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Bernhard Dorfer: Über revolutionäre Subjektivitäten

Eine der Fragen, die uns immer wieder beschäftigt hat, ist die nach dem Subjekt der Revolution. Das heurige Sommerseminar ist ein Kulminationspunkt. Es ist die sich herausbildende Antiglobalisierungs-/Weltsozialforumsbewegung, auf die wir uns beziehen und die Proklamation der Multitude zum (neuen) revolutionären Subjekt durch Hardt und Negri, auf die wir dabei Bezug nehmen. Diese Vielheit ist jedoch bisher weitgehend in der abstrakten Entgegensetzung zum traditionellen Begriff der Arbeiterklasse verblieben. Das macht die Offenheit dieses neuen Revolutionssubjekts aus, aber auch dessen Vagheit, die von Manchem/R als besonders revolutionäre Qualität gepriesen wird. Das Unbehagen an dieser Unbestimmtheit artikuliert sich in der Forderung nach und den Versuchen von großteils empirischen Studien über immaterielle Arbeit, multiple soziale Identitätsbildungen, den Durchsetzungsgrad postfordistischer Arbeitsverhältnisse etc. Außer ein paar ambitionierten Versuchen, immaterielle Arbeit irgendwo im Computer-/Softwarebereich, der mikroelektronischen Kommunikationsrevolution zu verorten, ist bei diesen Bemühungen allerdings noch nicht besonders viel herausgekommen.

Wäre es nicht verlockend, den Begriff Multitude in seiner abstrakten Inhaltsleere zu belassen? Das hätte so manchen Vorteil, und klingt jedenfalls nicht so hölzern und konstruiert wie Nicht(arbeiter)klasse, obwohl sein begrifflicher Inhalt nicht darüber hinausgeht. Außerdem eröffnet er in seiner Unbestimmtheit einen weiten Assoziationsraum, in dem sich viele beheimatet fühlen und vom Gleichen reden können, ohne dasselbe zu meinen. In dieser Hinsicht bildet der Begriff das perfekte Spiegelbild der Antiglobalisierungsbewegung, und das ist wohl auch das Geheimnis seiner weltweiten Karriere.

Die Multitude in der Hardt/Negrischen Fassung hat auch ein auf die Zukunft verweisendes Element, das sie mit Empire, aber auch Postfordismus und in gewisser Weise sogar dem von Marx entfalteten Kapitalbegriff gemeinsam hat. Die Begrifflichkeit geht über sinnliches Wahrnehmen hinaus, die Methodik über empiristisches Konstatieren und unterscheidet sich dadurch wesentlich beispielsweise vom von Lenin entwickelten Imperialismusverständnis. Ist so etwas prinzipiell überhaupt möglich? Und wenn ja, wie kann es bewerkstelligt werden?

Es gibt eine respektable und wissenschaftlich anerkannte Methode des Blicks in die Zukunft, nämlich die empiristische Extrapolation: Eine oder mehrere aktuell konstatierbare Dynamiken werden einfach in die Zukunft hinein verlängert. Daraus werden dann Zukunftsszenarien abgeleitet. Dieses scheinbar seriöse Vorgehen – man spricht ja nur über objektive Entwicklungen und die Vorsichtigeren ohnehin nur über Wahrscheinlichkeiten – verbirgt, dass bei allen einschränkenden, meist kleingedruckten Vorbehalten, die eigentliche Geschäftsgrundlage dieses nicht unprofitablen Geschäftszweigs die Prophezeiung der Zukunft ist und kein „möglich wärs“, und wieviel Willkür im Konzept beinhaltet ist. Vorausgesetzt wird nämlich unter anderem, dass die ausgewählten Determinanten tatsächlich vollständig und wirksam sind, dass keine unvorhergesehenen Faktoren wirksam werden (was allerdings recht häufig der Fall ist, und worauf man sich dann auch so schön ausreden kann), dass keine Wechselwirkungen auftreten, die sich gegenseitig konterkarieren, dass die in der Vergangenheit konstatierte Entwicklungsdynamik genau in derselben Stärke anhält, dass das Bekanntwerden der Prognose keinerlei Rückwirkungen entfaltet usw. Überlegt eineR sich diese Unwägbarkeiten genau, bleibt schleierhaft, woraus solch säkularisierte Wahrsagerei ihren enormen Dünkel gegen andere Formen der Zukunftserschließung bezieht.

Dies scheint auch die Methode von Hirsch zu sein, mit der er den Übergang zum Postfordismus postuliert und damit die Diskurslinien vorzeichnet. Dem dominanten positivistischen Wissenschaftsparadigma entsprechend wird sein Vorgehen jedoch kaum prinzipiell in Frage gestellt. Mainstreamtauglich sind auch seine eher negativ getönten Zukunftserwartungen und der von ihm „vernünftigerweise“ vorausgesetzte, bloß formgewandelte Fortbestand des Kapitalismus. Die „linken Beamten der traurigen Leidenschaften“(Katja Diefenbach) werden nicht grundlos aufgescheucht ...

Ganz anders beim „Empire“: Was gab es da nicht für ein Gegackere über naiven operaistischen Optimismus und christlich geprägten Messianismus, nur weil Negri und Hardt es wagten, die Multitude (und das Empire?) zugleich auch als Vorschein des Kommunismus unter „kapitalistischer Hülle“ zu bestimmen, überhaupt den Kommunismus wieder auf die Tagesordnung zu setzen und vom „Glück Kommunist zu sein“ zu sprechen. Nota bene: Ich bestreite damit nicht die Gültigkeit vieler der in diesem Kontext formulierten Einwände, sehr wohl und ganz entschieden aber die Legitimation vieler Kritiker: Jeder einzelne Gefühlskommunist, dem unterm Reden und Schreiben die Pferde und Begrifflichkeiten durchgehen, trägt mehr zu einer positiven Zukunft bei, als noch so viele Professoren, die zum 727., 728. und 729. Mal nachweisen, dass die Aussichten unterm Kapitalismus düster sind, seine Überwindung (wenn überhaupt) allenfalls in weiter, weiter Ferne möglich und derzeit allerhöchstens realistisch wäre, das Allerschlimmste etwas abzumildern, wenn man sich nur ihres Spezialmittelchens bedienen würde. Darüber lassen sich dann wunderschöne kontroverse Debatten entfalten und internationale Symposien veranstalten.

Marx dagegen entwickelt den Kapitalbegriff – darin methodisch Hegel nachfolgend – logisch-kategorial. Es gelingt ihm dadurch, wesentliche Momente, grundlegende Tendenzen des Kapitals nicht nur für Vergangenheit und Gegenwart zum Zeitpunkt der Erarbeitung des „Kapital“ offenzulegen, sondern darüber hinaus auch für jede denkmögliche Zukunft unter kapitalistischen Vorzeichen.[i] Das hat im Unterschied zur empiristischen Extrapolation und zu Prophetie und Utopistik nichts mit Wahrsagerei zu tun, sondern gelingt dadurch, dass Marx mit Hegel das gedanklich rekonstruierte Konkrete nicht linear aus der unmittelbaren Anschauung abstrahierend ableitet, sondern als Zusammenfassung mannigfacher, abstrakt-kategorialer Bestimmungen fasst.

Genau dieses Moment einer nicht-vagen Offenheit der Marxschen Theorie der Wertproduktion für weitere theoretische Bestimmungen geht dann im Mainstream der marxistischen Tradition und ihrem universalistischen und totalisierenden Begriff von Kapitalismus weitgehend unter. Aus der dem Kapital eigenen Tendenz zur Expansion folgt nämlich keineswegs zwangsläufig dessen totale und universelle Durchsetzung zum jeweils gegebenen Zeitpunkt.[ii] Es ist jedoch nicht so, dass die Verantwortung für die Entwicklung eines totalisierten Kapitalverständnisses allein den Epigonen anzulasten wäre, die die Besonderheiten der Marxschen Methode nicht verstanden und den von Marx im Kapital entwickelten absoluten und totalen Kapitalbegriff für bare Münze genommen haben.

Abgesehen von dieser methodisch induzierten Totalisierung des Kapitalbegriffs, die Marx als Hegelianer zu handhaben wusste, und über deren faktisches Nicht-Zutreffen er mit Sicherheit nicht in Zweifel war, gibt es jedoch auch noch die Frage nach der Wünschbarkeit einer Totalkapitalisierung. In dieser Hinsicht hat Marx selbst nicht wenig zur Entwicklung eines totalisierenden Kapitalverständnisses beigetragen, das nicht nur theoretischen Auffassungen den Stempel der Wunscherfüllung aufdrückte, sondern auch praktisch in Gestalt der Arbeiterbewegung nicht wenig zur allgemeinen Durchsetzung des Kapitals beitrug.

Der maßgebende und schärfste Kritiker des Kapitals ein verkappter Agent? Welch abstruse Vorstellung! Und doch trifft sie zu; man darf dabei Wunsch allerdings nicht naiv, also nur positiv verstehen. Obwohl also Marx als Theoretiker am vorderen Rand des globalen Siegeszuges des Kapitalismus einen sehr genauen und tiefen Blick für dessen „negative Aspekte“ entwickelt hat, fasst er ihn nämlich dennoch ganz überwiegend als generell notwendiges Durchgangsstadium auf. Diese Haltung tritt beispielsweise in der dumpfen Übernahme der Begrifflichkeit von den geschichtslosen Völkern zutage oder etwa auch in den völlig einseitigen und für meinen Geschmack auch übertriebenen, begeisterten antifeudalen Passagen des Manifests. Also war auch Marx – welch Wunder! – nicht völlig unaffiziert von der Begeisterung und den Hoffnungen, die die kapitalistische Modernisierung damals zu wecken imstande war.

Diese modernistische Schlagseite von Marx sollte am hinteren Rand des Siegeszugs des Kapitals[iii] nicht bewahrt, sondern tunlichst abgestreift werden. Wir haben sowohl global als auch in jedem einzelnen Staat der Welt schon lange genug Kapitalismus gehabt. Eine revolutionäre Perspektive ist heute nur mehr in klar abgegrenzter Überparteilichkeit gegenüber den überwiegend ohnehin bloß als Scheingefecht und Show für die unterhaltungsbedürftigen Massen veranstalteten Kämpfe von kapitalistisch-neoliberalen Modernisierern und reaktiven Restauratoren zu gewinnen. (Und außerdem haben wir inzwischen auch lernen müssen, dass nicht alles, was sich als postkapitalistisch/sozialistisch darbietet, deswegen unbedingt auch schon besser ist.)

Es gibt jedoch noch eine weitere Quelle für die Marxsche Neigung zum platten Modernismus, die bislang weit weniger thematisiert wurde und daher weitreichendere und nachhaltigere Auswirkungen zeitigt. Als Zeitzeuge einer Periode des Niedergangs der bürgerlichen Revolutionen und der heftigen Bewegungen und Aufstände in den ersten Anfängen der Arbeiterbewegung, die in der Pariser Commune kulminierten, war die von Marx geteilte Erwartung sicherlich nicht gänzlich ohne Anhaltspunkt, dass es dann mit einer auf breiter Ebene voll konstituierten Arbeiterklasse erst recht abgehen müsste. Auch Marx betreibt an diesem Punkt also empiristische Extrapolation. Zugleich wäre das auch wunderbar dialektisch gewesen (Negation der Negation), war aber, wie die letzten 100 Jahre gezeigt haben, nicht der tatsächliche Gang der Geschichte.[iv] Der Erklärungsansatz von Lenin (Entwicklung des Kapitalismus zum Imperialismus, Bestechung der Oberschichten der Arbeiterklasse in den Metropolen) bietet zwar eine wesentliche zusätzliche Erklärung, geht aber meines Erachtens am Kern der Sache vorbei.

Die Hoffnungen, die Marx und alle seine Nachfolger auf die volle Herausbildung der Arbeiterklasse setzten und setzen, haben sich nicht nur zufällig historisch blamiert und dabei Kilometer von weltleeren, scholastischen Meditationen über „Klasse an sich“ und „Klasse für sich“, empirisch konstatierbares Bewusstsein der Arbeiterklasse versus mittels organisierter Avantgarden zu produzierendes, wahres, echtes oder auch eigentliches Klassenbewusstsein („historische Mission“ inklusive) ausgeschwitzt. Auch die konträre Rede von der Verbürgerlichung der Arbeiterklasse ist um nichts sinnvoller. Zutreffender müsste nämlich von der Verarbeiterklassung der Arbeiterklasse gesprochen werden.

Die den diesbezüglichen Marxschen Erwartungen zugrundeliegende Konzeption liegt nicht nur sozialpsychologisch daneben (durch Nacht zum Licht, über wachsende Verelendung und Degradation zu wachsender Empörung und Aufstandsbereitschaft funktioniert eben nicht), sondern sie beinhaltet auch einen theoretisch-systematischen Fehler, denn das Einzige, was gegen eine stets sich ausweitende und durchgängigere Proletarisierung zur Empörung reizen könnte, müsste dann letztlich ein den Individuen innewohnendes Abstraktum namens „Wesen des Menschen“ sein. Damit fällt Marx selbst jedoch hinter seine bereits in den Feuerbachthesen formulierte und vielzitierte Einsicht zurück, dass das menschliche Wesen eben kein den Individuen innewohnendes Abstraktum ist, sondern das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse. Eine auf der Höhe dieser Einsicht bleibende alternative Konzeption hätte davon auszugehen, dass nicht etwa die vollentwickelte Proletarität, sondern Kapitalisierungs- und Proletarisierungsprozesse revolutionäre Potenzen freisetzen.[v] Dadurch würden „Ränder“ und „Poren“ der kapitalistischen Produktionsweise, das jenseits dieser Grenzen liegende Andere und die vielfältigen Übergänge aufgewertet und verstärkt ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt.

Aus all dem folgt unter anderem, dass wir die Suche nach dem revolutionären Subjekt aufgeben müssen und stattdessen von unterschiedlichen revolutionären Subjektivitäten ausgehen sollten. Eine kapitalmonistische Gesellschafts- und Geschichtsauffassung, die alle gesellschaftlichen Phänomene aus dem Kapitalbegriff herzuleiten oder wenigstens „in letzter Instanz“ auf ihn zurückzuführen sucht, taugt hiezu nicht. Ebensowenig eine Unversalisierung des Kampfes des Proletariats als Königsweg zur Emanzipation. Eher schon der Kampf gegen Proletarisierung. Einen wesentlichen Fingerzeig in diese Richtung hat Holloways Reformulierung des Klassenkampfs als Kampf gegen Klassifizierung gegeben.[vi]


[i] Marx hat seinen Kapitalismusbegriff nicht aus der Dampfmaschine abgeleitet, er kann daher wohl auch nicht mit dem Hinweis auf den Einsatz der Mikroelektronik widerlegt werden. Auch die beliebige Konstruktion neuer Stadien mit ganz eigenen Gesetzmäßigkeiten, sei es nun Imperialismus, Postfordismus oder Empire, ist von daher nicht ganz unproblematisch.

[ii] Die Krisis-Leute behaupten sogar, die Expansion des Kapitals habe bereits aufgehört, weil die durch die mikroelektronische Revolution verursachten Arbeitskraftfreisetzungen mittlerweile die Neuansaugung von Arbeitskräften übersteigen würde, weil das Kapital keine neuen, lohnenden Betätigungsfelder mehr vorfinde.

[iii] Das soll nota bene keine weitere Zusammenbruchs“theorie“, Endkrisenprophezeiung oder Proklamation eines weiteren, diesmal wirklich allerhöchsten, allerletzten und durch und durch verfaulten Stadiums des Kapitalismus sein, sondern die nüchterne Feststellung der Tatsache, dass der Kapitalismus zunehmend die Fähigkeit verliert, gesellschaftliche Hoffnungen zu mobilisieren und mehr und mehr bloß in Sachzwängen fortwest. Er wird jedoch nichtsdestotrotz fortbestehen, solange und soweit seine grundlegenden Tendenzen als Sachzwänge geglaubt und seine aktuell prägenden Gestalten für unverzichtbar gehalten werden. Und das könnte durchaus auch noch recht lange dauern. Optimismus ist kein Grunderfordernis des Kapitalismus, er funktioniert durchaus auch mit einem Millionenheer Depressiver und einer genügend großen Anzahl leicht zu begeisternder Naiver.

[iv] Die Dialektik ist eben keine Versicherung gegen Irrtümer und Fehleinschätzungen und schon gar kein Wundermittelchen gegen Dummheit. Sie könnte eineN  aber beispielsweise davor bewahren, unreflektiert nebeneinander und gleichzeitig die vollständige reelle Subsumtion unters Kapital und zugleich dessen Charakter als bloße Hülle zu behaupten.

[v] Es war kein Zufall, dass sich der Operaismus in Italien in einer Periode herausbildete, als die oberitalienischen Industriemetropolen massenhaft vor- und halpproletarische Massen aus dem Süden Italiens ansaugten. Die Operaisten hatten ein gutes Gespür für diese soziale Gärung, sie haben allerdings die zugrundeliegenden Prozesse falsch, d.h. die faktische Bewegungsrichtung umdrehend und arbeiterklassisch theoretisiert: die Arbeiterklasse treibe den Kapitalismus sozusagen vor sich her.

[vi] Am schwierigsten scheint mir dabei die Frage zu beantworten, wie dieser Ansatz für Gesellschaften zu konkretisieren wäre, in denen sich der Kapitalismus bereits auf breiter Front tiefgreifend durchgesetzt hat und Arbeiter der 4. und 5. Generation einen keineswegs unerheblichen Teil der Gesellschaft stellen.

 

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ISSN 1814-3164 
Key title: Grundrisse (Wien, Online)

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