeit – in Praxisgruppen und TheorieproduzentInnen – bleibt in Form dieser Broschüre aufrecht erhalten.

Alles in allem erscheint  nach dem Lesen der Broschüre Attac als marxistischer als die BürgerInnenbewegung es tatsächlich ist, finden sich doch gerade auf der Ebene der Aktionsformen bei Attac Positionen und Alltagsideologien, die Marx als vor-kritisch und einem „wahren Sozialismus“ verpflichtet abgekanzelt hätte. Das moralisierend-(links)christliche Erbe bei Attac, das im „Tanz um das Goldene Kalb“ und ähnlicher Symbolpolitik zum Ausdruck kommt, hätte auf seine offenen Flanken zum Antisemitismus untersucht werden müssen. Die schon früh kritisierte Begeisterung prominenter SprecherInnen von Attac für autoritär-keynesianische Politik – wie beispielsweise in Malaysia – ist dem wissenschaftlichen Beirat ebenso keine Erwähnung wert (vgl.: Hanloser 2001). Auch mit der Interpretation des Palästina-Konflikts, macht es sich die Broschüre zu leicht. Ein Zitat wie folgendes kann nicht einfach damit abgetan werden, indem man herausstellt, wer es warum sagt, sondern es sollte als solches zu denken geben: Die Altermondialistas, so wird Alain Finkelkraut zitiert, „akzeptieren einen Antisemitismus, von dem sie glauben, dass er die neuen Verdammten dieser Erde verteidigt.“ Eine Auseinandersetzung mit dem „Antiimperialismus der dummen Kerle“ (Isaac Deutscher), mit dem Befreiungsnationalismus, der auf allen großen Events der Antiglobalisierungsbewegung anzutreffen ist und weit hinter die libertären Globalisierungs- und Kapitalismustheorien von Negri/Hardt und Holloway zurückfällt, hätte durchaus stattfinden müssen.    

Besonders ärgerlich ist eine zuweilen aufscheinende  bloße Instrumentalisierung der Auseinandersetzung mit Antisemitismus, um die eigenen Politik zu rechtfertigen.

Wollten linke KritikerInnen von Attac den Reformismus in besonders scharfer Weise kritisieren, indem sie auf den Antisemitismusvorwurf zurückgriffen, so geben einige Autoren der Broschüre lediglich die Staffel weiter: Nicht die eigene reformistische Politik, sondern die der Linksradikalen sei antisemitisch. Für den Rechtsanwalt Heinz Düx ist die gesamte Neue Linke nach 1967, vor allem die militante Linke, „sekundär antisemitisch“ und geschichtsvergessen. Weil Linksradikale der bundesdeutschen Justiz nicht die Abstrafung der Nazis überlassen wollten und den Stellenwert des Justiziellen vernachlässigt hätten, hätten sie sich „durch Abwehrhaltung im Rahmen eines sekundären Antisemitismus in den eliminatorischen Antisemitismus verstrickt“. Des Weiteren wird unausgeführt die Behauptung in den Raum gestellt, dass die antiautoritäre Häuserkampfbewegung ursächlich antisemitischen Motiven gefolgt sei (Düx, in: Attac 2004, 39ff.).  Solche haltlosen Anwürfe hätten wiederum von antideutscher Seite nicht besser formuliert werden können. Wollen diese allerdings ihren bloß kommentierenden Zugang zur Welt als „kritische Kritiker“ (Marx) aufrecht erhalten, so wollen jene vom Attac-Beirat entweder in elaborierter Weise mit Gramsci eine „ultrarealistische“ Reform- und Hegemoniepolitik anstreben (wie Sablowski vorschlägt) oder sich schlichtweg für „geeignete wirtschaftspolitische Maßnahmen auf nationaler wie globaler Ebene“ aussprechen (wie es Altvater formuliert). Wie gut, dass man in der Verfolgung dieses Anliegens den Linksradikalismus zusammen mit dem offensichtlichen Blödsinn des Antideutschtums gleich miterledigen kann.

ghanloser/ at /freenet.de

Attac-Reader Nr.3 des wissenschaftlichen Beirats von Attac Deutschland (2004), Globalisierungskritik und Antisemitismus. Zur Antisemitismusdiskussion in Attac, Frankfurt a. Main

Enderwitz, Ulrich (1991), Antisemitismus und Volksstaat. Zur Pathologie kapitalistischer Krisenbewältigung, Freiburg

Hanloser, Gerhard (2001), Repressive Toleranz. Lässt der IWF seine Gegner künftig mitreden?, in: iz3w251 

Hanloser, Gerhard (2003), Krise und Antisemitismus. Eine Geschichte in drei Stationen von der Gründerzeit über die Weltwirtschaftskrise bis heute, Münster

Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W. (1969), Elemente des Antisemitismus, in: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt

Kurz, Robert (1995), Politische Ökonomie des Antisemitismus, in: Krisis. beiträge zur kritik der warengesellschaft 16/17

Naetar, Franz (2003), Welche politische Bedeutung hat der Antisemitismus heute, in: grundrisse.zeitschrift für linke theorie und debatte, Nr.7

Postone, Moishe (1988), Nationalsozialismus und Antisemitismus. Ein theoretischer Versuch, in: Dan Diner (Hg.), Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz, Frankfurt a. Main

Rubel, Maximilien (1972) Hg., Marx, Engels: Die russische Kommune. Kritik eines Mythos. München

Schatz, Holger (2004), „Die Welt aushalten lernen“. Neoliberale Formierung des Selbst und linke Marktapologetik, in: Gerhard Hanloser (Hg.), „Sie warn die Antideutschesten der deutschen Linken. Zu Geschichte, Kritik und Zukunft antideutscher Politik, Münster

Schmidinger, Thomas (2001), Struktureller Antisemitismus und verkürzter Kapitalismuskritik, in: www.trend.infopartisan.net/trd0101/t120101.html

Trenkle, Norbert (2004), Entsorgung nach Art des Hauses. Zur Verharmlosung antisemitischer Tendenzen durch den wissenschaftlichen Beirat von Attac-Deutschland, in: Streifzüge Nr.32


[1]Zuletzt wurde der Text in gekürzter Form in analyse + kritik 488 abgedruckt, dort findet sich auch eine von mir verfasste Kritik an einigen theoretischen Annahmen Postones.

[2] Der Verlag 2001brachte 2002 das Buch „Global Brutal“ dieses Neoliberalismus-Kritikers heraus, das in dieser Zeit einen reißenden Absatz fand, teilweise interessantes empirisches Material zusammentrug, allerdings in der Forderung mündete, die reale Ökonomie (und den souveränen Staat) gegen die fiktive Kapitalakkumulation zu verteidigen. 

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Key title: Grundrisse (Wien, Online)

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