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Serhat Karakayali, Vassilis Tsianos  Knietief im Antira-Dispo oder Do you remember Capitalism?

Kaum hatte Anfang der neunziger Jahre die Debatte um Rassismus in Deutschland angefangen, da schien sie auch wieder eingeschlafen. Heute erleben wir die stagnativen Spätfolgen dieser nicht zu Ende geführten Diskussion[1]. Ihre Wege und Irrwege sind verschlungen. Die marginale Akademisierungswelle der „Rassismusanalyse“ in Form prekär subventionierter Forschungsprojekte und der dazu gehörenden Veröffentlichungen von Magisterarbeiten geht paradoxerweise mit einer Radikalisierung krypto-identitätspolitischen Antirassismuskonzeptionen für Mehrheitsangehörigen einher – in denen die soziale Existenz der MigrantInnen, die nach wie vor nicht repräsentierbar bleiben, ausgeklammert werden. Es reicht ein flüchtiger Blick in die kleine deutschsprachige Publikationslandschaft des mehr oder weniger seriös anmutenden Antirassismus um die  Konturen einer Figur zu präsentieren, deren beide, symptomale Extreme im folgendem expliziert werden.   Man kann sie mit dem Bild der „widerstrebigen Fügung“ beschreiben, wobei allerdings keine Harmonie der letzten Instanz, sondern epigonale Disharmonie in allen Instanzen waltet. Wir reden von den Implikationen des austro-allemannischen Import-Exportgeschäfts. Und die zirkulierenden Waren von denen hier die Rede ist, sind keine Geringeren als zum einen die Renaissance einer werttheoretisch hergeleiteten Antisemitismusanalyse und zum anderen die verhältnismäßig weitverbreitete Rede vom „institutionellen Rassismus“. 

Kommen wir kurz zum ersten Punkt. Vor nicht langer Zeit und im Kontext der schwarz-blauen Regierungskoalition konstituierte sich auch in Österreich eine Szene um den Begriff des politischen Antirassismus.[2] Schien es erst mal berechtigt, auf die politischen Implikationen der Vernachlässigung der Antisemitismuskritik darin zu verweisen, sorgte bald die gleiche Diskussion für Konfusionen als sie nach Deutschland re-exportiert bei bestimmten antinational-belizistischen Theoriesekten ankam. Rassismus aus der Marxschen Wertformanalyse oder der Antisemitismusforschung der „Kritischen Theorie“[3] als Resultat des Geldfetisches abzuleiten, ist keinesfalls etwas Neues. Es ist halt nur schrecklich „deutsch“. Stephan Grigat, der Apostel dieser frohen Botschaft, die aus muffigen Hegel-Marxismus und Split Labor Approach für Anfänger gemischt ist, geht sogar soweit, dem Rassismus im Zweifelsfall eine Systemrationalität zuzuerkennen.[4] Dieser Zweifelsfall gilt ihm jedoch für den Antisemitismus keinesfalls. Zurecht weisen Manuela Bojadzijev und Alex Demirovic in ihrem Buch „Konjunkturen des Rassismus“ (2002) eine solche werttheoretisch deduzierte Figur zurück: „Dieses Argument soll auch die Kontinuität des Antisemitismus in Deutschland oder Europa treffen, und trifft sie nicht. Denn nach dem Argument müssten alle, eben alle, die unter der Bedingung warenproduzierender und geldförmig bestimmter Gesellschaftsverhältnisse leben, also nicht nur die „Deutschen“, rassistisch sein.“[5] Bzw. antisemitisch, möchten wir hinzufügen. Hier wird es spannend: Denn Antirassismus kann es im grigatschen Universum demnach eigentlich gar nicht geben. Aber der neuralgische Punkt und die eigentümliche Intention dieses Manichäismus ist doch eine andere: Die vollständige Delegitimierung migrantischer Redepositionen in der antirassistischen Bewegung. 

Sorry, aber diesen Film haben wir schon gesehen[6].

Indem wir zeigen, an welchen Stellen die Debatte aufgehört hat und wo sich die einzelnen Positionen verbarrikadiert haben und nun ihre Stellung halten, wollen wir einen Einstieg in unsere eigene Einschätzung finden. Unser Erkenntnisinteresse sind die Schwächen und Niederlagen, die der Antirassismus in Verbindung mit diesem theoretischen Koma erlebt hat. Dies beinhaltet nicht die Behauptung, die antirassistischen Kämpfe hätten ausschließlich aufgrund des fehlenden Theoriewerkzeugs scheitern müssen. Aber umgekehrt wird ein Schuh daraus. Jedenfalls geht es uns darum, den Faden wieder aufzunehmen, die Diskussion anzustoßen und weiter zu treiben. Ob der Antirassismus aus seiner defensiven Lähmung sich befreien kann, steht letztlich auf einem anderen Blatt.[7] 

Ein kurzer Rückblick auf die rassismustheoretische Vorgeschichte in der Bundesrepublik soll deshalb zunächst verdeutlichen, vor welchem Hintergrund und mit welcher Tradition die jeweiligen Positionen in der Debatte operieren[8].

History not repeating

In den 70er Jahren existierte der Begriff des Rassismus beinahe ausschließlich im Kontext der aus den USA importierten „race-relations“ und wurde entsprechend als „Rassenbeziehungen“ verstanden, d.h. der Terminus „Rasse“ bezeichnete empirisch soziale Gruppen, denen man aufgrund somatischer Merkmale angehören konnte. Unhinterfragt blieb der Prozess der Rassisierung selbst, das Phänomen der Rassenkonstruktion wurde quasi biologistisch vorausgesetzt.

Jenseits der Rezeption der US-amerikanischen Debatte, spielte der Rassismusbegriff eine Rolle bei der Analyse des Apartheids-Systems in Südafrika und des Nationalsozialismus. Beide jedoch waren historisch und geographisch weit entfernt liegende Referenten. Der kritische Rassismusbegriff zielte entweder auf den biologistischen Wahn der Nazis und beschwor in aufklärerischer Tradition die Irrationalität des Rassismus – der biologische Rassismus des Nationalsozialismus war geächtet, eine berühmt gewordene Untersuchung im Auftrag der UNO hatte ergeben, dass es keine wissenschaftlich haltbare Grundlage für Rassenunterschiede zwischen Menschen gibt. Oder – wie in bezug auf Südafrika – die Referenten der Debatte spiegelten das „race-relations“-Paradigma, wonach von Rassismus nur dann die Rede sein konnte, wenn das fragliche soziale Verhältnis auch eines zwischen verschiedenen „Rassen“ war.

Auch international war das „Race-Relation“-Paradigma ungebrochen, die mit der Arbeitsmigration nach Europa verbundenen Prozesse der Unterschichtung, Ausgrenzung und Ethnisierung wurden zwar wahrgenommen. Aber bei den linken Gruppierungen, die sich mit den ausländischen Arbeitskräften beschäftigten, dominierte aber der Ansatz, nachdem es sich bei in- und ausländischen Proletariern schlicht um zwei verschiedene Gruppen ein und der selben Klasse handele, die vom Kapital zu Herrschaftszwecken gespalten werde. (vgl. Castles/Cosack, für BRD Bojadzijev, Karakayali 2000) Die juridische Zuschreibung eigentlicher Interessen, wie sie typisch für einen hegelianisch geprägten Marxismus sind, ermöglichten so die Nicht-Beschäftigung mit den repräsentationellen Fragen der scheinbar bloss sozialen Schichtungsproblematik. Der Rassismusbegriff jedenfalls schien nicht anwendbar auf die ArbeitsmigrantInnen und das gesellschaftliche Verhältnis in das sie eintraten, als sie die Grenzen nach Deutschland, Frankreich usw. überquerten.

In den achtziger Jahren schliesslich, als man sich die Illusion abgeschminkt hatte, die mit dem Begriff Gastarbeiter verbunden war, dass nämlich die Arbeitsmigranten bald wieder in ihre Heimatländer zurückkehren würden, enstanden ausreichend Anlässe, sich mit dem Rassismusbegriff vertraut zu machen. Die Anwesenheit mehrerer Millionen Arbeitsmigranten, sowie eine Flucht-Welle aus Polen und der Türkei Anfang der achtziger Jahre war Anlass der ersten grossen bundespolitischen Kampagne gegen Migranten, die schließlich auch zum Regierungswechsel führte. Nun entdeckten Kirchen, Gewerkschaften, Sozialdemokraten und andere Wohlwollende, dass „Ausländerfeindlichkeit“ dumm und gar schädlich sei. Es war die Entstehungszeit vieler Postkarten und Aufkleber, in denen die Gutmenschen zu bedenken gaben, dass alle - und auch Jesus schliesslich irgendwo Ausländer seien. Der Begriff des Rassismus war jedoch weiterhin für besonders extreme und widerwärtige Sonderformen der sogenannten Xenophobie reserviert. In dieser Phase wird der ökonomische Aspekt des Phänomens auf der Ebene der Legitimation der Ausländerbschäftigung („Wer macht sonst die Drecksarbeit?“) im Mainstream des Antirassismus reflektiert, ist jedoch abgespalten von der Rassismusanalyse. Dieser wird ausschliesslich als Manifestation irrationalen Wahns oder von psychisch induzierten Ängsten begriffen.

In den neunziger Jahren dann, nach einem massiven Anstieg von Pogromen gegen AsylbewerberInnen, Flüchtlinge und andere MigrantInnen, begann sich – ausgehend von Migrantengruppen, die darüber eine vehemente Auseinandersetzung mit der radikalen Linken führten – der Rassismusbegriff in Deutschland auszubreiten. Aufgrund spezifischer politischer Dynamiken, die hier nicht en detail diskutiert werden können, in deren Wirkungszusammenhang jedoch vor allem die Kontextualisierung der Pogrome mit dem NS nicht zuletzt durch die Neonazis selbst, der moralische Stellenwert des Rassismusbegriffs und eine mangelnde rassismustheoretische Debatte innerhalb der wesentlichen Träger des Antirassismus kam es zu einer Etablierung des Begriffs Rassismus auf der Ebene eines moralistisch erkämpften Terrains. Die Benutzung des Begriffs war somit nicht mit bestimmten gesellschaftstheoretischen Implikationen verknüpft. Rassismus signalisierte also weniger eine systematische Differenz zum Begriff der Ausländerfeindlichkeit, sondern markierte eher den Grad der moralischen Empörung des Sprechers oder seiner Selbstverortung auf der Links-Rechts-Achse.

Der Kurze Frühling der Rassismusdebatte

Abseits des Mainstream hatte sich bereits ab Mitte der achtziger Jahre eine Debatte um Rassismus entwickelt, die etwa bis Mitte der Neunziger andauerte. [9]

Die Beiträge zeichneten sich allesamt dadurch aus, dass sie den Versuch unternahmen, einen offensichtlich veränderten Rassismus zu begreifen. Gemeinsamer Nenner war dabei die Abgrenzung psychologisierender Ansätze, nach denen die Subjekte des Rassismus und ihre deformierte bzw. pathogene Psyche ursächlich für rassistische Unterdrückung seien. Gleichzeitig begann man zu begreifen, dass sich der Rassismus nicht mehr mit dem race-relations Paradigma fassen ließ. Ins Zentrum der Analyse rückte immer mehr der sogenannte Neo-Rassismus, der von manchen auch differentialistischer oder kulturalistischer Rassismus genannt wurde. Nicht mehr die vermeintlich biologisch-somatischen Unterschiede seien es, mit denen der Rassismus operiere, sondern die Essentialisierung kultureller Differenzen. Die Mehrheit der Beiträge begnügte sich jedoch damit, diesen Switch vom modernen zum quasi postmodernen Rassismus lediglich zu konstatieren, als handele es sich um die oberflächliche Modernisierung eines ohnehin etwas veralteten Konzeptes. Die Abwendung vom psychologistischen Rassismusverständnis implizierte die Analyse gesellschaftlicher Strukturen, denen man die Genese und Reproduktion des Rassismus nachweisen konnte. In Anlehnung an die angloamerikanische Diskussion enstand der Begriff des institutionellen Rassismus, mit dem also die gesellschaftlichen bzw. staatlichen Aspekte des Rassismus in den Blick genommen werden sollten.

Institutioneller Rassismus oder der Antirassismus ohne AntirassistInnen

Die Beschäftigung mit institutioneller Diskriminierung hat in Deutschland, anders als im anglo-amerikanischen Raum keine Tradition. (Einsame Ausnahme davon bilden die Arbeiten von Nora Rätzel 1994 und Marion Gomolla, Frank-Olaf Radtke 2002)[10]. Im Kontext eines Modells von kulturellem Pluralismus (Multikulturalismus) und verstärkten Anstrengungen zur Gleichstellung von Frauen wurde das Konzept in den achtziger Jahren begrifflich und politisch geöffnet und zu einem allgemeinen Konzept institutioneller Diskriminierung weiterentwickelt, das alle relevanten Diskriminierungsmuster nach Geschlecht, sozialer Schicht, Alter usw. einzuschliessen sucht. Erst die Vorstellung institutioneller Diskriminierung macht Programme der affirmative action oder von Quotierungen möglich.[11]

Der Begriff „institutioneller Rassismus“[12] soll deutlich machen, dass rassistische Denk- und Handlungsweisen nicht Sache der persöhnlichen Einstellung einzelner Individuen, sondern in der Organisation des gesellschaftlichen Zusammenlebens verortet sind, welche die Angehörigen der eigenen Gruppe systematisch gegenüber den Nicht-Dazugehörigen privilegieren. Man beteiligt sich an der Diskriminierung, solange man sich diesen Bedingungen anpasst - persönliche Vorurteile müssen nicht im Spiel sein.

Es geht bei diesem Ansatz letztendlich darum, die Trennung zwischen politisch-institutionellen Verhälltnissen und dem „rassistischen Subjekt“ zu überwinden, in dem der institutionelle Rassismus als Vorraussetzung des individuellen verdeutlicht wird. Dabei werden scheinbar bloss subjektive Äusserungen von Rassismus eben als unterschiedliche subjektive Abwehr- und Rechtfertigungsformen identifiziert, durch welche das Subjekt sich einerseits durch die politisch-institutionell „angebotenen“ rassistischen Arrangements zur Konfliktvermeidung und um des scheinbaren individuellen Vorteils willen korrumpieren und bestechen lässt.[13]

Seit Mitte der achtziger Jahre arbeitete das DISS (Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung) zu den Themen Rechtsextremismus und Rassismus und entwickelte in Anlehnung an Foucaults Diskursbegriff ein Rassismusverständnis, das sowohl Wissen, Handlungen als auch deren institutionelle Verfestigungen in staatlichen Formen umfassen sollte. Im Rahmen dieser Arbeiten entwickelten Siegried und Margret Jäger einen Ansatz, nach dem Rassismus ein Dispositiv, eine „Ansammlung bestimmter Diskurselemente im Einwanderungsdiskurs“ ist (Jäger/Jäger 2002, 216), die die negative Bewertung abweichender kultureller oder körperlicher Merkmale beinhalten. Institutioneller Rassismus ist gleichbedeutend mit administrativem Handeln auf der Grundlage von Gesetzen. Institutionen werden hier im Wesentlichen als Staat verstanden, der mit seinen diskriminierenden Handlungen gegenüber MigrantInnen die Grundlage für rassistische Einstellungen liefert. Der Rassismus ist somit „Folge des hegemonialen, in Gesetzen gefassten und in der Politik vertretenen Rassismus“ (219). Den staatlichen Instanzen sei eine „(Mit-)Verantwortung“ für die rassistischen Handlungen zuzusprechen, vor allem weil der Staat durch sein Gewaltmonopol und seine demokratische Legitimation „sich jeder Kritik entziehe“. Zwar deuten die Autoren einen Zusammenhang mit der Migration an, in dem sie etwa darauf verweisen, dass der Staat auf den „Druck“ der Migration reagiere, ansonsten bleibt aber ungeklärt, weshalb staatliche Instanzen überhaupt rassistisch diskriminieren. Einen Hinweis könnte dabei die Formulierung geben, nach der die Staatsapparate ihre Entscheidungen „auf der Basis von Gesetzen“ treffen. Staatsapparate sind also nicht bloss Automaten, wie es Siegfried und Margret Jäger nahelegen, sondern durchzogen von gesellschaftlichen Verhältnissen, etwa in Gestalt von Gesetzen.

Anfang der neunziger Jahre hat Birgit Rommelspacher diesen Aspekt zur Sprache gebracht, als sie die Interessen der Mehrheitsbevölkerung an der Unterdrückung der Minderheiten thematisierte. In ihrem Konzept der Dominanzkultur wollen die Mehrheitsvertreter ihre Privilegien und Vormachtstellung mit Hilfe ständiger Normierungen gegenüber den MigrantInnen absichern. Kulturelle Hegemonie dient demzufolge der Ausgrenzung und Entwertung der kulturellen Praktiken der Anderen, sie ist Ausdruck individueller internalisierter Strategien, die sich zugleich in Institutionen niederschlagen.

Dieser Ansatz war fruchtbar, um die subjektiven Interessen von Frauen und Männern an verschiedenen Formen des Rassismus zu verstehen.[14] Woran es ihm jedoch mangelt, ähnlich wie bei Jäger, ist die Theoretisierung des unterstellten asymmetrischen sozialen Verhältnisses, innerhalb dessen die Akteure ihre Strategien entfalten. Die Ungleichheit, die die Mehrheitsdeutschen absichern wollen, ist ebenso vorausgesetzt, wie bei Jäger der Diskriminierungssrassismus des Staates, der dann gleichsam nach unten abstrahlt.

Die Debatte um Institutionellen Rassismus wurde in Deutschland jedoch ohne die in der internationalen Debatte übliche theoretische Begriffsarbeit geführt. Der Begriff des Institutionellen Rassismus wurde eingeführt, ohne die sozialen und theoretischen Modi in den Blick zu nehmen, die es ermöglichen, Institutionen auf ihre rassistischen Implikationen oder eben Praktiken hin zu analysieren. Den Rassismus von seinen Effekten aus zu analysieren ist nicht unüblich innerhalb der kritischen Rassismusdebatte. Das Problem ist allerdings, dass diese Analysestrategie aus politischer Sicht voraussetzungsvoll ist. Mit diesem Ansatz kann man den Rassismus zwar skandalisieren, nicht aber ihn in seinem gesellschaftlichen Wirkungszusammenhang begreifen. Die Kräfteverhältnisse, die eine Skandalisierung voraussetzen, wären selbst erst analytisch aufzuarbeiten. Das Problem ist in Deutschland also, dass man das Konzept des Institutionellen Rassismus übernommen hat ohne zu verstehen, dass seine Anwendung auf der Mobilisierbarkeit antirassistischer Empörungspotentiale beruht.

Der Begriff des Institutionellen Rassismus stellt zugleich den Höhepunkt der deutschen Debatte dar, sowohl hinsichtlich der relativen Etablierung bis hin zu linksliberalen Kreisen, als auch in seiner Wirkungslosigkeit.  Die Wirkungslosigkeit rührt einerseits von der Nicht-Verbindung mit antirassistischen Kämpfen und andererseits von dem theoretischen Verfahren her, das Institution und Rassismus einfach zueiander addiert hat.

Es ist unter anderem diese theoretische Ungenauigkeit, die Robert Miles Mitte der achtziger Jahre veranlasste, eine Kritik der institutionalisierten Formen antirassistischer Politik, wie zB. in Gestalt von Anti-Diskriminierungsgesetzen, zu formulieren, denen ein bestimmtes Verständnis von „institutionellem Rassismus“ zugrundelag.  Zwar wurde Miles auch in der deutschen Debatte beinahe schon inflationär rezipiert, jedoch nur hinsichtlich seiner Systematisierung der Definitionskriterien des Rassismusbegriffs. Nicht zur Kenntnis genommen wurde bedauerlicherweise seine Analyse des Institutionellen Rassismus. Gerade hier hätten jedoch Ansatzpunkte für eine Weiterentwicklung einer Theorie des Verhältnisses zwischen Staat und Rassismus bestanden.

Miles & More

Robert Miles, Soziologe und Leiter der Forschungsgruppe „Migration und Rassismus“ an der Universität Glasgow, ist einer der bekanntesten Vertreter der neuen britischen Rassismusdiskussion. Mit seiner Abwendung vom Paradigma des „Rasse“-Konzeptes ebnete er den Weg für die Anwendbarkeit des Konzeptes der Rassenkonstruktion auf Prozesse der Ethnisierung der EinwanderInnen, ohne dabei auf das sozialwissenschaftliche Paradigma der „Ethnizität“ zu rekurrieren, in dessen Rahmen Rassismus zu einem Subaspekt des Ethozentrismus degradiert wird.

Was Miles zurückweist, wenn er Rassismus analytisch ausschließlich als ideologischen Prozeßkomplex der Repräsentation von Gruppenkonstruktionen in Diskursen der Differenz bestimmt, sind methodologisch-individualistische Ansätze[15], die vom individuellen Nutzen von Vorurteilen für die rassistischen Subjekte ausgehen sowie funktionalistische Ansätze, die Rassismus auf dessen Funktion bzw. seine Konsequenzen reduzieren. Erst die stringente Handhabung eines engen Rassismusbegriffes, die seinen repräsentationalen Gehalt analytisch hervorhebt, erlaubt es,  die Bestimmung seiner spezifischen ideologischen Artikulation mit sexistischen und/oder nationalistischen Diskursen, die sich in der Praxis überlappen, herauszuarbeiten[16].  Im Unterschied zur bundesdeutschen Debatte unterscheidet Miles nun Ausgrenzungspraktiken vom institutionellen Rassismus. Er benutzt den Begriff der Ausgrenzungspraxis, „um all die Fälle zu analysieren, in denen eine näher bezeichnete Gruppe bei der Zuteilung von Ressourcen und Dienstleistungen nachweislich ungleich behandelt wird, oder in denen sie in der Hierarchie der Klassenverhältnisse systematisch über- oder unterrepräsentiert ist“[17]. Notwendige definitorische Voraussetzung dieser so gefaßten Ausgrenzungspraxis, ist die Faktizität der Diskriminierung einer sozial definierten Gruppe, die der Ausgrenzung vorausgeht. Die jeweiligen Praktiken askriptiver Diskriminierung, Unterdrückung und Ausgrenzung implizieren nicht unbedingt eine funktional äquivalente Ausgrenzungsideologie. Sie sagen an sich nichts über den repräsentationalen Gehalt der ausgeübten Diskriminierung aus.[18]

Der hierzu komplementäre Begriff ist der des „Institutionellen Rassismus“, der auf zwei Arten von Verhältnissen beruht. Zum einen basiert er auf Verhältnissen, in denen Ausgrenzungspraktiken direkt aus einem rassistischen Diskurs heraus entstehen. Das heisst, dass sie ihn verkörpern, ohne durch ihn gerechtfertigt werden zu können. Zweitens beruht er auf Verhältnissen, in denen ein explizit rassistischer Diskurs so abgewandelt wird, daß der unmittelbar rassistische Inhalt verschwindet, sich die ursprüngliche Bedeutung aber auf andere Wörter überträgt.[19] Ausschlaggebendes Moment ist nicht die Beurteilung der Handlungsformen, sondern das Aufzeigen einer historischen Verkettung: Einer Geschichte des Rassismus.

Die erste Ausprägungsform des institutionellen Rassismus resultiert aus der Präexistenz eines Rassismusdiskurses. Er bringt Ausgrenzungspraktiken hervor, die nicht mehr auf ihn verweisen. Die Institutionen führen seine nicht intendierten Folgen quasi-automatisch fort wie z.B. im Fall des Antiziganismus. Die zweite Ausprägungsform, die für die aktuelle Formation des neorassistischen Diskurses u.a. in Deutschland sehr charakteristisch ist, konzipiert Miles als einen „Verschiebungsprozeß der Bedeutungen, in dessen Rahmen ein rassistischer Diskurs in einem anscheinend nicht-rassistischen Diskurs Eingang findet.“[20] Man kann inzwischen sehr leicht empirisch zeigen, wie es zur semantischen Transformationen der ursprünglich juridischen Kategorie des „Migranten“ zu einem zentralen Code der askriptiven Diskriminierung einer als homogen und sich selbst reproduzierend vorgestellten Gruppe gekommen ist.[21] Auch Etienne Balibar trägt diesem Aspekt der metonymisierenden Wandlung des rassistischen Diskurses in Frankreich Rechnung: „So entdecken wir, daß im heutigen Frankreich die ‚Immigration’ der Name par excellence für die Rasse geworden ist, ein neuer Name, der jedoch die gleiche Funktion wie der alte hat, so wie ‚Immigrant’ das Hauptmerkmal ist, das die Einordnung der Menschen in eine rassistische Typologie erlaubt.“[22]

In den deutschsprachigen sozialwissenschaftlichen Erklärungsversuchen des Rassismus ist mit Ausnahme des Ethnisierungsansatzes von Bukow keine nennenswerte Adaption des Ansatzes von Miles zu verzeichnen.[23]

Wichtig für unsere Fragestellung ist Miles’ Ansatz weil er die zentrale Bedeutung der historisch sedimentierten rassistischen Verhältnisse für das Verständnis des Institutionellen Rassismus betont. Was Miles aber nicht gelingt, ist eine angemessene Theoretisierung der gesellschaftlichen Prozesse, die eine solche Einschreibung in das materielle Gerüst der Institutionen verstehbar machen. Bevor wir auf diesen Punkt eingehen, wollen wir zunächst die Arbeit von Stephen Castles/Codula Kosack und Marios Nikolinakos diskutieren. Sie leisteten wichtige Pionierarbeit, indem sie durch eine vergleichende Analyse der Migrationssituation im europäischen Kontinent der siebziger Jahre die empirische Basis für den Abschied von der Dominanz des Kolonialismus-Paradigma als dem relevanten Erklärungsmodus des Rassismus gründeten. Sie verwiesen als erste auf den Zusammenhang von Arbeitsmigration und Rassismus, scheiterten aber an ihrer klassenreduktionistischen Analytik, in deren Rahmen Rassismus als ein vom Kapital eingesetztes strategisches Mittel zur Spaltung der Arbeiterklasse bestimmt wurde. Sie lieferten jedoch den vermutlich ersten Versuch, den Zusammenhang zwischen Migration und Rassismus nicht auf demagogische Weise zu denken. Ein Versuch, an den wir anknüpfen können.

The empire splits back

Stephen Castles „split labor market"-Ansatz ist  repräsentativ für marxistische bzw. klassenanalytische Ansätze, die Rassismus im Kontext ökonomischer Transformationsprozesse analysieren. Arbeitsmigration wird in den Kontext der globalen, asymmetrischen ökonomischen Machtstrukturen und der damit verbundenen Kapitalakkumulation und Klassenbildung eingebettet, aus denen für die Arbeitsmigranten Allokationsprozesse der „ethnischen“ Unterschichtung und für die einheimische „Arbeiterklasse“ Spaltungsprozesse resultieren. Im Rahmen seiner Konzeption wird die einwanderungsbedingte Entstehung einer „ethnischen Minderheit“ in ursächlichem Zusammenhang mit deren Klassenlage erfaßt. [24] Behauptet wird ebenfalls, dass Rassismus in Krisenperioden und unter Verhältnissen institutionalisierter Diskriminierung von bestimmten Kapitalfraktionen als Strategie des Krisenmanagements eingesetzt werde. Die Spaltung der Arbeiterklasse durch die staatlich koordinierte Einführung einer disponiblen ausländischen „Reservearmee“ verlagert somit den  „Klassenantagonismus“ auf die Ebene der „ethnisierten“ Fraktionen der „Arbeiterklasse", wodurch die Ausbeutung sowie die staatliche Diskriminierung, der diese unterliegen, weiter potenziert wird. Castles fasst den Status des Gastarbeiters ökonomistisch verkürzt, weil er diesen einzig in Relation zu den Prozessen der Klassenallokation betrachtet. Dies geht einher mit einer problematischen Unterschätzung der repräsentationalen Determinanten, die im Prozeß der Rekrutierung von ausländischen Arbeitskräften wirksam werden. Dabei wird der sozialen Differenzierung innerhalb der „ethnischen Fraktion der Arbeiterklasse“ sowie der gegen sie gerichteten, entsprechend semantisch-funktional differenzierten Formen der Diskriminierung nur begrenzt Rechnung getragen.

Auch die analytische Hervorhebung der Funktionalität der ethnischen Spaltung vermag deren Entstehung nicht überzeugend zu klären. Dabei ließe sich gerade durch die Herausarbeitung der Ursachen ihrer Funktionalität − und zwar durch die Analyse der repräsentationalen Dimension der askriptiv begründeten Allokationsprozesse − die Monokausalität des ökonomischen Reduktionismus widerlegen.

Wenn auch die Arbeitskräftenachfrage die zentrale Bestimmungsgröße der Allokations- und Vergesellschaftungsprozesse ist, so findet die Artikulation von rassistisch bedingten Ein- und Ausgrenzungspraxen indes nicht unabhängig von den sie formierenden Prozessen der Bedeutungskonstruktion statt. Der soziosemantische Kontext der Signifikations- und Attributionsprozesse läßt sich nicht auf die Arbeitsmarktsegmentierung zurückführen. Die strukturell bedingte Exklusionsfunktion des Arbeitsmarktes konstituiert den Rahmen innerhalb dessen die Inklusionskriterien systemisch reguliert werden; sie diktiert aber nicht die Gruppenspezifik der Exklusionskriterien. Diese muß erst als solche im Wirkungskontext eines Diskurses der Gruppenkonstruktion entweder vorhanden sein oder aber neu konstituiert werden. 

Ausblick

Den Institutionellen Rassismus zu verstehen heisst unter den oben diskutierten Voraussetzunen also auch, die Prozesse der Migration zu verstehen, in deren Wirkungszusammenhang sich rassistische Ausschliessungs- und Unterwerfungspraktiken heute vielfach überlagern. Migration verstehen heisst dabei nicht, Wanderung von Arbeitskräften über nationale Grenzen hinweg zu konstatieren, sondern vielmehr Migrationsregime zu analysieren. In ihnen artikulieren sich nicht nur die Modi der Einwanderung, sondern auch die pluralen Klassenkräfteverhältnisse, die die Unterschichtung und Entrechtung der Migrantinnen und Migranten möglich machen. Migrationsregime analysieren heisst auch, den Zusammenhang zwischen Staat, Volk und Nation in den Blick zu nehmen, denn dieser ist es, der letztlich so etwas wie institutionellen Rassismus ermöglicht. Ihn lediglich zu konstatieren, hieße, ein psychologisches oder anthropologisches Modell des Rassismus einfach auf den Staat zu übertragen, ohne die spezifischen Eigenschaften der Institutionen zu berücksichtigen. Was sind nun diese Spezifika?

Unseres Erachtens müsste man, um Institutionen und damit auch den Institutionellen Rassismus analysieren zu können, einen materialistischen Institutionenbegriff zugrundelegen, über den wir zugegebenermaßen nicht verfügen. Man könnte aber auch mit Poulantzas von Staatsapparaten sprechen.  Bevor wir weiter unten auf die Konsequenzen einer solchen Perspektive eingehen, wollen wir an dieser Stelle drei Bedingungen festhalten, die wir für eine kritisch-materialistische Rassismustheorie entscheidend halten.

1. Abschied von einem naiven Institutionenbegriff, nach dem diese nichts weiter sind als gesellschaftliche Konventionen, die wie Automaten funktionieren,

2. Einbettung der Institutionen in eine Geschichte der rassistischen Verhältnisse, innerhalb derer die Institutionen wirken,

3. Reflektion der spezifischen Art und Weise, in der rassistische Praktiken in staatlichen Apparaten überhaupt existieren können, d.h. also auch eine Analyse der Staatsapparate hinsichtlich ihrer Funktion im Migrationsregime

Diese Vorbedingungen sind Versatzstücke, die uns zu einer theoretisch weitergehende Frage führen, die zugleich unseren Einsatz darstellt:  Was kann unter den Prämissen einer materialistischen Staatstheorie zu der Einrichtung und Transformation von Migrationsregimes und der Ausbreitung von Rassismus gesagt werden? Wir können diese Frage nicht abschliessend beantworten, sondern begreifen sie vielmehr selbst als den Einstieg in eine zu führende Debatte über das Verhältnis von Rassismus, Staat und Ökonomie.

Ende der siebziger Jahre entwickelte der marxistische Theoretiker Nicos Poulantzas einen relationalen Staatsbegriff, nach dem sich die Klassenkräfteverhältnisse im Sinne einer geordneten Verkettung von Effekten im Staat materiell verdichten, sich in seine institutionelle Materialität konstitutiv einschreiben. Der Staat kann demnach nicht als ein neutrales Instrument betrachtet werden, eine leere Hülle, derer sich die je stärkste gesellschaftliche Gruppe bemächtigt, noch als Subjekt, das eine abstrakte Macht jenseits der Klassenstruktur besäße. Er ist sowohl Kristallisationspunkt als auch Ort der Klassenauseinandersetzungen. Mit der Konzeption des Staates als der materiellen Verdichtung von Kräfteverhältnissen fand Poulantzas staatstheoretischer Beitrag seinen populärsten Slogan (Poulantzas vgl. kritisch dazu Demirović 1982 S.81f.).

Die Theorie der Klassenkräfteverhältnisse unterscheidet zwar Klassenfraktionen, geht aber auf die − für unsere Fragestellung entscheidende − Klassenzusammensetzung nicht ein. Transnationale Migration ist nun unter anderem der Prozess der permanenten Neuzusammensetzung der Klassen. Um aber Migration und Rassismus im strukturellen und institutionellen Aufbau des kapitalistischen Staates bestimmen zu können, bedarf es über Poulantzas’ These hinaus einer Perspektive auf den Zusammenhang von Ethnisierung und Migration in ihren Wirkungen auf die beherrschten Klassen und ihre Spaltungen.

Die Weltsystem-Theorie von Imanuel Wallerstein liefert hierzu einen entscheidenen Hinweis. Ihrzufolge erwächst Arbeitsmigration aus den Funktionserfordernissen des Wachstums und der Transformation des kapitalistischen Weltsystems. Auf dieser Grundlage hebt Wallerstein die analytische Bedeutung der Haushaltstruktur hervor, und arbeitet ihre Verknüpfung mit Prozessen der ”Ethnisierung” der Weltarbeitskraft heraus. ”Haushaltsstrukturen” liefern demnach einerseits die Voraussetzung für die erweiterte Reproduktion der Arbeitskraft unter den ungleichen Bedingungen der internationalen Arbeitsteilung, andererseits manifestieren die derartig hierarchisierten und im Einwanderungskontext eingebetteten Haushaltsstrukturen die ”praktische Äquivalenz” (vgl. Miles 1991) der rassistischen Stigmatisierung der Segmentierung des Arbeits- und Wohnmarktes. Rassismus sei also die Institutionalisierung der durch die internationale Arbeitsteilung durchgesetzten Hierarchien.

Wallerstein weist darauf hin, dass die strukturelle Spannung in der internationalen Arbeitsteilung nicht automatisch und unvermittelt in die Strukturen der nationalen Arbeitsmarktsegmentation hineinwirkt.

Die Ethnisierung könnte demnach bestimmt werden als ein konstitutives Element der Klassenbildung und zwar nicht auf der Ebene der Klasse als Produktivkraft, sondern in bezug auf das kapitalistische (Staats-) Regime, das in der strukturellen Desorganisation der Beherrschten besteht.

Die Frage lautet nun, welches die institutionelle Formation ist, die “rassistisches Handeln als solches gratifiziert und einen rassistischen Ein- und Auschlussmodus installiert, der die gesellschaftlich koexistierenden Gruppen und Individuen trennt; sie in Subjekte mit 'ethnischer' bzw. 'rassischer' Identität transportiert, eine Institution also, deren Zentrum die ideologische Rassenkonstruktion repräsentieren müsste” (Müller 1995: 99).

Der kapitalistische Staat reguliert innerhalb des jeweils etablierten Migrationsregimes nicht nur die Segmentierung der Arbeitskraft, sondern er kontrolliert auch eine Struktur der differenzierten Reproduktion der Arbeitskräfte. Um zu verstehen, wie diese Reproduktion entlang ethnisierender Kategorien funktionieren kann, bedarf es wiederum einer genaueren Bestimmung des Ein- bzw. Ausschlussmodus unter der Perspektive auf die Nation-Form und ihres Wandels als politisch-ideologische Einheit. Mit anderen Worten, wenn in Poulantzas' Konzeption des Staates dieser durch den Klassenkampf strukturiert ist, und die Kräfteverhältnisse im Klassenkampf die Art und Weise sowie den Umfang markieren, in dem die Arbeiterklasse ”im Staat anwesend” ist, auf welche Weise ist dann der Rassismus im Staat anwesend?

Wir glauben, dass Etienne Balibars These vom “national-sozialen Staat” (Balibar 2001), die er in Anschluss an Poulantzas entwickelte, die theoretische Lücke schliessen kann. Balibar zufolge ist “die Regulierung [...] der Klassenkämpfe durch die Sozialpolitik und die Institutionen zur kollektiven Sicherung zumindest eines Teiles der Lohnarbeiter, die als ‚Wohlfahrtsstaat’, Welfare State oder Sozialstaat bezeichnet wird, seit dem Ende des 19. Jahrhunderts absolut unentbehrlich für die Erhaltung der nationalen Form des Staates” (Balibar 2001: 14).

Die Bedeutung des “national-sozialen Staats" liegt darin, ein Migrationsregime zu etablieren, dass die Rekonstitution der beherrschten Klassen als desorganisierte ermöglicht. Diese Desorganisierung ist möglich, weil die Kopplung sozialer Rechte an die Staatsbürgerschaft − die “soziale Staatsbürgerschaft”, wie Balibar es nennt − die in diesem Prozess stattfindet, die Nationalisierung der Arbeiterklasse materiell fundiert. Auf der anderen Seite ist die staatliche Kontrolle von Einwanderung der institutionelle Ort, an dem ein Mechanismus der differenzierenden Reproduktion der Arbeitskraft dadurch stattfinden kann, dass einem Teil der Arbeiterklasse soziale Rechte vorenthalten werden.

Die Trennung von Lohnarbeit und Staatsbürgerschaft für einen Teil der Arbeiterklasse liefert dann die Grundlage dafür, dass sich der Rassismus konstitutiv in die institutionelle Materialität des Staates einschreibt.

Die Transformation des Migrationsregimes stellt die Folie, auf der wir die Transformationen der rassistischen Unterwerfungsverhältnisse analysieren können. Mit der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts und dem neuen Zuwanderungsbegrenzungsgesetz werden die MigrantInnen auf eine neue Weise judikativ zerlegt um entsprechend administrativ kontrolliert werden zu können. So wie die faktische Abschaffung des Asylrechts zu einer scharfen Trennung zwischen Flüchtlingen und ArbeitsmigrantInnen führte, versucht das neue Regime eine Vielfalt von MigrantInnenklassen – von Aussiedlern über Flüchtlinge und Sans Papiers hin zu GreencardinhaberInnen − entlang des Integrationsdispositivs zu etablieren. Dieses Dispositiv ermöglicht neben einer solchen Klassifizierung die Desartikulation der Migrationsgeschichte und ihrer Kämpfe selbst, da es auf der Basis individueller (Anpassungs-)Leistungen organisiert ist. Im Zentrum der staatlichen Migrationsverwaltung stehend, reorganisiert es die Unterwerfung der MigrantInnen als reformistisches Glücksversprechen auf Inklusion und Gleichberechtigung für das migrantische Individuum. Diese objektive Kategorisierung ist die Grundlage sowohl für Politiken des Rassismus als auch des Antirassismus.


[1] Vgl. Jost Müller: An den Grenzen kritischer Rassismustheorie. Einige Anmerkungen zu Diskurs, Alltag und Ideologie. In :Alex Demirovic, Manuela Bojadzijev: Konjukturen des Rassismus. S. 226-245, Münster 2002

[2] Vgl. Ljubomir Bratic (Hg.): Rassismus und migrantischer Antirassismus in Österreich. In: Ders.: Landschaften der Tat. Linz 2002, 119-142

[3] Eine Ausnahme dazu und als Beweis für den produktiven Umgang mit ideologiekritischen Elementen der „Frankfurter Schule“ und kritischer Rassismusanalyse kann auf die Arbeit von Alex Demirovic verwiesen werden: Vom Vorurteil zum Neorassismus. Das Objekt „Rassismus“ in Ideologietheorie und Ideologiekritik, in: Institut für Sozialforschung (Hg.), Aspekte der Fremdenfeindlichkeit. Beiträge zur aktuellen Diskussion, Frankfurt am Main 1992 S. 21-54.    

[4] Stephan Grigat: Antisemitismus und Rassismus. In: http://www.noracim.net/diskussion/rassismus_und_antisemitismus_1.htm

[5] Ebd. 24

[6] Grigats Rassismus/Antisemitismus- Konzeption ist quasi ein Remake von Peter Schmitt-Egners Buch: Wertgesetz und Rassismus: Zur begrifflichen Genesis kolonialer und faschistischer Bewustseinsformen aus dem Jahre 1976. Wir können hier keine ausführliche Kritik seiner Thesen leisten. (Vgl. Jost Müller: Mythen der Rechten.) Wir verweisen nur auf die kritische Zusammenfassung Stuart Halls einer thematisch ähnlich gelagerten Debatte aus dem angloamerikanischen Raum der siebziger Jahren, die im Gegensatz zur Werttheoretischen nachdrücklich die Etablierung einer kritischen Rassismusanalyse geprägt hat Stuart Hall: Rassismus in Gesellschaften mit strukturellen Determinanten. In desb. Rassismus und Kulturelle Identität. Hamburg ? 

[7] Vgl. Bojadzijev, Manuela/ Karakayali, Serhat/Tsianos, Vassilis: Papers and Roses. Autonomie der Migration und der Kampf um Rechte. In: Buko (Hg.): Grenzenlos glücklich? Beiträge zur Imperialismusdebatte. Göttingen 2003 Im Erscheinen.

[8] Für einen ersten Überblick vor allem für die bundesrepublikanischen Debatten: Christoph Butterwege: Rechtsextremismus, Rassismus und Gewalt Erklärungsmodelle in der Diskussion. Darmstadt 1996

[9] Unsere Absicht ist nicht, die Debatte in ihrer ganzen Bandbreite zu rekonstruieren, sondern einige Positionen vorzustellen, die sich auf diskursive und institutionelle Weise verfestigen konnten.

[10] Vrg. Nora Rätzhel: Arbeit und Diskriminierung am Beispiel Hamburgs. Hamburg 1994 und Marion Gomolla, Frank –Olaf Radtke: Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule. Opladen 2002.

[11] In der angloamerikanischen  Diskussion ist einerseits von einem „internen Kolonialismus“ (Hechter 1975) und andererseits von einer „racialisation“ der sozialen Verhältnisse gesprochen worden (Miles 1991), um das Phänomen der Durchdringung der gesellschaftlichen Einrichtungen zu veranschaulichen. Im deutschen Kontext ist das Phänomen eines alles durchdringenden Rassismus/Sexismus von Kalpaka/Rätzel (1986) und Rommelspacher (1995) bis auf die Interaktionsebene und vor allem von Jäger (1992) bis in die Sprache des Alltags verfolgt worden. (R.S.256)

[12] Die Begriffskombination „institutioneller Rasismus“ war bereits in den sechziger Jahren zuerst von Stokely Carmichael und C.V.Hamilton verwendet worden, zwei einflussreichen Theoretikern der Black Power-Bewegung. 

[13] Vgl. Ute Osterkamp: Rassismus als Normalisierung. Institutioneller Rassismus, Problematik und Perspektiven. In: Dies.: Rassismus als Selbstermächtigung. Hamburg 1998, S. 144 ff.

[14] Vgl. Rommelspacher, Birgit: Dominanzkultur. Texte zu Fremdheit und Macht, Berlin 1995, S. 147 f.

[15] Vgl. Cohen, P.: Verbotene Spiele. Theorie und Praxis antirassistischer Erziehung, Hamburg 1994, S. 25 f.

[16] Vgl. Riedmann, S. /Flatz, C.: Rassismus - Diskussion eines Begriffs. Einleitende Überlegungen, in: Flatz u.a. (Hrsg.): Rassismus im virtuellen Raum, a.a.o., S. 181 ff.  

[17]Miles: Rassismus. Einführung in die Geschichte und Theorie eines Begriffs, a.a.o., S. 103

[18] Als zweites Charakteristikum zur Definition der Ausgrenzungspraxis führt Miles ihren reziproken Bezug sowohl auf intentionale Handlungen als auch auf nicht intentionale Folgen: Der Begriff schließt also sowohl kalkulierte Versuche der Herstellung von Ungleichheiten ein, wie auch einen Komplex von Entscheidungen und Handlungen, deren unbeabsichtigtes Resultat Ungleichheit ist (wobei allerdings die Entscheidung, wider besseres Wissen die betreffenden Praktiken nicht zu revidieren, als intentionale Handlung verstanden werden muß). Aus Gründen analytischer Deutlichkeit, aber auch, um Strategien des Eingreifens zu entwickeln, ist es wichtig, sich zu vergewissern, ob Ausgrenzungspraktiken das Ergebnis intentionaler Handlungen oder nicht-intentionaler Handlungen sind.ebd., S. 105

[19]ebd., S. 113

[20]ebd., S. 115

[21]Vgl. ebd., S.114 ff.

[22]Balibar: Rassismus und Krise, a.a.o., S. 266; vgl. Silverman, M.: Rassismus und Nation. Einwanderung und Krise des Nationalstaats in Frankreich, Hamburg 1994, S. 81 ff.; siehe auch Jäger, S.: Brandsätze. Rassismus im Alltag, Duisburg 1992

[23] Mark Terkessidis, der an Miles vielfach anschließt, versucht, die Rassenkonstruktionsthese einer Kritik zu unterziehen, in dem er die  Überbetonung der phänotypischen Relevanz im Prozeß der Bedeutungskonstruktion bemängelt und die analytische Notwendigkeit der Unterscheidung von Rassenkonstruktion und Rassismus, d.h. die negative Bewertung der vergleichenden Unterscheidung, in Frage stellt. Dagegen wäre einzuwenden, daß die  Annahme der Bewertungsimmanenz im Akt der Klassifikation selbst die Gefahr einer analytischen Neutralisierung des Machtaspektes im Rassismusbegriff birgt (Terkessidis, M.: Psychologie des Rassismus, Opladen / Wiesbaden 1998, S. 74 ff.) Dass eine solche Argumentation zu einer unzulässigen Universalisierung des Machtsbegriffs führt, hat Mona Singer überzeugend dargelegt: „Wenn das Unterscheiden auf der Ebene der Erkenntnis mit Macht verbunden wird, dann, so könnte man sagen, ist hinter jedem Klassifizieren der Wille zur Hierarchisierung zu vermuten. Damit wird aber Macht auf eine unbrauchbare Art universalisiert und taugt nicht mehr dazu, Diskriminierungen (d.h. jemanden von anderen absondern, ihn unterschiedlich behandeln  und in herabsetzen) von nicht diskriminierenden Klassifikationen zu unterscheiden. Klassifikationen von Menschen bezeichnen jedoch immer Verhältnisse und bringen dies zum Ausdruck. Sie können daher, unabhängig vom Kontext der Verhältnisse von Bezeichnenden und Bezeichneten, nicht automatisch als Diskriminierung beurteilt werden.“ (Singer: Fremd. Bestimmung. Zur kulturellen Verortung von Identität, a.a.o., S. 44)

[24] Er vermeidet dabei „Ethnizität" primordialistisch zu erklären, indem er betont, daß der Minoritätenstatus einer „ethnischen Minderheit" nicht arithmetischer Natur sei, sondern auf Prozessen sozialer Ausgrenzung beruhe. Migrantengruppen bilden nicht von vornherein eine ethnische Minderheit. Die Entstehung einer Minderheit ist ein Prozeß, in dem die dominanten Gesellschaftsgruppen den Migranten bestimmte (reale oder imaginäre) Eigenschaften zuschreiben und diese zur Rechtfertigung für bestimmte wirtschaftliche, soziale und politische Rollenfestschreibungen benutzen. Als Reaktion auf diese Erfahrungen entwickeln Migranten eigene Kulturen und Institutionen und verstehen sich als gesonderte Gruppe innerhalb der Gesellschaft.

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ISSN 1814-3164 
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