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Martin Birkner: Bewusstseinsindex oder Klassenkampf? Bemerkungen zur Methodik einer erneuerten Klassentheorie Der vorliegende Text versucht eine Annäherung an die Thematik der Klassentheorie bzw. deren Methodik. Dabei soll dieser Text in dreifacher Hinsicht als unabgeschlossen gelesen werden: weder kann hier vollständig das Terrain der Auseinandersetzung abgegrenzt werden, noch die historischen Vorbedingungen zureichend vorgestellt, noch umfassend die möglicherweise produktiven Ansätze für eine erneuerte Klassentheorie dargestellt werden. Es geht vielmehr um eine Annäherung an die drei oben genannten Aspekte, eine Annäherung jedoch entgegen dreier bekannter Zugänge: „Die ArbeiterInnenklasse gibt´s nicht mehr!“, „Die ArbeiterInnenklasse war, ist und bleibt DAS revolutionäre Subjekt!“ und „Die ArbeiterInnenklasse heißt jetzt Multitude und arbeitet äußerst affektiv!“ Nach dem Aufwerfen einer meines Erachtens grundsätzlichen methodischen Fragestellung soll anhand einiger in der Geschichte des Marxismus äußerst wirksamer Ansätze ex negativo aufgezeigt werden, wie der Begriff „Klasse“ für eine heutige kritisch-marxistische Klassentheorie nicht (mehr) produktiv gemacht werden kann. Anschließend soll eine – zugegebener Maßen höchst subjektive – Auswahl „übriggebliebener“ Ansätze inhaltlich, keineswegs jedoch unkritisch, vorgestellt werden. Die „Rechtfertigung“ der getroffenen Auswahl sollte sich dabei aus der Argumentation ergeben. Abschließend möchte ich noch auf einige im Text nicht behandelte Problemstellungen hinweisen, d.h. die Leerstellen benennen, ohne deren Behandlung eine künftige Theorie revolutionärer Subjektivität nicht zu denken ist. Moderne DichotomienIn der Geschichte des Marxismus gab und gibt es gewisse dichotomische Konstellationen, die – wenn auch in unterschiedlicher Gestalt – immer wieder auf der Tagesordnung theoretischer Debatten landen. Drei dieser Konstellationen, die für die klassentheoretische Diskussion von besonderer Bedeutung sind, seien an dieser Stelle herausgegriffen: „logisch / historisch“, „Theorie / Praxis“, „an sich / für sich“ Diese drei Gegensatzpaare müssen vor der Folie DER zentralen erkenntnistheoretischen Konstellation der Moderne[i] gesehen werden, der Frage nach der Existenz und nach dem Verhältnis von „Subjekt“ und „Objekt“. Postmoderne Theorien im Gefolge des Strukturalismus thematisierten diese moderne binäre Verfasstheit und stellten sie als idealistische bzw. metaphysische Konstruktion dar (und ihr , wie z.B. Louis Althusser einen „Prozeß ohne Subjekt“ entgegen). Wenn sich dieser Text im Folgenden dennoch – wenn auch kritisch – mit diesem Spannungsfeld auseinandersetzt, dann deshalb, weil ich meine, dass auch avancierte poststrukturalistische bzw. dekonstruktivistische Theorieansätze das Problem zwar zurecht aufgeworfen, nicht aber im Sinne einer alternativen Methodik verarbeitet haben. Was blieb, war die Dekonstruktion aller „Ismen“ und mit ihr das Postulat, Gesellschaft als Totalität nicht erkennen/kritisieren zu können. Dem soll hier entgegengewirkt werden, eingedenk eines möglicherweise tatsächlich „transzendentalontologischen“ Kategorischen Imperativs von Marx, der da im Hintergrunde lauert, nämlich: „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“[ii] Sowohl in der (Arbeits)Werttheorie als auch in der Klassen- und Staatstheorie des Marxismus spielten und spielen die oben genannten Dichotomien eine hervorragende Bedeutung. Im hegelianisch-dialektischen Marxismus wären die jeweiligen Begriffe als thetische bzw. antithetische Pole am Weg zur ebenso notwendigen wie notwendig eintretenden Synthese anzusehen, was sich in den bekannten Stehsätzen: „Die Methodik des Kapitals ist die Einheit von logischer und historischer Analyse“, „Die Methodik der revolutionären Partei ist die Einheit von Theorie und Praxis“ bzw. „Die Revolution (zumindest aber ihre notwendige Voraussetzung) ist die Einheit der ‘Klasse an sich’ mit der ‘Klasse für sich’“ manifestierte. Ein eher an Toni Negri orientierter postoperaistischer Kunstgriff würde wiederum mit einem Handstreich diese Frage als moderne (siehe oben) und somit antiquierte vom Tisch fegen (so wie auch Souveränität, Repräsentation oder Lenin) und kurzerhand die Immanenz „ausrufen“, wo sich derartig, äh, dialektische (Schein?)Probleme erst gar nicht stellen. Die Multitude wird´s schon richten. Nur findet auch diese sich schnurstracks gegenüber eines Empire, ihres „großen Anderen“ (Lacan) wieder und die „strenge Immanenz“ wird zum Taschenspielertrick. Der dennoch bedenkenswerte Aspekt des Multitude-Konzeptes ist jener, dass die „Menge von Singularitäten“ als nicht vereinheitlichbares und repräsentierbares Kollektivsubjekt erfasst werden kann. Die Formen des Übergangs zur Kollektivität werden jedoch in Hardt / Negris „Empire“ keineswegs zureichend dargestellt bzw. begründet. Entgegen der beiden schematisch dargestellten, „unbrauchbaren“ Ansätzen möchte ich eine dritte Lesart der obigen Problematik vorschlagen, nämlich jene des „/“ oder der „konstitutiven Grenze“. Eine Betrachtungsweise entlang dieser Grenze könnte meines Erachtens nach einen adäquateren methodischen Zugang eröffnen. Von ihr aus wären jene Ansätze kritisch zu analysieren, die so gegensätzliche Positionen einnehmen wie die positivistische Klassenanalyse E.O. Wrights, in dessen Theorien der Vergleich von objektiver Klassenlage und subjektiven Verhalten gar in einem „Bewußtseinsindex“[iii] gipfelt, oder Mario Trontis operaistischer Ansatz, der mit folgendem schönen Zitat zusammengefasst werden kann, welches der Titel der grundrisse 7 war: „Man kann nicht verstehen, was die Arbeiterklasse ist, wenn man nicht sieht, wie sie kämpft.“[iv] Was aber ist das (notwendig?) Konstitutive dieser alle klassentheoretischen Ansätze durchziehenden Grenze anderes als eine in letzter Instanz ideologisch determinierte Position?[v] Im Marxismus-Leninismus bezeichnete den „richtigen Standpunkt“ die Avantgardepartei, welche als „Vermittlerin“ die statistisch existierenden Ausgebeuteten zu ihrer historischen Mission befähigen sollte. Erst hier, im singulären Akt der Revolution, der gelungenen Synthese auch von Theorie und Praxis, wäre der Trennungsstrich / verschwunden. Avanciertere Theorien verabschiedeten sich zwar von der großen dialektischen Geste der „Synthese der Synthesen“, hypostasierten jedoch meist einen der „ursprünglichen“ Absprungpunkte, das „links“ bzw. „rechts“ des / Stehende zu einer letztlich positivistisch argumentierenden Theoriekonzeption. Eine gewisse „Sehnsucht nach Reinheit“ kann diesen Herangehensweisen nicht abgesprochen werden, egal ob es sich um den bereits oben (Wright) genannten positivistisch-quantifizierenden Theorieansatz des „analytischen Marxismus“, (mit Einschränkungen) um die radikale erfahrungswissenschaftliche Historisierung E.P. Thompsons[vi] oder auch der extrem hermetischen „Subjekttheorie“ der wertkritischen Krisisgruppe handelt. Je nach ontologischer Befindlichkeit weisen eben „Daten“, rein „historische Erfahrungen“ oder der allmächtige „Wertfetisch“ den entsprechenden Personengruppen gewisse Eigenschaften zu (bzw. sprechen ihnen diese – so im Falle der Wertkritik – ab). Die Problematik der genannten Stränge ist, dass entweder ausgehend von einer vordefinierten (Partei)Position die Subjektivitäten mitsamt ihren Bedürfnissen gegen das herrschende Ausbeutungsparadigma erst wiederum in ein – diesmal scheinbar teleologisch abgesichtertes – Disziplinarkorsett gesperrt wurden, dass sie zu Manipuliermassen von Wahlkampfmaschinerien im allgegenwärtigen Spektakel moderner Politik wurden, oder dass sie qua Verblendungszusammenhang höchstens noch die Flucht in die reine Welt der 100% anti-politischen kritischen Kritik retten kann. Der alltägliche „Kampf gegen das Klassifiziert-Werden“ (John Holloway), die alle geschichtlichen Epochen begleitende, manchmal sogar diese antreibende oder gar produzierende „Flucht zur Freiheit“ (Holloway), kurzum der Widerstand der Unterdrückten oder mit Negri die „Kreativität der Menge“ rückt immerfort vom Zentrum der Betrachtung in eine beiläufige Randposition. Das „/“ ist der KlassenkampfAls theoretischen Ansatz, der sich sowohl historisch-dialektischen als auch positivistisch verkürzenden Fallstricken verweigert, soll nun „der“ Operaismus vorgestellt werden. Als eine Theorie, die als Ausgangspunkt ihrer Theoretisierung von „Klasse“ weder das „objektive“ Vorhandensein einer „Klasse an sich“ noch die „bewusste Klasse für sich“, sondern den Klassenkampf als eine Auseinandersetzung innerhalb des Kapitals, eines gesellschaftlichen Verhältnisses, das seine Gesellschaftlichkeit, d.h. Wirksamkeit, nicht aus der Nicht-Arbeit der Kapitalseite, sondern ausnahmslos aus der tagtäglichen Reproduktion des Verhältnisses seitens des Proletariats schöpft. Heutige Klassentheorie hätte an diese „relationale“ Lesart anzuknüpfen, ohne sich jedoch der Illusion hinzugeben, den Polen der Verhältnisse gänzlich zu entkommen. Logisch / historisch, Theorie / Praxis, aber auch Bourgeoisie / Proletariat sind auch als umkämpfte Verhältnisse stets Verhältnisse „von“ bzw. „zwischen“, gerade wenn wir uns von den luftigen Höhen der theoretischen Abstraktion in Richtung der (notwendig unreinen) politischen Praxis begeben. Die Moderne entlässt uns nicht. Bei allen zu kritisierenden Aspekten[vii] der häretischen marxistischen Strömung „Operaismus“ meine ich doch, dass diese - in manchen Aspekten durchaus voneinander divergierenden – Theorieansätze auch heute als methodische Basis für eine aktualisierte Klassentheorie dienen können. Operaismus als Theorie des KlassenkampfesDie ArbeiterInnenklasse wird in den operaistischen Theorien nicht als ein abstraktes Gegenüber „des Kapitals“ gesehen, sondern als jener Teil des Kapitalverhältnisses, der dieses tagtäglich aufs neue reproduziert, aber auch bekämpft. Aus dieser Ontologie des Klassenkampfes bezog die besondere Radikalität des politischen Operaismus seine Energie. Gleichzeitig ermöglicht uns heute ein am Operaismus geschultes methodisch relationales Denken das Umgehen der Objekt/Subjekt-Problematik bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung radikal-emanzipativer Positionen. Wenngleich auch im wichtigen operaistischen Begriff der „Arbeiterzentralität“ auch wissenschaftlich klar Position bezogen wird, was alleine schon die als Eigendefinition verwendete Bezeichnung der „Arbeiterwissenschaft“ beweist. Mit „Klassenzusammensetzung“ war dem Operaismus ein Begriff gegeben, der es erlaubt, gleichzeitig sowohl die Veränderung der Klasse(nsubjekte), der „lebendigen Arbeit“, als auch jene der „toten Arbeit“, der kapitalistischen Maschinerie, wenn mensch so will, in ihrer Abhängigkeit und Widersprüchlichkeit zu denken. Jenseits sturem Subjekt/Objekt-Denkens ging es also um die Erkenntnis der Zusammensetzung, d.h. der Verbindung der Elemente zu gesellschaftlich wirkmächtigen Gruppen – sowohl als ReproduzentInnen des Kapitalverhältnisses als auch als potentielle ZerstörerInnen. Bei allen Versuchen ausgehend von der Verhältnismäßigkeit des Klassenkampfes diesen zu denken, tauchten aber auch im Operaismus (der sich auch formal stark auf Lenin bezog) theoretische Problemstellungen auf, die der Leninschen Dichotomie von Klasse „an sich“ und „für sich“ nicht unähnlich war. So bezog sich der Terminus „technische Klassenzusammensetzung“ auf die „Bedingungen, unter denen das Kapital die ArbeiterInnen zusammenbringt; hierzu gehören sowohl die Bedingungen im unmittelbaren Produktionsprozess (z.B. Arbeitsteilung in versch. Abteilungen, Trennung von "Produktion" und Planung, Einsatz von bestimmten Maschinen etc.) als auch die Form der Reproduktion (Wohnzusammenhang, Familienstruktur etc.)“[viii], während die „politischen Klassenzusammensetzung“ jenen Prozess beschreibt, „wie ArbeiterInnen die "technische Zusammensetzung" gegen das Kapital wenden und ihren Zusammenhang als Arbeitskräfte als organisatorischen Ausgangspunkt ihres Kampfes nutzen [...]“[ix] Im Laufe der Geschichte des Operaismus ist – nicht zuletzt durch die quantitative und qualitative Zunahme realer Klassenkämpfe (mit)verursacht – eine Prioritätenverschiebung von der technischen hin zur politischen Klassenzusammensetzung zu konstatieren. Aufgrund der Radikalisierung der Kämpfe ab 1968 , den Massenentlassungen als Antwort des Kapitals darauf, und nicht zuletzt der zunehmend vielfältigeren Zugänge der „neuen" Akteure und Akteurinnen begann sich das Konzept der „politischen Klassenzusammensetzung“ zu verselbständigen und sich zunehmend von den frühen operaistischen Wurzeln zu lösen. Als eine Konsequenz dieser Entwicklung ist sicherlich die zunehmende Militarisierung der Bewegung in den 70er Jahren mit ihren letztlich verheerenden Folgen zu sehen[x]. Die bereits weiter oben erwähnte „Arbeiterzentralität“ brachte in einer theoretischen 180-Grad-Wende den wohl gravierendsten Bruch mit der Vorstellungswelt des orthodoxen Marxismus: Nicht mehr die Selbstbewegung eines „automatischen Subjekts“ Kapital, sondern genau die Klassenkämpfe des Proletariats determinieren die gesellschaftliche Entwicklung inklusive jener der Kapitalakkumulation. Diese Wende warf auch zentrale Dogmen marxistischer Krisentheorie über den Haufen. Krise ist dann, wenn die ArbeiterInnenklasse sie produziert. Bei aller Reserviertheit, die gegenüber den Verkürzungen seitens der operaistischen TheoretikerInnen angebracht ist, kann doch eine tieferliegende theoretische Wende konstatiert werden, die auch für aktuelle Klassentheorien uneingeschränkt gültig ist: dass nämlich das politische Vermögen nicht ein bloßes Anhängsel ökonomischer Selbstbewegung ist, dass auch Krisen im Kapitalismus nur durch innerökonomische Faktoren determiniert werden, sondern dass die Widerständigkeit der Subjektivitäten immer eine gewichtige Rolle in gesellschaftlichen Prozessen einnimmt. Dieses „Vermächtnis“ des Operaismus ist auch gegen „wissenschaftliche“ Marxismen starkzumachen, die sich durchaus mit gutem Recht auf die naturwissenschaftliche Schlagseite Marxens im Kapital beziehen. Die bestimmende Subjektformation des Operaismus der 60er Jahre war der „operaio massa“, der sogenannte Massenarbeiter, bestimmt über die einheitliche Arbeitsform der fordistischen Massenproduktion in den norditalienischen Großunternehmen, allen voran Fiat in Turin. Nicht zuletzt einheitliche Lebens- und Arbeitsbedingungen (Fließband, Massenquartiere), der starke Zuzug junger Menschen aus dem agrarischen Süditalien und die daraus (und aus der Tatsache, dass die Kommunistische Partei Italiens und die ihr nahestehenden Gewerkschaften beginnend mit der Entwaffnung der PartisanInnen meist als Staatsapparate agierten und von den radikalisierten Schichten auch als solche angesehen wurden) resultierende Unmöglichkeit, diese Massen in die traditionellen proletarischen Organisationen einzugliedern, führten zu den neuen, autonomen und radikalen Formen des Klassenkampfs. Dieser war im Gegensatz zu den disziplinierten Kämpfen der organisierten KommunistInnen immer auch ein Kampf gegen die Arbeit an sich und lehnte die Trennung des Kampfes in politische (Partei) und ökonomische (Gewerkschaft) Ebene entschieden ab. Spätestens 1968 traten - nicht nur in Italien - massiv neue Subjektivitäten auf die Bühne der sozialen Auseinandersetzungen. Die neue Frauenbewegung, Hippies, Stadtindianer, subkulturelle Bewegungen und nicht zuletzt das Experimentieren mit Drogen und alternativen Lebensformen stürzten den „männlichen Massenarbeiter“ in die Krise. Daran nicht unbeteiligt war allerdings auch die Antwort des italienischen Kapitals. Innerbetriebliche Umstrukturierungen, Massenentlassungen und Repression waren Versuche die geballte Macht der ArbeiterInnen in den Großbetrieben zu brechen bzw. wieder unter Kontrolle zu bekommen. Wieder war die Kommunistische Partei Italiens auf der Seite der Herrschenden zu finden, mensch denke nur an die Theorie & Praxis des „historischen Kompromiss´“ zwischen KommunistInnen und ChristdemokratInnen in den 70er Jahren. Im operaistischen Denken begann Anfang der 70er Jahre die Debatte darum, ob die gesellschaftlichen Verhältnisse und Kämpfe ausgehend von der Konzeption (oder ihrer Adaption) des Massenarbeiters noch zureichend erklärt werden können. Toni Negri wandte sich dem „operaio sociale“ („gesellschaftlichen Arbeiter“) „mit scheinbar unbegrenzten kommunikativen Fähigkeiten, hoch mobil und flexibel mit großer sozialer Kompetenz.“[xi] zu. Diesem hinzu gesellte sich der Begriff der „fabricca diffusa“, der (in die Gesellschaft) aufgelösten Fabrik. Analog zu dieser Veränderung, sowohl der politischen, als auch der technischen Klassenzusammensetzung wurde auch das Postulat des auf die ganze Gesellschaft ausgerichteten Kampfes propagiert. In seiner unreflektierten Form führte dieses Postulat letztlich in die Sackgasse des bewaffneten Kampfes gegen den Staat. Trotz dieser zum Scheitern verurteilten Strategie muss der theoretische Schritt vom Massenarbeiter zum gesellschaftlichen Arbeiter als wichtiger und fruchtbarer Versuch gesehen werden, den veränderten komplexen Verhältnissen Rechnung zu tragen. Die Fragestellung der technischen bzw. politischen Zusammensetzung der ArbeiterInnenklasse wirft also auch im radikal in Verhältnissen denkenden Operaismus die „an sich – für sich-Problematik“ (oder zumindest etwas Ähnliches) des Leninismus wieder auf. Die für die „Arbeiterwissenschaft“ Operaismus so zentrale Analyse der kapitalistischen Maschinerie als Herrschafts- und Disziplinierungsapparat einerseits, der Formen der proletarischen Widerstände andererseits, musste so zwangsweise „in letzter Instanz“ wiederum auf eine Subjekt-Objekt-Dialektik, wenn auch in abgeschwächter Form zurückgreifen, um den Gegenständen der Untersuchung einigermaßen gerecht zu werden und eine Reduktion von Komplexität über Gebühr zu vermeiden. In den 80er Jahren, die den Operaismus beerbende Bewegung der „Autonomia operaia“ war Ende der 70er längst durch massive Polizeiaktionen zerschlagen, traten zur allgemeinen Niederlage der Linken noch zusätzliche Aspekte hinzu. Die rassistische Ausgrenzung von MigrantInnen sowie die immer schnellere Auflösung stabiler Beschäftigungsverhältnisse und Arbeitsformen, die bereits in den 70ern begann, führten zur weitgehenden Aufgabe des Versuches, gesellschaftliche Ausbeutungs- und Herrschaftsmechanismen im Rahmen einer auf Totalität ausgerichteten Theoriekonzeption zu beschreiben und zu kritisieren. Die konservative ideologische Offensive im Zuge der Durchsetzung neoliberaler Konzeptionen und der Zusammenbruch des stalinistischen Blocks taten ein Übriges, um das Ende der Ära der „großen Erzählungen“ einzuläuten. Was blieb, ist eine andere große Erzählung, womöglich gar die allergrößte: jene vom „Ende der Geschichte“ (Fukuyama). Erst mit der sich ab Ende der 90er Jahre in den Auseinandersetzung um „Sozialabbau“, „neoliberale Globalisierung“ und „Weltordnungskriege“ neu formierenden Linken rückte auch die Beschäftigung mit marxistischer Theorie wieder ins Blickfeld. Es gilt nun, die für die zentralen Felder der sozialen Auseinandersetzung wichtigen gesellschaftlichen Felder theoretisch zu öffnen und - in kritischer Anknüpfung an bereits geleistete Arbeiten methodischer und inhaltlicher Art - theoretisch/kritisch zu bearbeiten. Die Schwierigkeiten, die uns dabei[xii] ins Haus stehen, sind nicht zu übersehen: Einerseits fragmentieren sich die Arbeits- und Lebensbedingungen der abhängig Beschäftigten zusehends, und zwar innerhalb und zwischen geographischer/n Regionen des globalisierten Kapitalismus, andererseits kann revolutionäre Subjektivität, die auf die Überwindung bestehender Verhältnisse zielt, nur als nicht-hierarische Bündelung verschiedener Kämpfe und Kampfformen gedacht werden, nicht mehr jedoch als Haupt- und Nebenwiderspruchshierarchie oder als „Klassenbündnis unter Führung der xyz“. Exkurs: Intellektualität und Klassenkampf1972 schrieb der damals operaistische Theoretiker (und spätere Bürgermeister von Venedig) Massimo Cacciari eine Abhandlung „Über das Problem der Organisation – Deutschland 1917-1921“[xiii]. Cacciari erklärt darin das Scheitern sowohl der partei- als auch der linkskommunistischen Strategien der Revolution mit der Nichtberücksichtigung der Veränderung der Klassenzusammensetzung. Vor allem an der rätedemokratischen linkskommunistischen Strömung um Karl Korsch kritisiert Cacciari die anachronistische Orientierung auf den Rätegedanken, da mit dem Aufkommen der standardisierten Massenproduktion die FacharbeiterInnen und somit die Intellektualität aus dem Produktionsprozeß zunehmend verdrängt wurden. Auf dieser Intellektualität der Massen beruhte aber der Rätegedanke: die ArbeiterInnen können aufgrund ihres fachlichen Wissens die Produktion in Selbstverwaltung organisieren. Die fordistische Revolution aber verunmöglichte durch die veränderte Klassenzusammensetzung das Wirksamwerden der Räteidee[xiv]. Im Hinblick auf die aktuellen Transformationen (Stichwort: Postfordismus) wäre die Diskussion allerdings erneut zu führen. Bereits Negri´s in den 70er Jahren aufgestellte Thesen des Übergangs vom „Massenarbeiter“ zum „gesellschaftlichem Arbeiter“ zielte ja auf eine Wiederbelebung des Rätegedankens ab, ebenso der (post-) operaistische Begriff der „Massenintellektualität“ – hier geht es jedoch vor allem um die immaterielle Ebene der „affektiven Arbeit“[xv]. Dabei ist natürlich zu berücksichtigen, dass eine Theorie der Klassenzusammensetzung heute die internen Spaltungen mitberücksichtigen muss.[xvi] Ist „Klasse“ ein zeitgemäßer Begriff, um heutige soziale Auseinandersetzungen zureichend zu beschreiben und befördern? Meiner Ansicht nach ist die Frage nur in kritischem Hinblick auf die theoretischen Entwürfe des Operaismus zu stellen. Mit anderen Worten: Die existierenden sozialen Auseinandersetzungen müssen auch heute den Mittel- und Ausgangspunkt einer Klassentheorie bilden, soll nicht lediglich die Be- oder auch Abschreibung von Kämpfen betrieben, sondern auch die Möglichkeit theoretischer Intervention in Richtung auf emanzipative Überwindung der herrschenden Verhältnisse bestehen. Ob „das, was da kämpft“ aber „Klasse“, „Subjekt“, „Subjektivität“ oder gar „Multitude“ heissen darf, ist eine Frage zweiten Ranges. Für eine unreine revolutionäre TheorieZwei Punkte möchte ich zum Abschluss noch anreißen, weil sie mir für die methodische Bestimmung einer Klassentheorie als zentraler erscheinen, als es vielleicht im Text herausgekommen ist:
Entgegen der Meinung von Max Koch, wonach „schrittweise konkretere Ebenen der Gesellschaftsformation in die Klassenanalyse aufzunehmen [wären] ... , nachdem die im Kern ökonomisch bestimmten Klassen einer Gesellschaft ermittelt sind“ und „[a]m Ende ... die abstrakte Analyse des ökonomischen Fundaments der Klassen [zu] ergänz[en wäre] durch eine konkrete Analyse der ‘sozialen Klassen’“[xix], gilt es umgekehrt vorrangig auf reale Bewegungen und Kämpfe zu fokussieren und - unter Bedachtnahme auf die „politische Zusammensetzung“ der sich bewegenden Subjektivitäten - eine immanent-kritische Perspektive zu entwickeln, während sozialwissenschaftliche Erkenntnisse wie empirische Studien hauptsächlich als Ergänzung und Fundierung dieser theoretischen Produktionen anzusehen sind. Dass dabei die sozialen Kämpfe nicht losgelöst von technischen und herrschaftsstrategischen Transformationen (Stichwort: „Kontrollgesellschaft“) betrachtet werden dürfen, liegt auf der Hand. Es gilt die politische und die technische Klassenzusammensetzung gleichermaßen im Blick zu behalten. Die postfordistische Transformation erzeugt neue Kämpfe und damit neue Subjektivitäten, transformiert aber auch bis zu einem gewissen Grad die „traditionellen“ Kampfformen und Subjekte. Hinzu kommt, dass sich die Pluralität der Widersprüchlichkeiten stets aufs Neue ausdifferenziert, was im Verbund mit den neuen und zunehmend hegemonial werdenden Formen biopolitischer Herrschaft dazu führt, dass Herrschaft und Widersprüchlichkeit bis in die Körper der Individuen hinein reicht. Mehr noch als in früheren Epochen wird also der Versuch, der Mannigfaltigkeit der gesellschaftlichen Widersprüche gerecht zu werden, notwendigerweise zu Verkürzungen (in der Sprache der Systemtheorie: „Reduktion von Komplexität“) führen. Dessen müssen wir uns bewusst sein, vor allem um bei einer weiteren notwendigen Verkürzung bei der Umsetzung in politische Praktiken nicht die „modernen“ Fehler (schrankenlose Herrschaft der Repräsentation durch den enteignenden Souverän) erneut zu begehen, nicht zuletzt im Hinblick auf noch zu erfindende neue Formen von revolutionärer Organisierung. Zu guter Letzt Bei aller Sinnhaftigkeit differenzierter empirischer Studien ist also an der Zentralität der sozialen Auseinandersetzung festzuhalten. Dabei befinden wir uns in einer komplizierten Situation, da die sozialen Kämpfe heute weniger denn je „in reiner Form“ anzutreffen sind. Gegenüber Theorien einer reinen (Wert)Kritik ermöglicht ein Denken ausgehend von diesen Kämpfen zumindest die Möglichkeit praktisch-kritischer Interventionen, nicht zuletzt die immanente Bekämpfung reaktionärer Tendenzen in Bewegungen. In und durch diese(n) Auseinandersetzungen bietet sich meiner Meinung nach die Möglichkeit einer Neukonzeption von revolutionärer Politik, während sich die kritischen Kritiker zunehmend von realen Bewegungen (und somit von der gesellschaftlichen Realität) entfernen, um schließlich den pseudo-radikalen Begriff der Anti-Politik in den reinen Raum der Kritik zu schleudern. Um zur Frage des „/“ zurückzukehren: Statt einer unmöglichen Synthese der dichotomischen Pole (mensch denke nur an die Apologien der Theorie-Praxis-Einheit im historischen ML) ginge es also darum, die Konstruiertheit UND Wirksamkeit beider Seiten aus Perspektive der sozialen Auseinandersetzung auf den Begriff zu bringen, ohne sich pseudoradikal in eine Art totaler Immanenz zu flüchten[xx] – ein durchlässiger „/“ als Standpunkt. Der „Schrei“ im Sinne John Holloways[xxi], wenngleich auch nicht existenzialistisch, d.h. quasi-wesensphilosophisch („Am Anfang war der Schrei“) als Ursprungs-Metapher gedacht, der Widerstand der Unterdrückten, muss als unhintergehbarer, keineswegs jedoch unkritisierbarer (hier zeigt sich unscharf, aber doch der Horizont der Immanenz) Ausgangspunkt jeder Theorie von Subjektivität angesehen werden. Dabei ist die Schwierigkeit, vor der wir heute stehen, einerseits der ständig zunehmenden Komplexität (kapitalistischer) Herrschaft theoretisch gerecht zu werden, Herrschaft, die vor allem auf sozialem, sexuellem und rassistischem Terrain praktiziert wird und die Subjekte und ihre Kämpfe selbst durchzieht, und andererseits eine radikal-politische Perspektive zu erhalten bzw. zu eröffnen. Nur eine solche Perspektive kann uns aus den gegenwärtigen Kämpfen heraus die Orientierung auf eine Theorie der Organisierung als Weg zu einer umfassenden emanzipativen Strategie ermöglichen. Rückblickend auf die alte marxistische Losung könnte also gesagt werden: es geht um die Verwandlung der „Klasse für sich“ in die „Klasse an sich“. Auf dass die Welt Kopf stehe. e-mail: pyrx/ at /gmx.li Anmerkung: Dem vorliegenden Text liegt ein im Rahmen des Klassentheorie-Seminars der grundrisse-Redaktion am 21.8.2003 gehaltenes Referat zugrunde. [i] als weiteres Beispiel sei das spannungsgeladene Verhältnis zwischen Logik und Empirie (und der eng damit in Zusammenhang stehenden Frage nach den „synthetischen Urteilen a priori“) im Neopositivismus erwähnt. [ii] Marx, Karl: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: MEW 1, S. 378-391, hier S. 385, Hervorhebung im Original [iii] vgl. Koch, Max: Vom Strukturwandel einer Klassengesellschaft. Theoretische Diskussion und empirische Analyse, 2. Auflage, Münster 1998, S. 79 und 82 f. [iv] Tronti, Mario: Arbeiter und Kapital, Frankfurt a.M. 1974, S. 64 [v] Louis Althusser bezeichnete die Philosophie „in letzter Instanz“ als „Klassenkampf in der Theorie“, im vorliegenden Text repräsentiert durch „/“. [vi] Thompson, Edward P.: Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse. 2 Bände, Frankfurt a.M. 1987 [vii] von denen es in der Geschichte der operaistischen Bewegung nicht wenige gab und gibt. Zwei für den hier verhandelten Zusammenhang wichtige seinen hier benannt: Die zeitweilige Beschränkung -vor allem des frühen Operaismus – auf den männlichen „Massenarbeiter“ bzw. dessen Lohnkämpfe und die Nicht-(bzw. Kaum-) Verallgemeinerbarkeit der spezifischen Situation Norditaliens wie extrem hohes Niveau der Klassenkämpfe, massive Zuwanderung aus Süditalien, etc. [viii] http://www.nadir.org/nadir/initiativ/kolinko/deut/d_klazu.htm, abgefragt am 1. November 2003 [ix] ebd. [x] Allerdings behielten auch auf der „Gegenseite“ wenige Operaistinnen „kühlen Kopf“, und auch führende OperaistInnen wie Mario Tronti gliederten sich wieder in die Reihen der reformistisch-eurokommunistischen KPI ein. [xi] Anti-Kapitalismus AG im BgR (Bündnis gegen Rechts, Leipzig): Transformation der Arbeitsgesellschaft - Immaterielle Arbeit als neue Dominante postfordistischer Produktion, http://www.puk.de/phase-zwei/Phase2.04/texte/Transformation.htm - 27. 9. 2003 [xii] ich beziehe mich hier nur auf die klassentheoretischen Aspekte dieser zu leistenden Arbeiten. In anderen nicht zu vernachlässigen Feldern einer noch zu leistenden revolutionären Theoriebildung, wie Staats- und Organisationstheorie sowie dessen, was früher „Imperialismustheorie“ hieß, ist das Problem wohl kaum geringer. [xiii] Cacciari, Massimo: Über das Problem der Organisation. Deutschland 1917-1921, in: Bolognia, Sergio u. Cacciari, Massimo: Zusammensetzung der Arbeiterklasse und Organisationsfrage, Internationale Marxistische Diskussion 35, Berlin 1973, S. 53-129 [xiv] Die unmittelbare Produktion wurde vorwiegend durch unqualifizierte „HilfsarbeiterInnen“ durchgeführt, die technische Intelligenz sonderte sich zunehmend vom Proletariat und seinen Kämpfen ab. [xv] vgl. Hardt, Michael: Affektive Arbeit. Immaterielle Produktion, Biomacht und Potenziale der Befreiung,. in: Jungle World 2, 2.1.2002 Subtropen, S. 1-4 [xvi] siehe dazu z.B. die feministische Kritik Susanne Schulz´ am Konzept „Empire“ bzw. „affektive Arbeit“: http://www.rosaluxemburgstiftung.de/Einzel/empire/schultz.pdf, abgefragt am 31. Oktober 2003
[xvii]
zu dieser Problematik
siehe z.B. den 1980 geschriebenen Artikel von Roberto Battaggia:
Massenarbeiter und gesellschaftlicher Arbeiter - einige Bemerkungen über
die »neue Klassenzusammensetzung«, http://www.wildcat-www.de/zirkular/36/z36batta.htm
- 27. 9. 2003
[xviii] Slavoi Zizek hat das in seiner Artikelsammlung „Die Revolution steht bevor. Dreizehn Versuche über Lenin“, Frankfurt a.M. 2002, sehr griffig herausgearbeitet: „Die bis auf Wagners Rheingold und Langs Metropolis zurückreichende Tradition, bei der der Arbeitsprozeß unter Tage, ... stattfindet, gipfelt heute in der ‘Nichtsichtbarkeit’ von Millionen anonymer Arbeiter, die in den Fabriken der Dritten Welt, in chinesischen Gulags und an indonesischen oder brasilianischen Fließbändern schuften. Der Westen glaubt, es sich leisten zu können, etwas von der ‘verschwindenden Arbeiterklasse’ zu faseln, ..., S. 123 f. [xix] Koch, Max: Vom Strukturwandel einer Klassengesellschaft. Theoretische Diskussion und empirische Analyse, 2. Aufl., Münster 1998, S. 37 [xx] Negri/Hardt´s Versuch, die Kämpfe der Multitude streng immanent zu denken, führt (wie so oft) erneut in die Fallgrube der Dialektik: Die Multitude treibt mit ihren Kämpfen die Gesellschaft an, das Kapital legt sich als äußeres (soso!) Phänomen über diese Bewegung und trotz der von Negri/Hardt postulierten realen Subsumtion der Gesellschaft oder der lebenden Arbeit unter die tote genügt ein eigentlich nebensächlicher Akt der „Absprengung“ (wie war das noch mal mit dem berühmten dialektischen Gesetz vom „Umschlag der Quantität in Qualität“?) dieses Vampirs, um die Multitude entgültig zu befreien und den Kommunismus entgültig zu verwirklichen. [xxi] vgl. das erste Kapitel von Holloway, John: Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen, Münster 2002 |
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