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Robert
Foltin (Dieser
Text ist Teil eines umfangreichen Projekts zur Geschichte der sozialen
Bewegungen in Österreich. Wir werden in den nächsten Ausgaben der grundrisse
laufend einzelne Anschnitte daraus veröffentlichen.) Die nach
dem Sieg der Bolschewiki in der russischen Oktoberrevolution 1917 ausgelöste
revolutionäre Welle führte nicht zur Weltrevolution, sondern zur Einkreisung
der jungen Sowjetunion und zum Bürgerkrieg. Der Pragmatismus von Lenin führte
über den Kriegskommunismus zur Planwirtschaft (vor 1917 hat es keine Diskussion
über eine „sozialistische Wirtschaft“ gegeben), inspiriert übrigens von
der Kriegsökonomie des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg (vgl. Hobsbawm
377). Nach einer zwischenzeitlichen Öffnung in der Neuen Ökonomischen Politik
(NEP) wurde die Planwirtschaft das Modell für den Sozialismus schlechthin. Auch
der westliche Kapitalismus führte teilweise geplante Strukturen ein. Durch den
Erfolg, aus einer weitgehend agrarischen Gesellschaft einen Industriestaat zu
machen, wurde die Sowjetunion zum Modell für eine Reihe von Revolutionen im
Trikont (Asien, Afrika, Lateinamerika). So ähnelt sie einem
„Entwicklungsregime“ (einer Diktatur zur Durchsetzung der
Industrialisierung) eher als einem Sozialismus oder Kommunismus. Gegen die
revolutionäre Welle konnte sich in Europa der Nationalismus durchsetzen, weil
die sozialen Bewegungen, auch die systemfeindlichen, mit nationalistischen
Elementen durchsetzt waren. Das betrifft das taktische Verhalten der
SozialistInnen und SozialdemokratInnen ebenso (bis zur Einteilung in
fortschrittliche und geschichtslose Völker) wie die meist rassistische Politik
der Gewerkschaften: eine Hauptforderung war immer Verhinderung von Zuwanderung,
um die eigene Verhandlungsmacht aufrecht zu erhalten. In Europa kommt es in der
Phase zwischen 1914 und 1950 zur Durchsetzung der (bis auf Ausnahmen wie die
Schweiz) einsprachigen Nationalstaaten. Einzig die Sowjetunion konnte einen
multinationalen Staat auf einem großem Territorium aufrecht erhalten, was mit
der prinzipiell internationalistischen Sichtweise der Bolschewiki zu tun hatte.
Die Verbindung der sozialen Bewegungen mit dem Nationalismus hat sich nicht nur
insofern katastrophal ausgewirkt, als sich ein großer Teil der Bevölkerungen
(auch der sozialistisch organisierten ArbeiterInnen) auf der Seite des jeweils
eigenen Imperialismus in den Ersten Weltkrieg hetzen ließen, sondern auch
danach: überall in Europa setzten sich (tendenziell) monoethnische Staaten
durch – teilweise verbunden mit einem „Bevölkerungsaustausch“ (z.B.
zwischen Griechenland und der Türkei in den 1920ern), was heute „ethnische Säuberung“
genannt würde. Als faschistische Antwort auf die ArbeiterInnenbewegung wurden
die (auch proletarischen) Massen in „Völker“ vereinheitlicht. Die
„reformistische“ Antwort auf die revolutionäre Welle 1917 bis 1920 und die
Weltwirtschaftskrise ab 1929 war zuerst in den USA der New Deal: Der
Staat übernimmt eine entscheidende Rolle in der Regulierung der Ökonomie.
ArbeiterInnen werden nicht nur als Arbeitskraft vernutzt, sondern auch als
KonsumentInnen anerkannt, die Löhne sind so hoch, daß sich große Teile der
Bevölkerung Autos oder andere Konsumgüter leisten können. In der Zeit des
Wirtschaftswunders steigen die Einkommen mehr als die Inflationsrate, bleiben
aber unter den Produktivitätssteigerungen durch technologische
Weiterentwicklung und Umstrukturierung der Arbeit. Die soziale Absicherung außerhalb
der Produktionssphäre, durch Krankengeld, Pensionen etc., bedeutet aber neben
den Vorteilen für die Menschen auch die Kontrolle des Staates über alle Lebensäußerungen.
Dieses System muß auf dem Nationalstaat aufbauen, denn die zur Verfügung
gestellten Mittel für die Reproduktion – die (Wieder-) Herstellung von Leben
- sollen in das eigene, relativ abgeschlossene Wirtschaftssystem fließen. In Deutschland und ab
1938 in der „Ostmark“ hat der Nationalsozialismus erste Ansätze zu einer
sozialstaatlichen Entwicklung gesetzt. Die Verherrlichung der Arbeit und des
Staates im NS-Regime führte bereits in Friedenszeiten zu einer Anerkennung der
Nachfrageorientierung der ArbeiterInnen. Großprojekte (häufig militärisch)
wurden durch Schulden des Staates – in Erwartung späterer Kriegsgewinne –
durchgeführt und beendeten die Arbeitslosigkeit, erste soziale Privilegien für
die deutsche Bevölkerung wurden eingeführt (oder angedacht): Autobahnen, der
Volkswagen für jede Familie, Urlaub und Reisen durch „Kraft durch Freude“.
Die meisten Ansätze dafür wurden durch den Krieg abgebrochen, vieles von der
Massenmobilität im eigenen Kraftfahrzeug bis zum Urlaub erst im „goldenen
Zeitalter“ (Hobsbawm) verwirklicht. Eine
spezielle Situation hat der Nationalsozialismus in Österreich geschaffen. Durch
die Vertreibung und Vernichtung der größten jüdischen Gemeinde im
deutschsprachigen Raum wurde in Wien praktisch das Wohnungsproblem für die
deutschösterreichischen ArbeiterInnen gelöst[i].
Auch ein großer Teil der Industrie, wie z.B. die Hermann-Göring-Werke, die spätere
VOEST in Linz, wurde während des Krieges zu einem großem Teil von
ZwangsarbeiterInnen errichtet. Auch wenn Teile dieser Industrien durch
Kriegseinwirkungen zerstört oder beschädigt wurden, bildeten sie die
Grundstruktur für das Wirtschaftswunder ab den 1950ern (vgl. Jacob 2000, S.
22ff). Der Wiederaufbau basierte nicht nur auf der Arbeit der „österreichischen“
Bevölkerung, sondern auch auf der Vernichtung durch Arbeit unter dem
Nationalsozialismus[ii].
Durch den Mythos, daß Österreich das erste „Opfer“ des Nationalsozialismus
gewesen sei und die Verstaatlichung der arisierten und der neu errichteten
Industrien konnten Demontagen durch die Alliierten teilweise verhindert werden.
Dieses Profitieren der österreichischen Bevölkerung erklärt, warum in der Öffentlichkeit
so hartnäckig über die eigene Vergangenheit geschwiegen wurde. Im
Familienkreis und am Stammtisch wurde darüber gesprochen, daß „der Hitler ja
die Arbeitslosigkeit beendet und die Autobahnen gebaut hätte“. Nach dem
Krieg war der Marshall-Plan und damit die Förderung des fordistischen[iii]
Wirtschaftssystems in Westeuropa auch eine Antwort auf die „kommunistische
Bedrohung“. Der Machtbereich der Sowjetunion hatte sich über große Teile von
Ost- und Mitteleuropa ausgedehnt. In Italien und Frankreich drohten
demokratische Wahlsiege durch große kommunistische Parteien, wie es überhaupt
durch die prekäre soziale Lage zu Unruhen und Streiks kam. In Europa
konsolidiert sich die Aufteilung zwischen West und Ost, entlang den Abmachungen
zwischen Stalin, Churchill und Roosevelt und weitgehend unabhängig von
kommunistischen und/oder revolutionären
Bewegungen. Ausgehend
von den USA dominierte eine Politik der Eindämmung des „Kommunismus“, die
Luftbrücke nach Berlin gegen die sowjetische Blockade wurde durchgeführt, von
1950 bis 1953 dauerte der Koreakrieg und immer wieder wurden Diktaturen und
reaktionäre Regimes gegen den (vermeintlichen) Vormarsch des Kommunismus
unterstützt. Der „reale Sozialismus“ hatte weitgehend vom Weltmarkt
abgeschlossene Wirtschaftsräume geschaffen, und es zeigte sich eine ähnliche
Tendenz in einem Teil der neuen Staaten, die von den alten Kolonialreichen in
die Unabhängigkeit entlassen wurden. Der Kapitalismus stieß an seine Grenzen,
ihm blieb nur noch die Entwicklung nach innen. Diese
Begrenzung wurde so gemeinsam mit der kommunistischen Bedrohung der Motor des
Wirtschaftswunders. Um die Bevölkerungen, besonders die ArbeiterInnen zufrieden
zu stellen, wurden sie nicht nur als auszubeutende Arbeitskraft gesehen, sondern
sie bildeten auch neue Märkte nach innen. Die Entwicklung der Konsumgüterindustrie
erlaubte Wachstumsraten der Wirtschaft, wie sie nie in der kurzen Geschichte des
Kapitalismus vorgekommen sind. Gegen Ende der 1950er wurde das für große Teile
der Bevölkerung in Westeuropa spürbar, die Bedrohung durch
„Arbeitslosigkeit“ wich einem Arbeitskräftemangel. Die
Geschlechterordnung
Wie der Nationalismus erreicht auch die geschlechtliche Arbeits- und
Rollenverteilung, das „Familienmodell“[iv]
einen Höhepunkt im Fordismus. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts
ist die Geburtenrate stetig zurückgegangen, in den 1940ern schnellte sie steil
in die Höhe (das bedeutete eine Umkehrung eines zweihundertjährigen Trends,
Tyler May 1999, S. 383). Verbunden war das mit einer Phase, in der Popularkultur
und politischer Diskurs um Familienwerte kreisten (Tyler May 1999, 584), es führte
zum so genannten Baby-Boom und einer Tendenz zur frühen Heirat. In den USA
begann diese Phase direkt bei Kriegsende und dauerte ungefähr bis 1965. Auch in
Österreich hat es eine ähnliche Entwicklung gegeben, war die
Fruchtbarkeitsrate (eine rechnerische Größe, die angibt, wieviele Kinder eine
Frau im Laufe ihres Lebens zur Welt bringt), 1934 bei 1,6 (Hausa 1980, S. 103),
1937 bei 1,55, stieg sie 1951 das erstemal über zwei (2,02), stieg von da an
immer an (1954: 2,15, 1957: 2,57, 1960: 2,69), erreichte den Höhepunkt 1963 mit
2,82 und sank dann kontinuierlich ab (1966: 2,66, 1969: 2,49 – Zahlen nach Faßmann
1995, S. 401). In der revolutionären Phase vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1920er
und 1930er Jahre hat es Versuche gegeben, aus der herrschenden
Geschlechterordnung auszubrechen: die erste Frauenbewegung (bürgerlich und
proletarisch-sozialistisch), die erste Homosexuellenbewegung (Magnus
Hirschfeld), Diskurse über Sexualität von der Psychoanalyse und Wissenschaft
bis hin zu Frauenzeitschriften. Durch die Kriegszeiten sind viele Frauen auch in
männliche Berufe gekommen, aber nach dem Ende des Krieges, als viele Männer
aus der Gefangenschaft zurückkommen, setzt sich die Familienideologie als
dominierend durch. Im bäuerlichen Patriarchat und in den kleinbürgerlichen Familienbetrieben
hat es keine Trennung zwischen Haushalt und Betrieb gegeben. Männer und Frauen
führten (teilweise) verschiedene Arbeiten am gleichen Ort aus. (Prost 1999,, S.
23ff) Die Machtverteilung war patriarchal, Männer hatten die
Entscheidungsgewalt über Frauen und Kinder, die Arbeit erschien aber für beide
Geschlechter gleich schwer[v].
Privatheit gab es nicht, sie war ein Privileg der Reichen, des Bürgertums. In
den Städten fand die Vermischung zwischen öffentlichem und privatem Leben an
der Schwelle zwischen Haus und Straße statt, die Wohnungen waren zu klein und
zu überfüllt, um dort zu leben (Prost 1999, S. 18). Auch im frühen
Kapitalismus, in den „alten Fabriken“ gibt es keine Privatheit:
ArbeiterInnen hatten keine eigene Wohnung, sie wohnten (oder besser schliefen)
zu einem großem Teil in Nebengebäuden oder in angrenzenden Internaten (vgl.
Prost 1999, S. 33ff). Diese Lebenssituationen führten nicht gerade zu einer bürgerlich-gesitteten
Lebensweise. Sowohl die Frauenbewegung wie die ArbeiterInnenbewegung verwendeten
als AufklärerInnen den „sittlichen Verfall“ als Argumente für ihre
Forderungen nach Gleichheit und Gerechtigkeit. Wurden in der ersten Phase des Kapitalismus Männer, Frauen und Kinder aus
den nicht kapitalistischen Sektoren angesaugt (weil die bäuerliche Überlebensstrukturen
zerstört wurden oder weil die Menschen aus der Enge des Patriarchats flüchten
wollten) und wieder auf die Straße gesetzt, wenn sie nicht mehr gebraucht
wurden, so kommt es durch Revolten und Kämpfe und die sich später
herauskristallisierende ArbeiterInnenbewegung zu ersten Elementen der
Reproduktion. Die ersten Sozialversicherungen wurden organisiert, Frauen- und
Kinderarbeit eingeschränkt. Der
revolutionäre Aufbruch in der Geschlechterfrage Anfang des 20. Jahrhunderts
geht dann zu wenig weit, außer in Randbereichen setzt sich die Moral der
herrschenden Strukturen durch. Die Anerkennung der ArbeiterInnen als Subjekte
nach Revolution, Krise und Kriegen führte nicht nur zu hohen Löhnen und
Sozialleistungen zur Sicherung der Reproduktion außerhalb des Arbeitsplatzes,
sondern die Institution Familie bekommt ab diesem Zeitpunkt die entscheidende
Funktion zur Herstellung, Wiederherstellung, aber auch zur Organisation des
Lebens außerhalb der Fabrik. Bezeichnenderweise wurden gerade in der
„fortschrittlichen“ Phase des New Deal in den USA die Frauen durch
staatliche Maßnahmen von ihren Arbeitsplätzen verdrängt (in die sie übrigens
kurz darauf wegen des Zweiten Weltkrieges wieder einrücken mussten, Tyler May
1999, S. 575ff). Mit
dem Familienmodell wurde das erste Mal die ganze Gesellschaft der Organisation
des Kapitalismus unterworfen. Früher war das „Leben“ außerhalb der
Gewinnung von Wert durch Arbeit einfach „unkontrolliert“ vorhanden, andere
Produktionsweisen wurden über den Handel in den Kapitalismus eingebunden, das
Leben außerhalb der Verwertung wurde entweder verdrängt oder in den
Kapitalismus eingesaugt (als „Proletarisierung“). Jetzt wird die Familie von
kapitalistischen Institutionen propagiert, ExpertInnen versuchen sie zu formen
und zu beeinflussen. Wurde vorher aus dem Meer von Leben und Überleben geschöpft,
so ist jetzt die Reproduktion Teil der Ordnung des Kapitalismus. Die hohen Löhne,
die aus dem Widerstand und den Kämpfen der ArbeiterInnen und der
kommunistischen Bedrohung entstanden sind, werden jetzt als Familienlöhne
definiert, der Mann bekommt die „Ernährerfunktion“. Ein „verkehrter“
Diskurs setzt sich durch, nicht die Frau im Haushalt ist die Ernährerin,
sondern der Mann, der den abstrakten Wert, das Geld zur Verfügung stellt. Die
Frau verschwindet im Haushalt, sie wird nur über den Mann definiert. Die eintönige
Arbeit, z.B. am Fließband, wird bei entsprechend hohen Löhnen akzeptiert, weil
die Freizeit zugenommen hat und die Familie zu einer Insel der Entspannung und
Erholung wurde (Tyler May 1999, S. 562). Die
Frau wird für das „angenehme Klima“ in der Familie verantwortlich. Hausa
(1980, S. 110) zitiert eine Fessel-Studie von 1972, wo die Frauen als ihre
Aufgaben neben dem Haushalt und der Erziehung der Kinder die Aufrechterhaltung
des Zusammengehörigkeitsgefühls und der Familienatmosphäre sehen. Das
Familienmodell konnte allerdings nur so stabil sein, weil es auch „von
unten“ und nicht nur von Männern gewünscht wurde. Der Wunsch nach
Selbstbestimmung und Sexualität förderte den Wunsch nach Privatheit. Da durch
die geschlechtliche Arbeitsteilung, die ja schon vorher bestand, die Hausarbeit
von Frauen gemacht wurde, und so entweder zu Doppelbelastung oder zur
Verwahrlosung der ArbeiterInnen und Kinder führte, entstanden natürlich Wünsche
nach Entlastung von einer Seite her. Die „Linke“ stand der Konstituierung
und Ideologisierung der Familie nicht entgegen. Die geordneten Verhältnisse der
bürgerlichen Familie wurden ein Idealbild der aus dem Schmutz, dem
Nicht-Privaten, dem „Unsittlichen“ kommenden Proletarierfrauen[vi].
War
die romantische Liebe ein Diskurs im BürgerInnentum (die Ehe der Unterklassen
war meist zufällig und zweckbestimmt[vii]),
wurde (nach Tyler May 1999, S. 567 in den USA um 1890) der Wunsch immer größer,
Ehe und Liebe zu verbinden. Durch das Entstehen der Massenkultur, beginnend mit
Liebesromanen, fortgesetzt durch Filme setzte sich dieser Wunsch nach der
romantischen Liebe bei größeren Teilen der Bevölkerung durch. In
den 1950er erreichte die Familie als Modell für die Reproduktion der
Arbeitskraft (durch Kindererziehung und Ernährung des Mannes) und als Insel der
Erholung sowohl in den USA wie in Westeuropa seinen Höhepunkt. In den USA wurde
nach dem Zweiten Weltkrieg die Kindheit idealisiert, aber auch der Vater bekam
eine neue Rolle, er wurde erst als Vater zum richtigen Mann (nicht wie in der bürgerlichen
„viktorianischen“ Familie des 19. Jahrhunderts, wo der Vater nur machtausübender
Patriarch war, Tyler May 1999, S. 586ff). In Österreich wurde die autoritär-patriarchale
Struktur, gefördert durch die katholische Kirche, aber auch durch den
Nationalsozialismus aus der bäuerlichen und kleinbürgerlichen Großfamilienstruktur
auf die Kleinfamilie übertragen. Das durchzieht dann alle Schichten der
Gesellschaft, BürgerInnen, KleinbürgerInnen, ArbeiterInnen, Angestellte, auch
die BäuerInnen. Modellhaft
ausgedrückt bedeutet diese grundsätzliche Struktur, daß die Männer in ihrer
Jugend in den Arbeitsprozess eintreten und dann (meist in der gleichen Firma)
bis zur Pension arbeiten. Frauen arbeiten in ihrer Jugend bis zur Heirat oder
zumindest bis das erste Kind da ist und scheiden dann aus dem Erwerbsleben aus
(vgl. Cyba 1995, S. 439). An den Arbeitsplätzen gibt es weitgehend
geschlechtliche Segregation, bestimmte Branchen wie z.B. die Textilindustrie
sind typisch weiblich, ebenso ein großer Teil des Dienstleistungssektors
(Gesundheitswesen, Körperpflege, Lebensmittel). Führungspositionen sind meist
mit Männern besetzt. Die geschlechtliche Segregation setzt sich auch in anderen
Institutionen der „Disziplinargesellschaft“ fort, im Gefängnis, in der
Schule beginnt die Koedukation in der Oberstufe erst Anfang der 1970er Jahren.
Auch Jugendgruppen sind in ihrer Freizeitgestaltung teilweise geschlechtlich
getrennt. Die
Freizeit wird als Erholung von der Arbeit definiert und scheint mit der
Arbeitszeitverkürzung und der Verlängerung der Urlaubszeit immer mehr
zuzunehmen. 1950
arbeiteten unselbstständig erwerbstätige Männer durchschnittlich 50 Stunden
pro Woche, 1959 wurde der 45-Stunden-Tag eingeführt, der aber konjunkturbedingt
noch keine Auswirkung auf die Steigerung der Freizeit hatte, weil er durch Überstunden
kompensiert wurde. Erst 1969 wurde per Kollektivvertrag der Übergang zur
40-Stunden-Woche und damit die 5-Tage-Woche bis 1975 eingeführt. Nach
Fischer-Kowalski (1980, S. 201) hat die durchschnittliche Freizeit im Bevölkerungsdurchschnitt
1965 im Vergleich zu 1935 abgenommen: 1935: zwischen 4,9 und 6,8 von 24 Stunden,
1965 zwischen 2,3 und 6,2 Stunden. Das liegt an einer leichten Zunahme der
Arbeitszeit und Arbeitsnebenzeiten (1935: 3,5 bis 4,2 Stunden, 1965: 4,1 bis 5,0
Stunden - das hat mit den Überstunden in der Hochkonjunktur, aber auch mit
einer Steigerung der Fahrtwege als Arbeitsnebenzeit zu tun), besonders aber an
einer starken Zunahme der aufgewendeten Zeit für den Haushalt (1935: 1,5 bis
2,9 Stunden, 1965: 3,5 bis 4,9). Durch die Rollenverteilung und die Bindung ans
Haus fällt der Haushalt vollkommen den Frauen zu, die Freizeit zu einem maßgeblichen
Teil den Männern (Fischer-Kowalski 1980, S. 206). Die Benutzung von
Haushaltsgeräten hat die Frauen somit nicht entlastet. Abgenommen hat bis Mitte
der 1960er nur die Zeit für die Zubereitung der Mahlzeiten und die
Instandhaltung der Kleidung, zugenommen haben die Einkaufszeiten und auch die
Wartung der größeren Anzahl von Haushaltsgeräten (Fischer-Kowalski 1980, S.
198). Wahrscheinlich haben sich aber auch die Ansprüche an Sauberkeit,
Anpassung an Moden und ähnliches geändert. Der
Freizeitbereich ist teilweise segregiert, es gibt die männlich dominierten
Vereine, während die Freizeit der Frauen meist „mit der Familie“ verbracht
wird. Insbesonders für junge Burschen und Mädchen gibt es gemischte Bereiche,
bedeutend sind in diesem Zusammenhang Jugendorganisationen, die Heimabende und
gemeinsame Veranstaltungen wie Ausflüge oder kulturelle Ereignisse
organisierten. Im Laufe der Zeit kommt es zu einer größeren
Individualisierung, öffentliche Orte, Cafés und Tanzlokale, teilweise aber
auch das Schwimmbad oder sonstige Freizeiteinrichtungen werden die bedeutenderen
Treffpunkte, die beinahe als „Heiratsmarkt“ bezeichnet werden könnten. Um
die heterosexuelle Anziehung zu fördern, wurde dort die Maskerade der
Geschlechtlichkeit am stärksten forciert. Obwohl
die (Kern)-Familie, wie oben beschrieben, erst seit kurzem existierte, erschien
sie als völlig „natürlich“. Allerdings, kaum, daß sie entstanden ist,
wird sie durch die kapitalistische Entwicklung in Frage gestellt. Die Suche nach
neuen Märkten und die Anerkennung der Frau als Konsumentin (wenn auch für
„frauenspezifische“ Artikel wie Haushaltsgeräte, Kleidung und Kosmetik)
schafft auch neue Bedürfnisse, die dann auch mit eine Grundlage für den
folgenden Aufbruch der Frauen sind, für den Aufbruch des Feminismus der zweiten
Frauenbewegung. Von
1968 ist oft von einer antiautoritären Revolte gegen die Familie die Rede, weil
die Ansprüche und die Wirklichkeit auseinanderfallen. Meist war der Kampf gegen
die Familie nur Pose, während die Hauptfeinde der Antiautoritären die
Institutionen der Disziplinargesellschaft (Heime, Psychiatrie etc) waren. Gerade
in Österreich hatte der Kampf gegen die Disziplinierung in den Mittelschulen,
gegen autoritäre LehrerInnen, zu einem gar nicht so kleinem Teil noch alte
Nazis, eine größere Bedeutung als der „Kampf in der Familie“. Es waren zu
einem Teil die Kinder aus liberalen Familien, die sich wegen der teilweisen
Unterstützung der Eltern gegen verkrustete und veraltete Institutionen wehren
konnten. Wenn sich ein Widerspruch ausgewirkt hat, dann der zwischen der
strengen Sexualmoral in den Familien und dem „Sex“ als zu konsumierenden
Produkt – von Filmen bis zu Büchern und Zeitschriften. Die Zersetzung der
Familie erfolgte weniger durch den Kampf in der alten Familie als durch den
Versuch der nachfolgenden Generationen, andere Lebensprojekte auszuprobieren. Die
Verstaatlichung der ArbeiterInnenklasse Die
Anerkennung der organisierten ArbeiterInnenbewegung (in Österreich die SPÖ und
der ÖGB) ist entscheidend für die Konstitution des Nachkriegskapitalismus in
den Industriestaaten. In der Zwischenkriegszeit hat ein unversöhnlicher
Gegensatz zwischen den beiden „Lagern“, dem sozialistischen und dem
katholischen bestanden, was in der Zerschlagung der (noch teilweise) legalen
Sozialdemokratie im Februar 1934 seinen Höhepunkt erreichte. Die politische
„Gesinnung“ oder „Weltanschauung“, wie es damals hieß, war in den
sozialen und regionalen Strukturen verankert. So hat es in Wien typische Bürgerbezirke
und typische Bezirke der ArbeiterInnen gegeben. Politische Traditionen wurden über
die Generationen weitergegeben. Die Errichtung von Gemeindebauten
in der Zwischenkriegszeit verstärkte diese Strukturen noch, soziale
Zusammenhänge außerhalb der Arbeitszeit waren mindestens genauso wichtig wie
der Zusammenhang der ArbeiterInnen in den Fabriken. Der
Nationalsozialismus hatte als Ziel, diese sozialen Strukturen zu zerschlagen und
die Menschen – unter Verwendung der Kommunikationsformen der
ArbeiterInnenbewegung wie Aufmärsche und Fahnen – in eine nationale Einheit
zu formen. Die Individuen sollten allein dem (deutschen) Staat untergeordnet
werden. Einerseits wurden Familien gefördert, anderseits funktionierte die
Jugendorganisation, die Hitlerjugend als Instrument zur Konstitution des
„Volkes“. Die Situation der Nachkriegszeit zeigte aber, daß ihnen das nicht
gelungen war. Nach dem Sieg der Alliierten bestanden die gleichen sozialen
Zusammenhänge, die gleichen „Lager“, nur die vertriebenen und vernichteten
JüdInnen als Kern eines bürgerlichen Liberalismus waren nicht mehr da und
werden auch nicht mehr kommen. Auch die massiven demographischen Umwälzungen in
den ersten Nachkriegsjahren durch Flüchtlinge änderten nichts an dieser
Situation, hunderttausende von Displaced Persons wurden in Barackenlagern
und Stadtrandsiedlungen gettoisiert[viii]. Während
die sozialen Trennungen aus der Zwischenkriegszeit aufrecht blieben, suchten die
Eliten der beiden großen Parteien ÖVP und SPÖ, bis 1947 auch die KPÖ, die
Zusammenarbeit. Die Angst vor revolutionären Umwälzungen wie nach dem Ersten
Weltkrieg waren groß wie auch unbegründet, u.a. weil die antagonistischen
Auseinandersetzungen von der pragmatischen Politik der KPÖ und der
internationalen Politik Stalins gezähmt wurden. Die Angst vor dem Kommunismus
und die Erfahrungen aus der Weltwirtschaftskrise 1929 führten zur großen
Koalition, die bis 1966 andauerte, aber auch zu den Elementen einer
„Planwirtschaft“ – das bedeutete in der damaligen Diskussion nicht das
Modell des „realen Sozialismus“, sondern nur die Verstaatlichung zentraler
Sektoren der Wirtschaft, wie sie die SPÖ vertrat (Deutsch 1979, S. 56ff) oder
eine „gelenkte Wirtschaft“ von Seiten der ÖVP (Deutsch 1979, S. 68ff). Die
Verstaatlichung großer Teile des Bergbaus, der Maschinen- und Metallindustrie,
des Fahrzeugbaus, der Elektroindustrie und der chemischen Industrie am 19. Juli
1946 wurde aber auch zur Verhinderung – insbesonders sowjetischer –
Demontageabsichten durchgeführt. Ein großer Teil dieser Grundstoffindustrie
wurde unter den Nazis von ZwangsarbeiterInnen errichtet und bildete damit die
Grundlage für den nachfolgenden Boom als Zulieferer für die in Westeuropa
entstehende Konsumgüterindustrie. Der
ÖGB wurde 1945 als Einheitsgewerkschaft (sozialistisch, christlich und
kommunistisch) von oben gegründet, konnte sich aber sehr schnell gegenüber den
ArbeiterInnen etablieren. Die sozialen Unruhen in den ersten Jahren des Krieges
waren von der schlechten Versorgung und der Mangelwirtschaft geprägt.
„Hungerstreiks“ für eine angemessene Versorgung erreichten um 1947 einen Höhepunkt,
immer wieder hat es Tumulte auf den Märkten und Forderungen nach
Preiskontrollausschüssen gegeben. Ab 1947 stimmte der ÖGB den (ab dann jährlichen)
Lohn-Preis-Abkommen zu: die Gewerkschaften verpflichteten sich zu einer
moderaten Lohnpolitik, die Wirtschaftskammer zu einer Beschränkung der Preiserhöhungen.
Da sich die UnternehmerInnen nicht disziplinieren ließen, kommt es immer wieder
zu Unmut in der Bevölkerung. So gibt es sowohl 1948 wie 1949 Streiks und
Krawalle. 1950
kam es, ausgehend von Oberösterreich, zu spontanen Streiks und Demonstrationen
gegen das vierte Lohn-Preis-Abkommen. In der VOEST (im damaligen
amerikanischen Sektor) waren für die entqualifizierten Arbeiten besonders viele
DPs und Flüchtlinge beschäftigt, die noch nicht gewerkschaftlich diszipliniert
waren. Dort und in der SPÖ-Hochburg Steyr begann 26. September 1950 die mehrtägige
Streikbewegung. Bei Demonstrationen in Wien wurden mehrere Polizeikordons
durchbrochen. Obwohl diese Bewegung immer als kommunistischer Putschversuch
denunziert wurde, kamen die Streiks auch der sowjetischen Verwaltung nicht
gelegen, weil jeder Streiktag sehr viel Geld koste, wie der KP-Leitung
vermittelt wurde (vgl. Spira 1979, S. 16). Schon am zweiten Tag, gerade als die
spontane Bewegung ihren Höhepunkt erreichte, beschloß eine KPÖ-dominierte
Versammlung eine gesamtösterreichische Betriebsrätekonferenz für den Samstag,
den 30. September und die Aussetzung des Streiks. Dadurch wurde die spontane
Bewegung abgewürgt. Die Arbeit wurde besonders in den KP-dominierten Betrieben
im sowjetischen Sektor wieder aufgenommen, während in Oberösterreich weiter
gestreikt wurde. Die Betriebsrätekonfernez am 30. beschloß ein Ultimatum zur
Zurücknahme des Lohn-Preisabkommens bis 3. Oktober, sonst würde
weitergestreikt. Am 4. Oktober befolgten fast nur noch die KommunistInnen die
Streik- und Demonstrationsaufrufe, in Oberösterreich wurde die Arbeitsaufnahme
durch die Gendarmerie mit aufgesteckten Bajonetten erzwungen. In Wien und Niederösterreich
machten die Schlägertrupps („Fünfzig-Schilling-Manderl“) des Führers der
Bau- und Holzarbeitergewerkschaft Franz Olah Jagd auf KommunistInnen und
zerschlugen Blockaden der ArbeiterInnen. Es zeigte sich, daß keine Bewegung außerhalb
des Rahmens des Kalten Krieges möglich war. Durch
die Niederschlagung des 1950er-Streiks hat sich der ÖGB als Vertretung der
ArbeiterInnen etabliert, was nicht bedeutet, daß damit schon die
„Sozialpartnerschaft“ begonnen hätte. Auch nach dem letzten
Lohn-Preis-Abkommen 1951 vertrat der ÖGB eine „vorsichtige Lohnpolitik“ zur
Stabilisierung der Währung und der österreichischen Zahlungsbilanz. Ab 1953
war Österreich das erste Mal gezwungen, ohne Auslandshilfe auszukommen (Klenner
1979, S. 1996). Nach dem Ende der Boom-Phase zur Zeit des Koreakrieges 1950 bis
1953 (die kriegsbedingt hohen Staatsausgaben durch die USA bewirkten eine erhöhte
Nachfrage nach Gütern in Europa uns Japan) war der wirtschaftliche Einbruch in
Österreich nicht so groß, weil die Bundesrepublik Deutschland als
Konjunkturlokomotive zu laufen begann. Trotzdem erreichte die Arbeitslosigkeit
im Winter 1954 das größte Ausmaß in der zweiten Republik. Der
Raab-Kamitz-Kurs von 1953 bis 1957 der Bundesregierung[ix],
der als Ziel einen ausgeglichenen Staatshaushalt hatte, wurde vom ÖGB nicht bekämpft
– der ÖGB erwies sich als staatstragend, das nationale Interesse war ihm
immer wichtiger als die „Einzelinteressen“ der ArbeiterInnen[x].
Trotz der gewerkschaftlichen Forderungen nach der Fortsetzung der Zusammenarbeit
wie zur Zeit der Lohn-Preis-Abkommen (das 1951 eingeführte
Wirtschaftsdirektorium wurde 1954 wieder abgeschafft), wurde die Paritätischen
Kommission erst am 27. März 1957 konstituiert. Dieses Organ musste zu
konsensualen Ergebnissen kommen und hatte hauptsächlich über Lohn- und
Preiserhöhungen zu beraten (Klenner 1979, S. 2017), die dann erst von den
entsprechenden Organen beschlossen werden sollten. Wobei der ÖGB mit einer
„latenten Unruhe“ 1956 gegen den Preisauftrieb drohen kann (Klenner 1979, S.
2007: „Eine weniger verantwortungsbewußte Führung hätte die latente
Unzufriedenheit zu übermäßigen Lohnforderungen genutzt und dadurch die
Wirtschaft schwer gefährdet.“ – tatsächlich weist die Streikstatistik des
ÖGB 1956 als Spitzenjahr zwischen 1950 und dem Beginn der 1960er aus. Am 1.
Februar 1959 tritt die 45-Stunden-Woche in Kraft, der ÖGB sieht sich in
Zusammenhang mit der Paritätischen Kommission als Motor der Produktivitätsentwicklung
(Klenner 1979, S. 2026: die Wirtschaft soll die Arbeitszeitverkürzung nicht auf
die Preise aufschlagen, sondern eine Kompensation „durch entsprechnede
Produktivitätssteigerungen, betriebliche Rationalisierungen und Umstellungsmaßnahmen“
zu erreichen[xi]).
Ab
1959 geriet die Paritätische Kommission in eine Krise, die Gewerkschaft wollte
an mehr planenden Maßnahmen der Wirtschaft beteiligt sein. Der ÖGB kritisierte
den Preisauftrieb durch die Konjunktur zu Beginn der 1960er, die Nachfrage stieg
stärker als die Güterproduktion (Klenner 1979, S. 2035). Am 28. Dezember
unterzeichneten der damalige Chef des ÖGB, Franz Olah und der Alt-Bundeskanzler
und Präsident der Bundeswirtschaftskammer Julius Raab von der ÖVP ein
Abkommen, das dann als Raab-Olah-Abkommen bekannt werden sollte. Es war vor
allem als Belebung der Paritätischen Kommission gedacht, sollte diese durch
Konstituierung eines Unterausschusses entlasten und legte Bedingungen für die
Anwerbung von „Fremdarbeitern“ fest (Klenner 1979, S 2126ff). Bis auf die
Anwerbung von AusländerInnen funktionierte die Sozialpartnerschaft noch nicht,
sowohl Olah wie auch Raab waren in ihren eigenen Parteien umstritten, in der Öffentlichkeit
wurde darüber diskutiert, daß die beiden eine „Nebenregierung“ bilden
wollten (Klenner 1979, S. 2039). Olah war im Herbst 1961 als
Nationalratsabgeordneter zurückgetreten, nachdem SPÖ und ÖVP das Budget für
1962 beschlossen haben, ohne ÖGB-Forderungen (Olah: „...sozial
gerechtfertigte Wünsche der Arbeiter, Angestellten und Beamten..“) zu berücksichtigen
(Klenner 1979, S. 2254ff). Klenner (1979, S. 2256) sieht das in Zusammenhang mit
Bemühungen um das Zustandekommen einer kleinen Koalition zwischen SPÖ und FPÖ,
dessen Proponent Olah war, meint aber auch, daß die Verhandlungen mit Raab ohne
Rücksprache im ÖGB passiert seien. Obwohl
am 4. April der Nationalrat die Maßnahmen des Raab-Olah-Abkommens bestätigt,
bedeutet das nicht, daß es keine Unruhe in den Betrieben gegeben hätte. Es hat
immer wieder Schwierigkeiten gegeben, „....den Gewerkschaftsmitgliedern die
Ergebnisse von Abschlüssen klarzumachen und ihre Zustimmung zu erreichen.“ (Klenner
1979, S. 2061). So kommt es im Frühjahr 1962 zum größten Streik der Zweiten
Republik, 200.000 Metall- und BergarbeiterInnen streikten vom 9.Mai bis zum 13.
Mai, um arbeitsrechtliche Verbesserungen des Kollektivvertrages zu erreichen.
Ein Streik der Exekutive verursacht am 2. August 1962 ein Verkehrschaos, ein größerer
Streik konnte mehrmals „nur mit Mühe“ (Olah) verhindert werden (Eppel,
Lotter 1980, S. 314). Am 8.Oktober 1963 wurde der Beirat für Wirtschafts- und
Sozialfragen gebildet, der die wirtschaftliche Entwicklung weiter beeinflussen
sollte. Die Grundlagen für die funktionierende Sozialpartnerschaft wurden
gelegt, aber noch keineswegs verwirklicht. Der ÖGB legte 1964 zwar eine halbjährliche
Lohnpause ein, „um die wirtschaftliche Entwicklung nicht zu gefährden“,
aber 1965 kommt es durch einen Warnstreik bei Post und Eisenbahn zur dritthöchsten
Anzahl an Streikstunden. Ab 1966 ist es mit größeren Streiks in der Zweiten
Republik vorbei, die organisierte ArbeiterInnenklasse kann ab da als in die
Wirtschaft integriert, als verstaatlicht gelten[xii]. Es
besteht der Mythos, daß der ÖGB hauptsächlich Streiks verhindert hätte. Das
stimmt zumindest für die Zeit vor 1966 nur teilweise. Eher ist es so, daß die
gewerkschaftlichen Funktionäre Unruhe unter den Mitgliedern ausnützten, um in
die entscheidende Funktion zur Lenkung der Wirtschaft zu kommen, im Sinne des
Nationalstaats genauso wie im Sinne der „ArbeitnehmerInnen“. Karlhofer
(1983, S. 34) stellt richtig fest, daß der ÖGB Streiks dann inszenierte (oder
auch unterstützte), wenn es den UnternehmerInnen schadete, aber es wurde immer
das Gesamtinteresse im Auge behalten. Karlhofer sieht die
sozialpartnerschaftlichen Steuerungsinstanzen als Ursache für eine Minimierung
der Streikquote: „So fallen etwa die beiden Jahre 1957 (Schaffung der Paritätischen
Kommission) und 1963 (Installierung des Wirtschafts- und Sozialbeirats),
verglichen mit dem Vorjahr, als besonders streikarme Jahre auf. Die
Streikstatistik der Zweiten Republik ist daher in einem hohem Ausmaß als
Indikator für die Wirksamkeit sozialpartnerschaftlicher Konfliktsteuerung
anzusehen.“ (1983, S. 36[xiii])
Diese Beobachtung stimmt nur teilweise, die Streikbeteiligung in diesen
streikarmen Jahren sind um oder nur wenig unter dem Durchschnitt der meisten
Jahren. Es scheint eher so zu sein, dass Abkommen immer nach besonders unruhigen
Jahren abgeschlossen wurden, der ÖGB also den Druck der Streiks für seine gewünschte
Teilhabe an der Wirtschaftslenkung ausnützen konnte: Streikstunden (Klenner 1979, S. 2737)[xiv]: 1951
677.452 1952
602.758 1953
304.817
Höhepunkt der Arbeitslosigkeit 1954
410.508 1955
464.167 1956
1,227.292 1957
364.841
Paritätische Kommission 1958
349.811 1959
404.290 1960
550.582 1961
911.025
Raab-Olah-Abkommen 1962
5,181762 1963
272.134
Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen 1964
283.588 1965
3,387.787 1966
570.846 1967
131.285 1968
53.365 1969
148.139 In
dem Punkt hat Karlhofer recht, daß nicht mehr explizit ökonomische Faktoren für
die Streiktätigkeit maßgeblich sind. Sind die Gewerkschaften (und linke
Parteien) in früheren Phasen nur als GegnerInnen gesehen worden, die durch ökonomischen
Druck etwas erreichen konnten, so sind die ArbeiterInnen über die Bürokratien
zum Transmissionsriemen im staatlichen Gesamtinteresse geworden. Sie sind
notwendig, um das Gesamtinteresse auch gegen kapitalistische Einzelinteressen
durchzusetzen. Ihre typische Machtausübung ist die geordnete
Massenmobilisierung. Dauerten in der Zwischenkriegszeit Streiks relativ lange
bei relativ geringer Beteiligung, so sind Streiks in der Zweiten Republik kurz,
aber mit großer Beteiligung (Karlhofer 1983, S. 32). Wurden früher meist
einzelne Unternehmen bestreikt, so sind es jetzt Streiks um Verträge in einer
gesamten Branche. Sie sind auch viel häufiger erfolgreich, enden meist in
formalen Abschlüssen oder Kompromissen. Die jetzt diskutierten Zahlen betreffen
natürlich nur die gewerkschaftlich anerkannten Streiks, nach Angaben von
Karlhofer hat es immer das gleiche Ausmaß an „wilden“ Streiks gegeben, sie
finden also auch in der Zeit nach 1966 statt, wo die Zahl gewerkschaftlicher
Streiks rapide abnimmt. „Wilde“ Streiks entstehen aus lokalen
Ungerechtigkeiten und sagen nichts aus über die Integration der
ArbeiterInnenklasse in den kapitalistischen Staat[xv].
Mit der Integration von linken Parteien und Gewerkschaften in den fordistischen
Staat und die Anerkennung als „Motor“ der Produktivität, der mit
ausgehandelten Lohnerhöhungen und Arbeitszeitverkürzungen funktioniert, ohne
von Streiks und Demonstrationen gestört zu werden, haben sie ihre größte
Macht erreicht. Durch die weiter steigenden Einkommen ist die Unruhe in den
Betrieben gering, SPÖ und ÖGB führten 1969 ein Volksbegehren für die Einführung
der 40-Stunden-Woche durch, nach langen Verhandlungen wurde das Gesetz zur
schrittweisen Einführung am 11. Dezember 1969 noch unter der ÖVP-Regierung
verabschiedet, wenige Monate vor den Nationalratswahlen, die Bruno Kreisky für
die SPÖ knapp gewann und die ÖVP für sechzehn Jahre in die Opposition
verbannte. In
den 1960ern verändert die zunehmende Privatisierung des Lebens und
Individualisierung die Strukturen der Bevölkerung. Die Identifikation mit einer
„ArbeiterInnenklasse“, die sozialen Zusammenhänge, in die die Menschen in
ihren Wohnvierteln eingebunden waren, wurde immer schwächer. Mann oder Frau
wird Parteimitglied, weil eine Wohnung gebraucht wird oder sonstige Leistungen.
Das gleiche gilt für die Gewerkschaften, die auch immer mehr
Serviceorganisation wird. Selbst Lohnerhöhungen und Verbesserungen der
Arbeitsbedingungen werden teilweise individuell gesucht. Die Vollbeschäftigung
gewährleistet, daß sicher wieder ein Job gefunden wird, was auch Druck auf die
Unternehmen ausübt. Die „Lohndrift“ in Richtung höherer Löhne wird
wichtiger als Kollektivverträge, 1970 erreicht die Bruttolohndrift mit 4,2% den
höchsten Wert (Klenner 1979, S. 2725)[xvi].
In Österreich scheiterten die Versuche der studentischen Linken kläglich, Kämpfe
gemeinsam mit ArbeiterInnen zu führen. Anfang 1966 sollte das Raxwerk in Wiener
Neustadt reprivatisiert werden, die ArbeiterInnen wehrten sich mit einem Streik,
der VSStÖ hielt ein Seminar mit dem Betriebsratsobmann ab, trotzdem setzte sich
der ÖGB mit der Aushandlung von Abfertigungen und nicht mit der „Sicherung
der Arbeitsplätze“ durch (Keller 1983, S. 34). Im Mai 1968 demonstrierten
Studierende und SchülerInnen gemeinsam mit ArbeiterInnen gegen Entlassungen in
der Wiener Lokomotivfabrik, die Betriebsräte sprachen sogar in einem besetzten
Hörsaal vor den dort Versammelten. „Die Solidaritätsaktion mit den Arbeitern
war erfolglos, die Belegschaft der Lokomotivfabrik lehnte es in einer
Urabstimmung ab, gegen die Entlassungspläne zu streiken. Warum sollten die
Arbeiter auch streiken, wenn sie jederzeit eine neue Stellung bekommen
konnten?“ (Keller 1983, S. 77) Revolutionen
im Kapitalismus Ab
1950 beginnt weltweit eine Phase der gesellschaftlichen Entwicklung, die
Hobsbawm (1994) als soziale (S:287ff) und als kulturelle Revolution (320ff)
bezeichnet. Schnelle Umwälzungen haben sich bisher auf die Bevölkerungen des
industrialisierten Teils der Welt und einer kleinen Elite im Trikont bezogen,
seit den 1950er handelt es sich um die „dramatischste, schnellste und
universelle soziale Transformation in der menschlichen Geschichte“ (Hobsbawm
1994, S. 288). Er bezieht sich nur am Rande auf die „Studentenbewegung“
1968, sieht sie als (kleinen) Teil davon. Diese Dynamik ist als Antwort auf
vorherige Revolten und Bewegungen zu sehen, die Brüche hervorruft und dadurch
neue Revolten erzeugt. Mit
Massenproduktion und Massenkonsum beschleunigt sich die technologische
Entwicklung schon während und zwischen den Kriegsjahren, aber dann fortgesetzt
im Wirtschaftswunder des goldenen Zeitalters. Das bedeutet eine massive Änderung
des Alltagslebens, besonders in dem Bereich, der als „privat“ bezeichnet
wird, die Haushaltsführung im Familienmodell betrifft. 1935 wurde Nylon
erfunden, aber erst nach dem Krieg hat die kommerzielle Massenproduktion z.B.
von Nylonstrümpfen begonnen, in den 1950ern tauchten der Kühlschrank auf, die
Waschmaschine, der Fernseher und das Auto wurden in der zweiten Hälfte des 20
Jahrhunderts zu Massenartikeln (Hobsbawm 1994, S.264). 1951 besitzen in Östereich
2,3% der Haushalte einen PKW, 1955 sind es 6,4%, 1965 33% und 1971 52,3%
(Waschmaschinen: 1951: 0.14%, 1955: 1,7%, 1965: 20,6%, 1971: 36,9%, Kühlschränke:
1951: 0,96%, 1955: 3,4%, 1965: 40,5%, 1971: 66,8%, Zahlen nach Karazman-Morawetz
1995, S. 413). Maßgebliche Veränderungen des Lebens haben im 20.Jahrhunderts
durch die Einführung von Radio und Fernsehen stattgefunden. Zuerst hat es das
Radiogerät als Mittelpunkt des Haushalts gegeben (der „Volksempfänger“ der
Nazis, in den 1960er nimmt der Fernseher die Rolle des zentralen Geräts in der
Familie ein. Durch den Transistorradio wurden die Geräte kleiner und billiger
und konnten auch von den einzelnen Familienmitgliedern besessen werden, es kommt
zu einer Individualisierung innerhalb der Familie (Prost 1999 S. 140ff). Jugendliche konnten ab
1967 Ö3 (vorher „Radio Luxemburg“) hören. Im November 1955 hat in Österreich
der Fernsehbetrieb begonnen (Bernold 1995, S. 226), Damals gab es in ganz Österreich
ein paar hundert Fernsehgeräte, 1965 hatten 29,6% der Haushalte einen
Fernseher, 1971 61,6% (Karazman-Morawetz 1995, S.413). Neben
den Veränderungen des Alltags hatten die “technologischen Erdbeben” weitere
Konsequenzen, die für die weitere gesellschaftliche Entwicklung von großer
Bedeutung waren (Hobsbawm 1994, S. 265ff): die komplexere Technologie erforderte
einen größeren Aufwand an Forschung und Entwicklung, was die Bildungsexpansion
auslöste oder zumindest Diskussionen darüber. Weiters konnten die neuen
Technologien viel Arbeit einsparen. (z.B. durch die Automatisierung der Fließbänder).
Die Ausdehnung von Produktion und Dienstleistung durch die steigenden und sich
verändernden Wünsche der KonsumentInnen bedeutete trotz der „Einsparungen“
durch neue Technologien einen massiven Anstieg der Zahl der erforderlichen
Arbeitskräfte (zumindest bis zur Ölkrise 1973). Die gewaltigen Produktivitätssteigerungen
erlaubten die starke Erhöhung von Löhnen und Sozialleistungen und damit wieder
eine Steigerung des Konsums. Um
1950 hat eine sich beschleunigende Entwicklung begonnen, die darauf hinausläuft,
daß das erstemal seit der neolithischen Revolution (das Seßhaftwerden und das
Entstehen der Landwirtschaft) die Mehrheit der menschlichen Bevölkerung nicht
mehr BäuerInnen sind. Das betrifft nicht nur die Industriestaaten, sondern
gerade auch den Trikont: am Ende des Zweiten Weltkriegs waren in Lateinamerika
überall (mit der Ausnahme von Venezuela) mehr als die Hälfte der Bevölkerung
BäuerInnen, jetzt sind sie bis auf Haiti und kleine mittelamerikanische Staaten
nur noch Minderheiten, in den Staaten des westlichen Islams ist die bäuerliche
Bevölkerung von zwischen zwei Drittel bis drei Viertel auf ein Viertel zurückgegangen.
(Hobsbawm 1994, S. 290ff, Zahlen jeweils zwischen 1950 und Anfang der 1980er).
Hobsbawn (S. 291) sieht nur drei Ausnahmen, das subsaharische Afrika, Indien und
China. Seit den 1980ern erreicht aber auch in den meisten südasiatischen
Staaten (Indonesien, Philippinen, Pakistan, Bangladesh, Sri Lanka) die Abnahme
des Agrarsektors „revolutionäre“ Ausmaße. Auch an den Rändern Chinas
(Taiwan, Südkorea) wurde die Landwirtschaft zu einem demographischen Randphänomen
(Hobsbawm 1994, S. 291). Und in den letzten fünfzehn Jahren findet auch in
China eine massive industrielle Entwicklung und eine Abwanderung in die Städte
statt. Die sich ab den 1970ern und 1980ern beschleunigende Entwicklung ist mit
einem rasanten Anwachsen der Städte verbunden, Mitte der 1980er lebt die Hälfte
der Weltbevölkerung in den Städten. In
Österreich hat die rasante Veränderung der Landwirtschaft durch
Rationalisierung in den 1950ern und 1960ern stattgefunden, verlangsamt in den
folgenden Jahrzehnten. 1951 waren noch 30,3% der Beschäftigten in der
Landwirtschaft beschäftigt, 1993 nur noch 5,2%. Diese Umbrüche, die in einigen
Staaten zu reaktionären Revolten der BäuerInnen geführt (z.B. in Frankreich
in den 1950ern), führten auch in Österreich immer wieder zu Demonstrationen,
die sich besonders gegen die „eigene“ Partei die ÖVP richteten. Diese sah
sich gezwungen, einen Spagat zwischen der bäuerlichen Basis und
kapitalistischer Modernisierung durchzuführen. Eine
weitere Entwicklung ist die gewaltige Mobilisierung der Menschen, nicht nur in
die Städte, sondern während des goldenen Zeitalters in Europa durch die
Arbeitsmigration in die entwickelteren Regionen. In den ehemaligen
Kolonialreichen Frankreich und Großbritannien beginnt die Zuwanderung aus
Kolonien schon früher, in Westdeutschland Ende der 1950er. Österreich ist als
Land mit niedrigen Löhnen später dran, 1963 gibt es erst 21.300 ausländische
Arbeitskräfte, am Höhepunkt 1973 226.801 (Faßmann 1995, S. 403). Durch die
Segregation von der österreichischen Wohn- und Arbeitsbevölkerung kommt es in
der ersten Phase zu keinen sozialen Bewegungen, die sich aufeinander beziehen.
Als unterstes Segment und noch nicht diszipliniert durch die Einbindung in die
hiesigen Gewerkschaften, sowie auch durch ihre Herkunft aus ländlichen Kulturen
mit einer anderen Zeitstruktur waren MigrantInnen oft die Hauptakteure mancher
Auseinandersetzungen, z.B. der wilden Streiks in Westdeutschland 1973. Trotz
Wirtschaftskrise und rassistischem Diskurs ist die Zuwanderung und die
Ausbeutung migrantischer Arbeitskräfte nie abgerissen. Es entwickelte sich eine
Eigendynamik, die von den Staaten und vom Kapital trotz brutalster Maßnahmen
nie völlig kontrolliert werden konnte. Die
Ausdehnung des Kapitalismus bedeutete auch eine rapid steigende Zunahme der
Beschäftigung von Frauen. Schmidt (1984, S. 81) bringt einige Zahlen für die
OECD-Staaten: in den USA steigt die Beschäftigung der weiblichen Bevölkerung
im erwerbsfähigen Alter von 15 bis 64 von 1950 37,2% bis 1980 auf 59,1% (um
21,9%), in Kanada um 24,2% von 26,2% auf 50,4%, in Schweden gar um 38,7% von
35,1% auf 73,8%. Verhältnismäßig schlecht steigt dabei die Bundesrepublik
aus, es gibt nur eine Steigerung von 44,3% auf 49,2%. Die Zahlen für Österreich
bei Schmidt (1984) zeigen nämlich gar keine Änderung, sie sind sowohl 1950 wie
1980 51,1%. Es dürfte sogar so gewesen sein, daß zum Höhepunkt des
Familienmodells in Österreich in den 1960ern die Beschäftigung von Frauen
abgenommen hat, nach einer Grafik von Cyba (1995, S. 439) ist die
Erwerbsbeteiligung der Frauen 1971 unter 50%, einen deutlichen Anstieg gibt es
erst in den 1980ern[xvii].
Das könnte mit ein Grund für das etwas verspätete Auftreten der
Frauenbewegung in Österreich (und auch der BRD) sein. Eine
weitere dramatische Veränderung in den letzten Jahrzehnten ist die Zunahme der
Bildung, nur noch die zurückgebliebensten Staaten wie Afghanistan haben eine
große Rate des Analphabetismus (Hobsbawm 1994, S 295). Auch die Universitätsbildung
nimmt zu, in den ambitioniertesten Staaten steigt die Studierendenrate aus dem
Promillebereich auf bis zu 2,5% der Gesamtbevölkerung. Selbst im Trikont gibt
es ambitionierte Staaten wie Ecuador mit 3,2% Studierendenrate oder die
Philippinen mit 2,7% (Hobsbawm 1994, S. 295). In Österreich beginnt die Umwälzung
zu Beginn der 1960er unter Bundeskanzler Gorbach, wo in der Regierungserklärung
von einer Mobiliserung des geistigen Kapitals gesprochen wird, der
wirtschaftliche und soziale Aufstieg sei im Zeitalter von Forschung und
Entwicklung von der Bildung der jungen ÖsterreicherInnen abhängig. Bildung
wird nicht mehr als Teil der Kultur von Eliten gesehen, sondern als notwendiger
wirtschaftlicher Aspekt (Lassnig 1995, S. 461ff). Schon in dieser Phase wird mit
dem Ausbau der Allgemeinbildenden Höheren Schulen (AHS, „jedem Bezirk
eine höhere Schule“ – Lassnig 1995, S. 462) begonnen. Die Zahl der AHS-SchülerInnen
hat von 1953 bis 1963 nur wenig zugenommen (von 67.191 auf 80.678), ist dann
aber sprunghaft angestiegen, bis 1973 hat sich die Anzahl beinahe verdoppelt:
160.500 (Lassnig 1995, S. 482). Die Expansion der höheren Bildung erfolgte für
die PolitikerInnen etwas überraschend, sie glaubten, die Bildung durch zusätzliche
Maßnahmen fördern zu müssen und waren überrascht, daß die Bevölkerung ein
so großes Interesse an der Aneignung von Wissen hat (Lassnig 1995, S. 463[xviii]). Auf den Universitäten
stieg die Zahl der Studierenden nach einem ersten Schub Anfang der 1960er (von
1955: 13.888 auf 1963: 36.387) erst in den 1970ern in einem größerem Ausmaß,
nach der Abschaffung der Studiengebühren durch die Regierung Kreisky 1972 (1963
gibt es 36.387 HörerInnen, 1973: 58.613, aber 1983 bereits 124.111 – Lassnig
1995, S. 482). Der Übergang von einer Eliten- zur Massenuniversität kann als
ein Auslöser der „Studentenbewegung“ gesehen werden. Kleemann (1971, S.
88ff) sieht die US-StudentInnen-Revolte u.a. als Reaktion auf die steigende
Anonymität, die damals entstehenden Free Universities als der Versuch,
das persönliche „sokratische“ LehrerInnen-SchülerInnen-Verhältnis wieder
herzustellen[xix]. Die
Verschiebung in Richtung Massenkonsum bedeutet auch Veränderungen in der Art
der Produktion. Um die Produkte zu verkaufen, müssen die KonsumentInnen darauf
aufmerksam gemacht werden. In der ersten Phase, wo es noch um die Einführung
z.B. neuer Haushaltsgeräte geht, wird Werbung noch als Produktinformation
bezeichnet, immer mehr aber verschiebt sich die Struktur in die Richtung, daß
Bedürfnisse geschaffen werden, die Werbung erhält immer mehr die Rolle der
Imageproduktion[xx]. Da diese Entwicklung
parallel mit Rationalisierung der Produktion, der Einsparung von Arbeitskräften
und einer teilweisen Verlagerung in den Trikont geht, kommt es zu einer
Verschiebung der kapitalistischen Arbeit in Europa. Hat es früher beinahe nur
„persönliche Dienstleistungen (z.B. Friseusen, Krankenschwestern) gegeben, so
kommt es jetzt zu einer Vermehrung unternehmensbezogener Dienstleistungen (z.B.
Werbung). Da die geschlechtliche Arbeitsteilung erhalten bleibt, nimmt die Beschäftigung
durch die Steigerung der Zahl der Arbeitsplätze für Frauen im schlecht
bezahlten Dienstleistungsbereich weiter zu. Die
steigende Bedeutung der Werbung, und dadurch das Eindringen des Kapitalismus in
immer größere Bereiche des Alltags und des Lebens, führt das zu einem Element
der Revolte der zweiten Hälfte der 1960er. Da die werbenden Firmen auf der
einen Seite möglichst viel verkaufen wollen, aber vieles nur verkauft werden
kann, weil es etwas besonderes ist, wird das von vielen Menschen als Entfremdung
empfunden. Aus diesem Grund entsteht der Wunsch auf das vermeintlich
„Authentische“ als Grundlage der Konsumkritik. Gerade durch „Bedürfnislosigkeit“
und „Konsumverweigerung“ als Protest gegen die Überflußgesellschaft“ (Luger,
1995, S. 506) wiederholten z.B. die Hippies auf „natürliche“ und „ursprünglichere“
Weise die Buntheit der Werbung. Nachdem
die Privatheit der Familie gerade entstanden ist, wird sie bereits wieder verändert.
Immer mehr Elemente werden ins Private verlagert (vom Kino zum Fernseher, aus
dem öffentlichen Verkehrsmittel in den Innenraum des Autos, das Zelt als Kopie
des eigenes Hauses im Urlaub am Campingplatz – vgl. Prost 1999, S. 76),
besonders aber verschwinden die Übergangsbereiche zwischen privat und öffentlich.
Das drückt sich in den Wohnhausanlagen der 1950er und 1960ern aus: während früher
Innenhöfe eine Art dörflicher Struktur kopierten (z.B. in den Wohnbauten des
Roten Wien der Zwischenkriegszeit), so sind die Grünflächen der
Nachkriegsneubauten nur noch Durchgangsflächen[xxi].
Alles ist auf den Konsum des Individuums und der individuellen Familie
zugeschnitten. Der Verlust des Übergangsbereiches zwischen privat und öffentlich,
der soziale Strukturen ermöglichte, war dann häufig die Motivation für
Jugend- und Kulturzentren zu kämpfen – für einen öffentlichen Bereich als
Ersatz für die sozialen Kontakte im Bezirk, auf der Straße, in den früher
noch ortsgebundenen Jugendorganisationen. Um
KonsumentInnen (besonders Frauen) zu erreichen, muß der geschützte Bereich des
Privatlebens durch Kommunikation immer wieder aufgebrochen werden. Über die
Medien scheint die Richtung nur einseitig zu sein, die Vereinzelung insbesonders
der Hausfrauen (aber auch der Kinder) scheint ein unabwendbares Schicksal. Aber
gerade diese Verbindung mit einer (vielleicht imaginierten) Außenwelt ist auch
ein maßgeblicher Anstoß für die Infragestellung. Es entsteht Kommunikation über
das „Private“, was mit ein Anlaß für die Forderung wird, die Unterdrückung
in der Familie nicht privat sein zu lassen, sondern das Private öffentlich zu
machen. Ein
Element des Konsums ist die „mobile Privatisierung“ (Luger, Rest 1995) als
eines der bedeutendsten Kennzeichen des Westens. Was mit der Sommerfrische der
Privilegierten im 19. Jahrhundert beginnt, wird im 20. Jahrhundert zum
Allgemeinzustand. Insbesonders seit der Massenmobilisierung durch den
Autoverkehr ist der Urlaub nicht nur mit Erholung, sondern auch mit Reisen
verbunden. In den 1950ern und beginnenden 1960ern genügt noch der Ausflug an
die obere Adria, in der Folge verlangt der Wunsch nach Neuem und Besonderem nach
immer neuen Destinationen. Auch hier erzeugt die Suche nach dem
„Authentischen“ ein Element der Revolte. Für viele Jugendliche in den
1960ern ist eine Reise nach Indien, Nepal oder Afghanistan ein Ausbruch aus der
fordistischen Ordnung des normalen Urlaubs (vgl. Reitter 2002, S. 14ff). Die
steigende Reisetätigkeit der Jugendlichen, z.B. durch Autostop, schaffte aber
auch Kontakte zu den Szenen in anderen Städten, Musik und Klamotten wurden
eingekauft, Drogen kennengelernt, aber auch Politkontakte wurden geknüpft. Am
bedeutendsten für die Entstehung von „Jugend“revolten und damit auch 1968
ist die „Entdeckung“ von Jugendlichen als soziale Subjekte (Hobsbawm 1994,
S.324), sie werden mit steigendem Familieneinkommen auch als KonsumentInnen
interessant. Im Zentrum der Konsumgesellschaft steht die Idee, daß die Menschen
arbeiten, um zu leben, besser gesagt, um zu konsumieren. Das bedeutet, die
entfremdeten Arbeitsbedingungen (z.B. am Fließband) zu akzeptieren, um genug
Geld zum Leben zu haben (Karazman-Morawetz 1995, S. 418ff). Die Halbstarken der
1950er waren eigentlich die Vertreter, teilweise Vorläufer der fordistischen
ArbeiterInnen, sie haben nur das Konzept des Konsums zu früh zu wörtlich
genommen. Die noch im Wiederaufbau steckenden Erwachsenen störten sich
besonders an „unvernünftigen Vergnügen“ und „sinnlosem Herumfahren“
mit dem Moped (Karazman-Morawetz 1995, S. 420). Für die weitere Entwicklung
konnten die kapitalistischen Produktinnovationen an den verschiedenen Wellen der
Jugendrebellion anknüpfen. So passiert es das erste Mal in der Geschichte, daß
sich in Mode und Kultur die Älteren
teilweise nach den Jugendlichen richten Diese gesteigerte „Wertschätzung“
ist grundsätzlich ein Ansporn für Jugendliche, sich wichtig zu nehmen und
darum revolutionäre oder gesellschaftsverändernde Aktionen zu setzen. Mit
dem Kult um die Jugend ist auch der Kult um den Sex verbunden. Der Blick auf den
weiblichen Körper wird ins Zentrum gestellt. Nach Prost (1999, S. 98) ist es
die Wirtschaft, die HerstellerInnen von Haarwaschmitteln, Deodorants, Damenwäsche
und Unterbekleidung, die eine Explosion der (Bild)-Reklame bewirkten und in
Folge die Körperbilder prägten. Bereits in den 1950ern hat ein Diskurs um die
Sexualität in der Ehe oder als Vorbereitung für die Ehe begonnen (Prost 1999,
S. 90). Mit dem Rock´n Roll wurde die Sexualität und Unsittlichkeit der
Unterklassen (der African-American) mit der romantischen Liebe, aber auch
dagegen, populär gemacht – auch wenn es bei körperlichen Andeutungen blieb.
In der „Sexwelle“ sind dann die jugendlich-weiblichen Körperbilder (von
einem unsichtbaren Mann gesehen) und die Akzeptanz und Befreiung der Körper und
der Sexualität zusammengefallen. Diese Sichtweise auf die Sexualität war dann
einer der wichtigsten Anstöße für die Jugendrevolten, die mit 1968 verbunden
werden. Immer wieder war die geschlechtliche Trennung z.B. in Studierendenheimen
Auslöser von Demonstrationen und Aktivitäten. Die Beziehung zwischen Macht und
Blick auf der einen Seite und Körperlichkeit und Weiblichkeit auf der anderen
Seite, war dann ein Motiv für die FeministInnen, gegen die männlichen
„Revolutionäre“ von 1968 zu aufzubegehren. Auch
das Umweltbewußtsein entsteht aus der Umwälzung der Lebensrealitäten. War die
Orientierung nach dem Krieg und noch bis in die 1960er auf Wohlstand gerichtet
(genug Geld für ein annehmbares Leben verdienen), so geht es mit der
materiellen Absicherung immer mehr auch um Lebensqualität (Karazman-Morawetz
1995, S. 420). So ist es nicht zufällig, daß die ersten Bürgerinitiativen als
Vorläufer der Ökologiebewegung dort entstehen, wo die materielle Absicherung
früher vorhanden war, in den „bürgerlichen“ Bezirken. Dort wird aber auch
die Grundlage für die auch linke Ökologiebewegung gelegt. Literatur: Bernold,
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„historischen Sendung“. In: Sieder et. al. (ed): Österreich 1945-1995,
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Renate (1979): Chance auf Veränderung. Geschichte der Verstaatlichung in Österreich
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Paulus, Vocelka, Karl (1998): Die zahme Revolution. ´68 und was davon blieb.
Wien: Ueberreuter. Eppel,
Peter, Lotter, Heinrich (ed) (1981): Dokumentation zur österreichischen
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„Ostmark“, die Erben des Wirtschafts wunders
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Freizeit. Veränderungen im Verhältnis von Arbeit und Reproduktion. In: Sieder
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Ferdinand (1983): „Wilde“ Streiks in Österreich. Entstehungs- und
Verlaufsbedingungen industrieller Konflikte in den siebziger Jahren. Wien: Böhlau. Keller,
Fritz (1983): Wien, Mai 68 – Eine heiße Viertelstunde. Wien: Junius. Kickbusch,
Ilona, Riedmüller, Barbara (1984) (ed): Die armen Frauen. Frauen und
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Fritz (1979): Die österreichischen Gewerkschaften. Vergangenheit und
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Josef (ed) (1970): Dokumentation zur österreichischen Zeitgeschichte.
1945-1955. Wien: Jugend und Volk.Luger, Kurt (1995): Die konsumierte
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Sieder et. al. (ed): Österreich 1945-1995, S. 655-670. Prost,
Antoine (1999): Grenzen und Zonen des Privaten. In: Prost,
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Bechtermünz Verlag. Reitter,
Karl (2002): Die 68er Bewegung – Versuch einer Darstellung. Teil 1. In: grundrisse
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(ed): Die armen Frauen, S. 73-102. Sieder, Reinhard, Steinert, Heinz, Tálos, Emmerich (ed) (1995): Österreich
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Elaine (1999): Mythen und Realitäten der amerikanischen Familie. In: Prost,
Vincent (ed): Geschichte des privaten Lebens. 5. Band, S. 556-602. [i] Im März 1938 lebten 183.000 JüdInnen in Österreich (176.000 in Wien), 65.000 wurden ermordet, durch Vertreibung und Ermordung wurden 70.000 Wohnungen frei (zum Vergleich, im Roten Wien der 1920er und 1930er Jahre wurden 32.000 gemeinnützige Wohnungen gebaut). Nach dem Krieg wurden keine Mietwohnungen zurückgegeben (Jacob 2000, S 21ff) [ii] Für Linz spielte die Nähe zum Konzentrationslager Mauthausen eine wichtige Rolle, dort waren bis 1945 335.000 Menschen inhaftiert, von denen etwa 120.000 überlebten. Allein in den „Reichswerken Hermann Göring“, der späteren VOEST, kamen 7.000 Menschen zu Tode (Jacob 2000, S. 25). [iii] Ab jetzt werde ich den Begriff „Fordismus“ verwenden, um das Regime des modernen Wohlfahrtsstaats zu bezeichnen (in Abgrenzung zum „Postfordismus“), das auf der Trinität von Fordismus, Taylorismus und Keynesianismus besteht. Das fordistische Element beruht auf der Erzeugung von Massenprodukten (z.B. Autos, Fernseher, Nylonstrümpfe), die sich die „Massen“ leisten können, darum die Zahlung hoher Löhne. Der Taylorismus ist die Organisation der Arbeit durch die Aufteilung der Arbeitsschritte, typischerweise am Fließband. Der Keynesianismus ist die makroökonomische Theorie, die die Wirtschaft sowohl innerhalb der Staaten wie auch international reguliert. [iv] Die Familie ist das Modell der heterosexuellen Matrix (Judith Butler), alle späteren Formen des Zusammenlebens sind bereits ein Aufbrechen, wenn auch oft nur in Randbereichen. Sie ist die Institution, in der die Unterscheidung zwischen öffentlich und privat, zwischen Hausarbeit und „Arbeit“ am stärksten mit der Zweigeschlechtlichkeit zusammenfällt. Das bedeutet nicht, daß sie tatsächlich funktioniert hat. Obwohl es (auch von Frauen) gewünscht wurde, war die Zufriedenheit mit der Lebenssituation keinesfalls gegeben. Tyler May (1999, S. 589ff) zitiert eine Frau aus einer Langzeitstudie, die wegen der damals „extrem hohen persönlichen, emotionalen und finanziellen Kosten einer Scheidung“ über 30 Jahre an einer unglücklichen Ehe festhielt (sie ließ sich erst in den siebziger Jahren scheiden). Auch Homosexualität hat es gegeben, mußte aber im Verborgenen, in der Subkultur gelebt werden, viele Homosexuelle heirateten damals. [v] Prost (1999, S. 41ff) meint, der Aufbruch der Frauen gegen die patriarchale Ordnung habe mit der sukzessiven Trennung von Arbeit und Haushalt zu tun. Bei der Arbeit am gleichen Ort hätte es eine Wertschätzung der Arbeit des/der Anderen gegeben, erst danach wurde die Hausarbeit massiv abgewertet. [vi] Ohne dabei die Möglichkeit zu haben, durch Dienstboten ein angenehmes Leben als Herrscherin des Hauses zu führen. Die freie Zeit der Bürgerfrauen könnte mit dazu beigetragen haben, die Hausarbeit in der Folge unterzubewerten. [vii] 1880 waren in Österreich nur 53,1% der erwachsenen Frauen nicht ledig (verheiratet oder verwitwet), im Vergleich dazu waren es 1971 78,1% (Hausa 1980, S. 101). [viii] Der national-rassistische Konsens bestand bereits damals, wie Äußerungen des ÖGB und der SPÖ zeigen sollen: „(Der ÖGB fordert die) eheste Evakuierung der DP und Feststellung, daß Österreich nicht verpflichtet ist, für die Versorgung der DP aufzukommen.“ Aus einem Memorandum des ÖGB an den Alliierten Rat (Kocensky 1970, S. 173). Innenminister Oskar Helmer (SPÖ): „Die österreichische Regierung wünscht ernstlich, alle DPs und die Flüchtlinge aus Österreich wegzuschaffen;..“ (Kocensky 1970, S. 292) [ix] Nach den Wahlen 1953 war die ÖVP gestärkt und führte unter Bundeskanzler Julius Raab und Finanzminister Reinhard Kamitz (ein ehemaliger SS-Mann) eine Wirtschaftspolitik zur Stabilisierung des Staatshaushaltes durch. [x] „...besonnene Gewerkschaftspolitik führten zu einer in der Ersten Republik fehlenden Staatsnähe der Arbeiter und Angestellten. Das kann die Zweite Republik als wertvolles Aktivum buchen“ - schreibt der offizielle Gewerkschaftshistoriker Fritz Klenner (1979, S. 1910). Die GewerkschaftlerInnen sind endgültig nicht mehr Staatsfeinde, sondern sehen sich als konstituierendes Element des kapitalistischen Nationalstaates. [xi] Sollen die ÖGB-GewerkschaftlerInnen als Krypto-OperaistInnen gesehen werden? Der „Operaismus“ vertritt die These, daß sich der Kapitalismus immer nur auf Grund von Kämpfen und Forderungen der ArbeiterInnenklasse weiterentwickelt. In der Phase der Hochblüte des Fordismus sieht sich der ÖGB als Modernisierer tatsächlich in dieser Funktion. Die Zunahme der Produktivität wird mit Lohnsteigerungen (und Arbeitszeitverkürzungen) verbunden, die damals kontinuierlich stattgefunden haben. Die Verschärfung der Arbeitsbedingungen durch Umstrukturierungen („Arbeitshetze“, stärkere Kontrolle) wurde für höhere Löhne und mehr Freizeit auch von den ArbeiterInnen in Kauf genommen. [xii] „Verstaatlichung“ hat natürlich Anklänge an den „realen Sozialismus“, der nur staatlich organisierte Gewerkschaften erlaubte. Der Unterschied ist, daß diese Art der Verstaatlichung nicht an eine Partei gebunden war, sie funktionierte völlig unabhängig von den entsprechenden Regierungen. So kommt es während der ÖVP-Alleinregierung von 1966 bis 1970 zu weniger Streiks als vorher, obwohl der ÖGB von der SPÖ dominiert wird. [xiii] Karlhofer (1983) erklärt damit, daß die Streiktätigkeit nicht mehr von Konjunktur und Arbeitslosigkeit abhängig ist wie in der Ersten Republik). Streiks haben damals bei guter Wirtschaftslage und geringer Arbeitslosigkeit stattgefunden. [xiv] Die verringerte Streiktätigkeit 1953 zeigt noch die Abhängigkeit von Arbeitslosigkeit und Konjunktur. Für das Raab-Olah-Abkommen ist überhaupt kein Zusammenhang mit der Streiktätigkeit zu erkennen, was vermutlich damit zu tun hat, daß es nicht anerkannt wurde. [xv] In Italien, Frankreich, aber auch anderen Staaten ist es um 1968, angestachelt durch das antiautoritäre Moment, zu Kämpfen und Streiks auch in den Betrieben gekommen. Aber selbst dort beendeten Kompromisse die Auseinandersetzungen (am 27. Mai 1968 in Frankreich, am 21. Dezember 1969 in Italien), die ArbeiterInnenklasse endete wieder unter der Kontrolle von linken Parteien und Gewerkschaften als Motor der kapitalistischen Entwicklung. Die (meist studentischen) Revolutionäre beklagten, daß sich die ArbeiterInnen durch Lohnerhöhungen abspeisen ließen. [xvi] D.h. die Effektivlöhne sind um 4,2% höher gestiegen als die Tariflöhne. Die Lohndrift ist noch bis 1974 relaitiv hoch (1971: 2,8%, 1972: 2,8%, 1973: 2,2%, 1974: 2,6%), erst nach der ersten Ölkrise sinkt sie auf negative Werte (1975: -0,3%, 1976: -0,4%). [xvii] Andere Daten zur Frauenbeschäftigung beziehen sich als allgemeine Erwerbsquoten auf die ganze Bevölkerung, wo die Zahl z.B. durch die Einführung des neunten Schuljahres 1962 verzerrt ist – so hat auch die Erwerbsquote der Männer abgenommen. [xviii] Später gibt es eine ähnliche Überraschung über die große Zahl der Studierenden in den geisteswissenschaftlichen Fächern, wo doch die Jobchancen in anderen Bereichen größer wären. Es gibt immer ein „autonomes“ Wollen der Multitude, wie wir schon bei der Unmöglichkeit der Kontrolle der Migration gesehen haben. [xix] Es gibt eine Studierendenbewegung Anfang der 1960er, die aber keinen Einfluß auf die Entwicklungen 1968 hat, die Auseinandersetzungen werden in dieser Zeit von konservativen und rechten Studierenden getragen. [xx] Ich kann mich noch erinnern, daß „Werbung“ gegenüber KritikerInnen noch als notwendige Produktinformation verteidigt wurde. Dieses Argument würde heute niemand mehr ernst nehmen. [xxi] Die Architektur ist nicht „schuld“ an der Auflösung der gemeinschaftlichen Strukturen, sondern sie ist eher realistischer Ausdruck der veränderten Struktur der Gesellschaft. |
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