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Klaus Neundlinger: Wissen als Wert und organisierte Erfahrung

1.

Ich entsinne mich noch gut einer kleinen Episode, die sich anlässlich einer Audimax-Besetzung an der Universität Wien im Oktober 1995 zutrug. Es handelte sich damals um einen eintägigen “Warnstreik”, ausgerufen von der ersten linken ÖH-Exekutive[i] der Geschichte, um einen bundesweiten Aktionstag, der die Proteste von Studierenden und Lehrenden, die zu einem Streik im engeren Sinn führten und vor allem im März 1996 über die Bühne gingen, vorwegnahm. Mitten in einem von Enthusiasmus gekennzeichneten Selbstpolitisierungsprozess stand ich, Studierender der Philosophie und Musikwissenschaft sowie “Zugereister” aus der oberösterreichischen Provinz, unversehens einem Haufen gutbürgerlicher Wiener Jus-StudentInnen gegenüber, die sich mächtig darüber beschwerten, dass wir ihnen den Besuch der Einführungsvorlesung verunmöglichten. Natürlich durfte der Satz: “Ihr kommt(s) ja nur zum Demonstrieren an die Uni” unter den Beschimpfungen nicht fehlen. Eine erfahrene Aktivistin hätte das wahrscheinlich höchstens dazu bewogen, einen der beiden Mittelfinger in aufrechte Stellung zu bringen, ich hingegen, der ich mein Studium von Beginn an mit gleichsam religiösem Eifer betrieben hatte, ließ mich zu einer Reaktion hinreißen, die mein Gegenüber nicht erwartet hatte. Ich begann ihm davon zu erzählen, wie viele Lehrveranstaltungen ich im letzten Jahr besucht und was-weiß-ich-wie-viele “Scheine” ich erworben hatte. In meinem Stolz getroffen, fragte ich ihn, was er denn an “Studienerfolg” vorzuweisen hatte, worauf der Schwätzer kleinlaut eingestand, dass er noch keine einzige Prüfung abgelegt hatte.

Oft hatte ich später Gelegenheit, über die Gründe meiner Reaktion nachzudenken, über die Tatsache, dass ich bestimmte symbolische Formen der Beurteilung und Messung “kognitiver Leistungen” soweit verinnerlicht hatte, dass ich sie nicht nur rational oder pragmatisch, sondern auch affektiv positiv besetzte. Ihr symbolischer Wert garantierte mir in der Situation sogar gegenüber einem Menschen mit konträren Ansichten eine gewisse Anerkennung. Andererseits hinderte mich diese Beflissenheit nicht, an den Protesten teilzunehmen und darüber nachzudenken, was denn das “Recht auf Studium” und im weiteren Sinne das “Recht auf Wissen” für mich bedeutete. Über die Teilnahme am Streik von 1996 wurde mir dann klar, dass Wissen sehr viel mit der Organisation von Erfahrungen zu tun hat, da es galt, den Widerstand gegen die damals beschlossenen Sparmaßnahmen in irgendeiner Form mit eigenen Vorstellungen von den Orten des Lehrens, Lernens und Forschens zusammenzudenken. Prägend war damals für mich der Abgrund zwischen den lähmenden Diskussionen im Audimax und in den gremialen Sitzungen, an denen ich als Studienrichtungsvertreter teilnahm, und der unglaublichen Schönheit, ja dem Reichtum an überraschenden Aktionen, Statements, Begegnungen und Formen, die durch die Ausnahmesituation an verschiedensten Orten und oftmals unerwartet möglich wurden. Unter anderem wurde mir die Organisation einer Marathonvorlesung anvertraut, die ohne Unterbrechung 16 Stunden dauerte, und in deren Rahmen DozentInnen und teilweise auch StudentInnen der unterschiedlichsten Disziplinen (Jus, Geschichte, Ökonomie, Philosophie, Biologie, Psychologie, Germanistik) ziemlich interessante Dinge erzählten.[ii] Das Wissen, das sich in jener Situation plötzlich zeigte, unterschied sich hinsichtlich der Inhalte von dem im normalen Uni-Betrieb vorgetragenen nicht so sehr, und doch führte die Form – die ungewöhnliche Zeit, der Ort und die Zusammensetzung der Lehrenden und Hörenden – zu einer sehr dynamischen Situation des Austausches. Unter anderem nahm A. Noll die Gelegenheit zum Anlass, die kurz zuvor erfolgte Absetzung des Profil-Chefredakteurs Hubertus Czernin als Ausgangsbasis für einige medienrechtliche und demokratietheoretische Überlegungen zu nehmen. Zu Beginn meinte er, er werde die gleiche Frage, die er jetzt stelle, am Ende der Stunde noch einmal stellen und die Studierenden dann so bewerten, wie dies oft an der Uni geschehe: diejenigen, die seiner Meinung seien, würden positiv bewertet, die anderen negativ. Dann verwickelte er die Studierenden mit Fragen und Gegenfragen in ein ziemlich spannendes Gespräch über das Verhältnis von Recht und Politik. Er hatte also über eine Ironisierung der Form “Vorlesung” die Aufmerksamkeit der Studierenden auf die Arten und Weisen gelenkt, wie man sein theoretisch erworbenes Wissen auch kritisch einsetzen kann. R. Pirker erklärte den Studierenden, warum er den Begriff des “Privaten” aus der Sicht der Ökonomie für unbrauchbar hält, F. M. Wimmer nahm zum Begriff der “Kultur” Stellung, andere DozentInnen zeigten Filmausschnitte, um über das Thema “Männlichkeit und Kino” zu sprechen, A. Komlosy analysierte die Sparmaßnahmen der Regierung aus wirtschaftsgeschichtlicher Perspektive, M. Benedikt legte einen kantischen Entwurf für eine Universität vor, eine Dozentin der Biologie sprach schließlich unter Einbeziehung von Dias über die Möglichkeiten, aus häufig vorkommenden Pflanzen Speisen und Getränke zu machen (angesichts der Verluste an finanziellen Zuwendungen, die die Studierenden künftig zu gewärtigen hätten).[iii]

2.

Als sich die Kreise dann wieder einschränkten und die Menschen in ihre Institute zurückkehrten, bedeutete das in meiner persönlichen Erfahrung dennoch nicht das Ende eines gewissen Elans, waren doch bestimmte Dinge möglich geworden, die es vorher nicht gegeben hatte. Es bildeten sich Lesekreise, Tutorien, Publikationen wurden gemacht, die Positionen zusammenfassten und ausarbeiteten usw. Es hatten Prozesse der selbstorganisierten Aneignung und vor allem der Produktion von Wissen begonnen, die auch durch die vordergründige Niederlage der Streikbewegung nicht gebremst werden konnten. Diese Art von Prozessen zeichnet sich meines Erachtens dadurch aus, dass sie formgebend ist, jedoch nicht so sehr hinsichtlich dessen, was sie sich aneignet oder was sie produziert, sondern hinsichtlich der Art und Weise, wie sie dies tut. Es geht also mehr um die subjektive Erfahrung, um den Blick auf das Wie, die Art des Aneignens und Produzierens, als um das Erfahrbare, das Was, die Materie, den Gegenstand.

Die institutionellen Verschiebungen, die an den Unis seither stattgefunden haben, zeigen, dass sich neue Formen der Kontrolle, des Messens und der Organisation etabliert haben.[iv] Die Kürzung der Sozialleistungen für Studierende war natürlich nur der Auftakt zur Einführung der Studiengebühren, die in Ländern wie Deutschland und Österreich als wirksames Instrument zur Disziplinierung der Studierenden und Lehrenden eingesetzt werden. Dabei geht es weniger um deren Höhe und schon gar nicht um die finanziellen Effekte, ist es doch lächerlich, zu glauben, die Studienbedingungen in vielen Fächern würden sich verbessern oder wesentlich verändern, weil man dafür zahlt. Vielmehr hat sich gezeigt, dass sich über die de-facto-Rücknahme des Prinzips des “freien Hochschulzugangs” neue Mentalitäten schaffen ließen. Es ging vor allem darum, eine Situation der Konkurrenz, des Kampfes um Studienplätze, finanzielle Mittel, Infrastrukturen zu schaffen. Studiengebühren sind ein Element von vielen im Rahmen der “Ökonomisierung” des Wissens.[v] Das Bild, das dadurch entsteht, besagt, dass “Wissen” tatsächlich etwas sei, das von den Subjekten getrennt existiert, es wird zu einer Ressource, über die nicht jeder oder jede frei verfügen kann und zu der man sich den Zugang erkaufen muss.

“Wissen” wird somit nicht nur an den Unis, zu denen ohnehin nur eine relativ kleine Gruppe von Menschen Zugang hat, zu einem wichtigen Faktor in der Produktion. Es geht darum, Wissen in Ware und Kenntnisse in Geld zu verwandeln, das scheint der umfassende Imperativ zu sein. Deshalb “muss” man für das Studium bezahlen, denn im Sinne der klassischen Ökonomie und der utilitaristischen Philosophie definieren sich die Subjekte dadurch, dass sie auf ihren eigenen, privaten Vorteil schauen. Potenziell schaden sie dadurch der “Allgemeinheit” und setzen sich zu dieser in ein Verhältnis der “Schuld”. Von Medizinstudierenden muss man in diesem Sinne grundsätzlich annehmen, dass sie Primarärzte ohne Kassenvertrag werden wollen, sowie die Jus-StudentInnen Anwälte von großen Firmen sein möchten und keinesfalls von Flüchtlingen, die gerade einen Asylantrag gestellt haben.[vi] Dem Subjekt wird somit eine Form von natürlichem Egoismus unterstellt und die Unfähigkeit, sich Wissen auf solidarische Weise anzueignen und es ohne Vermittlung durch die Geldform weiterzugeben und zu tauschen. Allgemeiner gefasst ist davon auszugehen, dass die Geldform “Wissensströme”, also Praktiken des Tausches und der Organisation von Kenntnissen, zu codieren erlaubt. Das somit entstehende symbolische (weil kodifizierte) Kapital fließt in unterschiedliche gesellschaftliche Zusammenhänge, über die sich die “Zuteilung” von Werturteilen, affirmativen und ablehnenden Sanktionen organisiert. Demnach haben Regierungen und Verwaltungsstrukturen durchaus die Möglichkeit, “zivilgesellschaftliches Engagement” gutzuheißen, “kritische Kunst” und “Kultur” zu fördern, andererseits aber auch die Verbindung von Wissensproduktion und politischem Engagement zu disziplinieren, wie etwa im Fall der Subventionsstreichungen für Public Netbase oder das Depot[vii] und jener beiden Anwälte, die in mehreren Fällen dem Staat rechtswidriges Vorgehen gegenüber Flüchtlingen nachgewiesen haben. Organisierte Erfahrung, wie sie sich an Orten wie dem Depot, im Jugendzentrum des Vereins Echo[viii] oder etwa im “Netzwerk Asylanwalt” der Initiative Minderheiten, der Initiative “Sprachenrechte” usw. kristallisiert, soll demnach verunmöglicht werden, ganz zu schweigen von autonomen Initiativen und Projekten wie dem EKH[ix], die sich bewusst den Institutionen, dem Prinzip der gesellschaftlichen Anerkennung entziehen und deshalb in viel stärkerem Maße der direkten Repression ausgesetzt sind.

3.

Die Werte, die durch “Wissen” geschaffen werden, vergegenständlichen sich nicht ausschließlich in materiellen oder nützlichen Objekten, in Instrumenten, Konsumgütern. Immer wichtiger wird es deshalb, den Bereich des “Immateriellen” bestimmten Formen der Produktion, des Austausches, der Wertschöpfung zu unterwerfen. Es handelt sich um die Normierung der Kommunikationsformen, also des sprachlichen Handelns, der Produktion von Bildern, Zeichen, Diskursen usw. Diese Normen betreffen alle möglichen Arten des Wissens, also nicht nur die formalisierten Erkenntnisse der Logik, der Naturwissenschaften, der Technik, sondern auch und in zunehmendem Maße Wissensformen, die in Abhebung von den formalen Sprachen der Technowissenschaft als “weiche” Faktoren bezeichnet werden, wie eben die Arten des Kommunizierens, die die Schaffung von Diskursen über Verhaltensweisen, Strukturen und Dynamiken, die nicht auf logische oder mathematische Formeln reduzierbar sind, zum Ziel haben. Wie schwer sich die Wirtschaftswissenschaften auf theoretischer Ebene mit den letzteren Formen tun, zeigt sich schon am Begriff, den sie für diese Wissensarten und Fertigkeiten verwenden: Intangibles, ungreifbare Fähigkeiten, unsichtbare Verhaltensweisen und Kommunikationsformen.[x] Die auf ihnen basierende Wertschöpfung erfolgt nicht durch die Umwandlung irgendeines Materials unter Aufwand von Energie, sondern ist letztlich immer auf Bewusstseinsleistungen zurückzuführen, die in Form von Zeichen zum Ausdruck gebracht werden.[xi] Die Sprache selbst nimmt somit nicht bloß eine instrumentelle Funktion an (als “Mittel” zum Ausdruck von Bedürfnissen, Gefühlen, Gedanken …), sie wird selbst zum Ort des Handelns und der Produktion.[xii] Über sprachliche Akte werden Situationen verändert, Strukturen, Denkweisen und Affekte werden beeinflusst und geformt.   

Innerhalb der Produktion differenzieren sich somit verschiene Arten des Wissens aus, von den formalisierten Sprachen der Logik und Mathematik bis zu informellen Sprech- und kommunikativen Handlungsweisen. Insofern all diese Handlungsweisen immer stärker als unterschiedliche Arten eines in die Wertschöpfung eingespannten Wissens anerkannt werden, tritt dessen Wertcharakter immer deutlicher hervor.

Die “immaterielle” Arbeit unterscheidet sich zumindest in zweierlei Hinsicht von der materiellen Produktion. Einerseits hinsichtlich des Produkts, das nicht den Gesetzen der Energietransformation unterworfen ist. Sprachliche oder in irgendeiner Form zeichenhafte Äußerungen sind “ideale” Gegenstände.[xiii] Sie konstituieren sich zwar im und durch das Bewusstsein aufgrund seiner leiblich-lebendigen Passivität,[xiv] bleiben aber nicht an einen individuellen Ort oder Zeitpunkt gebunden; das Bewusstsein schafft mit diesen Gegenständen sozusagen eine ideale, kategoriale Sphäre; sie nutzen sich im Gebrauch nicht ab, sondern sind in ihrer idealen Einheit multiplizierbar (man könnte z. B. prinzipiell beliebig viele Exemplare eines und desselben Buches herstellen); sie können gleichzeitig an verschiedenen Orten oder zu verschiedenen Zeitpunkten verwendet werden; sie verbinden somit die gemeinschaftliche Gegenwart mit der Vergangenheit und der Zukunft; sie sind in ihrer idealen, signifikanten “Einheit” oft nicht eindeutig, sondern bedürfen der Interpretation; sie sind auf gemeinschaftliches Handeln angewiesen, was bedeutet, dass sie Techniken des Aushandelns, der Konfliktaustragung, der Zusammenarbeit und der Kritik hervorbringen; sie sind deshalb immer schon Gemeingut.[xv] Andererseits unterscheidet sich die Produktion selbst von der klassischen Arbeit im Rahmen der industrialisierten Gesellschaften, insofern sie, das Bewusstsein in einen Ort der Produktion verwandelnd, den unmittelbaren Zugriff auf die subjektiven Handlungen sinnlicher, sprachlicher, kognitiver und affektiver Natur voraussetzt. In dieser Hinsicht besteht zwischen industrieller und postindustrieller Arbeit ein Verhältnis der Analogie, insofern letztere auf die geistigen und psychischen Kräfte ähnlich katastrophale Auswirkungen hat wie die Ausbeutung der Natur durch die erstere. Erschöpfung, Angst und Depression sind mittlerweile häufig anzutreffende Krankheiten, die durch den Zwang zur Kommunikation in der Arbeitswelt (und darüber hinaus in der Unterhaltungsindustrie) verursacht werden.

Wir kommen auf die eingangs geäußerte These von der Ökonomisierung des Wissens zurück. Während über das “normale” Arbeitsverhältnis innerhalb der industriellen Lohnarbeit das Prinzip der Trennung zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit die sozialen Beziehungen regelte, da die Schaffung des Mehrwertes von der “kognitiven” Durchdringung der Produktionsbereiche auf der Basis der Erkenntnisse der exakten Wissenschaften und der Technik gewährleistet wurde, die Ausführung von einzelnen Tätigkeiten also von der Planung getrennt war, treten im Rahmen der postfordistischen Arbeitsorganisation die Vermischung und die Entgrenzung über den Zugriff auf die Vermögen des menschlichen Gemüts viel stärker hervor. Die kognitive Mehrarbeit ist deshalb vielfältig hinsichtlich ihrer Erscheinungsformen. Sie ist auch affektive Mehrarbeit, Arbeit der Einbildungskraft (Fantasie), rhetorische Arbeit und muss als reflexive Tätigkeit beschrieben werden, in deren Rahmen die Subjekte ihre kommunikativen “Strategien” überdenken, die Art und Weise, wie sie sich Wissen aneignen, wie sie es organisieren und austauschen, wie sie Erlebnisse verarbeiten und Beziehungen gestalten. Ausführung und Planung verschränken sich also ineinander, der kognitive (affektive, kreative, semiotische) Mehrwert[xvi]entsteht aus diesem ständigen Zuarbeiten, das einerseits zufällig, unbewusst oder zumindest routinemäßig abläuft, in Form von sozialen Gegebenheiten, Gewohnheiten, Handlungsweisen, Praktiken, impliziten Formen des Wissens, andererseits aber auch stark formalisiert in diversen Diskursen der Psychologie (Gruppendynamik), der Beratung (von individueller Lebensberatung bis zur Organisationsberatung), der verschiedenen Arten des Verhaltenstrainings (soziale Berufe, Schule, …) usw. auftreten kann.

4.

Wissen ist also nicht nur jene unmittelbar die Produktion ermöglichende technologisch-wissenschaftlich-rationale Erkenntnis, die zwar eine bestimmte Form der Verwertung vorgibt, aber dennoch nicht ohne das “ungreifbare” kommunikative Wissen auskommt. Oft wird dieser Zusammenhang dadurch verstellt, dass die leiblich-lebendige Subjektivität in den Theorien der Kommunikation regelrecht ausgelöscht wird. An ihre Stelle setzt sich ein vereinheitlichter Begriff der Information,[xvii] des messbaren, technisch übertragbaren Inputs und Outputs. Es sind also zwei Tendenzen zu beobachten, was das Wissen betrifft: einerseits eine Tendenz in Richtung der technischen Kontrolle, der Reduktion und Vereinheitlichung des Wissens in Bezug auf die Form, die In-formation, als Formierung der Kenntnisse gemäß den Gegebenheiten der entsprechenden Technologien der Verarbeitung und Übertragung von Signalen (deren Basis der binäre Code darstellt); andererseits eine kapillare Durchdringung möglichst aller gesellschaftlichen Bereiche aufgrund der Suche nach immer neuen Quellen der Wertschöpfung, was dazu führt, dass das “Wissen” sich von der wissenschaftlich-technischen Rationalität löst und sich in immer stärkerem Maße in Richtung eines “affektiven”, “kulturellen”, “sozialen”, “strategischen” Wissens öffnet. Die “Intensität der Erfahrung” wird also auf der Ebene der Verhaltensweisen, der spezifischen Codes (Gruppe, Zielgruppe, Gemeinschaft als community, soziokulturelle Identitätsformen und Praktiken, Stile) wieder eingeholt.

Auf die eingangs erzählte Episode zurückkommend möchte ich festhalten, dass sich in meinem Bewusstsein durch das “formale” Anspruchsgefüge der Institution hindurch eine zunächst undeutlich abhebende Leidenschaft als individueller und doch geteilter Erfahrungszusammenhang konstituiert hat. Das Interesse an den mit dem Studium verbundenen Dingen sah sich durch äußere Maßnahmen verursacht einem gesellschaftlichen Rechtfertigungsdruck ausgesetzt. Deshalb verband sich der Protest offensichtlich von Beginn an mit dem ungebrochenen Festhalten am “studierenden” Interesse. Die beiden Handlungen, Studieren und Protestieren, getrennt zu sehen, wäre mir vorgekommen wie eine Art von Schizophrenie. Meinem damaligen Gegenüber könnte ich heute antworten: Ja, ich habe weiterhin allen formalen Ansprüchen Genüge getan, mir in meinem Fach alle nötigen Grundkenntnisse angeeignet und mich auf eine bestimmte Methode spezialisiert; ich habe Prüfungen abgelegt, eine Diplomarbeit geschrieben und später auch eine Dissertation; und dennoch vermag ich diese Schritte, diese Transformationen, die mir gesellschaftliche Anerkennung und “symbolisches Kapital” zugesichert haben, nicht von meiner Erfahrung als Protestierender zu trennen. Ich vermag mein Studium nicht ausschließlich als erfolgsorientierte “Qualifizierung” zu lesen, als Inanspruchnahme von Kenntnissen, die angeblich getrennt von mir entstanden seien und zu denen ich nur aufgrund der angeführten Prozesse der Normierung Zugang hätte.[xviii] Ich kann dieses Wissen nicht als meinen “Besitz” verstehen, weil ich es nicht von den Erfahrungen des Lernens, des Mit-teilens, der Kritik und der Auseinandersetzung mit anderen Menschen trennen kann. Diesen anderen Menschen gegenüber stehe ich in der Schuld, und dieser Begriff von Schuld unterscheidet sich wesentlich von dem im Rahmen des neoliberalen Abbaus sozialstaatlicher Strukturen entwickelten Begriff der “Verschuldung”. Er verpflichtet mich zum Tauschen, zum Weitergeben, und deshalb diszipliniert er mich nicht im Namen einer Ideologie des umfassenden Konkurrenzkampfes.

Wenn diese Erfahrung, vordergründig vereinzelt und “vernachlässigbar”, überhaupt eine Form annimmt, dann kann diese nur aus den oben angesprochenen Prozessen der Selbstverwertung hervorgehen, also Prozessen, in die die kritische Reflexion über den Sinn von Zusammenhängen verschiedenster Ordnung (technisch, wissenschaftlich, sozial, symbolisch) einfließt. Deshalb geht es darum, den reduktionistischen Modellen der “Auswahl” und der “Entscheidung”,[xix] die sich aufgrund des Paradigmas der Information in den Bio- und Neurowissenschaften (der “genetische Code”)[xx] und aufgrund der Möglichkeiten der Kommunikationstechnologien immer mehr durchsetzen, andere Modelle des kommunikativen Handelns entgegenzusetzen. Sprachliches Handeln nur als “Auswählen” oder als mechanisches Kombinieren bereits vorhandener Elemente zu verstehen, birgt die Gefahr in sich, den subjektiven Aufwand, den jede einzelne dieser Handlungen in sich schließt, durchzustreichen. Diesen Aufwand, der in der geringsten Augenbewegung die Konstitution der ganzen Welt vorwegnimmt, muss ein solcher Begriff von abstrakter kommunikativer Arbeit[xxi] verdrängen. Es gilt also, im Versuch, Erfahrung zu organisieren, die lebendige Arbeit als solche wieder zu entdecken.

5.

Die “Möglichkeiten”, die sich durch die Einführung der Kommunikationstechnologien eröffnet haben, weisen den Begriff der Produktivität im Lichte einer Befragung des Sinns menschlichen Handelns als zweideutig aus. Die “Steigerung” der Produktivität hat zwar den Vorteil, dass eine Menge an Arbeiten um ein Vielfaches schneller, unkomplizierter und effizienter ausgeführt werden kann. Dennoch gilt es in Bezug auf technische Entwicklungen immer zu fragen, wer sie wofür einsetzt. Die virtuelle Welt des Internet zum Beispiel ist ebenso wie die reale Welt von Ausschlussmechanismen und Ungerechtigkeiten in der Verteilung und in Bezug auf den Zugang zum Wissen gekennzeichnet. Darüber hinaus ist die Steigerung der Produktivität in den letzten Jahrzehnten zum Großteil in finanzielle Gewinne privater Firmen verwandelt worden, die Löhne sind nicht gestiegen, die Arbeitslosigkeit hingegen in beträchtlichem Ausmaß. Die Aneignung und Transformation von Kenntnissen, die Praktiken der Kritik und der Produktion von Modellen gesellschaftlicher Alternative müssen sich also gegen einen immer größer werdenden Druck behaupten, der “Wissen” in kommunikativen Zwang zu verwandeln sucht.

Schließlich gilt es, den Status der Reflexivität insofern zu klären, als in ihm eine radikale Umkehr des Produktionsbegriffs angelegt ist. Alternative Entwürfe hinsichtlich der Verteilung von Arbeitszeit, der Organisation sozialer Zusammenhänge, der Entwicklung ökologisch durchdachter, dezentraler Energieerzeugung und -nutzung usw. stehen also dem Zwang, die kognitive Mehrarbeit in profitorientierte Unternehmungen einfließen zu lassen, gegenüber. Die massiven Proteste gegen die neoliberale Verfasstheit der Weltwirtschaft dürfen deshalb nicht getrennt von den Kundgebungen und Aktivitäten gegen die kriegerischen Interventionen (ob mit oder ohne UNO-Mandat) der letzten Jahre gesehen werden, die nur die andere Seite eines Produktionssystems darstellen, das die Heraufkunft gesellschaftlicher Alternativen über die Inszenierung militärischer Konflikte zwischen mit sich identischen “Kulturen” immer weiter und auf immer gewaltvollere Weise hinausschieben muss.

e-mail: kneundlinger/ at /yahoo.com


[i] Die Österreichische HochschülerInnenschaft (ÖH) ist die gesetzliche Interessensvertretung aller Studierenden. (Anm.d.Red.)

[ii] Ich stand damals fast ohne Unterbrechung von Mitternacht bis vier Uhr nachmittags im Hörsaal und habe jeden Vortragenden und jede Vortragende begrüßt und in deren Vorträge eingeleitet.

[iii] Wir stellten damals übrigens auch symbolisch Zeugnisse aus, auf denen die Namen aller DozentInnen gedruckt waren, die dann bereitwillig am Ende der Stunde ihre Unterschrift unter den Namen setzten.

[iv] Vgl. H. Neundlinger: “Von der Unselbständigkeit in die Schulden. Die Umwandlung der Universitäten von Staatsbetrieben in Unternehmen.” http://igkultur.at/igkultur/kulturrisse/1004432067/1004804054

[v] Vgl. U. Bröckling / S. Krasmann / T. Lemke (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000.

[vi] Die Tatsache, dass in Österreich gegen die Flüchtlingsanwälte Nadja Lorenz und Georg Bürstmayr monatelang vom Innenministerium ermittelt wurde, verweist darauf, dass “Wissen” von Seiten der Macht nicht nur auf kontingente Weise kontrolliert und normiert werden muss, sondern Abweichungen von der Norm auch sanktioniert werden.

[vii] Public Netbase und das Depot sind wichtige Institutionen der alternativen Öffentlichkeit in Wien und durch die autoritäre Subventionspolitik ständig von der Schließung bedroht (Anm.d.Red.)

[viii] Der Verein Echo und die gleichnamige Zeitschrift sind ebenfalls von der Einstellung bedrohte Kulturprojekte migrantischer Organisation der 2. Generation in Wien. (Anm.d.Red.)

[ix] Das Ernst-Kirchweger-Haus (EKH) in Wien ist das einzige besetzte soziale Zentrum Österreichs und führt nach dem Verkauf des Hauses durch die Kommunistische Partei Österreichs einen Kampf um seinen Weiterbestand. (Anm.d.Red.)

[x] Die Tendenz, diese Wissensformen unter dem Begriff der “Kultur” zu subsumieren, ist in den letzten Jahren immer stärker geworden. Zu einer Kritik dieses Begriffs vgl. S. Nowotny / M. Staudigl (Hg).: Grenzen des Kulturkonzepts. Meta-Genealogien. Wien: Turia + Kant 2003.

[xi] Vgl. E. Rullani: Economia della conoscenza. Creatività e valore nel capitalismo delle reti. Roma: Carocci 2004.

[xii] Eine systematische Analyse der Sprache als Produktion hat in den 60er und 70er Jahren F. Rossi-Landi ausgearbeitet. Vgl. ders.: Sprache als Arbeit und als Markt. München: Hanser 1972. Ebenfalls grundlegend sind in diesem Zusammenhang die Arbeiten von J. J. Goux: Freud, Marx. Ökonomie und Symbolik. Frankfurt a.M.: Ullstein 1975.

[xiii] Vgl. E.Husserl: Erfahrung und Urteil. Hamburg: Meiner 1985, § 65, bzw. ders.: Logische Untersuchungen. Husserliana Band XIX/2. Den Haag. Nijhoff 1984. (VI. Untersuchung: Elemente einer phänomenologischen Aufklärung der Erkenntnis, § 4).

[xiv] Vgl. E. Husserl: Analysen zur passiven Synthesis. Husserliana Bd. XI. Den Haag:Nijhoff 1966. 

[xv] Vgl. E. Rullani: Economia della conoscenza, S. 16f.

[xvi] Vgl. L.Cillario: ”Per una teoria economica del senso”. In: L. Cillario, R. Finelli (a cura di): Capitalismo e conoscenza. L’astrazione del lavoro nell’era telematica. Roma: Manifestolibri 1998, S. 76.

[xvii] Vgl. L.Cillario: ”Per una teoria economica del senso”, S. 66f.

[xviii] Zur Rekonstruktion dieser scheinbaren Trennung vgl. E. Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Husserliana Band VI. Den Haag: Nijhoff 1963/76.

[xix] Es ist natürlich kein Zufall, dass die verschiedensten Aktivitäten im Fernsehen, an denen das Publikum teilnimmt, vor allem mit diesen beiden Formen zu tun haben. In den berüchtigten Quizsendungen (die eher Pyramidenspielen gleichen) geht es weniger darum (wie vielleicht vor 20 Jahren noch), über eine gute Allgemeinbildung zu verfügen, sondern wirksame Verfahren der Selektion zu entwickeln. In noch viel höherem Ausmaß wird das Entscheiden und Auswählen bei den Formaten à la “Big Brother” und den Talentshows wie “Deutschland sucht den Superstar” usw. zelebriert, die um den Aspekt der Belastung (“Expedition Österreich”) erweitert werden. Die durch diese Formate erzeugten Subjekte sind physischen und psychischen Proben ausgesetzt, die sie in einen Zustand ständiger Bereitschaft versetzen und offensichtlich auch ein neues Paradigma für die Institution der Prüfung bereitstellen. Sie sind gezwungen, ständig zu begründen, warum und auf welche Weise sie etwas tun.

[xx] Vgl. A. Gorz: L’immatériel. Valeur, connaissance et capital. Paris: Ed. Galilée 2003.

[xxi] L. Cillario definiert in seinem bemerkenswerten Text über die ökonomische Theorie des Sinns die abstrakte Spracharbeit folgendermaßen: “Während jedoch die abstrakte Arbeit, aufgrund derer die Ware einen Wert annimmt, ununterschiedene Arbeit ist, reiner Aufwand von körperlicher und geistiger Energie, deren Größe sich in der zu ihrer Herstellung gesellschaftlich notwendigen Arbeit vergegenständlicht, ist die abstrakte Arbeit, die Sinn herstellt, ununterschieden selektive Arbeit, rein auswählend-entscheidendes Handeln, dessen Größe sich in der Quantität der zur Produktion des Zeichens gesellschaftlich notwendigen Arbeit vergegenständlicht.

Wir definieren also den Sinn als die in die Produkte menschlicher Arbeit (organisatorische Verfahren, Zeichen oder anderes) eingegangene Menge an Auswahl und Entscheidungen, die vom abstrakten selektiven Handeln, das zu ihrer Herstellung notwendig war, aufgewendet wurde; so wie der Wert nichts anderes darstellt als die Menge an abstrakter gesellschaftlicher Arbeitszeit, die zur Herstellung der Waren benötigt wurde. L.Cillario: ”Per una teoria economica del senso”, S. 60f. (eigene Übersetzung).

 

 

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