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Karl Reitter Wo wir stehen Überlegungen zu John Holloways Buch „Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen“ (Die Zahlen in runden Klammern beziehen sich auf die Seiten dieses Buches.) Ich
schlage vor, Holloways Buch als Zwischenbilanz und Standortbestimmung des
emanzipatorischen und antikapitalistischen Denkens und Handelns zu lesen. Daher
habe ich auch den Titel gewählt: Wo wir stehen. In
seiner Arbeit verdichten und verknoten sich zahlreiche Strömungen und
Erfahrungen; manche Kämpfe, Bewegungen und Autoren werden genannt, andere
finden explizit keine Erwähnung, obwohl ich etwa deutlich Verbindungen zur 68er
Bewegung oder zu den Arbeiten von Cornelius Castoriadis erkenne. Kurz gesagt,
Holloway gelingt es, kollektive Erfahrungen des Widerstands zu verarbeiten und
in spezifischer Weise zu thematisieren. „Unsere
Tun sind so ineinander verwoben, daß es unmöglich ist, zu sagen, wo das eine
aufhört und das andere anfängt.“ (39) Das gilt natürlich auch für die schwachen, vagen Seiten dieses Buches.
Sicher, Holloway gibt unserer kollektiven Erfahrung immer eine sehr spezifische
Wendung. Die eine oder andere Schwäche hat sich Holloway tatsächlich selbst
eingebrockt. Aber das grundlegende Problem, die Abstraktheit seiner Antwort, wie
denn nun die Welt zu verändern sei, diese Abstraktheit und Unbestimmtheit ist
nicht nur sein Problem – und ist auch nicht durch höhere Begriffsschärfe
zu überwinden –, sondern ebenso unser aller Problem; daran zeigt sich,
wo wir stehen. Ich
werde im Folgenden versuchen, einige Knotenpunkte des emanzipatorischen
Marxismus bei Holloway darzustellen. Müßig zu erwähnen, daß diese Diskussion
von meinem Blickwinkel aus erfolgt. Ausgangspunkt:
Der Schrei und die Offenheit der Geschichte „Am Anfang ist der
Schrei.“ (10) Anfang meint hier
nicht ein Erstes, das später aufgegeben wird, sondern den ständig lebendigen
und immer präsenten Ausdruck unmittelbarer Erfahrung. Der Schrei hat nichts
Existentialistisches an sich, ist nicht Ausdruck einer nicht weiter begründbaren
Entscheidung, sondern wurzelt in einer ganz bestimmten, historisch spezifischen
Konstellation: „Unser
Schrei hat seinen Ursprung in der Erfahrung der täglich wiederholten Trennung
von Tun und Getanem, von Subjekt und Objekt, eine Trennung, die am deutlichsten
im Ausbeutungsprozeß wahrgenommen wird, die aber jeden Aspekt des Lebens
durchdringt.“
(161) Der Schrei entspringt zwar nicht intellektueller Reflexion, doch ist er
nicht, wie Hirsch in seiner Kritik an Holloway suggeriert, der Vernunft
entgegengesetzt: „Die Wut, nicht die Vernunft drängt zum Gedanken.“
(Hirsch 2003; 34) Wut? Nein, nicht Wut, sondern sinnliche, unmittelbare
Erfahrung. Es war (nicht nur) Herbert Marcuse, der immer wieder darauf
hingewiesen hat, daß die unmittelbare Erfahrung nicht als bloßes Wahrnehmen
des Gegebenen verstanden werden kann, sondern daß bereits sinnliche Wahrnehmung
mit Beurteilung verbunden ist. Wahrnehmung ist ein aktiver Prozeß, ja ein
aktives Verhalten. Es ist sicher richtig, daß diese sinnlich-beurteilende
Wahrnehmung nicht mit intellektueller Reflexion gleichzusetzen ist. Der Schrei
ist nicht die Lektüre des „Kapital“, und die Lektüre des „Kapital“
nicht der Schrei. Aber ihn deshalb, wie Hirsch das tut, als „Wut“ der
„Vernunft“ entgegenzusetzen, ist unzulässig. Vor allem: Weil wir schreien,
lesen wir Marx, und nicht weil wir Marx lesen, schreien wir. Daß allerdings die
Lektüre von Marx unserem Schrei eine tiefere Dimension verleiht, daß wir
anders zu schreien beginnen, ist klar, aber dieser Zirkel von Wahrnehmung und
Reflexion kann nicht als starrer Gegensatz von Wut und Vernunft dargestellt
werden. Holloway
fördert vielleicht ein bißchen dieses mögliche Mißverständnis, indem er zu
wenig herausarbeitet, daß die Vernunft der Sinnlichkeit oder die Sinnlichkeit
der Vernunft nicht einfach als gegeben anzunehmen ist, sondern der Gegensatz
zwischen Befreiung und Unterdrückung bereits auf der vorintellektuellen,
sinnlichen Ebene wirksam ist. Weil Holloway ein wenig die von Marcuse
herausgearbeitete Tendenz zur Abriegelung auf der unmittelbaren Erfahrungsebene
unterschätzt, stellt er auch verwundert die Frage: „Es fällt schwer zu
glauben, irgendjemand könnte so mit der Welt zufrieden sein, daß er nicht von
dem Hunger, der Gewalt und der Ungleichheit um ihn herum angewidert sein könnte.“
(20) Doch die Macht der Eindimensionalität (Marcuse) ergreift nicht nur die
Gedanken, sondern ebenso die Sinne. Der
Schrei ist unmittelbar ein Nein, aber ein Nein, daß aus der Beraubung, der
Deprivation unseres Tuns hervorgeht. Die Negation, die Holloway immer wieder
anspricht, darf nicht durch die Hegelsche Brille gesehen werden, sondern muß
als unmittelbares Nein zu ... verstanden werden. Nicht zufällig nannte
sich eine linke Punkband „No Means No“, und drückte mit ihrem Namen das
Festhalten am Nein aus. „Negation entsteht nicht aus unserem menschlichen
Wesen, sondern aus der Situation, in der wir uns befinden.“ (37) Wir
werden der Produkte unseres Tuns beraubt, das Produkt der Arbeit gehört nicht
uns, sondern dem Kapital. Dadurch ist der Fluß des Tuns unterbrochen, er
stockt, er nimmt dingliche, uns entgegenstehende Formen an, der unterbrochene
Fluß des Tuns gerinnt zur Ware. Der Begriff des Tuns hat meiner Auffassung nach
den Vorteil, die geschichtsphilosophische Dimension des menschlichen Handelns
herauszustellen ohne den Arbeitsbegriff allzu weit auszudehnen. Im
Wildcat-Zirkular Nr. 65 kritisieren die AutorInnen die Weite des
Tun-Begriffs: „Nachdem er ehedem die ‚Arbeit’ ins Zentrum seines Verständnisses
der Welt gestellt hatte, und für seinen damals unscharfen Arbeitsbegriff
kritisiert wurde, der eben nicht die spezifisch kapitalistische Form der
Ausbeutung beinhaltete, ist er nun dazu übergegangen, statt über Arbeit über
‚das Tun’ zu reden, statt über Kapital über ‚das Getane.“ (Wildcat-Zirkular
65, 51f) Nun,
Holloway spricht sehr wohl weiter von Arbeit und Kapital, faßt sie aber als
Sonderformen von Tun und Getanem auf, das ist richtig. Ist diese Erweiterung
sinnvoll und zulässig? Diese Frage führt uns direkt zur Praxisphilosophie,
denn ich würde den Begriff Tun genau im Sinn einer welterschließenden und
weltkonstituierenden Aktivität interpretieren, einer Aktivität, die ihren Sinn
in sich selbst hat. Was bei diesem Thema eigentlich auf dem Spiel steht, läßt
sich ausgehend von folgender Passage im Buch anzeigen: „Die Perspektive des
Schreiens-Tuns ist zwangsläufig historisch, da die menschliche Erfahrung nur
als ein beständiges Sich-darüber-hinaus-Bewegen verstanden werden kann. Die
ist deshalb wichtig, weil es unmöglich ist, Gesellschaft als historisch
aufzufassen, wenn unser Ausgangspunkt nicht das Schreien-Tun (Tun-als-Negation)
ist, sondern statt dessen das Wort oder der Diskurs oder ein positives Verständnis
des Tuns (als Reproduktion)“ (38) Mit dem Tun – Begriff erneuert und
bekräftigt Holloway jene Tradition, die immer darauf beharrte, daß wir
Geschichte im emphatischen Sinne machen, das die Zukunft (wie die Gegenwart und
Vergangenheit) unser Produkt ist. Es ist nicht verwunderlich, daß Cornelius
Castoriadis sehr ähnliche Gedanken wie Holloway entwickelt hat, indem er die
Offenheit der Geschichte mit dem Begriff des Tuns verband. Sobald – so
Castoriadis – aus dem Marxismus eine positive Wissenschaft wurde, gab es
keinen Raum mehr für das weltgestaltende, schöpferische Tun: „Was sich
anfangs als kritische Beschreibung der kapitalistischen Ökonomie verstand, wird
in der vollendeten Theorie rasch zu dem Versuch, diese Ökonomie aus Gesetzen zu
erklären, die unabhängig vom Handeln der Menschen, Gruppen und Klassen
wirken.“ (Castoriadis 1984, 113) Eine strikt objektivistische oder
strukturalistische Auffassung von Geschichte und Gesellschaft läßt dem Sich-darüber-hinaus-Bewegen
keinen Raum mehr. Revolution, so möchte ich Holloway interpretieren, ist kein
einmaliges Ereignis, sondern die beständige Offenheit der Geschichte für den
Fluß des Tuns, ein Fluß allerdings, der durch die Entfremdung, durch Ware und
Kapital, gebrochen ist. Der revolutionäre Prozeß – und hier kommen wir
der Machtfrage das erste Mal nahe – muß in der Wiederaneignung der
kreativen, schöpferischen Fähigkeit des Tuns liegen. Der strikte Objektivismus
des legitimatorischen Marxismus[i]
muß die Revolution auf die Aufführung eines Theaterstücks reduzieren, das längst
in der Schublade der Geschichte fix und fertig vorliegt und den Titel
„Machtergreifung“ trägt. Daher stellt Holloway auch rhetorisch die Frage: „Wenn
es eine objektive Entwicklung der Geschichte gibt, die vom menschlichen Willen
unabhängig ist, welche Rolle spielt dann der Kampf?“ (142) Die Antwort könnte
ebenso von unserem Autor stammen, ist aber von Castoriadis: „Dieser
Kommunismus (von der stalinistischen KPF propagiert – K.R.) ist
nicht mehr ‚wirkliche Bewegung, die den bestehenden Zustand aufhebt’,
sondern zerfällt in die Idee einer künftigen Gesellschaft, die auf die gegenwärtige
folgt, und eine wirkliche Bewegung, die dazu bloßes Werkzeug oder Instrument
ist.“ (Castoriadis 1984, 113) Wert,
Kapital und Fetisch Zweifellos
rekurriert Holloway auf jene Tradition, die annäherungsweise als
Praxisphilosophie oder „existentialistische Marxinterpretation“ bezeichnet
werden kann. Abgesehen davon, daß ich darin nicht den geringsten Mangel,
sondern im Gegenteil eine spezifische Stärke seines Buches erkenne, gelingt es
Holloway etwa im Gegensatz zu Marcuse in beeindruckender Weise, die Konzeption
von Tun (Praxis) mit dem Wert- und Kapitalbegriff zu verknüpfen, was auch
Joachim Hirsch einräumt: „Seine Ausführungen zur Bedeutung und zum
theoretischen Stellenwert der marxistischen Werttheorie sind, um ein Beispiel zu
nennen, glänzend.“ (Hirsch 2003; 40)[ii]
Eines der kompliziertesten und oftmals fehlgedeuteten und mißverstandenen
Themen ist die gleichzeitige Eigenschaft des Werts, sowohl eine scheinbar
dingliche Qualität der Ware als auch ein gesellschaftliches Verhältnis
darzustellen. Wenn Marx die Unfähigkeit der bürgerlichen Ökonomie mit
folgenden ironischen Worten charakterisierte, so gilt dies leider auch für so
manche marxistische Tradition, die einer plumpen „Arbeitswertlehre“ huldigte
und darüber vergaß, daß zum abstrakten Wert nicht nur Arbeit, sondern ebenso
ein ganz spezifisches gesellschaftliches Verhältnis gehört: „Sie bricht
hervor in dem Geständnis naiver Verwunderung, wenn bald als gesellschaftliches
Verhältnis erscheint, was sie eben plump als Ding festzuhalten meinten, und
dann wieder als Ding sie neckt, was sie kaum als gesellschaftliches Verhältnis
fixiert hatten.“ (MEW 13; 22) Wenn Holloway schreibt: „’Das
Kapital’ ist eine Untersuchung der Selbst-Negation des Tuns“ (63), so
verbirgt sich in dieser schlichten Aussage ein gewaltiges Programm einer Neulektüre
des „Kapital“. Sicher, auch Holloway erfindet das Rad nicht neu. Seinen
Hinweis, Engels hätte im Nachwort zum dritten Band durch die Ausdehnung der
Geltung des „Wertgesetzes“ auf die letzten fünf- bis siebentausend Jahre
den Wertbegriff entstellt und im wahrsten Sinne des Wortes verdinglicht, hat
auch schon Hans-Georg Backhaus vorgebracht. Aber indem Holloway Tun, Stockung,
Beraubung des Tuns mit dem Wert- und Kapitalbegriff verbindet, leistet er tatsächlich
Pionierarbeit. So ist sein Ansatz mehr als die Summe von Teilen, mehr als die
Kombination von Praxisphilosophie und Operaismus. Noch dazu kann Holloway die
Beraubung des Tuns mit dem Machtbegriff verknüpfen. Ich werde also nun
versuchen, diesen Zusammenhang, so gut es hier geht, dazustellen: Indem das Arbeitsprodukt aus
dem Fluss des Tuns herausgerissen, usurpiert wird, wird es zu Ware und Träger
von Wert. „Die Ware ist
der Punkt, an dem der gesellschaftliche Fluss des Tuns zerbricht.“
(62) Die Werteigenschaft der Ware ist der notwendige Schein, der aus der
Aneignung des Arbeitsprodukts durch andere entspringt. „Der
Wert der Ware ist die Verkündung der Autonomie der Ware gegenüber dem Tun.“
(48) Der kapitalistische Produktionsprozeß wird von Holloway konsequent als
Prozeß mit Doppelcharakter analysiert. Es verschränkt sich darin einerseits
der Fluß des aktiven Tuns und gleichzeitig der Mechanismus der Beraubung, der
Aneignung durch andere. Der Entgegensetzung von Produktion und Aneignung, von
konkreter und abstrakter Arbeit entspricht die Entgegensetzung in den zwei
antagonistischen Machtbegriffen, der kreativen Macht und der instrumentellen
Macht. Lars Stubbe, der das Buch übersetzt hat, führt sinnvollerweise die
Originalbegriffe für die zwei Formen von Macht an, die ich für weitaus klarer
halte, als die (sicher sehr schwierig zu erstellende) Übersetzung. Power-to-do
wird als kreative Macht, power-over als instrumentelle Macht übersetzt. „Wenn
der gesellschaftliche Fluss des Tuns zerbrochen wird, dann wird kreative Macht
in ihr Gegenteil verkehrt, in instrumentelle Macht.“ (41) Die
instrumentelle Macht (power-over) hat ihre Wurzel in der Aneignung des
Arbeitsprodukts und der Arbeitsmittel durch den Kapitalbesitz. „Instrumentelle
Macht heißt, den gesellschaftlichen Fluss des Tuns zu brechen.“ (43)
Fetisch, ein Begriff den Holloway ganz in den Mittelpunkt rückt, bezeichnet im
Grunde nichts weiter als dieses Verhältnis: „Fetischismus ist der von Marx
zur Beschreibung des Bruchs des Tuns verwendete Begriff.“ (59) Wie viele
Marxsche Begriffe, durchlief auch der Fetischbegriff eine schillernde Kariere.
Bei Holloway erfährt dieser Begriff eine seltene Klarheit: er zeigt den
gebrochenen Fluß des Tuns an, eine Brechung, die Dingform (Ware) annehmen muß,
eine Brechung, die als Ware, Wert und Kapital gesellschaftliche Gestalt (Form)
annimmt. Es
wäre allerdings ein grobes Mißverständnis, das kreative Tun (power-to-do)
logisch und historisch der Entfremdung und Verdinglichung (power-over)
vorhergehen zu lassen.[iii]
Sollte aus poststrukturalistischer Perspektive Kritik an Holloway geäußert
werden, so bin ich sicher, daß Kritik genau an diesem Mißverständnis
hochgezogen wird. Der eine oder der andere Satz mag dieses Mißverständnis fördern,
etwa die bereits zitierte Aussage: „Wenn der gesellschaftliche Fluss des
Tuns zerbrochen wird, dann wird kreative Macht in ihr Gegenteil verkehrt, in
instrumentelle Macht.“ (41) Es ist nicht so, daß bei Holloway ein
unschuldiges, kreatives Subjekt von repressiven Mächten gebrochen und entstellt
wird. Explizit formuliert Holloway: „Anders ausgedrückt schließt der
Begriff der Entfremdung oder des Fetischismus sein Gegenteil mit ein: nicht als
essenzielle, nicht-entfremdete ‚Heimat’ im Inneren unserer Herzen, sondern
als Widerstand, Verweigerung, Ablehnung der Entfremdung in unserer alltäglichen
Praxis.“ (108) Nochmals: Der grundlegende gesellschaftliche Antagonismus,
der Holloway so wichtig ist, ist keine Geschichte eines logischen und
historischen Sündenfalls, sondern ein Verhältnis, das als Verhältnis beide
Pole gleichzeitig zur Voraussetzung hat. Allerdings kann das Tun sehr wohl ohne
Kapital, das Kapital indes nicht ohne Tun existieren. Ich
sehe allerdings ein Problem bei Holloway, das sehr leicht mit dem Vorher –
Nachher verwechselt werden kann. Es scheint mir, als ob die These Entfremdung
als Selbstentfremdung viel zu überzogen vorgetragen wird: Holloway läßt Marx
sagen: „Gegen die Ausrichtung radikaler Theorie auf ein ‚wir-gegen-sie’
Verhältnis schreit Marx auf: ‚Aber es gibt kein sie, es gibt nur uns. Wir
sind die einzige Wirklichkeit, die einzige kreative Kraft.“ (202) Ob hier
nicht die eigene These von der Stockung des Tuns, vom abgetrennten Gegen-Stand
zu leicht genommen wird? In manchen Passagen drängt sich der Eindruck auf,
anstelle von Klassenkampf plädiere Holloway für die Aufhebung der
Selbstentfremdung. Mein Einwand: Wir sind das lebendige Kapital, aber wir
waren das tote. Jetzt sind wir es nicht mehr. Jetzt ist es eine uns
fremde Macht geworden. Uns immer wieder an den Ursprung zu erinnern und zu
sagen: „Halt, so fremd ist diese Macht nicht, das waren wir“, löscht die
Tatsache, daß wir es jetzt nicht mehr sind, nicht auf. Holloways
permanentes Beharren auf der ständigen Herstellung, der ständigen
Konstituierung der gesellschaftliche Wirklichkeit, ist eine Konsequenz seiner
These von Entfremdung als Selbstentfremdung. Aber es gibt das Konstituierte.
Sicher, das tote, uns entgegenstehende Kapital wird dauernd von uns produziert,
aber es wird genau genommen nur vermehrt, es ist auch schon da.
Marx: „Die Arbeitsbedingungen türmen sich als soziale Mächte gegenüber
dem Arbeiter auf und in dieser Form sind sie kapitalisiert.“ (Marx 1969;
81 ebenso MEGA II 4.1; 123) Auch bei dieser Frage bedarf es einer genaueren und
sensibleren Debatte, als ich hier – schon aus Platzgründen – leisten kann.
Ich halte einfach nochmals das Problem fest: Überzieht Holloway die These der
Entfremdung als Selbstentfremdung nicht zu sehr, und unterschätzt er dadurch
nicht die Macht des Gegebenen, des Toten? Holloway
verlagert an der entsprechenden Stelle im Buch, an der er die These Entfremdung
als Selbstentfremdung nochmals bekräftigt, die Debatte auch sofort auf ein zwar
damit zusammenhängendes, doch im Gunde völlig anderes Thema, in dem er
schreibt: „Es gibt keine ‚objektiven Widersprüche’: wir, und nur wir
alleine sind der Widerspruch des Kapitalismus. Die Geschichte ist nicht die
Geschichte der Gesetze der kapitalistischen Entwicklung, sondern die Geschichte
des Klassenkampfes (d.h. des Kampfes um zu klassifizieren und gegen das
Klassifiziertwerden.)“ (204) Damit bin ich völlig einverstanden – und
stelle mich wie Holloway gegen mächtige Traditionen. Sofort setzt Holloway aber
fort: „Wir sind die einzigen Schöpfer, wir sind die einzig möglichen Erlöser,
wir sind die einzig Schuldigen.“ (204) Nein, wir sind nicht die einzig
Schuldigen! Es ist richtig, die Herrschenden sind von uns abhängig, sie sind im
wahrsten Sinne des Wortes unser Produkt, aber unser entfremdetes Produkt, unser
Nicht-mehr-Produkt. „... aber tatsächlich hängt die Existenz des
Herrschers als Herrscher von den Beherrschten ab.“ (204f) Zugestanden,
aber diese Tatsache setzt die Herrschenden erst recht in Gegensatz zu den
Beherrschten. Die Herrschenden wissen von ihrer Abhängigkeit, mit oder ohne Anführungsstriche
über „wissen“. Obwohl ständig verleugnet, obwohl moralisch, intellektuell,
wissenschaftlich, trivial und akademisch, künstlerisch und ästhetisch
verleugnet, ist das Wissen um die Abhängigkeit und Verletzlichkeit der
Herrschaft vorhanden, und es ist nicht resultatlos! Schlägt der Herr den
Knecht, dann erlauben sich feine, gebildete Menschen die Bemerkung: „Es war möglicherweise
nicht richtig, den Knecht zu schlagen, und wenn er schon Züchtigung verdient,
dann doch nicht in diesem Ausmaß.“ Schlägt der Knecht den Herrn, bricht die
Furie des Hasses los. Nun ist keine Strafe zu grausam, und Vergeltung kann kein
Übermaß haben. Power-to-do,
power-over (Kritik an Foucault) Die
Unterscheidung zwischen kreativer (power-to-do) und instrumenteller (power-over)
Macht ist grundlegend für die gesamte Konzeption von Holloway. Instrumentelle
Macht (power-over) kann in keiner Form Mittel und Ziel emanzipatorischen
Handelns sein. „Heute ist die Revolution nicht in der Form einer Übernahme
der Macht, sondern einzig in der Form der Auflösung der Macht vorstellbar.“
(31) Worum es einzig gehen kann, ist die Wiederaneignung der kreativen Macht,
die Überwindung der Stockung, der Entfremdung des Tuns. In diesem Zusammenhang
grenzt sich Holloway völlig zu Recht von Foucault ab: „In der von Foucault
analysierten Gesellschaft gibt es keine Entwicklung: einen Wechsel von einem
Standfoto zum anderen, aber keine Entwicklung. Es kann auch keine Entwicklung
geben, sofern nicht das Tun und dessen antagonistische Existenz im Mittelpunkt
stehen“ (55) Im Gegensatz zu Foucault bekräftigt Holloway den
grundlegenden binären Antagonismus (zwischen Tun und Entfremdung, zwischen
Gebrauchwert und Tauschwert, zwischen power-to-do und power-over), den Foucault
machttheoretisch ausschließt und damit die gesellschaftlichen Gegensätze in
eine subjekt- und zentrumslose Pluralität auflöst. „Wird allerdings die
Vielfalt in den Mittelpunkt gestellt, und dabei die grundlegende Einheit von
Machtverhältnissen vergessen, dann führt dies ebenso zu einem Verlust an
politischer Perspektive: Emanzipation wird mithin unvorstellbar, wie Foucault
hervorzuheben bemüht ist.“ (93) Nun,
die Debatte um Foucault ist ja nicht gerade neu. Nur mit Verwunderung kann ich
den Einwand von Joachim Hirsch zu Kenntnis nehmen: „Foucault ernster zu
nehmen, hätte allerdings bedeutet, den Gegensatz von ‚Macht’ (power-over –
K.R.) und ‚Anti-Macht’ (power-to-do – K.R.), auf dem das
ganze Argument beruht, grundsätzlich zu problematisieren.“ (Hirsch 2003;
36) Noch viel mehr, Foucault „ernster zu nehmen“ hätte bedeutet, schlicht
und einfach ein solches Buch nicht zu schreiben. Es ist allerdings die Frage, ob
Holloway richtig gehandelt hätte, hätte er seinen Ansatz dem metaphysischen
Prinzip Foucaults geopfert, jenem Monismus der Macht, der bei Foucault buchstäblich
die Welt im Innersten zusammenhält. Dieser unbegründbare Monismus der Macht
ist natürlich vielen AutorInnen aufgefallen, ich zitiere stellvertretend Stefan
Breuer: „Wie in der idealistischen Philosophie und ihren spätromantischen
Wurmfortsätzen die ganze Welt als Wille oder Geist gedacht wird, so enthüllt
sich auch bei Foucault das Sein als Manifestation eines einzigen Prinzips, das
in unterschiedlichen Aggregatzuständen auftritt: in reiner, bewegter Form als
‚immerwährende Schlacht’, als Strom von Kräften und Gegenkräften; und in
erstarrter , blockierter Form, in der sich die Macht zur Herrschaft verfestigt
hat. Man fühlt sich an die Metaphysik Heraklits erinnert – freilich an eine
Version, in der der Logos nicht länger Harmonie stiftet, sondern selbst zu
einer Funktion des Kampfes geworden ist.“ (Breuer 1995; 55) Jene, die sich
auf Foucault berufen, sollten endlich zur Kenntnis nehmen, daß sie inzwischen
vor einer theoretischen Bringschuld stehen, anstatt (Joachim Hirsch ausgenommen)
uns ständig mit der abgestandenen und überdies grundfalschen These zu
langweilen, vor Foucault sei Macht nur als repressiv und verbietend konzipiert
worden, während doch die kreative Seite ... Wissenschaft
und „wissenschaftlicher Marxismus“ Bevor
ich auf die Kritik an der Wissenschaft bei Holloway eingehe, ist es notwendig,
eine kleine Vorbemerkung voranzustellen, um mögliche Mißverständnisse zu
vermeiden. Holloway – so scheint es mir zumindest – knüpft vorrangig nicht
an das Gegensatzpaar Wissenschaft – Ideologie an, welches in verschiedenen
marxistischen Strömungen den Zugang zum Thema Wissenschaft bestimmt. Ich
vermute vielmehr, daß Holloway von jener Fragestellung geprägt ist, die auch
mein Verständnis von Wissenschaft bestimmt hat. In aller Kürze: Wissenschaft
wird in dieser Tradition, die mit den Namen Husserl, Merleau-Ponty und Herbert
Marcuse verbunden ist, als ein neuzeitliches, mit Galilei beginnendes Phänomen
aufgefaßt. Wissenschaft ist primär ein Verfahren, der Natur ein Zahlen- und
Formelkleid überzuwerfen, kurzum die reale Welt zu mathematisieren. Die
praktische Wirksamkeit dieser Wissenschaft steht außer Frage, von der
Entwicklung der Dampfmaschine bis zum Computer beweist sich ununterbrochen die
Fruchtbarkeit dieses Verfahrens. Mit
der Wissenschaft begann auch die Wissenschaftskritik, an der ich zwei Momente
herausheben möchte. Erstens: Die Mathematisierung der gegebenen Welt führt
unmittelbar zum Verlust dieser Welt; wir leben nicht in einem Zahlenuniversum
aus Formeln und Gleichungen. Die Wissenschaft wirft ihre Netze aus, aber die
Welt gleitet ihr zwischen dem Maschen hindurch, schrieb Merleau-Ponty irgendwo.
Anders gesagt: Der wissenschaftliche Zugang zur Welt - Wissenschaft jetzt genau
in diesem neuzeitlich-naturwissenschaftlichen Sinne verstanden - liefert uns nur
sehr beschränkte, limitierte Ergebnisse. Sie kann – und das ist der Punkt –
nicht beanspruchen, andere Weltzugänge ersetzen zu können. Zweitens: Der ungeheure
Erfolg der Naturwissenschaften mußte dazu führen, ihre Verfahren als
vorbildlich und rational erscheinen zu lassen. Den so genannten Geistes- oder
Kulturwissenschaften wurden gewissermaßen die exakteren Naturwissenschaften als
Vorbild vor die Nase gesetzt. Je mehr es einer Geisteswissenschaft gelänge, an
die Verfahren der Naturwissenschaften heranzukommen, desto mehr
„Wissenschaftlichkeit“ könne sie für sich reklamieren. An diesem Punkt
wurde eine Unzahl von Einwänden erhoben. So unterschiedliche AutorInnen wie
Heidegger und Habermas, Marcuse und Adorno, Arendt und Merleau-Ponty wandten
sich mit den unterschiedlichsten Argumenten gegen den Anspruch der
Naturwissenschaften, das Paradigma von Wissenschaftlichkeit selbst darzustellen.
Ich kann hier das Kaleidoskop von Themen, Positionen und Sichtweisen nicht
einmal stichwortartig aufzählen, nur so viel: Eine Möglichkeit ist,
Wissenschaft als das zu akzeptieren, als das sie sich historisch entwickelt und
durchgesetzt hat: als Methode der Formalisierung und Mathematisierung, die auf
der strikten Trennung von erkennendem Subjekt und zu erkennendem Objekt beruht.
Wird Wissenschaft so aufgefaßt, so ist klar, daß es sich bei ihr um
einen sehr limitierten und eingeschränkten Zugang zur Welt handelt. Und es ist
ebenfalls klar, daß die Frage der Veränderung von Gesellschaft nicht in das
enge Korsett der Wissenschaft gepreßt werden kann. Noch eine letzte
Vorbemerkung: Zur Zeit von Marx war Wissenschaftskritik nicht unbedingt ein
aktuelles Thema. Im Gegenteil: Aufgrund ihrer wachsenden Ergebnisse (auch der
Kulturwissenschaften, Ethnologie!) mußte fast mit Notwendigkeit ein
unreflektierter Szientismus entstehen, der auch bei Marx seinen Niederschlag
gefunden hat. Wir haben aber keinen Grund, ihn unreflektiert zu übernehmen. Holloways
Kritik an der Wissenschaft überhaupt und am „wissenschaftliche Marxismus“
beruht – so weit ich sehe – im Wesentlichen auf drei Elementen.
Das erste Element möchte ich „Phantasma des Objektivismus“, das zweite den
„Blick vom Mond“, das dritte „Einfrieren der Bewegung“ nennen. Die
Lehre von objektiven geschichtsmächtigen Tendenzen, von einem objektiv
vorgezeichneten Gang der Geschichte faszinierte eine ganze Generation von
Revolutionären. Der Glaube, besser die vorgebliche Gewißheit, den Wind der
Geschichte im Rücken zu haben, gab Menschen wie Engels, Luxemburg, Lenin und
Trotzki die Kraft, auch angesichts von Niederlagen und Rückschlägen unbeirrt
an der Revolution festzuhalten. „Die Behauptung, dass der Marxismus
wissenschaftlich ist, bedeutet, dass der subjektive Kampf (der gegenwärtige
Kampf der Sozialisten) von der objektiven Entwicklung der Geschichte unterstützt
wird.“ (141) Dieser strikte Objektivismus muß selbstverständlich in
Gegensatz zum Klassenkampf treten. Wer, wie und mit welchem Bewußtsein
Widerstand leistet und Kämpfe führt, wird im unmittelbaren Sinn des Wortes zu
einer rein subjektiven Frage. Ein Kluft trennt die Subjektivität von der
objektiven Erkenntnis, eine Kluft, der Lenin mit seiner These vom nur
gewerkschaftlichen Bewußtsein der Massen so rezeptionswirksamen Ausdruck
verliehen hat. Da aus der wirklichen Bewegung Erkenntnisse auf der Höhe der
Zeit nicht entspringen können und es dem „naturwüchsig“ sich entwickelnden
Klassenkampf sowohl an Perspektive als auch an Einsicht mangelt, müssen die
geschichtsmächtigen Perspektiven und notwendigen Einsichten woanders herkommen.
Die Antwort lautet traditionell: Sie entspringen der Wissenschaft und/oder
Partei als Ausdruck der Wissenschaft. Auch diese Kritik am Leninismus, die
Holloway vorträgt, ist nicht neu. Nicht alltäglich ist jedoch die Parallele
zwischen power-over und Theorie-über. Ebenso wie die instrumentelle Macht eine
Machtausübung über ein beschädigtes Subjekt ist, ebenso muß sich die
Wissenschaft als Theorie-über mit Notwendigkeit gegen jede Form von Subjektivität
stellen. Die machttheoretischen Konsequenzen der Leninschen Parteitheorie –
im Zweifelsfall steht immer die Elite gegen die Massen, die Partei gegen die
Bewegung – korrespondieren mit der anti-subjektivistischen Konzeption von
Wissenschaft. Daß dieser strikte Objektivismus die endlose und in Wahrheit nur
wiederum durch Macht entscheidbare Frage nach sich zieht, wer denn nun behaupten
kann, im Besitz der objektiven Wahrheit zu sein, ist selbstverständlich, und
Holloway vergißt auch nicht, diesen Aspekt zu erwähnen. In
einem Punkt geht Holloway über die richtige, aber doch schon oftmals
formulierte Kritik am Objektivismus hinaus. Liberale Wissenschaftler, die
angesichts des strikten Wissenschaftsanspruchs des Marxismus süffisant grinsen,
sollten zur Kenntnis nehmen, daß etwa der Stalinismus nur eine übersteigerte
und meist wenig elegante Version ihres eigenen Wissenschaftsverständnisses
darstellte, kurzum den Blick von Mond als Ideal von Wissenschaftlichkeit
beanspruchte. „Der Begriff des Wissenschaftlichen fußt also auf einer
offensichtlichen Unwahrheit, nämlich auf der Vorstellung, es sei möglich,
einen Gedanken auszudrücken, der den Denkenden ausschließt.“ (78) In
diesem Satz fließen viele Überlegungen zusammen, und vieles folgt daraus. Das
Subjektive, das „wir“, die reale Erfahrung, das kollektive Gedächtnis, das
Wechselspiel zwischen Individuum und Kollektivität hinsichtlich ihrer
gesellschaftlichen Existenz, kurzum jede lebendige Erfahrung und ihre Reflexion
will Wissenschaft als störendes, verzerrendes Moment ausschließen. Ebenso wie
das tote Kapital die lebendige Arbeit als seinen Widerpart ausschließen möchte
(dazu etwas später), ebenso will Wissenschaft als Wissen-über die lebendige
Erfahrung und ihre Reflexion ausschließen. Ihr Ideal ist ein Erkenntnisautomat,
der unberührt und unbetroffen von den Vorgängen auf der Erde, vom Mond aus
diese analysiert und klassifiziert. Diese Kritik an der Wissenschaft bedeutet
natürlich nicht, das Spektakel an Ausschlußmechanismen und Verleugnungen,
genannt Sozialwissenschaften, durch bloße Betroffenheitsberichte zu ersetzen.
Holloways Buch ist selbst das beste Beispiel für antiwissenschaftliches Denken. Als
drittes Moment möchte ich die Kritik von Holloway an Klassifikation und
Definition der Wissenschaft hervorheben, Verfahren die letztlich alle darauf
abzielen, fixe Identitäten zu schaffen. Anders gesagt: Wissenschaft
identifiziert, läßt den Fluß des Tuns in Identitäten gerinnen. Allerdings
sind alle drei Momente, die ich hier genannt habe, keineswegs nur in der
Wissenschaft beheimatet, genau genommen sind sie es bloß auch, in erster
Line handelt es sich um reale gesellschaftliche Verhältnisse. „Identifikation,
Definition, Klassifikation sind sowohl körperliche als auch geistige
Prozesse.“ (91) Der Komplex der repressiven Identitätsbildung, des
Einfrierens der Bewegung – die Methode der wissenschaftlichen
Begriffsbildung – soll nun unmittelbar im Rahmen des gesellschaftlichen
Felds besprochen werden, bei der Bildung sozialer Identität. Klassen
und Subjekte Klassen
und Subjekte werden von Holloway konsequent aus der Perspektive des gebrochenen,
beraubten Tuns gedacht. Ebenso wie der Fluß des Tuns gebrochen wird, wie das
Arbeitsprodukt identitätslogisch zur Ware gefriert, so auch das Subjekt des
Tuns. „In unserer Schilderung steht eine kollektive Subjektivität im
Zentrum, die durch die Spaltung von Tun und Getanem auseinander gerissen wird,
ein atomisiertes Subjekt, das bis in die Tiefen geschädigt ist.“ (89)
Hier ist wohl die größte Differenz zur Konzeption von Antonio Negri und
Michael Hardt festzumachen. Während die Multitude des „Empire“ aus ihrer
Existenz im Kapitalismus keine Schrammen, Verwundungen oder gar tief greifende
Defizite erleidet, dem Kapital äußerlich als unverwundbarer Titan (Holloway)
entgegensteht, beharrt der Autor auf der tiefen Schädigung, der Zersplitterung
des kollektiven Subjekts durch seine Verstrickung mit dem Kapital. Bei manchen
Passagen könnte der Eindruck entstehen, daß Holloway eine radikale
Atomisierungsthese anklingen läßt. „Die der Einheit von
Vorausschauender-Vorstellung-und-Tun beraubten Tuenden verlieren ihre
Subjektivität und werden auf das Niveau von Bienen reduziert. (...) Sie
verlieren ihr Kollektivität, ihr Wir-Sein: Wir sind in eine Vielzahl von Ichs,
Dus, Ers und Sies zerbrochen.“ (47) Aber im Gegensatz zu Adorno ist die
Atomisierung, die Zerschlagung der Gemeinschaft, die Zerstörung der sozialen
Bande nur eine Tendenz, kein endgültiges Resultat. Die auch im Umfeld von
Habermas durchaus ernst genommene These der Atomisierung wird von Holloway nur
als drohender, aber doch niemals zu erreichender Fluchtpunkt des Fetischismus
herausgearbeitet. Gefördert, ja bewirkt
wird die Atomisierung, die Zerstörung des „Wir“ des Tuns durch Identität
und Identifikation. Bei seiner Kritik der Identifikation, der Kritik der Identität
beruft sich Holloway sehr stark auf Adorno. Ich bezweifle allerdings, ob dieses
sich Berufen tatsächlich zu Recht erfolgt. Zweifellos nimmt die Kritik der
Identität bei Adorno breiten Raum ein, aber setzt er die Identität auch in
Gegensatz zum lebendigen Subjekt des Tuns, das durch diese Identitätsbildung
zerbrochen und fixiert wird? Keineswegs. Gestandene Adorniten würden folgende Sätze
auch niemals unterschreiben: „Wenn
der Fluss des Tuns Gemeinschaft impliziert, eine Zeit und Raum übergreifende
Gemeinschaft, dann zersplittert mit dem Zerbrechen dieses Flusses jegliche Möglichkeit
einer Gemeinschaft. (...) Nicht die Person-als-Teil-der-Gemeinschaft, sondern
das Individuum als Person mit seiner ihm eigenen, bestimmten Identität, wird
zum Ausgangspunkt für das Denken. Gemeinschaft kann fortan nur noch als
Ansammlung eigenständiger Individuen, als das Zusammenfügen verschiedener
Seins anstatt als Fluß verschiedener Tuns verstanden werden.“
(77) Holloway selbst betont, daß die Kritische Theorie dazu tendiert,
Gesellschaft als verdinglichten, totalitären Entfremdungszusammenhang zu
konzipieren, daß sie dazu neigt, die Fetischisierung so umfassend
anzusetzen, daß nur eine exquisite Elite fähig sein soll, angesichts
allumfassender Verblendung ein „gehobenes Stöhnen“ (90) von sich zu
geben. Allerdings betont Holloway die Eigenständigkeit Marcuses gerade
bei diesem Thema viel zu wenig. Wenn Holloway das Verhältnis von Fetischismus
und Anti-Fetischismus bei Lukacs, Adorno, Horkheimer und Marcuse mit den Worten
zusammenfaßt: „Der Fetischismus beherrscht das normale, alltägliche
Leben, während der Anti-Fetischismus seinen Sitz woanders, an den Rändern
hat“ (107), so macht es doch einen gewaltigen Unterschied, ob diese Ränder
als allwissende Partei (Lukacs), als gehobene Stöhnende (Adorno) oder als
lebendige, reale Bewegung (Marcuse) identifiziert werden. Wer
unvoreingenommen Holloways Text liest, wird erkennen, daß die Gemeinschaft, die
der Fluß des Tuns impliziert, kein verlorenes Paradies darstellt, sondern einen
zu erkämpfenden und zu erreichenden Zustand. Die Überwindung der kalten,
gefrorenen und fixierenden Identität liegt bereits im Tun selbst begründet -
fast wollte ich schreiben - ontologisch begründet. „Die meinem Tun
innewohnende Veränderung bedeutet, daß ich gleichzeitig bin und nicht bin.
(...) Aus der Perspektive des Tuns, ist es offensichtlich, daß alles in
Bewegung ist: Die Welt ist und ist nicht, die Dinge sind und sind nicht, ich bin
und bin nicht.“ (74) Die Frage nach dem revolutionären Subjekt
beantwortet Holloway glasklar und unmißverständlich: Das revolutionäre
Subjekt definiert sich durch das Aufbrechen der Identität, durch das Beharren
auf das Nicht-Sein angesichts eines gegebenen Seins. Es bestimmt sich prozeßhaft,
es bestimmt sich durch Rebellion, durch das Nein zu seinem identitätslogischen
Kältetod. „Wir gehören/gehören nicht der Arbeiterklasse (gleich ob wir
Universitätsprofessoren oder Automobilarbeiter sind) an.“ (166) „Nur
insoweit, als wir nicht die Arbeiterklasse sind, kann das Bedürfnis
nach Emanzipation überhaupt gestellt werden. Und dennoch, das Bedürfnis nach
Emanzipation kann nur insoweit entstehen, als wir die Arbeiterklasse (von ihren
Objekten entrissene Subjekte) sind.“ (167) Schon die 68er Bewegung
beziehungsweise ihre besten Teile beharrten darauf, daß Revolution die
Transzendenz der gegebenen, besser vorgezeichneten und vorgeschriebenen sozialen
Identität bedeutet. „Ich will nicht der werden, zu dem ihr mich machen
wollt!“ war ein (un)ausgesprochenes Prinzip der Bewegung. Weiters: Revolutionäres
Aufbegehren impliziert immer die Rebellion gegen das, was mensch zu sein hat.
Wenn es überhaupt eine sinnvolle Definition von Reformismus geben kann, dann
die, daß die gegebene soziale Lage akzeptiert wird, um von ihr ausgehend
Interessen zu formulieren. Aber diese Interessen verändern die
gesellschaftliche Situation der Betroffenen nicht, im Gegenteil, im besten Falle
wird sie bequem einbetoniert. Prinzipiell
stimme ich also Holloway zu: Das revolutionäre Subjekt ist nur dynamisch, prozeßhaft,
nicht-identitätsfixiert zu denken. Allerdings möchte ich zwei Einwände
vorbringen. Der erste bezieht sich auf die etwas unhistorische Darstellung bei
Holloway, der zweite stellt einen weiter reichenden Einwand dar. Erstens: Soziale Identität,
das „wer jemand ist“, ist keine fixe Gegebenheit des Kapitalismus, sondern
entstand und veränderte sich mit der Geschichte des Kapitalismus. Identität,
als fixierte und sozial anerkannte Zuschreibung erfuhr ihren Höhepunkt wohl in
der so genannten fordistischen Phase, in der „Beruf“ eine stabile
lebenslange soziale Identität implizierte. Momentan sind wir alle Zeuge und
Betroffene[iv] einer Erosion dieser sozialen Identitäten. Wir machen
Erfahrungen, die wir zumeist mit dem Vokabel „Postfordismus“ auszudrücken
versuchen. Ein kleines Gedankenexperiment: Denken wir an eine junge Frau, die
ihren fixen Job gekündigt hat – sie hat die Verhältnisse einfach nicht
mehr ausgehalten –, sie lebt mit ihrem Freund zusammen (da er im Job voll
engagiert ist, fällt der Großteil der Hausarbeit auf sie), als Arbeitslose
bezieht sie ihre Unterstützung, aber heimlich, das Arbeitsamt wurde nicht
informiert, hat sie ihr unterbrochenes Studium wieder aufgenommen. (Das war bis
vor kurzer Zeit in Österreich möglich). Da das Geld aber nicht wirklich
reicht, arbeitet sie „schwarz“ am Wochenende in ihrem Stammlokal; mit dem
Besitzer ist sie „per Du“, und da der Verdienst nicht so schlecht ist,
akzeptiert sie, daß alle kollektivvertraglichen Bedingungen ignoriert werden.
Ein künstliches Konstrukt? Kaum. Eher der „Normalfall“ unter
postfordistischen Bedingungen. Und welche fixe Identität kommt dieser Frau zu?
Ist sie Hausfrau, Studentin, Arbeitslose, prekär Beschäftigte? Alles zugleich
oder von allem ein wenig? Dies Frage ist also: ist die Auflösung der fixen
Identitäten nicht ein ungewolltes Resultat der gesellschaftlichen Entwicklung
selbst? Holloways Text ist ein
sozialphilosophischer, kein sozialgeschichtlicher. Das heißt, die reale Einlösung
seiner Thesen durch die konkrete gesellschaftlich-geschichtliche Entwicklung
fehlt. Ich meine, daß sowohl die Bildung von sozialen Identitäten wie ihre
Auflösung salopp gesagt mit dem Bruch Fordismus – Postfordismus
korrespondiert. Ich werde auf diesen Einwand am Schluß dieses Artikels nochmals
zurückkommen. Zweitens: Identität ist das
mächtigste und wirksamste Mittel, das Nein zu ersticken. Identität bedeutet,
man(n) ist, wer man(n) ist, soziale Identität ist Sprechkompetenz, ein Bündel
von Zuschreibungen, stabile Erwartungshaltungen, Klarheit, Abgrenzungen,
Verhaltenssicherheit, Privilegien. Je höher in der gesellschaftlichen
Hierarchie positioniert, desto mehr wird soziale Identität zum Schutzpanzer.
Soziale Identität ist nicht billig zu haben. Wer als Drogen-Experte oder
Psychoanalytiker, als Künstler oder General durch die Welt stolzieren kann, weiß,
was er dieser Identität verdankt, und wird sie auch mit Zähnen und Klauen
verteidigen. Wir lernen einen unbedarften, reaktionären Knallkopf kennen, und
schütteln ob seiner verkrausten Ideen nur den Kopf. Aber nein, werden wir
aufgeklärt, das ist ... der Chef der Wiener Müllabfuhr, der Präsident der
Vereinigten Staaten, der Intendant der Salzburger Festspiele ... und schon tritt
uns soziale Identität in aller Macht und Herrlichkeit gegenüber. Anders
gesagt: Kapitalismus ist nicht nur ein System der bloßen Distribution von Wert.
Was kapitalistische Herrschaft distribuiert ist (mit Geld immer verbunden, doch
nie identisch) das Kältemittel der sozialen Identität. Und dieses Mittel ist
stärker, als jedwede bloß ökonomische Größe, da es unmittelbar auf das
soziale Sein der Individuen abzielt. Holloway hat Recht, wenn er Identität als
primären Ausdruck kapitalistischer Herrschaft identifiziert, aber mir scheint,
er unterschätzt die herrschhaftstabilisierende Macht der Identität radikal.
Menschen „haben etwas“ davon, ihre Identität, die identitätslogische
Verarmung ihres Seins zu verteidigen. In den für mich
beeindruckendsten Passagen des Buchs kritisiert Holloway die dumpfe Synthese
zwischen dem Blick vom Mond und der Eiseskälte der Identität, die in der
wissenschaftlichen Definition des Proletariats ihren Ausdruck fand. „So ist
z.B. die ‚Arbeiterklasse’ eine zentrale Kategorie, aber sie wird in der Art
bürgerlicher Soziologie als sich auf eine definierbare Gruppe von Menschen
beziehend gesehen anstatt als Pol eines antagonistischen Verhältnisses.“
(151) Ebenso wie die bürgerliche Soziologie, die Menschen anhand von starren,
willkürlichen Kriterien in Schichten einteilt, teilte der wissenschaftliche
Marxismus die Menschen mit zweifellos klügeren und durchdachteren Kriterien in
Klassen ein. Das Prinzip der Starrheit und der identitätslogischen Fixierung
war (und ist) dasselbe. Holloway zeigt die absurden Konsequenzen dieser identitätslogischen,
fixierten Definitionen von Proletariat auf. Der objektive Beobachter vom Mond
stellt anhand von ausgeklügelten Kriterien ein Kernproletariat fest
(mehrwertproduzierend, in bedeutenden Schlüsselindustrien arbeitend,
Traditionen verkörpernd usw.), aber die realen, wirklichen Kämpfe entwickeln
sich nicht einmal annähernd entlang der definitorischen Merkmale. Die bürgerlichen
Soziologen grinsen genüßlich, und dokumentieren das Abschmelzen des
Kernproletariats. Die Orthodoxie reagiert mit Kasuistik, repetiert das Mantra
von Klasse an sich und Klasse für sich. Zentrale Kämpfe werden offenbar von
einem wohldefinierten Proletariat nicht geführt. Die Krise der Definition will
kein Ende nehmen. Holloway: „Die
gesamte gesellschaftliche Praxis ist ein unaufhörlicher Antagonismus zwischen
der Unterordnung der Praxis unter die fetischisierten, verrückten, definierten
Formen des Kapitalismus und dem Versuch gegen und über diese Formen hinaus zu
leben.“ (165) „Wenn
man sagt, Klassen existieren, so heißt dies, sie befinden sich im Prozeß ihrer
Konstituierung.“ (164) Bestimmte
Gruppen innerhalb der Linken haben erneut die alte Position von Marx
wiederentdeckt, wonach es ein Pech und kein Glück ist, Proletarier zu sein.
Ausgehend von dieser im Grunde sehr einfachen Erkenntnis denunzieren sie die
traditionelle Arbeiterbewegung oder den Arbeiterbewegungsmarxismus (alles
Begriffe, die ich für sehr grob und problematisch halte) dahingehend, daß
dieser den Arbeiter und seine wertschöpfende Arbeit positiv glorifiziert hätte,
und leiten davon eine ganze Reihe verkürzter Schlußfolgerungen ab.[v]
Diese Kritik beruht zweifellos auf einem Korn Wahrheit, vergessen und verdrängt
wird dabei nicht nur, daß es sich bei diesen Hymnen an den Arbeiter um geglättete
Selbstbeschreibungen von Eliten handelte. Vergessen und verdrängt wird aber vor
allem, daß der Wunsch, das eigene gesellschaftliche Sein zu überwinden, der
Wunsch nach Befreiung, nur in diesem Sein selbst wurzeln und ihm entspringen
kann. Sozialphilosophisch ausgedrückt: Rebellion ist Transzendenz und
Transzendenz des proletarischen Seins ist Rebellion. Um die Wichtigkeit dieses
Gedankens zu betonen, erlaube ich mir, folgendes Zitat von Holloway ein zweites
Mal anzuführen: „Nur insoweit, als wir nicht die Arbeiterklasse sind,
kann das Bedürfnis nach Emanzipation überhaupt gestellt werden. Und dennoch,
das Bedürfnis nach Emanzipation kann nur insoweit entstehen, als wir die
Arbeiterklasse (von ihren Objekten entrissene Subjekte) sind.“
(167) Wenn die Wildcat-AutorInnen meinen, Holloway käme „zu einem
nichtssagenden Klassenbegriff“ (Wildcat-Zirkular Februar Nr. 65, 52) so
kann ich dieser Kritik nicht zustimmen. Ich habe bereits das Beispiel einer
jungen Frau angeführt, die unter den Bedingungen postfordistischer Verhältnisse
versucht, der unmittelbaren Mühle des Kapitalverhältnisses zu entkommen;
teilweise mag es ihr gelingen, teilweise nicht. Auch wenn der Ansatz von
Holloway nicht alle Probleme der Klassenbestimmung löst – als ob dies möglich,
ja nötig wäre –, so ist doch das Moment des Widerstands, der Rebellion,
der Flucht, kurzum des Klassenkampfs in dieser Bestimmung unmittelbar enthalten,
während viele Strömungen des so genannten wissenschaftlichen Marxismus die
ArbeiterInnenklasse jenseits von Kampf und Widerstand definieren, also
gesellschaftstheoretische Mengenlehre betreiben. Ist es nicht ein Widersinn,
Klasse ohne Klassenkampf bestimmen zu wollen, und bedeutet Klassenkampf ganz
orthodox marxistisch gesprochen nicht die Transformation des gesellschaftlichen
Seins der ArbeiterInnenklasse? Flucht(en) Kapital und Arbeit, so
Holloway, haben die Tendenz, von einander zu fliehen. Am Beginn des Kapitalismus
stünde eine erste Flucht aus den Verstickerungen der persönlichen Abhängigkeit:
„Beide Seiten flohen
von einem Herrschaftsverhältnis, das sich als Herrschaftsform als unzulänglich
erwiesen hatte. Beide Seiten flohen zur Freiheit.“
(207) Marx hat, oft mit überschwenglichen Worten, den revolutionären Aspekt
der Überwindung vorkapitalistischer Verhältnisse gefeiert. Der Aspekt der
Flucht würde es erlauben, den historischen Bruch zum Kapitalismus aus einer
subjektemanzipatorischen Perspektive zwar nicht grundlegend neu, doch mit neuer
Akzentsetzung zu interpretieren. So weit ich sehe, läßt sich diese These
anhand von drei Aspekten weiter konkretisieren: 1. Es gäbe eine ständige
Tendenz zur Flucht von einander 2. Die gegenseitige Abhängigkeit ist nicht
symmetrisch – „Ohne Arbeit hört das Kapital zu existieren auf: Die
Arbeit wird ohne Kapital zu praktischer Kreativität, zu kreativer Praxis,
Menschlichkeit“ (209) 3. In dieser neuen, nachfeudalen Freiheit liegt die
Wurzel der liberalen Theorie. Ich
meine, daß es Holloway mit dem Begriff Flucht gelingt, tatsächliche Tendenzen
zu benennen. Allerdings möchte ich auch zwei Einwände geltend machen. Der
erste Einwand beruht wohl eher auf unglücklichen Beispielen von Holloway. Er
bezieht sich auf die massiven Migrationsströme, die, wie Holloway zu Recht
betont, Negri und Hardt als machtvolle Manifestation der Multitude
herausarbeiten. Kann aber das Überwinden von Grenzen, Mauern und Zäunen tatsächlich
mit folgenden Worten kommentiert werden? „Die Migration ist eine besonders
wichtige und offensichtliche Flucht, angesichts der Millionen von Menschen, die,
voller Hoffnung, von dem Kapital fliehen.“ (216) Holloway kennt
selbstverständlich die Situation an der Grenze zwischen Mexiko und den USA. Wie
kann das Begehren, in die USA zu kommen, als Flucht vor dem Kapital bezeichnet
werden? Mein zweiter Einwand hat
systematischeren Charakter. Das Problem ist, das Holloway nicht klar zwischen
dem Wunsch des Kapitals, vor der Arbeit zu fliehen, und seiner realen Möglichkeit
dazu unterscheidet. Daher kommt er zu Fehlaussagen wie: „Der Widerspruch
dieser gegenseitigen Abstoßung ist andererseits der Kern der Marxschen Theorie
des tendenziellen Falls der Profitrate.“ (219) Wie Michael Heinrich
gezeigt hat[vi],
ist es schon fraglich, ob es ein solches Gesetz bei Marx überhaupt gibt.[vii]
Vor allem jedoch: Könnte das Kapital die Arbeit fliehen, würde es nicht nur
die organische Zusammensetzung unendlich ausdehnen, also v gegen Null gehen
lassen, sondern überhaupt die Sphäre der realen Welt fliehen, um nur noch als
fiktives Kapital zu akkumulieren. Was kann für das Kapital besser sein, als
ohne Berührung mit der lebendigen Arbeit, ohne Kontakt mit aufsässigen und
unzuverlässigen ArbeiterInnen, praktischen Risken und sonstigen Problemen,
ungestört auf der Börse zu akkumulieren? Offenbar existieren wechselnde
Bedingungen, die es einem Teil des gesellschaftlichen Gesamtkapitals mehr oder
weniger erlauben, als fiktives Kapital zu akkumulieren (also die Flucht
praktisch zu vollziehen), einem anderen Teil des Kapitals jedoch keineswegs.
Ebenso gilt dies für den tendenziellen Fall der Profitrate. Die lebendige
Arbeit aus der Produktion zu verdrängen, welches Kapital wollte das nicht? Aber
offenbar sind dieser Verdrängung bestimmte Grenzen gesetzt, ist sie nur unter
bestimmten Bedingungen möglich. Über diese „bestimmten Bedingungen“ verfügt
das Kapital nicht, genauer, ob die konkreten Bedingungen dies zulassen, stellt
sich erst post festum heraus. Ware ist, wie Marx betont,
ein zwieschlächtiges Ding. Einerseits, und diesen Aspekt arbeitet Holloway klar
heraus, beruht sie auf einem gesellschaftlichen Verhältnis, auf der Stockung
des Tuns, andererseits muß sie als Träger von Wert erscheinen, ein Wert, der
in Preisform Zahlengestalt annimmt. Zahlen, die in Berechungen eingehen. Die
Ersetzung der lebendigen Arbeit durch konstantes Kapital findet dort ihre
Grenze, wo die Produktion, verglichen mit dem üblichen gesellschaftliche
Niveau, unprofitabel wird. Wenn nun Holloway den
tendenziellen Fall der Profitrate aus der Flucht vor der lebendigen Arbeit erklären
will, so wäre das genauso, wie wenn man aus der Tendenz des Kapitals zur
Profitmaximierung ein reales Ansteigen des Profits ableiten wollte. Zwischen
dem, was das Kapital will, und dem, was es real kann, liegen
Welten. Diesen Unterschied verwischt Holloway in den Passagen zur Flucht zu sehr
und hält daher auch die These vom tendenziellen Fall für ein gegebenes Faktum,
das er allerdings wieder subjektorientiert erklärt. Damit bringt er einen
Gesichtspunkt ins Spiel, der bei vielen Erörterungen zum tendenziellen Fall in
der marxistischen Literatur fehlt. Krise,
Revolution und nochmals die Frage von Objektivität und Subjektivität Im
Gegensatz zu Antonio Negri, der eine durchgehend existente kreative Macht der
Menge (Multitude) postuliert, geht Holloway davon aus, daß unser kreatives Vermögen
im Kapitalismus in zerrissener, entgegengesetzter Form existiert: „Also
existiert Tun antagonistisch, als gegen sich selbst gerichtetes Tun. Als vom
Getanen beherrschtes Tun, als vom Tuenden entfremdetes Tun. Die antagonistische
Existenz kann verschiedenartig ausgedrückt werden: als Antagonismus zwischen
kreativer Macht (power-to-do) und instrumenteller Macht (power-over), zwischen
Tun und Arbeit, zwischen Nützlichkeit (Gebrauchswert) und Wert, zwischen
gesellschaftlichem Fluss des Tuns und Fragmentierung.“ (49) Während
manche Passagen im „Empire“ suggerieren, es gelte nur die kapitalistische Hülle
zu sprengen, um den „Schmetterling“ Multitude freizusetzen, beharrt Holloway
auf dem Prozeßcharakter der Emanzipation. Wir sind nicht schon die kreative
Menge, wir müssen es erst werden. Wir haben die kreative Macht (power-to-do)
nicht schon in unseren Händen, wir müssen sie erst erringen. Und in bester
operaistischer Tradition betont der Autor, daß dieser Prozeß zumeist ein
unterirdischer, von den herrschenden Mächten verleugneter und ignorierter Prozeß
ist: „Alle rebellischen Bewegungen sind Bewegungen gegen die
Unsichtbarkeit.“ (181) Hoffnung schöpft Holloway aus dem Ungleichgewicht
zwischen kreativem Tun und erstarrtem Kapital, zwischen power-to-do und
power-over. In diesem Punkt gibt es tatsächlich viele Überschneidungen mit
Negri/Hardt. Beide Pole des grundlegenden Antagonismus sind sozusagen nicht in
der Balance: „Schließlich ist instrumentelle Macht nichts weiter als die
Metamorphose kreativer Macht und deshalb vollkommen von dieser abhängig.“
(51) Entscheidend
ist, daß Holloway diesen Prozeß der Aneignung der kreativen Macht, der
Herstellung eines ungebrochenen Flusses des Tuns, nicht in eine ferne,
revolutionäre Zukunft verlegt, sondern davon ausgeht, daß dieser Prozeß immer
schon existiert, daß wir immer schon in ihm verstrickt sind. Klassenkampf als
permanenter Prozeß der Selbstemanzipation; ausgehend von diesem Verständnis
kritisiert Holloway überzeugend die verschiedensten Fehldeutungen von
Klassenkampf, die ich hier summarisch anführen möchte: An die Adresse von
Adorno gerichtet ist seine Kritik am „starren Fetischismus“. Dieses
Fehlverständnis führt dazu, den Gegensatz zwischen power-to-do und power-over
entweder überhaupt zu verkennen oder als prinzipiell stillgelegt zu behaupten.
Die Konsequenz liegt auf der Hand: Einspruch und Widerstand kann nur von den
„Rändern“ der Gesellschaft, zumeist von einer wissenden Avantgarde
ausgehen. Auch
die in vielen Varianten existierende Tradition des „wissenschaftlichen“
Marxismus schließt die rebellierende Subjektivität aus dem alltäglichen
Funktionieren des Kapitalismus aus. Erst in jenem magischen Moment der
Machtergreifung trete sie geschichtsmächtig hervor. „So wird es in der
Zukunft eine Revolution geben, aber in der Zwischenzeit wirken die Gesetze der
kapitalistischen Reproduktion. In der Zukunft wird es einen radikalen Bruch
geben, aber in der Zwischenzeit können wir den Kapitalismus so behandeln, als wäre
er eine sich selbst reproduzierende Gesellschaft.“ (157f) Das ist der
Hauptpunkt. Wenn Joachim Hirsch meint: „... daß der Begriff der Revolution
ebenso blaß wie abstrakt bleibt“ (Hirsch 2003, 39), so kann ich nur
teilweise zustimmen, abstrakt ja, blaß jedoch nicht. Es macht doch den
Unterschied ums Ganze, ob ich Klassenkampf instrumentalistisch als Weg zur
Eroberung der Macht – sei es mit dem Gewehr, sei es mit dem Stimmzettel, sei
es mit einer Kombination beider – auffasse, oder als Prozeß der
Selbstemanzipation. Der
Unterschied zwischen der instrumentalistischen und der emanzipatorischen
Auffassung des Klassenkampfes läßt sich am besten an Hand des Krisenbegriffs
verdeutlichen. Krise wird einerseits einfach als Phase im Zyklus Prosperität –
Krise – Prosperität – Krise – usw. aufgefaßt, also als
zyklisches Moment eines an sich stabilen Kapitalismus, präziser gesagt, eines
sich gerade durch diesen Zyklus stabilisierenden Kapitalismus. In dieser
Konzeption ist Krise ein mit vielen Friktionen und Katastrophen verbundener
Umstrukturierungsprozeß, der – und das ist der Punkt – ohne unser
Zutun objektiv abläuft. In Grunde spricht dieser Diskurs über die Entwicklung
des Kapitalismus wie MeteorologInnen über das Wetter: Brauen sich
Krisengewitter zusammen oder sollen wir von einer prosperierenden Schönwetterphase
ausgehen? Das aus dem objektiven Gang der Geschichte ausgeschlossene Subjekt
betritt dann wieder die Bühne, wenn Krise als Chance, als günstiger Moment
aufgefaßt wird, wie Holloway scharfsinnig analysiert. Krise öffnet in dieser
Sichtweise einfach eine objektive Möglichkeit, in den automatisch ablaufenden
Gang der Reproduktion der kapitalistischen Gesellschaft subjektiv handelnd
einzugreifen, gewissermaßen die Chance für das Subjekt (die
ArbeiterInnenklasse, die Partei, usw.), vom Zuschauer zum Akteur aufzusteigen.
Freilich, da günstige Gelegenheiten zur Machtergreifung, sprich tiefe Krisen
die große Chancen eröffnen, nicht alltäglich sind, neigt der
Wetterberichtsmarxismus auch dazu, diesen Moment nicht Amateuren und Dilettanten
zu überlassen, sondern ihn als die große Stunde der marxistischen
GesellschaftsexpertInnen, sprich Partei, zu betrachten. Wenn Revolution als
Machtergreifung interpretiert wird, so ist dieser Konzeption eine innere Logik
nicht abzusprechen. In
der Diskussion in der grundrisse-Redaktion wurde gegen den Text von Holloway ein
Vorwurf erhoben, den bereits Joachim Hirsch in ähnlicher Weise geäußert
hatte, der von einem „pastoralen Ton“ sprach. Zweifellos besitzt das Buch
von Holloway einen bestimmten Klang, den die Übersetzung möglicherweise verstärkt,
aber sicher nicht geschaffen hat. Ich bezweifle allerdings, ob es bei diesen
Kritiken wirklich um den „Ton“, um ein gewisses Pathos geht, das das Buch
zweifellos besitzt. Ich vermute vielmehr, in dieser Kritik spricht sich eine
gewisse Reserviertheit gegenüber einem Diskurs aus, der auch innerhalb des
Marxismus nicht mehrheitlich geführt wird. Es ist der Diskurs der
Selbstreflexion unseres Widerstands. Gewohnt und vielleicht all zu sehr gewöhnt
sind wir an den herrschenden objektivistischen Diskurs, an jene Rede, in der ein
weltloser Wissenschaftsmensch vor unseren Augen objektive Tatsachen analysiert.
Im Buch von Holloway geht es aber vorrangig nicht um Analyse eines außer uns
befindlichen Objekts der Erkenntnis, auch nicht um Aufrufe und Agitation für
ein bestimmtes politisches Ziel oder eine bestimmte politische Haltung, sondern
um eine Reflexion der Bedingungen und Erfahrungen unserer eigenen Rebellion.
Wird Klassenkampf als Prozeß der Selbstemanzipation gedacht, wird die Veränderung
der Welt als Wiederaneignung des kollektiven Flusses des Tuns erkannt, so kann
sich niemand als wissender Experte außerhalb dieses Prozesses stellen. In
diesem Kontext verwendet Holloway das Wort „Würde“. Dieser Ausdruck hat
nichts mit Pathos, mit Moralisieren zu tun, wie eine oberflächliche Lektüre
nahe legen könnte. Im Begriff „Würde“ ist der Aspekt der Transzendenz, des
Überschreitens des momentanen gesellschaftlichen Seins, die Rebellion gegen das
Proletarier-Sein (mit all seinen Demütigungen und Beleidigungen), ausgedrückt.
„Die Einheit von Schrei-gegen und kreativer Macht kann vielleicht als Würde
bezeichnet werden ...“ (177) Würde drückt das Bedürfnis aus,
jemand anderer zu werden, als es in der Klassenordnung vorgesehen ist, einen
Prozeß, der in eine Kollektivität, in die Gemeinschaft mündet: „Viele
Beispiele belegen, dass für Menschen, die an Streiks oder ähnlichen Aktionen
beteiligt sind, das wichtigste Ergebnis der Kämpfe oft nicht in der Erfüllung
der unmittelbaren Forderungen besteht, sondern darin, dass sich eine
Gemeinschaft des Kampfes herausbildet, ein kollektives Tun, das sich durch seine
Gegnerschaft zu kapitalistischen Formen gesellschaftlicher Verhältnisse
charakterisiert.“ (240) Ich
möchte abschließend wohl eines der kompliziertesten und schwierigsten Themen
ansprechen, das Verhältnis von Objektivität und Subjektivität. Natürlich muß
jede Spielart des Denkens, das Kompetenz bezüglich Gesellschaft und Geschichte
reklamiert, behaupten, dieses Problem adäquat erkannt und gelöst zu haben.
Wenn wir extreme Auffassungen wie manche poststrukturalistische Meisterdenker
ausklammern, die Subjektivität als Effekt einer Signifikantenkette entsorgen,
so besteht wohl Konsens, daß Subjektivität nicht unanhängig von objektiven
Faktoren und Umständen gedacht werden kann. Die Frage ist immer nur, wie.
Holloway zeigt immer wieder auf, daß das Objektive nichts anderes sein kann,
als das gestockte, verdinglichte, „geronnene“[viii]
Tun. Die gesellschaftlich-geschichtliche Welt ist von uns gemacht, wird sind ihr
Autor. Dieser These kann ich, wie bereits erwähnt, voll zustimmen. Diese
Erkenntnis löst aber die Objektivität nicht einfach auf, sie verflüssigt sie
nicht. Die Objektivität bleibt vorerst als Objektivität bestehen, sie
determiniert zwar nicht die Art und Weise unserer Subjektivität, des Schreis,
aber sie stellt seine Grundlage und Bedingungen dar. Ich habe folgende Stelle im
Buch von Holloway gefunden, in der dieses Problem angesprochen wird: „Folglich
werden im Kapitalismus tatsächlich die Grundlagen für eine andere Art der
gesellschaftlichen Organisation gelegt, aber sie stecken nicht in den Maschinen
oder den Dingen, die wir produzieren, sondern im gesellschaftlichen Tun, oder
der Kooperation, das sich in ständiger Spannung mit seiner kapitalistischen
Form entwickelt.“ (222) Die Entwicklung, die in diesem Satz angesprochen
wird, wird jedoch nirgends ausgeführt. Um Mißverständnisse zu vermeiden: Natürlich
kann ein Autor nicht über „alles“ schreiben und „alles“ berücksichtigen.
Ich stelle allerdings die Frage, ob denn die Bedingungen des Schreis – und daß
der Schrei bedingt ist, daran läßt Holloway ja keinen Zweifel – nicht
hinsichtlich ihrer gesellschaftlich-geschichtlichen Entwicklung zu untersuchen wären.
Waren und sind die Chancen 1900, 1950 oder 2003 die Welt zu verändern, ohne die
Macht zu übernehmen, tatsächlich dieselben? Gibt es hier eine Entwicklung, und
wenn ja, wie ist sie zu begründen, mit welchen Begriffen ist sie zu erfassen? Andererseits
hindert uns ja niemand daran, diese Untersuchungen voranzutreiben. Der ganze
Komplex der neuen Arbeitsformen, der Unstrukturierungen im Postfordismus, die
Frage, wie die aktuelle Entwicklung auf Weltebene zu deuten ist, alle diese
Fragen sind nicht im Text enthalten. Freilich, um solche Themen fruchtbar zu
behandeln, bedarf es einer klaren Perspektive des Herangehens, wir können es
auch Methode nennen. Und dieses Herangehen, diese Methode oder diesen Typus von
Reflexion schlägt uns Holloway begründet vor: die Reflexion der Bedingungen, Möglichkeiten
und Ziele der Rebellion, kurzum die Reflexion der rebellischen Subjektivität,
eine Subjektivität, die nur wir selbst sein können. Literatur: Breuer, Stefan (1995), „Die Gesellschaft des Verschwindens“, Hamburg Castoriadis, Cornelius (1984) „Gesellschaft als imaginäre Institution“, Frankfurt am Main Heinrich, Michael
(1999) „Die Wissenschaft vom Wert“ 2. erweiterte Auflage, Münster Hirsch, Joachim (2003)
„Macht und Anti-Macht. Zu John Holloway Buch ‚Die Welt verändern, ohne die
Macht zu übernehmen’“, in: Das Argument 249, Berlin (auch:
www.links-netz.de) Holloway, John (2002) „Die Welt verändern ohne die Macht zu übernehmen“, Münster Marcuse, Herbert (1970) „Zum Begriff der Negation in der Dialektik“, in: „Ideen zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft“, Frankfurt am Main Marx, Karl (1969) „Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses“, Frankfurt am Main Wildcat-Zirkular (2003) „Der Schrei und die Arbeiterklasse.“, Köln[i] Unter legitimatorischem Marxismus verstehe ich jene Lehren, die bestimmte Formen von Herrschaft und Machtanspruch (Staatsgebilde, Parteien usw.) im Namen des Marxismus legitimierten und legitimieren. [ii] Ich frage mich allerdings angesichts dieser Aussage, wieso Holloway unterm Strich bei Hirsch relativ schlecht wegkommen kann. Das verweist im Grunde auf den Umstand, daß Wert- und Kapitaltheorie bei Hirsch einen eher bescheidenen Stellenwert haben. [iii] Holloway unterscheidet explizit nicht zwischen Entfremdung und Verdinglichung: „Es kann darum keine klare Unterscheidung zwischen Entfremdung und Verdinglichung getroffen werden.“ (45, Fußnote) [iv] Siehe den Artikel „Wie es uns geht... Kommentar zu Anne und Marine Rambach – Les intellos précaires“ von Günter Hefler in grundrisse 5_2003. [v] Etwa Franz Schandl: „Kommunismus oder Klassenkampf?“ in „Streifzüge“ 3/2002, Wien [vi] Michael Heinrich, „Die Wissenschaft vom Wert“ 2. erweiterte Auflage, Münster 1999 [vii] Ich habe die zentralen Argumente von Michael Heinrich systematisch im Artikel „Gilt das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate?“ zusammengefaßt. Dieser Artikel findet sich in grundrisse 2_2002. [viii] Ein Ausdruck von Marx, mit der er die angehäufte lebendige Arbeit, also das tote Kapital bezeichnet. |
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