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Bernhard Dorfer Skizzen zum Staat oder ein als Bericht etwas verunglückter Aufsatz zum „grundrisse“-Staatsseminar nebst einigen kritischen Anmerkungen zu Lenins „Staat und Revolution“ Am 10. 1, 2003 fand in
der „Kunst Marke Ideal“ das Seminar der „grundrisse“ zum Staat
statt. Ein Häuflein Unerschrockener hatte sich durchs tief verschneite Wien gekämpft,
um etwas mehr Licht in die wuchernde Düsternis der Staatsdebatte zu bringen.
Als Lampionträger fungierten Karl Reitter, Roland Atzmüller und Francois
Naetar, deren Referate, beziehungsweise auf der Diskussion fußende
Ausarbeitungen, sich in diesem Heft abgedruckt finden. Aber auch andere hatten
so manches Kerzlein mitgebracht. Und dennoch: Nachdem mir ein
paar Tage (und Nachdiskussionen im kleineren Kreis) später ein Licht
aufgegangen ist, wundere ich mich schon, dass ein wesentlicher Aspekt der
Staatsfrage kein einziges Mal während der 6 Stunden auch nur kurz zur
Sprache gebracht worden ist. Das zeigt meines Erachtens, wie sehr selbst die „grundrisse“-Redaktion
und mit großer Wahrscheinlichkeit auch das gesamte Umfeld, in dem sie sich
bewegt, noch in den Fängen etatistischer Degeneration und/oder
gewalt(waffen)fetischisierenden Fixierung befangen ist. Revolutionäre
Gewissenserforschung tut Not! All jene, die sich einen
„klassischen“ Veranstaltungsbericht erwartet haben, muss ich leider enttäuschen.
Vielleicht wirkt das als Anregung, doch einmal zu einer Veranstaltung der
„grundrisse“ zu kommen, mitzudebattieren und sich selbst ein Bild von den
verschiedenen theoretischen Ausgangspunkten und ideologischen Tendenzen zu
verschaffen. Fragen, die gleich zu Beginn
nach dem Referat von Karl Reitter auftauchten und uns dann den ganzen Abend
nicht mehr losließen, waren: Warum gibt es seitens führender Politiker der
Arbeiterbewegung kein Bemühen um eine systematische Staatstheorie? Als die
elaboriertesten Beiträge von dieser Seite müssen immer noch Engels
weitgespanntes früh- und altertumsgeschichtliches Panorama „Ursprung der
Familie, des Privateigentums und des Staates“ (1884) und Lenins „Staat und
Revolution“ (1917[i])
herangezogen werden. Ansonsten war und ist marxistische Staatstheorie Monopol
des akademischen Sozialismus – und danach sieht sie auch aus! Wie erklärt sich dieser Mangel,
dieser „blinde Fleck“ der Theorieentwicklung, diese Gleichgültigkeit gegenüber
den politischen Formen, in denen der Klassenkampf ausgetragen wird? Die vier, fünf
von Marx und Engels übernommenen Zitate, die ständig formelhaft wiedergekäut
werden, können diese Blöße nicht verdecken. Ist die Entwicklung einer
allgemeinen Staatstheorie, die über die Verhältnisse der (entwickelten) bürgerlichen
Gesellschaft hinausgreift, überhaupt möglich und sinnvoll? Was wären ihre
Voraussetzungen und Ausgangspunkte? Ist es wirklich so, wie Hardt/Negri im
„Empire“ nahe legen, dass erst ein bestimmter Grad der Überwindung des
Nationalstaats und der Neuamalgamierung von Staatlichkeit und global agierendem
Kapital erreicht werden musste, ehe man darangehen konnte, eine solche Theorie
vorzulegen? Ich neige eher dazu, für dieses
„schwarze Loch“ in der Theorie der Arbeiterbewegung eine vulgärsoziologische
Begründung heranzuziehen, die hinter der banalen Vulgarität der Realität
nicht zurückbleibt: Die in der marxistischen Bewegung weithin dominierende
Staatsfrömmigkeit, Staatsfetischisierung, ja Staatsvergötzung – und das
verträgt sich naturgemäß nicht mit allzu kritischer theoretischer
Durchdringung der Materie – ist passender ideologischer Ausdruck einer
Schicht, einer Abteilung der Arbeiterklasse, die sich aufgemacht hat, in die
Staatsklasse hineinzudrängen beziehungsweise in sie kooptiert zu werden oder
auch – und das ist Spezialität des bolschewistischen Flügels –
in bestimmten historischen Situationen, sich selbst an die Stelle der alten
Staatsklasse[ii] zu setzen. Entsprechend gestaltete sich das
Parteileben: Es dient der Vorbereitung auf den „Ernstfall“, der Einübung
geeigneter Verhaltensweisen und Gewohnheiten und der Herausbildung einer
passenden gesellschaftlichen Parallelstruktur (Staat in spe). Das ist der Beruf,
auf den sich hauptamtliche Berufspolitiker in den Arbeiterparteien
vorbereiten. Das höchste Entscheidungsgremium wird dann auch prompt Politbüro
genannt – Sprache kann ja so verräterisch sein! Dazu kommt noch,
dass das alternative Führungspersonal in aller Regel bis zur
Vollsklerotisierung und häufig auch noch darüber hinaus – man erinnere
sich nur an die Parteistaatsmumien Mao und Breschnew – immer wieder in
seine Ämter „gewählt“ wurde. Schuld daran, dass dem kein
Riegel vorgeschoben werden konnte, trägt Marx! Der hat einfach nicht lange
genug gelebt beziehungsweise effizient genug gearbeitet (sogar den 2. und 3. Band
des „Kapital“ musste Engels fertig stellen!), als dass er sein gesamtes
theoretisches Vorhaben hätte umsetzen können. Die Pläne haben sich zwar immer
wieder geändert, doch war stets mehr geplant, als uns heute vorliegt. Im
Folgenden das Konzept, in dem Marx nach meinem Kenntnisstand die notwendigen
Ausführungen zur Staatsfrage am detailliertesten skizziert: „Die Einteilung offenbar so zu
machen, dass Erst das wäre also die ganze
„Kritik der politischen Ökonomie“ gewesen, wie sie von Marx geplant und –
in dieser Hinsicht ganz Kind seiner Zeit – unter Außerachtlassung der
Geschlechterverhältnisse konzipiert war. Aber es hat halt nicht sollen sein,
und so müssen eben wir uns damit plagen. „Staat und Revolution“ –
die Le(h/e)re des Marxismus ... „Staat und Revolution“ ist
die zentrale Schrift des revolutionären, bolschewistischen Marxismus zur
Staatsfrage: In den zwei Monaten vor der Oktoberrevolution geht der Politmönch
Wladimir Iljitsch seine Exzerpte der „Klassiker“ Marx und Engels durch und
stellt eine Sammlung wohl der meisten einschlägigen „Stellen“ zusammen, die
er einer ausführlichen Textexegese, Textkommentierung und Textparaphrasierung
unterzieht. Zahlreiche Wiederholungen aber vor allem auch Widersprüchlichkeiten
und Probleme, die sich bei einer eingehenden Lektüre und Konfrontation dieser
Stellen zwangsläufig ergeben müssten, werden jedoch nicht weiter beachtet und
bearbeitet. Dieser eklektizistische Duktus
der Darstellung gibt einen Vorgeschmack der furchtbaren Ödnis, die die von
Heerscharen wohlbestallter Staatsangestellter fabrizierten bleiernen Papierwüsten
der marxistisch-leninistischen Weltanschauung künftig noch millionenfach
verbreiten sollten. Die weit überwiegende Mehrzahl dieser Theoretiker genannten
Staatslegitimatoren wagte sich, sei es aus Angst oder Zynismus, einfach nicht
mehr aus den staatlich konzessionierten, „klassischen“ Zitatenwäldchen
heraus. Inhaltlich gesehen folgen auf
ziemlich anarchoide Passagen unvermittelt ungeschminkt brutale, autoritär-etatistische
Formulierungen und vice versa. Diese Zwiespältigkeit, in die sich wohl nur mit
äußerster Mühe und Äquilibristik und zahlreichen pseudodialektischen
Verschraubungen eine Konsistenz hineingeheimnissen ließe, findet ihre
materielle Grundlage in der prekären politischen Situation, in der sich die
Bolschewiki und speziell Lenin im Sommer 1917 befanden. Dass Lenin die Säulenheiligen M & E
als Verstärkung aus dem Hergottswinkerl zerrte, lag daran, dass er ansonsten
wohl kaum auf ein Echo über die engsten Parteikreise hinaus hätte hoffen dürfen:
Die Bolschewiki waren eine Minderheit innerhalb der sozialistischen Bewegung,
eine Minderheit selbst noch unter den sich auf den Marxismus beziehenden Flügel
und Lenin vertrat zu all dem auch noch innerhalb der Bolschewiki eine
Minderheitenposition – alles in allem also eine wenig komfortable Lage
und nicht geringer Anlass für heftiges Avantgardefeeling. Was das Verhältnis zum Staat
anlangt, waren die Bolschewiki in der Konkursmasse des Zarismus, der
Provisorischen Regierung etc. nicht und in den Keim- und Vorformen des neuen
Staatswesens (vielleicht mit der Ausnahme St. Petersburgs), den Sowjets nur
marginal vertreten. Lenin und andere bolschewistische Führer standen sogar
unter Anklage, und die Partei verblieb weiterhin bestenfalls in einer Art
Halblegalität. Was Wunder, wenn beim maßgebenden Führer der Bolschewiki in
dieser Situation antistaatliche Stimmungen stark waren und Rachephantasien
aufkamen. Die Stellung zum Staat sollte sich jedoch bald radikal ändern: als nämlich
mit der Oktoberrevolution die Avantgarde des Proletariats (= in Lenins Verständnis:
die Bolschewiki) auf die prestigeträchtigen Pöstchen vorrückte. Besonders angetan hat es Lenin
die in einem Brief von Marx an Weydemeyer aufgefundene Formulierung über die
„Diktatur des Proletariats“ und die Komplementärbildung: „Diktatur der
Bourgeoisie“, die spätestens seit der Oktoberrevolution im linken,
bolschewistischen Flügel der Arbeiterbewegung geradezu inflationär in Gebrauch
standen. Charakteristisch für beide Formeln ist, dass sich in ihnen sozialer
Gehalt und politische Form ununterscheidbar vermengen. Richtig daran ist, dass auch die
allerdemokratischste, national- und rechtsstaatlich verfasste und sich weiter
demokratisierende parlamentarische Republik, die jedoch das Privateigentum
unangetastet lässt, sozial gesehen eine Diktatur der Bourgeoisie bleibt. Wo
aber die Ruhe der Profitmacherei flöten zu gehen droht, wird „Terror und
Anarchie“ gezetert und bei aller vorgeblichen Liebe zur Demokratie diese schon
auch mal abgeschafft, wie 1973 in Chile beispielsweise. Auf Seiten der Diktatur des
Proletariats gestalten sich die Dinge jedoch keineswegs so einfach. Politisch
ist nicht davon auszugehen, dass sich die Mächte der alten Gesellschaft an die
„Spielregeln der Demokratie“ halten werden, wenn es ans Eingemachte geht. Im
Gegenteil! Es ist mit einer ganzen Serie von Attentaten, Putschversuchen und
bewaffneten Interventionen zu rechnen. Sozial gesehen nimmt das Proletariat auch
weiterhin keine privilegierte Position ein, und daran ändert, entgegen einem
weit verbreiteten Irrglauben, auch keine Verstaatlichung etwas. Das Proletariat
bleibt darauf verwiesen, dass eine gesellschaftliche Dynamik in Gang gesetzt und
entfaltet wird, die das Proletariat aufhebt, die Gesellschaft gewissermaßen
entproletarisiert. Das zentrale Movens einer solchen Periode der
gesellschaftlichen Umgestaltung kann dann aber schon keine „Diktatur des
Proletariats“ mehr sein. In der Praxis des real
existierenden Sozialismus wurde dieses Problem so „gelöst“, dass die in der
Staatspartei organisierten Bürokraten, die Nomenklatur unter Ausnutzung
historischer Reminiszenzen und der Beibehaltung des Parteinamens zu Ehren-Proletariern
erklärt wurden, denn mit ihrer sozialen Rolle und Funktion in der Gesellschaft
hatte diese Bezeichnung wohl nichts mehr zu tun. Dieses Verschwimmen der
Konturen, der mystifizierende Gebrauch sozialer Kategorisierungen führte im
Laufe der Zeit zu einer mehr und mehr nationalistischen und „menschheitlichen“
Reformulierung der Funktion der (politischen) Diktatur des Proletariats zu einer
Diktatur über Spione, Vaterlandsverräter und Unmenschen.[iii] Bevor sich die
totalitarismustheoriegestählten Vertreter menschrechtlich fundierter
Staatlichkeit allzu selbstzufrieden in ihren Fauteuils zurücklehnen, muss hier
unbedingt angemerkt werden, dass genau diese Tendenz mit geringfügigen
terminologischen Adaptierungen auch der von ihnen gehuldigten Staatlichkeit
immanent ist: Diktatur gegen Nestbeschmutzer, Terroristen und islamistische
Fundamentalisten sowie permanente Militärinterventionen gegen Schurkenstaaten
unter der Herrschaft von durch die Propagandaapparate seriell produzierten
Inkarnationen Hitlers (und Stalins). Der Staat an sich, sein Wesen
in der Vielfalt seiner historischen Erscheinungsformen Im Folgenden geht es nun um die
„Zusammenfassung der (bürgerlichen) Gesellschaft in der Form des Staates in
Beziehung zu sich selbst betrachtet.“(Marx) Von Anfang an bildet die
menschliche Gemeinschaft nicht nur „reale“ auf deren Mitglieder und die sie
umgebende Natur bezogene Beziehungen aus, sondern kleidet diese in eine
kulturell-mystifizierende Hülle von gemeinsamen Legenden und Mythen, die sich
mit der Zeit zu Religionen mit speziellem „Fach“personal verselbständigen.
Je mehr die Gesellschaften von antagonistischen Klassengegensätzen zerrissen
werden, desto dringender erhebt sich notwendig das Bedürfnis und die
Notwendigkeit, dieses miteinander geteilte Imaginäre zur Allgemeingültigkeit
zu erheben, dem sich das Sinnen und Trachten aller Gesellschaftsmitglieder zu
unterwerfen hat, wofür dann auch ganz praktisch gesorgt wird. Diese identitätsstiftende
Komponente von Kultur findet sich bis hin zu den heute noch wirksamen
Nationalideologien, und findet ihre sozusagen säkulare Fortsetzung in der von
verschiedenen emanzipatorischen Bewegungen gepflegten Tradierung und kulturellen
Überformung bestimmter Jahrestage (1. Mai, 8. März, Christopher
Street Day). Mit der Aufklärung, die sich
gegen christlich legitimierte Staatsgewalten wandte, begann eine rationale und
notwendig sehr abstrakt ausgedünnte Vorstellung von ideeller Gemeinsamkeit, von
Allgemeinheit Platz zu greifen – in einer von Klassengegensätzen
zerrissenen Gesellschaft kann es keine konkrete und jeweils neu konkret
auszuhandelnde Gemeinschaftlichkeit geben – und begann die Religion in
dieser gesellschaftskonstituierenden Funktion zu ersetzen: Ehre/internationales
Ansehen des Vaterlandes, Heimat, Wealth of Nations, Wirtschaftsstandort, Persuit
of Hapiness, Freiheit und Demokratie, Menschenrechte, europäische oder abendländische
Werte. Da diesem postulierten und nur
vorgestellten gemeinschaftsstiftenden Allgemeinen als solchem jede Möglichkeit
abgeht, in die Gestaltung konkreter Verhältnisse einzugreifen, bedarf es der
Heranziehung konkreter Träger, die es erst zu einer materiellen
gesellschaftlichen Macht werden lassen. Um das Allgemeine aus dem Bereich der
Ideen als Staat in die irdische Wirklichkeit treten zu lassen, müssen bestimmte
Staatsbürger aus dem Kreis aller Staatsbürger herausgehoben werden. Damit
beginnen aber auch schon die Probleme, denn auch die als Staatsorgane
fungierenden Menschen bleiben natürlich stets auch daneben, darunter
beziehungsweise dahinter ganz normale Menschen. Funktionsübertragungen veredeln
nicht ... Das imaginäre Allgemeine gelangt daher auch niemals mit der
konkreten Gestaltung des Staates und des staatlichen Handelns zur Deckung, zeigt
sich ausschließlich in einer durch besondere Interessen und
Interessenkonstellationen geprägten, „verzerrten“ Form. Die von Poulantzas
geprägte Formel, dass es sich beim Staat um eine „Verdichtung
gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse“ handle, scheint mir diese konkreten
Verhältnisse nur zum Teil zu erfassen, denn sie macht das spezifisch eigene
gesellschaftsgestaltende Gewicht der Staatsklasse zumindest nicht explizit, vor
allem jedoch verschwindet in ihr die ideell-imaginäre Dimension des Staates,
mit der sich Poulantzas ansonsten durchaus auseinandersetzt. Im Gegensatz zur Wertbestimmung,
aus der sich begriffslogisch die Tendenzen der kapitalistischen Produktionsweise
ableiten lassen, ist das staatsbegründende Verständnis von Gemeinwohl immer
schon ideologisch und dem historischen Wandel unterworfen. Trotz oder eigentlich
gerade wegen dieser Vagheit ist es jedoch unter normalen Umständen und daher
den größten Teil der Zeit über wirkmächtig, da die von Klassengegensätzen
zerrissene Gesellschaft über keinen anderen Begriff und keine anderen
Institutionen der Gemeinschaftlichkeit verfügt und verfügen kann: In dieser
Hinsicht ist es also gewissermaßen eine den Bestand der Gesellschaft sichernde
Illusion. Den Vorteil davon haben „natürlich“ diejenigen, die aus der
bestehenden Ordnung der Verhältnisse den größten Vorteil ziehen. In diesem
sozialen Sinn verstanden lässt sich also vom bürgerlichen Staat durchaus als
von einer „Diktatur der Bourgeosie“ sprechen. Die von Spinoza entwickelte
Begrifflichkeit reicht in vieler Hinsicht nicht hin, um ein genaueres und
tieferes Verständnis vom Staat zu gewinnen, viel eher schon das von Marx aus
der Auseinandersetzung mit Hegel entwickelte methodische Vorgehen.[iv]
Jeder Staat setzt ein Gemeinschaftsbewusstsein voraus, das den Horizont von
Strukturen der Verwandtschaft und ihrer ideologischen Verklärung bereits zu überschreiten
begonnen hat und dem Territorialprinzip Bedeutung beimisst. Der Staat als
Verdinglichung, Verkörperung eines gesellschaftsstiftenden Imaginären ist also
weder Ding noch Idee, sondern in sich widersprüchliche Einheit beider. Als
Ideending beziehungsweise als Dingidee gehört er zugleich keiner wie beiden Sphären
an, in die wir unsere Welt einzuteilen gewohnt sind: der materiellen wie der
ideellen. Dieser Doppelcharakter ist nicht verwunderlich, handelt es sich doch
trotz der Rede von Ameisen- und Termiten“staaten“ oder auch Bienen“völkern“
um eine spezifisch menschliche Vergesellschaftungsform, die demgemäß auch den
Doppelcharakter des Menschen reflektiert. Die metaphysischen Mucken und die
wabernde, vage Metaphorik, die seit je die Erörterungen der Staatsfrage
durchziehen, verdanken sich dieser zweifachen Bestimmung. Der Staat ist daher
auch nie vollständig „dingfest“ zu machen, weder personenfest noch
ortsfest. Vom Hegelschen Staatsbegriff
unterscheidet sich diese Konzeption von Staat dadurch, dass Staat nicht als die
ideale Verkörperung einer wie auch immer gefassten reinen Idee aufgefasst wird.
Das staatskonstituierende Imaginäre ist auch keine egoistische Inszenierung
machtgeiler Subjekte (Priesterbetrug) und auch kein Ausfluss weithin
verbreiteter Untertanenmentalität, sondern ideeller Ausdruck bestimmter
gesellschaftlicher, sozialer Verhältnisse, die im Aufkommen und der Verbreitung
bestimmter Staats- und Rechtsauffassungen ihren ideellen Ausdruck finden und als
solche dann transformierend auf die geschichtlich vorgefundenen Staatsapparate
einwirken. Negri/Hardt legen in ihrem Buch „Empire“ nahe, dass dieser merkwürdig
oszillierende Charakter von Staatlichkeit erst mit den jüngsten Entwicklungen
des globalen Kapitalismus aufgekommen sei, er hat aber seit jeher jeden Staat
gekennzeichnet, was in Perioden des Umbruchs immer wieder besonders augenfällig
zutage getreten ist.[v] Exkurs zu den Menschenrechten
als Staatsgrundlage und als Legitimation staatlichen Agierens Man kann sich darauf verständigen
im Verkehr untereinander die Menschenrechte, die zweifellos eine historische
Errungenschaft darstellen, einhalten zu wollen. Unter gesellschaftlichen Verhältnissen,
die von Ungleichheit und sozialen Gegensätzen bestimmt werden, haftet dem
jedoch notwendigerweise eine gewisse „Unvollkommenheit“ an, weil sozial
unterschiedlich gestellte Menschen unter den gleichen Maßstab gestellt werden:
Weder darf ich Bill Gates sein Vermögen wegnehmen noch er mir meines
beziehungsweise nur auf dem Umweg über sein De-facto-Softwaremonopol. Super!
Dieser Aspekt ist von vielen Seiten immer wieder kritisch gegen die Menschrechte
ins Treffen geführt worden. Außer dieser sozialen Kritik
gibt es jedoch eine politisch-rechtliche, die viel weniger weit verbreitet ist
und viel mehr Beachtung verdiente: Überall dort, wo von der bloßen
Proklamation der Menschenrechte vorangeschritten wird zur Etablierung eines
Regimes, das die „Einhaltung der Menschenrechte gewährleisten“ soll, kann
dies nur um den Preis eines fundamentalen Bruchs der Menschenrechte geschehen,
weil jeder Staat zwangsläufig Ungleichheit auch in der Sphäre des Rechts und
der Politik voraussetzt und erfordert. So ist es – nehmen wir
ein drastisches Beispiel aus einem Staat, dem mancherorts zugebilligt wird, der
globale Hort der Menschenrechte zu sein, und der sich auch das Recht anmaßt,
weltweit „für die Menschenrechte“ militärisch zu intervenieren –
bestimmten Justizorganen in den USA nicht nur gestattet, nein, es ist vielmehr
ihre Pflicht, bestimmten anderen Menschen Starkstromstöße durch die Körper zu
jagen oder Gift in die Blutbahn zu injizieren. Zweierlei Recht in der öffentlichen
Sphäre des Staatshandelns einerseits und in der Privatsphäre andererseits ist
jeder Staatlichkeit immanent. Und dieses zweifache Recht reflektiert keineswegs
nur die materielle Verschiedenheit dieser beiden Sphären, sondern schließt
eben auch Sonderrechte für die Staatsklasse mit ein: Gewaltmonopol,
parlamentarische Immunität etc. Die gegenwärtig immer noch dominierende
nationale Form von Staatlichkeit produziert sogar noch eine weitere Ebene zusätzlicher
Entrechtung, indem sie Nicht-Staatsangehörigen sogar die wie auch immer lückenhafte
und unvollständige menschenrechtliche Absicherung vorenthält. Dasselbe gilt im Übrigen auch für
das Außenverhältnis dieser Staaten(gemeinschaft), denn woraus sonst ließe
sich ein Unterschied zwischen den Terroranschlägen vom 11. Juni 2001 und
den Bombardierungen Bagdads, Belgrads und Kabuls konstruieren. Es ist daher auch
durchaus kein Zufall und auch nicht nur der Borniertheit und nationalen Überhebung
einer bestimmten US-Administration geschuldet, dass die USA als selbsternannter
und weithin als solcher auch akzeptierter Weltpolizist sich prinzipiell weigert,
ihre militärischen Aktivitäten grundsätzlich und ausnahmslos einer
internationalen Entscheidungsinstanz, dem UNO-Sicherheitsrat beispielsweise, zu
unterwerfen, auch dann, wenn er einmal nicht in ihrem Sinne entscheiden sollte,
oder der Gerichtsbarkeit eines Internationalen Menschenrechtsgerichtshofes zu
unterstellen. Die Materialität des
Staates: die Institutionen, die Staatsapparate und ihr Personal Nach dem zuvor Entwickelten dürfte
wohl klar sein, dass der Staat pur materiell nicht zu fassen ist: dass streng
genommen aus dem bloßen Vorhandensein bestimmter Apparate, Institutionen und
Gremien noch nicht deren staatskonstituierende Rolle geschlussfolgert werden
kann. Freilich sträubt sich das zur Verdinglichung neigende Bewusstsein[vi]
mit aller Macht dagegen, zuzugestehen, dass es sich beim Staat im Kern um keine
Sache handeln soll, um keine Instrumente und kein Ensemble von diversen
Apparaten. Die Grenzen des Staates sind beweglich. Im Österreich der Gegenwart
kann davon ausgegangen werden, dass Institute wie das Wifo und das IHS, öffentlich-rechtliche
Unternehmen wie der ORF aber auch rein privatkapitalistisch strukturierte
Medienunternehmen wie die Krone und der News-Konzern zur aktuellen Gestalt des
Staates gehören, während andererseits bestimmte Koordinationsgremien der
Sozialpartnerschaft, die früher durchaus im Kern des Staates anzusiedeln waren,
heute nur mehr eine marginale Rolle spielen und vielleicht auch schon
entstaatlicht und funktionslos geworden sind. Die Staatsangehörigen nehmen
zwei gegensätzliche Gestalten an: Untertan und Staatsdiener, dessen sich der
Staat bedient, um als Auge, Ohr, Mund und Arm des Staates, als dessen
menschliche Gestalt und zeitweilige Verkörperung, kurz als Staatsorgan den
Untertanen entgegenzutreten. Dieses eigenartig doppelte Verhältnis schrieb sich
auch dem Begriff Demokratie ein: Volksherrschaft. Das Volk, die Staatsbürger
herrschen also, aber über wen genau? Über sich selbst! Der historische Ursprung des
Staates liegt dort, wo der jeweiligen sozialen Oberschicht der Bürger der
Zugang zu gesellschaftsleitenden Funktionen, Ämtern als (verfassungs)rechtlich
gesetzte zusätzliche Distinktion zuerkannt wird. Die verbreitete Kritik der
antiken Demokratie, sie habe Frauen und Sklaven ausgeschlossen und nur die männlichen
Haushaltsvorstände umfasst, unterschlägt wieder einmal genau diesen Aspekt,
der Ansatzpunkt einer eigenständigen Staatskritik sein könnte und lässt ihn
in einer an sich natürlich durchaus berechtigten Sozialkritik verschwinden.
Diese Maßnahme steht am Beginn eines Prozesses der Aufspaltung der ursprünglich
unmittelbar durch die Verwandtschaft strukturierten Gemeinschaftlichkeit in eine
Sphäre der Öffentlichkeit und eine der Privatheit. Und das Territorialprinzip
beginnt das Abstammungsprinzip zu relativieren. (Vgl. Friedrich Engels: Der
Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats. MEW 21,
S. 107ff.) Die patriarchale Gentilorganisation verschwindet dadurch
selbstverständlich nicht, sondern sie lebt und entwickelt sich weiter, wenn
auch mehr und mehr im „Untergrund“ der Gesellschaft. Von einer alle Verhältnisse
und Beziehungen determinierenden Struktur wird sie allerdings mit wachsendem
Gewicht des Staates zu einem Prinzip zweiter Ordnung. Dem Staat, den man in dieser
Blickrichtung auch als Sekundärpatriarchat vielleicht auch als ideellen
Gesamtpatriarchen bezeichnen könnte, wächst das Recht zu, in die Sphäre der
Privatheit, ins Parallel-Universum der Clan- respektive Familienpatriarchen
regelnd einzugreifen, also die unbeschränkte Macht des Primärpatriarchats in
gewissen Aspekten zu relativieren. Diese progressive Bedeutung von Staatlichkeit
gilt es in allen Überlegungen zur wünschenswerten künftigen Entstaatlichung
von Gesellschaft zu bewahren respektive „aufzuheben“.[vii] Mit der wachsenden Komplexität
der Gesellschaft und den damit an Umfang und Bedeutung zunehmenden Aufgaben des
Staates differenziert sich eine eigene gesellschaftliche Schicht heraus, die
Staatsfunktionen wahrnimmt, nicht mehr mit der Ausbeuterklasse ident ist und
auch nicht mehr ausschließlich aus dieser rekrutiert werden kann. Zunächst
werden diese Verwaltungs- und Militärkader noch nachträglich per Heirat oder
Adelstitelverleihung als so
genannter niederer Adel zumindest formell in die herrschende Klasse integriert,
später bleiben davon dann nur mehr die Dienst- (und Besoldungs-!)klasse und die
Titel der Beamten und der Offiziersrang übrig. Aus den Menschen, die in diesen
Bereichen tätig sind, setzt sich die `unproduktive´ Klasse der Staatsdiener
zusammen. Ihr „Dienst am Staat“ ist weniger eine Frage persönlicher Überzeugungen
und individueller Loyalitäten als eine berufliche Anforderung (Leumundszeugnis,
berufsständische Ehrenkodexe, Parteibuchwirtschaft, Proporz und fallweise auch
offene, politische Berufsverbote). Diese politischen Sonderanforderungen, die
man auch als Einschränkungen der Freiheit ansehen könnte, werden jedoch durch
zahlreiche und in sich sehr differenzierte Privilegierungen versüßt: wirklich
oder auch nur vordergründig Ehrfurcht heischende und Respekt gebietende Tätigkeit
(zumindest im direkten Parteienkontakt – das untergründige Murren und
Schmähen ist die komplementäre psychische Reaktion der Behördenopfer)
und/oder gut bezahlte und im Allgemeinen auch sichere Jobs in den Partei- und
Staatsbürokratien, Berufsbeamtentum, angenehmere Arbeit, späterer
Arbeitsbeginn, kaum Schichtarbeit, Biennalsprünge der Gehälter –
automatische Vorrückungen, die das Senioritätsprinzip verankern,
Bereitschaftsarbeit, die Arbeitsleistung z.B. der zahlreichen Sitzungstiger
nicht wirklich beurteilbar etc. Poulantzas Verortung des Staates
in der Sphäre der geistigen Arbeit trifft zwar einen großen Teil aber
keineswegs alle Staatsdiener: bei den Organen der Repression nach innen
(Polizei, Gendarmerie, Justizwache) kann man die Frage der Zuordnung von mir aus
noch offen lassen, wenn man dabei an Columbo oder Rex denkt und nicht an die
Anti-Opernballdemo-Einsatzkräfte. Aber beim Militär, beim Agieren nach außen?
Die US-Marines exerzieren nicht Kopfrechnen und das Bilden grammatisch richtiger
Sätze, so viel ich weiß, sondern vielleicht ein bisschen Geographie und
Kartenlesen. Verdient das aber schon den Adelstitel „geistige Arbeit“? Die in meinen Augen zentralere
Kritik an Poulantzas Konzeptualisierung von Staat in der Trennung von Hand- und
Kopfarbeit ist jedoch, dass er damit so wie alle Fraktionen der staatsfrommen
Linken das Spezifikum des Dienstes am Staat in allgemeinen sozialen Kategorien
aufzulösen bestrebt ist. In den einfacher gestrickten Varianten dieser
Auffassung wird dann davon gesprochen, dass wir ohnehin alle Lohnabhängige und
Werktätige sind, dass es sich bei Polizisten um „Arbeiter in Uniform“
handle etc. Staatssozialismus:
Staatsdiener auf dem Weg zur Klassenherrschaft In der bürgerlichen
Gesellschaft stehen die beiden Karrierewege „Wirtschaft“ respektive
„Staatsdienst“ als konkurrierende Alternativen mit entsprechenden
Quereinstiegs- und Querausstiegsmöglichkeiten zur Verfügung, im bisher
realisierten Sozialismus verengte sich das zu einem einzigen Weg (Wirtschaft
wird Staatswirtschaft, Partei wird Staatspartei): Nur auf dieser Schiene ist es
noch möglich, sich über die im Rest der Gesellschaft üblichen Lebenschancen
zu erheben. Die Kraft, Dynamik, Entschlossenheit und nicht zu selten auch
Skrupellosigkeit dieser gesellschaftlichen Aufwärtsmobilität ist nicht
zu überschätzen. Die Staatsklasse – die
Berechtigung dieser Klassifizierung mag in der bürgerlichen Gesellschaft fragwürdig
und zu diskutieren sein – bildet sich im Sozialismus zur Klasse im vollgültigen
Sinn aus. Sie setzt sich aus den Funktionären eines die ganze Gesellschaft
umschlingenden und erdrückenden Staatsparasiten zusammen und kann ihre
Herrschaft letztlich nur diktatorisch absichern. Eine allgemeine Korrumpierung
und Mafiotisierung schreitet voran, die durch einzelne zur Legitimation unumgänglich
notwendige, integre Vorzeige-Anständige als moralistische Feigenblätter
wirklich nur mehr für einfältigste Gemüter zu verdecken ist. Je verfaulter
und degenerierter die schmutzige Gegenwart des Staatssozialismus, desto höher
emporgehoben und verklärt werden Personen und Ereignisse der „heroischen“
Vergangenheit. Es bildet sich so etwas wie eine säkulare Volksreligion heraus:
Der Führer in allen TV-Kanälen und Radiostationen, Denkmäler auf allen öffentlichen
Plätzen und Büsten und Bilder in allen Haushalten, wenn schon nicht aus
Begeisterung so doch wenigstens aus Klugheit appliziert.[viii] Wenn Ludwig der XIV. sagte:
„La etat c´est moi!“, dann war das entweder eine Selbstüberschätzung oder
wenigstens der noch nicht sehr ausgedehnten Staatlichkeit geschuldet.
Beunruhigend ist es allerdings, dass es heute mit viel mehr Berechtigung heißen
könnte: Ohne Lenin keine Oktoberrevolution, ohne Mao keine Kulturrevolution,
ohne Stalin keine Zwangskollektivierung und ohne den rumänischen Schuster
Ceausescu keine „Modernisierung“ des rumänischen Dorfes. Der schnelle und offenbar
problemlose Wechsel der überwiegenden Mehrzahl der oberen Staats- und
Parteikader vom „Sozialismus“ zu den neuen Verhältnissen entsprechenden
gesellschaftlichen Gestalten: nationalistischer Politiker, Wirtschaftsoligarch,
Medienzar[ix]
zeigt einmal mehr, dass das Fähnchen, dass am Amtshaus weht oder am
Schreibtisch steht, der überwiegenden Mehrheit der Staatsklasse weit weniger
nahe ist, als der Rock beziehungsweise der lieber mehr als weniger pompöse
Schreibtisch. Bis hierher stellen diese
Aussagen lediglich eine Variante des üblichen spießbürgerlichen Lamentos über
die Verkommenheit „derer da oben“ dar, die im Übrigen nicht wesentlich größer
als die „derer da unten“ ist nur eben – weil oben – mit
wesentlich breiter gestreuten Betätigungsmöglichkeiten und größeren Chancen
ausgestattet. Dass eigentlich Verstörende sollte jedoch etwas ganz anderes
sein, nämlich dass sich der ganze vorgeblich reale Sozialismus in seinem sang-
und klanglosen Untergang als nichts anderes als ein Elitenkarneval enthüllt
hat. Nach bis zu 74 Jahren opferreichsten Kampfes für den „Aufbau des
Sozialismus“ gab es nicht die Spur sozialen Widerstandes, wie er bei einer
Unterwerfung frei assoziierter Produzenten unter die Bedingungen der
Lohnsklaverei zwangsläufig hätte auftreten müssen. Das ist die historische Realität
der „Diktatur des Proletariats“ in der Übergangsperiode zwischen
Kapitalismus und Kommunismus. Diese Diagnose ist in aller Klarheit und Schärfe
zu stellen statt in billiges Hoffen auf Besserung auszuweichen: „bürokratisch
degenerierte Arbeiterstaaten“, „revisionistische Entartung“, ein bisserl
demokratischer und weniger Personenkult und die Beteuerung: Diesmal werden wir
es besser machen, ganz bestimmt, (treuherziger Augenaufschlag!) ganz großes
Ehrenwort! – Das wird nicht reichen. Wir leben nicht in der Traumzeit,
als das Wünschen noch geholfen hat. Es können nicht nur gewisse falsche Ideen
gewesen sein, die zu diesen Erscheinungen führten, Bürokratismus und
Personenkult sind mehr als bloße Charakter- und Organisationsmängel, als
welche sie in vielen oberflächlichen Kritiken erscheinen. Die Fragen, warum sich in
ausnahmslos allen bisherigen Versuchen, den Sozialismus zu realisieren, eine
derart pyramidale Struktur der Macht herausbildete (5 Männer im Ständigen
Ausschuss des Politbüros der KPCh lenken zumindest dem Anspruch nach die
Geschicke von über 1 Milliarde Menschen!), warum allenthalben Tendenzen zu
Gerontokratie und Bürokratismus zu konstatieren sind und warum sich das alles
in den kleineren Staaten zu quasi-monarchistischen Systemen verdichtet, sind
meines Erachtens bisher noch nicht zufrieden stellend geklärt. Das und die
Entwicklung tragfähiger Alternativen wäre jedoch dringend erforderlich, um die
Emanzipationsbewegung von einem furchtbaren Alb zu befreien und ihr wieder mehr
Strahl- und Schubkraft zu verleihen. Ohne Abschaffung des Staates
keine Emanzipation Es mag frivol erscheinen, wenn
hier just in einer Zeit des allgemeinen Sozialabbaus, die von vielen als
neoliberaler Rückzug des Staates von seinen eigentlichen, wesentlichen Aufgaben
auf das Heftigste kritisiert wird, erneut Überlegungen zur Abschaffung des
Staates angestellt werden. Dennoch erscheint mir genau das als unabdingbar, weil
nur so ein Ausweg, ein Hinterausgang aus dem uns aufgeherrschten Dilemma
zwischen „sozial warmer“ Staatsanbetung, die wider besseres Wissen auch zu
einer Verklärung und zu einem Wiederherbeiwünschen eines vermeintlich goldenen
Zeitalters des Keynesianismus gedrängt ist, und „sozial kalter“
Entstaatlichung aufgefunden werden könnte. In der Auseinandersetzung mit
den Anarchisten haben Marx und Engels und in deren Gefolge auch Lenin die
Vorstellung vom „Absterben“ des Staates im Sozialismus entwickelt:
Umfangreichere und differenziertere Überlegungen dazu finden sich allerdings
bei diesen „Klassikern“ nicht, was selbstverständlich Lenin mehr
vorzuwerfen ist als Marx und Engels. Meines Erachtens hat die historische
Erfahrung mittlerweile zur Genüge gezeigt, das von einem „Absterben“ des
Staates im Sozialismus, was ja eine gewisse Automatik, einen natürlichen
Selbstlauf impliziert, keine Rede sein kann. Eher ist das Gegenteil richtig: er
blähte sich mehr und mehr auf. Es spricht also Vieles dafür, die
anarchistische Begrifflichkeit von der Abschaffung des Staates wieder
aufzugreifen – man muss ja deswegen nicht gleich die damit verbundenen
und mit Recht kritisierten anarchistischen Kurzschlüsse mit übernehmen. Im Sozialismus müssen die
abgesonderten bewaffneten Apparate und die militärische Hochrüstung (von der Möglichkeit
planetarischer Komplikationen einmal abgesehen) abgeschafft werden. Falls sich
doch noch einmal die zugegebenermaßen sehr wenig wahrscheinliche Chance eröffnen
sollte, ein sozialistisches Projekt in einem regional begrenzten Rahmen zu
starten, gibt es dann allerdings auch in diesem Staatssektor das bislang ungelöste
Problem, wie eine Verselbständigung dieser Apparate hintangehalten werden könnte,
und das viel grundsätzlichere Problem, ob und wie Sozialismus unter der
Bedingung ihn umgebender feindlicher Übermacht überhaupt zu realisieren wäre,
denn der Staatssozialismus ist nicht zuletzt auch zu Tode gerüstet worden. Die von Lenin wieder
aufgegriffene Engelssche Formulierung aus dem „Anti-Dühring“: „Der erste
Akt, worin der Staat wirklich als Repräsentant der ganzen Gesellschaft auftritt –
die Besitzergreifung der Produktionsmittel im Namen der Gesellschaft –,
ist zugleich sein letzter selbständiger Akt als Staat. Das Eingreifen einer
Staatsgewalt in gesellschaftliche Verhältnisse wird auf einem Gebiete nach dem
anderen überflüssig und schläft dann von selbst ein. An die Stelle der
Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die Leitung von
Produktionsprozessen. Der Staat wird nicht ,abgeschafft´, er stirbt ab.“
(Friedrich Engels: „Anti-Dühring“, MEW 20, S. 261f.) Bereits in diesem Katechismus
der früheren sozialdemokratischen und später der marxistisch-leninistischen
Weltanschauung, aus dem Generationen von Sozialisten und Kommunisten ihre
Sozialismusvorstellungen bezogen, findet sich also diese Blindheit, diese für
einen Materialisten höchst erstaunliche Blauäugigkeit gegenüber den spontanen
Tendenzen jener, die da als „Repräsentanten“ „im Namen der
Gesellschaft“ agieren. Nebstbei selbstverständlich auch der Glaube, und es
ist nichts anderes als Glaube, an die wundertätige Wirkung von
Verstaatlichungsmaßnahmen. Doch nicht darum geht es mir
hier, sondern um die Verwaltung von Sachen und die Leitung von
Produktionsprozessen, die an die Stelle der Regierung über Personen treten und
damit das Absterben des Staates signalisieren soll: Eine merkwürdig
verdinglichte, entmenschlichte Vorstellung von Produktion, die im Produktivismus
der nachholenden Entwicklung der staatssozialistischen Staaten ihre fröhlichen
Urständ feiern sollte. Wie viel soll überhaupt gearbeitet werden, was soll wie
produziert werden und wer soll das dann bekommen? Das sind doch höchst brisante
Fragestellungen, die gesellschaftlich immer umstritten sein werden und sich in
keine abstrakte Produktionslogik auflösen lassen! Bei solchen Vorstellungen
handelt es sich um einen Nachhall des Vernunftabsolutismus der Aufklärung, der
die Menschen nur als bloße Besonderungen einer als einheitlich konzipierten
Weltvernunft begreift. So formulierte Spinoza im Lehrsatz 35 des 4. Abschnitts
seiner Ethik: „Nur insofern die Menschen nach Leitung der Vernunft leben,
stimmen sie von Natur aus immer notwendig überein.“ (Spinoza, Die Ethik.
Stuttgart: Reclam 1977, S. 505) Die Konzeption des Menschen als Monade der Ratio
schimmert hier durch, aber wir Menschen stammen nicht nur „vom Affen“ ab,
wir sind auch Tiere geblieben: Das Begehren und die Wünsche sind zwar nicht
mehr vollständig instinktmäßig festgelegt, aber deswegen sind sie noch lange
nicht auszumultiplizieren! Weiters gehört gerade
Verwaltung zu den Kerntätigkeiten des Staates. Ihre Grundoperation ist die
Schaffung und Bearbeitung einer papierenen oder neuerdings auch elektronischen
Parallelwelt (Melderegister, Geburtenverzeichnis, Strafregister, Sterberegister,
Steuernummer, Kaderakte, Produktionskennziffern etc.), deren Sinn gerade darin
besteht, Tätigkeiten und Beziehungen auch für nicht direkt daran Beteiligte
beobachtbar und kontrollierbar zu machen. Welchen Sinn soll das im Kommunismus
haben? Dahinter steckt doch nichts anderes als die Vorstellung einer
Transformation der Gesellschaft in einen totalverstaatlichten, sich ständig
effektivierenden Produktionsorganismus auf fordistisch-tayloristischer
Grundlage, was Lenin auch explizit so ausgesprochen hat: Seiner Meinung nach hat
die deutsche Post den Sozialismus formell vorweggenommen. „Die gesamte
Gesellschaft wird ein Büro und eine Fabrik mit gleicher Arbeit und gleichem
Lohn sein!“ (W.I. Lenin: Staat und Revolution, LW 25, S. 488) Nicht,
dass ich was dagegen hätte, wenn jemand das mit Gleichgesinnten umsetzen will,
vorausgesetzt es kommt dabei nicht zu einem überdimensionierten
Ressourcenverschleiß – für mich jedenfalls ist das keine
erstrebenswerte Zukunftsvorstellung. Außerdem werde ich den Verdacht nicht los,
dass alle, die so reden, dabei weniger an sich denn an andere als Turbohackler
denken und für sich selbst allenfalls noch das „Büro“ und
„unglaublichen“ Telefonier- und Sitzungsstress für zumutbar halten. Gegen solche Ideen hilft kein überdialektischer
Formelglaube (totale Verstaatlichung, die am St. Nimmerleinstag in die
vollkommene Entstaatlichung der Gesellschaft „umschlage“) und auch keine
beiläufigen Bonmots. Die Leninsche Köchin, die nachmittags die Staatsgeschäfte
besorgt – und wer wäscht dann ab und sorgt fürs Abendessen, der
„proletarisch-revolutionäre“ Staatenlenker etwa? – impliziert, vom
sexistischen Unterton einmal ganz abgesehen, dass die Köchin am Nachmittag in
der zentralen Plankommission die Ausarbeitung des nächsten Fünfjahrplans präsidiert
oder mit einer MIG einen Bombeneinsatz gegen tschetschenische Stammes- und
Gotteskrieger fliegt und am Wochenende einen Freundschaftsbesuch in der
Volksrepublik Angola absolviert. Damit kein Missverständnis
aufkommt: Ich will mit diesen Bemerkungen keineswegs ernsthafte Versuche lächerlich
machen, den Staat zu überwinden. Sehr wohl aber soll lächerlich gemacht
werden, wer glaubt, in dieser zentralen Frage mit solchen Sagern sein Auslangen
finden zu können. Prinzipiell, und damit zwangsläufig sehr, sehr allgemein
gehalten, geht es um die Frage der grundsätzlichen Orientierung:
Verstaatlichung der gesamten Gesellschaft (eventuell verbrämt mit dem
pseudodialektischen Überschmäh, dass der Staat kein Staat mehr sei, wenn er
alle Tätigkeiten und Beziehungen der Gesellschaft in seinen Bannkreis gezogen hätte)
oder sukzessive aber vollständige Auflösung jeglicher Staatlichkeit in
unmittelbare gesellschaftliche Tätigkeit. Es ist nun nicht so, dass es in
der Geschichte des Staatssozialismus keinerlei Versuche gegeben hätte, den
Gegensatz zwischen der Klasse der Staatsbürokratie und der Gesellschaft
theoretisch und praktisch zu thematisieren. In den, wenn man so will,
„rechten“ Tauwetterperioden, die in Dubceks Prager Frühling und
Gorbatschows Perestroika ihre am weitesten entwickelte Ausprägung erfahren
haben, ging es darum, diese Beziehung zu entspannen, in Maos „linker“
Kulturrevolution darum, diesen Gegensatz zuzuspitzen und gegen einen Teil(!) des
Apparates (ab)zulenken, der rein zufällig mit Maos innerparteilichen Gegnern
ident war. Beide Tendenzen führten auf Grund ihrer politizistischen Verengung,
die kaum Ausweitungen ins Soziale zuließ und schon gar nicht die Zurückdrängung,
den Abbau von Staatlichkeit als Perspektive hatte, zu keinerlei positiver
Transformation des Staatssozialismus. Wirkliche Emanzipation ist nur
jenseits von Staat, Warenproduktion und Patriarchat zu erreichen. Im Gegensatz
zum Marx der „Judenfrage“ und den Anti-Politikern der Gegenwart bin ich nicht
der Auffassung, dass sich die politische Emanzipation mit der Proklamation(!)
der Menschenrechte erschöpft hätte und man sich nur mehr um die soziale und
gesellschaftliche Emanzipation kümmern müsse. Der Politik kommt auf ihrem
eigenen Gebiet die Aufgabe zu, die weitere Emanzipation der Menschheit dadurch
zu befördern, dass sie die direkte Selbstorganisation der Gesellschaft
weiterentwickelt, die freie Assoziation der Menschen und nicht nur der
Produzenten, wie es noch in früheren, industrieeuphorischen und
arbeitsfanatischen Zeiten formuliert wurde („Die Müßiggänger schiebt
beiseite!“) befördert. Freiheit bedeutet die Aufhebung der staatsförmigen
Vergesellschaftung und zugleich auch die Befreiung von und nicht etwa den Rückfall
in patriarchal-familiäre Rollenzuschreibungen. Auseinandersetzungen über
naturnotwendig divergierende Interessen müssen nicht mehr unbedingt in ein
allen aufgezwungenes „Gemeinwohl“ transformiert werden und
Gemeinschaftlichkeit ist unter den unterschiedlichen aber nicht mehr zwangsläufig
einander entgegengesetzten Einzel- und Gruppeninteressen stets aufs Neue konkret
auszuhandeln. Die Alternative, deren Potenzen
es zu entfalten gilt, muss also grundsätzlicher und umfassender sein.
Vielleicht fungiert die Weltsozialforum-Bewegung als Keimform und Treibsatz für
eine sozialistischen Föderation der Kommunen der Welt. Das könnte die
politische Form sein, die sich konstituierende Gegenmacht, in der die Multitude
im Kontext des sich entfaltenden Empires zum Subjekt werden kann, das
Gegen-Empire, das zweite Rom. Vielleicht hat diese Föderation
auch bereits seit über einem Jahr eine erste, provisorische Vertretung in Brüssel
gefunden: „Deklaration
der Universalen Botschaft Die Universal Embassy wurde von
einem Netzwerk gegründet, das sich um den Kampf der Sans-Papiers konstituiert
hat. Sie will, jenseits von Disziplinengrenzen, BürgerInnen versammeln, denen
ein universelles Denken Anliegen ist. Sie ist eine kurzfristige Notunterkunft. Die Universal Embassy wurde in
dem verlassenen Gebäude der ehemaligen Botschaft von Somalia eingerichtet, die
infolge des Auseinanderreißens des somalischen Staates ihre Funktion nicht mehr
erfüllt. Wir, BürgerInnen der Welt, mit oder ohne Papiere, haben eine außerterritoriale
Botschaft geschaffen, um unsere Rechte wiederherzustellen. ... Praxis ist eine Suche des
Gemeinsamen in der Diversität. Sie setzt sich vor jede Regierung. Diese
potenzielle Gesellschaft, von den Nationalitäten in Fesseln gelegt, gilt es zu
verteidigen.“ (www.universal-embassy.be) Nutzanwendungen für heute Alles Zukunftsmusik! Sicherlich.
Aber ohne Musik kein Tanz. – Kehren wir dennoch vom Ausmalen einer
lichten Zukunft, das allerdings, wie ich hoffentlich zeigen konnte, alles andere
als müßig ist, in die Niederungen einer leider noch sehr viel graueren
Gegenwart zurück: Gegen die illusionären Träumereien einer Revitalisierung
des Keynesianismus, die in der anti-neoliberalen und globalisierungskritischen
Bewegung allerorten im Schwange sind, ist nicht nur einzuwenden, dass die
gesellschaftlichen Grundlagen dafür fortgefallen sind, sondern eben auch, dass
eine Belebung des Etatismus aus emanzipatorischer Sicht alles andere als wünschenswert
ist. Gegen den Sozialabbau wären also solche Forderungen so zu erheben, dass
zugleich Bürokratieabbau und Zurückdrängung staatlicher Einflussnahme
zugunsten von Selbstorganisation wie etwa der Sozialversicherung vorangetrieben
werden. Es könnte daher die Selbstverwaltung von AMS und Sozialversicherung
und/oder ein Grundeinkommen gefordert werden, das von vornherein eine Menge an
verwaltungsbürokratischen Tätigkeiten einspart. Auf einer anderen, nicht
politizistischen, anti-politischen Ebene könnte und sollte es darum gehen, mit
einer kritisch begleiteten und selbst bestimmten Neuvergesellschaftung jenseits
von Markt und Staat anzufangen. Auch in Gesellschaften, in denen in weiten und
entscheidenden Bereichen gesellschaftlicher Tätigkeit und des individuellen
Lebens, das Privateigentum – das übrigens auch nicht immer und in jedem
Einzelfall als sakrosankt angesehen werden muss, auch wenn die gesellschaftliche
Lösung des Problems noch nicht auf der Tagesordnung steht – direkter
Vergesellschaftung entgegensteht und damit den Staat als illusorische
Gemeinschaftlichkeit, als Surrogat und Placebo unabdingbar macht, gibt es
Bereiche, die der unmittelbaren Selbstorganisation offen stehen:
gemeinschaftliche Wohnformen, freie Kinder(betreuungs)gruppen, selbständige
Jugendzentren, nicht kommerziell ausgerichtete Kultur- und Medienprojekte,
Freizeit- und Veranstaltungszentren, Kollektivbetriebe in diversen Branchen und
Landkommunen. Diese genossenschaftlichen
Selbstorganisationen finden jedoch nicht im luftleeren Raum, in einem quasi
autonomen dritten Sektor statt; vielmehr werden solche Initiativen stets mit
staatlichen Druck- und Gängelungsversuchen konfrontiert und sind der inneren
Zersetzung durch Autoritarismus und/oder kommerzielle Aspirationen Einzelner
ausgesetzt. Tausende solcher Vergenossenschaftlichungsinitiativen sind bereits
auf die eine oder andere Weise gescheitert und werden auch weiterhin scheitern,
denn die Gefahren bestehen fort und sind nicht vollständig aus der Welt zu
schaffen. Dem Verkommen von Genossenschafen könnte aber besser begegnet werden,
wenn unter den verschiedenen Kollektivierungsinitiativen ein Zusammenhang
hergestellt wird, der diese Gefahren bewusst macht und hält und Erfahrungen darüber
austauscht, wie sie hintangehalten werden können. All das bleibt selbstverständlich
noch jenseits oder unter dem Horizont der Machtfrage. Dennoch ist die Frage
keineswegs ohne Bedeutung, ob die Staatstätigkeit und -zuständigkeit
ausgedehnt wird und damit auch die „Klasse“ der Staatsdiener oder eben das
Gegenteil davon. Das ändert selbstverständlich auch nichts am Klassencharakter
des gegebenen Staates, stärkt jedoch die Rolle der direkten
Vergesellschaftung/Selbstverwaltung gegenüber den Staatsorganen und trägt so
auch zum Empowerment der Staatsbürger bei durch Entwicklung solidarischer
kollektiver Identitäten gegen die herrschaftsstärkenden Tendenzen zur
Atomisierung und anonymen Vermassung. Seit der Kampagne ums
allgemeine, gleiche und um das Frauen-Wahlrecht hat es keine
politisch-strukturellen Kampagnen mehr gegeben, nur mehr Wahlkampagnen, Keilen
um Wählerstimmen oder gelegentlich, in zugespitzten Situationen auch Aufstände.
Im Gegensatz dazu sollte auch der „formellen“ Seite von Politik, der
Struktur und Verfasstheit von Staaten wieder mehr Aufmerksamkeit geschenkt
werden. Auch auf diesem Gebiet geht es darum, Forderungen und Aktivitäten zu
entwickeln, die staatliche Regelungen und Bürokratie zurückdrängen und den
Wirkungsradius des Citoyen erweitern. Nun denn, alter Maulwurf und
junge Schlange, wühlt und windet euch weiter! [i] Geschrieben im August und September 1917; die Oktoberrevolution verhinderte die vollständige Ausarbeitung. Für die 2. Auflage kam nach der Landung amerikanisch-britischer Interventionstruppen in Murmansk, deren Einsetzung einer Regierung des Nordgebiets unter dem Sozialrevolutionär Tschaikowski und dem Attentat der Sozialrevolutionärin Fanja Kaplan am 30. August 1918 auf Lenin und einer Polemik gegen Kautsky (und eine kleine Gruppe linker Kommunisten in Moskau) der Abschnitt über die Diktatur des Proletariats, „Marx´ Fragestellung im Jahre 1852“ (Brief an Weydemeyer vom 5. März 1852) hinzu. [ii] Ich trete für einen pragmatischeren und entspannteren Umgang mit dem Klassenbegriff ein: Hauptgesichtspunkt sollte sein, dass sich die gesellschaftlichen Beziehungen dadurch klarer und differenzierter erfassen lassen. Daher halte ich auch nichts davon, pure Lohnabhängigkeit zum entscheidenden Kriterium hochzustilisieren und dementsprechend beispielsweise von Polizisten als von „Arbeitern in Uniform“ zu sprechen. [iii] So formuliert Stalin auf dem XVII. Parteitag der KPdSU(B) im Hinblick auf Fragen, warum es nach Aufhebung der Ausbeuterklassen, nach dem Verschwinden der feindlichen Klassen, obwohl der Sozialismus im Wesentlichen errichtet sei und man zum Kommunismus marschiere – das alles Vorstellungen, die er offensichtlich teilte, und die auch am 5. Dezember 1936 in einer neuen Verfassung festgeschrieben wurden –, es den Staat immer noch gebe, dass sich in diesen Ansichten „ebensowohl die Unterschätzung der Rolle und Bedeutung der bürgerlichen Staaten und ihrer Organe, die in unser Land Spione, Mörder und Schädlinge entsenden und nur auf den Moment lauern, um einen militärischen Überfall auf unser Land zu unternehmen; ebenso offenbart sich in ihnen die Unterschätzung der Rolle und Bedeutung unseres sozialistischen Staates und seiner Militär-, Straf- und Abwehrdienstorgane, die zum Schutze des Landes des Sozialismus gegen Überfälle von außen notwendig sind. ... Ist es denn nicht verwunderlich, dass wir von der Spionage- und Verschwörertätigkeit der Anführer der Trotzkisten und Bucharinleute erst in der letzten Zeit, in den Jahren 1937 und 1938, erfahren haben, obwohl diese Herren, wie das aus den Materialien ersichtlich ist, schon in den ersten Tagen der Oktoberrevolution als Spione bei den ausländischen Staatsapparaten in Dienst standen und ihre Verschwörertätigkeit ausübten? ... Unterschätzung der Kraft und Bedeutung des Mechanismus der uns umgebenden bürgerlichen Staaten und ihrer Staatsorgane, die bestrebt sind, die Schwächen der Menschen, ihre Eitelkeit, ihre Charakterlosigkeit auszunutzen, um sie in ihre Spionagenetze zu verstricken und diese Netze um die Organe des Sowjetstaates zu ziehen.“ (Josef W. Stalin: Schriften zur Ideologie der Bürokratisierung. Herausgegeben von Günter Hillmann. Reinbek: Rowohlt 1970, S. 212f.) [iv] „Das Konkrete ist konkret, weil es die Zusammenfassung vieler Bestimmungen ist, also Einheit des Mannigfaltigen. Im Denken erscheint es daher als Prozeß der Zusammenfassung, als Resultat, nicht als Ausgangspunkt, obgleich es der wirkliche Ausgangspunkt und daher auch der Ausgangspunkt der Anschauung und Vorstellung ist. ... die Methode vom Abstrakten zum Konkreten aufzusteigen, nur die Art für das Denken ist, sich das Konkrete anzueignen, es als ein geistig Konkretes zu reproduzieren. Keineswegs aber der Entstehungsprozess des Konkreten selbst.“ (Karl Marx, Grundrisse, S. 22) [v]
So hat Lenin in seinen Schriften zwischen der Februar- und der
Oktoberrevolution immer wieder die Frage nach dem Staat, danach, wer
faktisch die Macht ausübt aufgeworfen und zu beantworten versucht. Für die
antifaschistische Umwälzung in Portugal (1974) formierte sich eine
politische Strömung unter den niedereren Offizieren als treibende Kraft,
die MFA („Bewegung der Streitkräfte“). Und schlussendlich war auch der
Untergang der staatssozialistischen Systeme geradezu ein Lehrbeispiel dafür,
wie das Vorhandensein aller Staatsapparate nichts mehr nützt, wenn das stützende
gesellschaftliche Imaginäre einmal weggebrochen ist. Ein Menetekel für
jede eindimensional-materialistische Staatsauffassung! Wem das zu
idealistisch erscheinen will, der möge sich doch einmal vergegenwärtigen,
dass 1989 bis 1991 nicht wenige Staaten weitgehend sang- und klanglos, wenn
man so will fast nur mit einem schwermütigen Seufzer in sich
zusammengesackt sind, obwohl sie an sich über ein gewaltiges Waffenarsenal,
riesige Armeen und eine umfangreiche Nomenklatura verfügt hätten. Sehr
aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist, sich einmal den
Tonbandmitschnitt der letzten Sitzung des Politbüros der SED, des
Gravitationszentrums der Macht in der DDR anzuhören. Nicht einmal die paar
dutzend durchgeknallten Typen von der trotzkistischen Spartakisten-Sekte,
die unter starker Beteiligung von Hauptamtlichen ihrer US-Sektion in den
Kasernen der Roten Armee feurig für eine entschlossene Zerschlagung der
Konterrevolution, der sich auch die SED angeschlossen hätte, agitierten,
konnten das Ruder noch herumreißen. An den Staat muss als auch in ausreichendem Maße gesellschaftlich „geglaubt“ werden, wobei nicht enthusiastische Begeisterung gefordert ist, auch nicht, dass er für die beste aller denkbaren Realisierungen gehalten wird, sondern schlicht und einfach für den einzigen unter den gegebenen Bedingungen möglichen. [vi] Adorno würde hier von verdinglichtem Bewusstsein sprechen, und das ist genau jene halbe Schraubendrehung zuviel, die Schraube und Theorie durchdrehen und den Halt verlieren lässt. [vii] Auch ursprünglich nicht-religiös und damit wohl eher antiautoritär inspirierte Kommunegründungen tendieren, wie in Österreich das Beispiel der AAO/Friedrichshof des Otto Mühl deutlich machte, zu einem Rückfall hinter den bereits erreichten gesellschaftlichen Stand, zu reaktionären Versuchen einer Restauration eines unbeschränkten Gentilpatriarchats. [viii]
Der Oberst und das Mädchen: „Gegen Mittag erscheint Hugo Chávez
zur Aufzeichnung von Aló Presidente, der sonntäglichen TV-Show des
Präsidenten ... Im Großraumbüro des Hafenzolls ... sitzt
handverlesenes Publikum und steht wie in der Kirche auf, als Chávez
erscheint. ... der erste Anrufer wird durchgestellt. Er klagt, dass
wegen des Streiks die Versorgung mit Nahrungsmitteln immer schwieriger
werde. „Organisieren Sie sich, essen Sie zusammen, laden Sie Nachbarn
ein“, rät der Präsident. Und fragt nach; Was gibt´s noch! „Wir wollen
ein Denkmal für Chávez errichten.“ ... Nach vier Stunden macht sich
im Publikum Müdigkeit breit, ... Dann darf die 16-jährige Schülerin
Marietta zu Wort kommen, die sich als Verehrerin zu erkennen gibt. „Hast
du einen Führer?“, fragt der 48-Jährige grinsend. „Senior Presidente,
Sie“, schmachtet sie zurück – und Chávez greift sich ans Herz.
Nach sechs Stunden, als selbst die Militärs aufgehört haben, Scherze des
Präsidenten mitzuschreiben, fragt Chávez, wo sein bisheriger Rekord bei
einer Sendung liege: Sieben Stunden. „Also machen wir weiter.“
(Standard, 14.1.2003) Für mich ist immer wieder frappierend wie unverblümt manche, die als Revolutionäre oder gar als Kommunisten gelten wollen, ihren Zynismus und ihre mehr oder weniger versteckten Ambitionen zum Ausdruck bringen: In einem Interview mit der Zeitung „Der Funke“ sagt Jorge Martin, Redakteur der Zeitschrift „In Defense of Marxism(!)“ Folgendes: „Wir (gemeint wohl die Parteigänger seiner Sekte) aber sehen diesen Prozess ganz klar und wir wissen auf welcher Seite wir stehen: nämlich auf jener der Massen, ganz egal welchen Verwirrungen und Vorurteilen sie nachhängen. Da traf ich etwa eine alte Frau, die in Chavez die Reinkarnation von Simon Bolivar sieht und glaubt, dass er als neuer Erlöser von Gott auf die Welt geschickt wurde. Auch darin steckt aber durchaus ein revolutionärer Inhalt(!), nämlich die Idee von der „Befreiung der Armen aus ihrer Knechtschaft“. – Also: Wurst, was die Massen sich dabei denken, Hauptsache sie rennen „den Richtigen“, d.h. in letzter Konsequenz aber auch einmal „uns“ nach. [ix] „Die ehemaligen Nomenklaturisten waren nicht nur vorneweg, wenn es darum ging, die lukrativsten Großbetriebe vom vormaligen Staatsmonopol loszubrechen und auf mafiose Weise zu privatisieren. Auch unter den neuen Privatbankiers, Großhändlern und Unternehmern stellen frühere Partei- und Komsomolaktivisten zumindest einen erheblichen Anteil.“ (Gerd Koenen: Utopie der Säuberung. Was war der Kommunismus?, Berlin: Alexander Fest Verlag 1998, S. 12f) |
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