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Franz Naetar  Der fünfte Band des Kapitals - Gibt es eine allgemeine materialistische Theorie des Staates?

In seinen Skizzen und Entwürfen zum Kapital plante Marx drei Bände, die niemals geschrieben wurden. Der erste über den Lohn, der zweite über den Staat und der dritte über den Weltmarkt. Das heißt neben den drei Bänden des Kapitals fehlt neben den anderen zwei ein Band über den Staat.

Neben dem Bedauern über diese nicht geschriebenen Werke und den Versuchen mehrerer marxistischer Autoren, diesen fünften Band selber zu schreiben, steht eine Bemerkung im Empire von Negri und Hardt, die aussagt, dass Marx diesen fünften Band gar nicht schreiben konnte:

„Marx' Kommentare zum Staatsbegriff zielen weniger auf eine allgemeine theoretische Diskussion als auf spezifische Analysen zur nationalen Politik: zum englischen Parlamentarismus, zum französischen Bonapartismus, zur russischen Autokratie etc. Die nationalen Beschränkungen dieser Konstellationen waren es, die eine allgemeine Theorie unmöglich machten. Die konstitutionellen Besonderheiten eines jeden Nationalstaates waren in Marx’ Augen durch unterschiedliche Profitraten in den unterschiedlichen Nationalökonomien und zugleich durch Unterschiede in den Ausbeutungsregimes bedingt....Der Nationalstaat setzte auf eigentümliche Art Schranken. Unter diesen Bedingungen konnte eine allgemeine Staatstheorie nur aleatorisch (=zufällig) sein und sich abstrakter Begriffe bedienen.“ (Negri 2002; 247)

Was ist von dieser Bemerkung zu halten? Gibt es in der kommunistischen und Arbeiterbewegung nicht seit langem eine Debatte über den Staat? Der Text von Engels „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates“ wurde in hunderten Arbeitskreisen rezipiert und ist auch heute noch absolut lesenswert. „Staat und Revolution“ von Lenin war ein Standardwerk kommunistischer Lektüre. In den 60er und 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts entwickelte sich in Anschluss an Überlegungen von Althusser und Foucault eine breite Diskussion über den modernen kapitalistischen Staat. Diese Debatten wurden auch in Deutschland aufgenommen und erweitert. Einer der interessantesten Autoren ist Joachim Hirsch, der sich seit mehreren Jahrzehnten unter anderem mit der Frage des Staates beschäftigt und zahlreiche Bücher über dieses Thema publiziert hat.

Der vorliegende Artikel versucht die Behauptung von Negri/Hardt in den Zusammenhang der oben erwähnten Schriften zu stellen und beschäftigt sich mit der Frage, ob zwar nicht Marx, aber die anderen erwähnten Autoren die Aufgabe, eine materialistische Theorie des Staates zu entwickeln, realisieren konnten. Wir konzentrieren uns dabei stellvertretend für zwei Strömungen in den Debatten auf zwei Werke: Den oben erwähnten Text von Engels und das im Jahr 2002 erschienene Buch von Joachim Hirsch „Herrschaft, Hegemonie und politische Alternative“.

Engels: Der Staat ein notwendiges Element der Klassengesellschaft

Versuchen wir die Argumentationen von Engels in „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates“ zusammenzufassen.

Die Argumentation setzt bei Engels an den „urkommunistischen“ Gesellschaften - in der Regel eine Gesellschaft von SammlerInnen und JägerInnen - an, in der es keine von der Gesellschaft getrennte öffentliche Gewalt gab.

Tatsächlich ist es auch ein im Lichte der gegenwärtigen Erkenntnisse der Natur- und Geschichtswissenschaften nicht uninteressantes Gedankenexperiment sich 5 –7000 Jahre zurück zu versetzen, in die Zeit bevor die Landwirtschaft in verschiedenen Teilen der Welt „entdeckt“ wurde. Wenn man/frau die zu dieser Zeit schon alle Erdteile besiedelnden Menschen betrachtet (es ist das nicht mehr als 3- 400 Generation her) so lebten diese unter weitgehend egalitären materiellen Verhältnissen in Gentilorganisationen (Stammesorganisationen) und darauf aufbauenden Gruppierungen.

Wenn es Unterschiede in den Lebensformen zwischen den Stämmen in Nordamerika, dem Nahen Osten oder Australien gab, so waren diese weitgehend bestimmt durch die sie umgebende Natur. Nicht unterschieden sich aber alle diese Gesellschaften in der Tatsache, dass die Produktivität der einzelnen Arbeitskraft in der Gruppe im Schnitt kaum mehr als seine eigenen Bedürfnisse befriedigen konnte. Dieses einfache Fakt machte es trotz ständiger Kämpfe mit Nachbarstämmen unmöglich, andere Gruppen dauerhaft zu versklaven. Sie konnten vernichtet, aber nicht ausgebeutet werden. Es „zahlte sich nicht aus“.

Wie Engels schreibt: „Nach innen gibt es noch keinen Unterschied zwischen Rechten und Pflichten; die Frage, ob Teilnahme an öffentlichen Angelegenheiten, Blutrache oder deren Sühnung, ein Recht oder eine Pflicht sei, besteht für den Indianer nicht; sie würde ihm ebenso absurd vorkommen wie die: ob Essen, Schlafen, Jagen ein Recht oder eine Pflicht sei. Ebenso wenig kann eine Spaltung des Stammes und Gens in verschiedene Klassen stattfinden.“ ( MEW 21; 4)

Der Staat wird in den Ausführungen von Engels in den Zusammenhang der „Entdeckung“ der Landwirtschaft gebracht. Durch die Steigerung der Produktivität, welche die landwirtschaftliche Nahrungsproduktion im Vergleich zur vorher vorherrschenden Nahrungssuche mittels Jagd und Sammeln mit sich brachte, wurde es möglich ca. 10 Mal mehr Menschen auf der gleichen Fläche zu ernähren. Die steigende Produktivität machte es aber auch möglich und „sinnvoll“ andere Menschen auszubeuten bzw. zu versklaven und Reichtümer anzuhäufen. Damit im Zusammenhang stand, wie Engels anhand der Entwicklung der griechischen Städte zeigt, die Entstehung von Geld: „Der aufgekommene Privatbesitz an Herden und Luxusgerät führte zum Austausch zwischen einzelnen, zur Verwandlung der Produkte in Waren....Mit der Warenproduktion kam die Bebauung des Bodens durch einzelne für eigene Rechnung, damit bald das Grundeigentum einzelner. Es kam ferner das Geld, die allgemeine Ware, gegen die alle anderen austauschbar waren.“ ( MEW 21; 10)

Wie Engels zeigt, entwickelten sich basierend auf eine zunehmende Teilung der Arbeit einerseits Schichten, die nicht mehr der traditionellen Gentilorganisation angehörten, andererseits aber auch Organe zur Wahrnehmung der Interessen der verschiedenen Schichten: „Ämter aller Art waren eingerichtet worden.“ Diese Ämter waren notwendig geworden, weil die aufkeimende Geldwirtschaft mit der Gentilverfassung völlig unverträglich war.
Naturwüchsig bildete sich ein brutales Recht des Gläubigers auf den Grund des verschuldeten Bauern. Dieser musste fünf Sechstel der Ernte dem Gläubiger abliefern. Reichte der Ertrag nicht, so mussten die Kinder des Bauern in die Sklaverei verkauft werden. „Das war die angenehme Morgenröte der Zivilisation beim athenischen Volk.“

Der Staat wird nun in diesen Zusammenhang der Spaltung der Gesellschaft in Klassen gestellt.[i] Es wurden eine Verfassung und Gesetze geschaffen, die dem üppigen Landwucher einen Riegel vorschoben und auch die Konzentration von Grundbesitz verringerten, gleichzeitig aber auch die Sklaverei regelten. „Statt in der anfänglichen brutalen Weise die eigenen Mitbürger auszubeuten, beutete man vorwiegend die Sklaven und die außerathenische Kundschaft aus.“ (MEW 21; 114)

Eine weitere Ursache für die Entwicklung des Staates, sowohl bei den Griechen, wie bei den Römern, vor allem aber bei den deutschen Stämmen, sieht Engels in den durch die stark angestiegene Dichte der Bevölkerung mögliche „militärische Demokratie“ mit seinen „beamteten Heeresführern“. Krieg und Organisation der Krieges zur Plünderung der Nachbarn sind rechtmäßige Funktionen des „Volkslebens“ geworden und erfordern ebenfalls einen eigenen selbständigen Apparat. Es „entspringt der Staat direkt aus der Eroberung großer fremder Gebiete, die zu beherrschen die Gentilverfassung keine Mitteln bietet.“ (MEW 21; 164)

Aus seiner Darstellung der Staatsentstehung bei Griechen, Römern und den deutschen Stämmen benennt Engels nun als Hauptkennzeichen des Staates bzw. der Staatsverfassung (MEW 21; 166):

  1. Die Einteilung der Staatsangehörigen nach dem Gebiet statt nach den Geschlechtern (Gens).
  2. Die Einrichtung einer öffentlichen Gewalt, die nicht mehr unmittelbar zusammenfällt mit der sich selbst als bewaffnete Macht organisierten Bevölkerung. Eine selbstorganisierte, bewaffnete Bevölkerung steht im Widerspruch zu einer Klassengesellschaft. Deshalb war das griechische Volksheer eine aristokratische öffentliche Gewalt gegenüber den Sklaven, deshalb wurde die Polizei geschaffen, um die Bürger im Zaum zu halten.
    Dazu gehören aber auch Gefängnisse und Strafanstalten aller Art.
  3. Zur Aufrechterhaltung dieser öffentlichen Macht sind Beiträge der Bürger - Steuern - erforderlich.
  4. Die im Besitze der öffentlichen Gewalt und des Rechts der Steuereintreibung stehenden Beamten stehen nun als Organe der Gesellschaft über der Gesellschaft.

Zusammenfassend zieht Engels nun seinen bekannten Schluss:

„Da der Staat entstanden ist aus dem Bedürfnis, Klassengegensätze im Zaum zu halten, da er aber gleichzeitig mitten im Konflikt dieser Klassen entstanden ist, so ist er in der Regel Staat der mächtigsten, ökonomisch herrschenden Klasse, die vermittels seiner auch politisch herrschende Klasse wird und Mitteln erwirbt zur Ausbeutung der unterdrückten Klasse.“ (MEW 21; 167)

Diese Regel hat auch Ausnahmen: „Ausnahmsweise indes kommen Perioden vor, wo Klassen einander so nahe das Gleichgewicht halten, dass die Staatsgewalt als scheinbare Vermittlerin momentan eine gewisse Selbständigkeit gegenüber  beiden erhält.“ (ebenda)

Was ist das Erkenntnisinteresse, das Engels wie viele andere nach ihm bei dieser Darstellung der Geschichte der Staatsentstehung hat?

Einerseits will diese Darstellung zeigen, dass der Staat nichts Naturnotwendiges ist. Dass es Zeiten gab, zu denen die Gesellschaft keine über ihr thronende Macht benötigte.
Anderseits versucht er die Notwendigkeit des Staates an eine in Klassen gespaltene Gesellschaft zu binden als eine Instanz, welche die Konflikte, die aus der Zerrissenheit der Gesellschaft notwendig entstehen, reguliert und im Zaum hält.

Letztlich wird damit zu begründen versucht, warum die revolutionäre Überwindung der Klassengesellschaft einen Staat überflüssig machen wird:

„Die Gesellschaft, die die Produktion auf Grundlage freier und gleicher Assoziation der Produzenten neu organisiert, versetzt die ganze Staatsmaschine dahin, wohin sie dann gehören wird: ins Museum der Altertümer, neben das Spinnrad und bronzene Axt.“( MEW 21; 168)

Die zusammenfassende Darstellung des Texts von Engels zeigt auch seine Schwächen: Im Detail betrachtet findet die Staatsbildung im Engelschen Sinn jedes Mal in anderer Form und mit anderen Schwerpunkten statt. Zwischen dem griechischen Staat zur Eindämmung der Widersprüche innerhalb der Freien und zur gleichzeitigen Unterdrückung der Sklaven und einem beamteten Apparat zur Durchführung von Raubzügen und der Notwendigkeit der Beherrschung eroberter Gebiete bei den deutschen Stämmen, gibt es nicht sehr viele Gemeinsamkeiten.

Letztlich bleiben bei Engels deshalb die allgemeinen Bestimmungen des Staates abstrakt. Zwar sind die Verallgemeinerungen, die Engels macht, sinnvoll, aber ohne Kenntnis der detaillierten Darstellung im historischen Teil, kann man nur ahnen, was die zusammenfassenden Bestimmungen meinen. Das Werk ist dort am stärksten, wo es sich detailliert mit den Gründen für die Staatsentstehung auseinandersetzt. Es stärkt die Überzeugung, dass der Staat eines Tages überflüssig geworden sein wird und gibt gute Gründe an, warum der Staat nicht einfach abgeschafft werden kann.
Die Analysen der konkreten Ausformung des Staates, seiner Verbindung zur kapitalistischen Organisation der Produktion bleiben oberflächlich. Den fünften Band des Kapitals kann es nicht ersetzen.
Obwohl das Werk meiner Meinung nach auch noch heute mit Interesse zu lesen ist, wird es von vielen marxistischen Theoretikern des Staates als wenig bedeutend eingeschätzt und oft nicht einmal erwähnt. Sehen wir uns an, was die zweite, neuere Sicht auf den Staat leisten kann.

Der Staat aus Ausdruck des Widerspruchs zwischen bourgeois und citoyen.

Versuche die Theorie über den Staat aus einer marxistischen Sicht zu vertiefen, gab es zwar schon in den 20er Jahren, aber nach den Erfahrungen mit dem faschistischen und stalinistischen Staat bedurfte es der langen, relativ friedlichen Phase der fordistischen Expansion in den 50er bis 70er Jahren, die ja mit einer ununterbrochenen Ausdehnung der staatlichen Aktivitäten auch im Westen vor sich gingen, um nun den Staat aus einer anderen Sicht zu betrachten.

Stellvertretend für eine Reihe dieser theoretischen Analysen des Staates, die in sich wiederum beträchtliche Unterschiede haben, sollen hier die theoretischen Konzepte über den Staat, wie sie von Joachim Hirsch in seinem Buch „Herrschaft, Hegemonie und politische Alternative“ dargestellt werden, als Beispiel genommen werden.

Einen ganz wesentlichen Unterschied kennzeichnen diese Überlegungen im Verhältnis zu denen von Engels: Bei ihnen wird davon ausgegangen, dass der Staat zusammen mit und durch den Kapitalismus entstanden ist. Wesentlich für den Staat als Herrschaftsform sei nicht nur ein eigenständiger, zentralisierter Gewaltapparat – diese Festlegung deckt sich noch weitgehend mit der oben im Text von Engels getroffenen Definition. Im Gegensatz zu feudalen Herrschaftsverhältnissen, in denen politische und ökonomische Herrschaft weitgehend zusammenfalle, seien die Herrschaftsformen im Kapitalismus durch die Trennung und Entgegensetzung von Politik und Ökonomie gekennzeichnet. Erst diese Trennung der Politik von der Ökonomie, des Staates von der Gesellschaft machen diese Herrschaftsform zu einer staatlichen. (Siehe dazu auch den Artikel „Entgegensetzung und Verdoppelung“ von Karl Reitter in dieser Nummer, der an Überlegungen von Marx im Artikel „Zur Judenfrage“ anschließt.)

Durch diese spezifische, auf kapitalistische Verhältnisse zugeschnittene Bestimmung des Staates kommen wichtige Fragestellungen in den Blickpunkt, denen bei den allgemeinen Festlegungen von Engels wenig Bedeutung gegeben wurden.

Ein guter Ausgangspunkt ist dabei die schon in den 20er Jahren vom sowjetische Staatsrechtler Paschukanis gestellte Frage: „Warum bleibt Klassenherrschaft nicht das, was sie ist, d.h. die faktische Unterwerfung eines Teils der Bevölkerung unter den anderen? Warum nimmt sie die Form einer offiziellen staatlichen Herrschaft an oder - was dasselbe ist - wird der Apparat des staatlichen Zwanges nicht als privater Apparat der herrschenden Klasse geschaffen, sondern spaltet sich von letzterer ab und nimmt die Form eines unpersönlichen, von der Gesellschaft losgelösten Apparats der öffentlichen Macht an?“ (Paschukanis nach Hirsch 2002; 21)

Hirsch versucht diese Lostrennung des Staates von der Gesellschaft, diese Verdoppelung jedes einzelnen Menschen der (bürgerlichen) Gesellschaft in den citoyen und den bourgeois in den grundlegenden gesellschaftlichen Verhältnissen des Kapitalismus zu verorten.

Auf Basis der Privatproduktion, der Lohnarbeit mit ihrer privaten Aneignung des produzierten Mehrwertes, auf Basis des Zwangs zur Profitmaximierung der einzelnen Kapitale sei eine politische Gemeinschaftlichkeit nicht direkt, bewusst und durch unmittelbare Übereinkunft herstellbar. Diese Gesellschaft sei nämlich „naturwüchsig“ arbeitsteilig, durch Konkurrenz und Klassenauseinandersetzung geprägt. Ihre politische Gemeinschaftlichkeit müsse daher eine verdinglichte und objektivierte Gestalt annehmen.

Generell würden sich daher die Gesellschaftlichkeit der Menschen im Kapitalismus in von ihnen getrennten „sozialen Formen“ zeigen. Bewusst wird hier von Hirsch eine Parallelität zwischen der Vergesellschaftung der Produktion unter Beibehaltung der Privatarbeiten, die zum Entstehen der „Wertform im Warenaustausch“ und zur Bildung des Kapitalkreislaufes führt, mit der „Staatsform“  behauptet. Beide seien von der Gesellschaftlichkeit der Menschen getrennte „soziale Formen“:

„Die beiden grundlegenden sozialen Formen, in denen sich der gesellschaftliche Zusammenhang im Kapitalismus vergegenständlicht, sind der Wert, der sich im Geld ausdrückt, und die politische Form, die sich in der Existenz eines von der Gesellschaft getrennten Staates äußert.“ (Hirsch 2002; 19)

Was haben wir bisher in der Argumentation gewonnen: In den hier zusammengefassten Passagen wird zwar auf die Parallelität der beiden sozialen Formen Geld und Staat hingewiesen; in der Begründung der „politischen Form“ scheint aber nicht viel mehr als die Formulierung von Engels übrigzubleiben, nämlich dass eine durch Klassengegensätze zerrissene Gesellschaft eine von ihr getrennte öffentliche Gewalt erfordere.

Die eigentliche Besonderheit des kapitalistischen Staates wird im weiteren Fortgang der Argumentation begründet. Wesentlich für kapitalistische Verhältnisse sei nämlich, dass sich diese erst voll herausbilden können, wenn die ökonomisch herrschende Klasse auf die individuelle Anwendung direkter Gewaltmittel im unmittelbaren ökonomischen Verkehr verzichte. Die kapitalistische Vergesellschaftung zeichne sich durch die Einheit von Klassen- und Marktvergesellschaftung aus. Die Ausbeutung der Arbeitskraft in der Produktion sei – im Gegensatz zu feudalen Verhältnissen – an die Konkurrenz der Kapitale untereinander und an die Existenz der LohnarbeiterInnen als „freie Marktsubjekte und Staatsbürgerinnen“ gebunden. Freiheit und Gleichheit seien daher nicht nur ideologischer Schein sondern hätten eine materielle Basis in der kapitalistischen Vergesellschaftung.
Hier wird also durch Hirsch die im Kapital beschriebene Entgegensetzung der Sphäre des Marktes in der „Freiheit, Gleichheit, Eigentum..“ herrscht, und der Sphäre der Produktion in der Fabrik, die durch die Ausbeutung einer Klasse durch die andere gekennzeichnet ist, dargestellt. Diese Entgegensetzung sei konstituierend für die kapitalistische Vergesellschaftung.

Daraus folgt aber nun für Hirsch, dass physische Zwangsgewalt von keinen der gesellschaftlichen Klassen, auch nicht der ökonomisch herrschenden, ausgeübt werden könne. Eine von der Gesellschaft getrennte Institutionalisierung der Gewalt in der Gestalt des Staates sei notwendig.

„Diese Konzentration der Zwangsgewalt in eine von allen gesellschaftlichen Individuen und Klassen getrennten Form begründet die für den Kapitalismus kennzeichnende Trennung von ‚Ökonomie’­ und ‚Politik’, von ‚Staat’ und ‚Gesellschaft’.“ (Hirsch 2002; 22)

Diese Feststellung – so Hirsch weiter – sei aber nicht ausreichend; die politische Form des Staates beinhalte mehr als die Verselbständigung der physischen Zwangsgewalt. Der Staat sei nicht nur Zwangsapparat, sondern in ihm drücke sich – wenn auch in einer entfremdeten und verobjektivierten Weise – die politische Gemeinschaftlichkeit der Gesellschaft aus. Er sei die gleichermaßen illusorische und reale Gestalt des Gemeinwesens unter den herrschenden gesellschaftlichen Bedingungen.
Das Gemeinwesen bedürfe deshalb realer Gemeinschaftlichkeiten, da der kapitalistische Akkumulationsprozess auf gesellschaftlichen Bedingungen und Naturvoraussetzungen beruhe, die er weder herzustellen noch zu erhalten vermag, ja die er sogar tendenziell zerstöre. Beispiele dieser für den Kapitalismus notwendigen Voraussetzungen sind für Hirsch eine Reihe von nichtwarenförmigen Beziehungen wie die Subsistenzproduktion und traditionelle Formen der Hausarbeit; weiters aber auch die Naturbedingungen der Produktion selber.

„Als schlichte ‚Marktwirtschaft’ ist der Kapitalismus nicht existenzfähig.“ (Hirsch 2002; 23)[ii]

Konsequenter Weise lehnt Hirsch deshalb auch ein Basis – Überbau Verhältnis zwischen Ökonomie und Politik ab. Der Staat ist für ihn nicht ein Überbau über die ökonomischen Produktionsverhältnisse. „Die Ökonomie ist der Politik weder theoretisch noch historisch vorausgesetzt.“ Wichtig sei  - so Hirsch - die eigentümliche Trennung und Verbindung von Ökonomie und Politik. Zusammenfassend wird argumentiert: „Ökonomische und politische Form  kennzeichnen die Art und Weise, wie die kapitalistische Gesellschaft trotz ihrer antagonistischen Widersprüche und durch diese hindurch zusammengehalten, bestands- und entwicklungsfähig wird.“

Das eben gesagte stellt die Substanz von dem dar, was Hirsch allgemein über den kapitalistischen Staat aussagt. Wie Hirsch schreibt, sei diese Argumentationsfigur der Kern der „materialistischen Staatsableitung“. (Hirsch 2002; 22)

Nach diesen Darlegungen des Kerns der „materialistischen Staatsableitung“ beschäftigt sich Hirsch auf weiteren 50 Seiten mit dem „Staat, Staatensystem und der Demokratie“ ohne  explizit auf konkrete historische Entwicklungen einzugehen. Danach erst wird der Fordismus und Postfordismus behandelt.  Bevor wir uns diesen weiteren Darlegungen widmen, möchte ich mich vorerst mit der Frage beschäftigen, was wir durch die Darstellung der Staatsableitung gewonnen haben und wo ich die Schwachpunkte dieser Darstellung sehe.

Zweifellos liefert die Erkenntnis, dass die eigentümliche Trennung von Politik und Ökonomie einen engen und notwendigen Zusammenhang mit den kapitalistischen Produktionsverhältnissen hat und dass eine direkte Herrschaft der Bourgeoisie diesen Verhältnissen nicht angemessen ist, wichtige Orientierungshilfen bei der Einschätzung sozialer und politischer Bewegungen.
Dennoch bleiben die Bestimmungen der Staatsform im Gegensatz zur Wertform des Kapitals abstrakt. Durch die Parallelität von Wertform und politischer Form wird versucht eine Verbindung der Staatsableitung mit den Entwicklungen, wie sie Marx im Kapital macht, herzustellen, und gleichzeitig die Selbständigkeit der Politik von der ökonomischen Basis zu behaupten. Diese Parallelität verschleiert aber meiner Meinung nach ganz wesentliche Unterschiede, die zwischen den beiden „sozialen Formen“ bestehen. Diese Unterschiede bewirken, dass die Ansprüche, die ein solcher paralleler Ansatz impliziert, notwendiger Weise nicht eingelöst werden können.

Die überwältigende theoretische Leistung, die Marx im Kapital gelingt, besteht ja nicht nur darin , dass er die aus dem Produktaustausch von privaten ProduzentInnen bei vorhandener gesellschaftlicher Arbeitsteilung notwendig entstehenden Materialisierungen gesellschaftlicher Verhältnisse wie Geld und Kapital schlussfolgert, sondern dass er die daraus entstehenden Formen von Profit, Zins und Grundrente entwickelt, wie sie notwendiger Weise im Leben und in den Köpfen der TeilnehmerInnen an der kapitalistischen Produktion entstehen. Das Kapital zeugt Profit, das Geldkapital Zins und der Boden Grundrente. Die Bourgeoisie spricht von „Produktionsfaktoren“ und handelt notwendiger Weise danach. Es nützt nun rein gar nichts, diese Theorie der „Produktionsfaktoren“ als einen Schwindel und Ideologie zu entlarven. Der Bourgeois betrachtet das Kapital als „sinnlich übersinnliches“ Ding und behält so eine gewisse Distanz zu seinen eigenen Ideologien. Als Bürger der Aufklärung kann er an die Erzeugung aus dem Nichts nicht so recht glauben und hat seine Probleme mit der „übersinnlichen Fähigkeit“ des Geldkapitals, mehr Geldkapital zu zeugen. Daß ein Ding - als was er das Kapital ja betrachtet - zum einem Profit gebärenden Subjekt werden kann, scheint ja bei den Dingen, mit denen er sonst zu tun hat, eher nicht zum Üblichen zu gehören. Dennoch: der Bourgeois handelt und spricht notwendiger Weise so, als ob das Kapital lebt und die Menschen Ressourcen sind. Geld und Kapital sind moderne Fetische.

Die Frage ist nun, ist es möglich eine ähnliche Entwicklung der „politischen Form“ zu geben, wie sie Marx im Kapital mit der Entwicklung der Wertform gelungen ist. [iii] Wie beschrieben wachsen die Wertform wie die politischen Formen aus den Produktionsverhältnissen und sind deshalb mit einer gewissen Autonomie versehen.

Werden nun aber ähnlich wie im Kapital fetischartige Formen des Denkens und Handelns der Menschen entwickelt? Gibt es neben dem Wert- auch einen Staatsfetisch? Gelingt es vielleicht sogar, andere Staatsformen als den demokratischen Nationalstaat „abzuleiten“? Historisch waren in der Geschichte des Kapitalismus auch andere „staatliche“ Formen als die nationalen entstanden: z.B. die des transnationalen politisch kommerziellen Netzes rund um die Städte (Hanse, Generalstaaten des 17 Jhdt). Wie ist das mit Formen direkter Herrschaft des Kapitals in Indien wie z.b der ostindischen Handelsgesellschaft oder noch viel wichtiger: in welchem Zusammenhang steht der faschistische Staat, der bekanntlich während mehr als 30 Jahren als „neue Erfindung“ zur Kontrolle der Gesellschaft Furore machte und letztlich wie ist das mit dem stalinistischen und dem „realsozialistischen“ Staat.

Beides ist, wie ich meine, nicht möglich: Weder kann das Denken und Handeln der Menschen im Verhältnis zum Staat allgemein aus den Produktionsverhältnissen abgeleitet werden, noch kann diese Abstraktion (die sie ja noch immer wäre) auf den konkreten Staat „angewendet“ werden.

Kurz gesagt;

Außer einigen wenigen Bestimmungen, die aus dem Gegensatz Gleichheit am Markt und Ausbeutung in der Produktion beruhen, gibt es keine allgemeine Theorie des kapitalistischen Staates.

Von seinem Anspruch scheint mir deshalb der Text von Engels ehrlicher. Er versucht ein historisches Phänomen, nämlich die Entstehung von Klassen mit einem anderen Phänomen der Entstehung des Staates – so wie er ihn fasst – in Zusammenhang zu stellen. Er beschreibt historische Formen der Staatsentwicklung ganz konkret und verallgemeinert sie. Daraus entstehen keine elaborierte Ableitungen wie im Kapital, aber es ist gut zu verstehen, wozu der Staat gedient hatte und dass Kommunismus und Staat nicht zusammengehören, sondern es im Kommunismus keinen Staat mehr geben wird.[iv]

Wie funktioniert der Herrschaft der Bourgeoisie?

Wie ist das nun mit den weiteren Darstellungen bei Hirsch, soweit sie den Anspruch haben, den Staat allgemein zu beschreiben?  Diese Darstellungen haben einen anderen Charakter als die Ausführungen zur „Staatableitung“. Gestützt auf Diskussionen im Umfeld von Althusser (Poulantzas, aber auch Balibar / Wallerstein) und der Regulationstheorie (Jessop, Lipietz), gestützt auch auf Überlegungen von Foucault und, wird ein Bild des „erweiterten Staates“ beschrieben. Es werden die nationalen staatlichen Strukturen zusammen mit ihren in die Gesellschaft hineinreichenden Staatsapparaten, es werden die Staatensysteme, Nationalismus und Rassismus mit ihren die Herrschaft stabilisierenden Formen, sowie als generelles Kennzeichen einer Epoche die Regulationsregime wie z.B. der Fordismus beschrieben.

Abseits des Anspruches einer theoretischen Analyse a la Kapital Bd. 5 sind diese Darlegungen wichtig und aufklärend. Nach der Lektüre des ersten Teils der Darlegungen von Hirsch könnte man/frau nämlich folgendes fragen: Wir verstehen nun, warum die ökonomisch herrschende Bourgeoisie nicht einen privaten Unterdrückungsapparat verwenden kann, wenn sich politische Formen entwickeln, die der kapitalistischen Produktionsweise angemessen sind. Offen bleibt aber: wenn die vollständige politische Demokratie - wie sie z.B. Marx in Zur Judenfrage“ der amerikanischen Demokratie und der französischen Revolution zuschreibt -  die dem Kapitalismus angemessene politische Form ist, wie gelingt es der Bourgeoisie, ihre Klassenherrschaft aufrechtzuerhalten.

Diese Frage wird im Buch von Hirsch und den Werken, auf die er sich stützt, nicht gestellt, aber diese Fragestellung ist das Erkenntnisinteresse, das meiner Meinung nach diese Beschreibungen treibt. In einer historisch-soziologischen Analyse über die Mechanismen des Machterhalts werden eine Reihe von Strukturen beschrieben, die diesem Zweck dienen:

  • Der Zusammenschluss der Klassen zum Volk durch die Bildung des Nationalstaates.
  • Nationalismus, Rassismus und Sexismus als grundlegende Bestandteile der Konstruktion von Gesellschaftlichkeit unter kapitalistischen Bedingungen.
  • Die Verbindung von bürgerlicher Demokratie mit imperialistischer Ungleichheit.
  • Das Verhindern des unmittelbaren Durchschlagens des „Volkswillens“ durch die „Besonderung“ des Staates.
  • Die konkurrierenden Einzelstaaten als Grundbedingung und Stabilisierung kapitalistischer Verhältnisse.

Ausgangs- und Endpunkt ist dabei der „demokratische Nationalstaat“, betrachtet aus der Perspektive der weitgehend gelungenen Integration der Arbeiterklasse im Fordismus.
Nochmals und genauer wird in diesen Ausführungen begründet, was die relative Trennung von „Politik“ und „Ökonomie“ bedeute, „nämlich, dass die kapitalistische Gesellschaft über kein steuerndes, die Gesellschaft insgesamt umfassendes und kontrollierendes Zentrum verfügen kann.“ (Hirsch 2002; 34)[v]

Haben wir in diesen Darstellungen endlich eine allgemeine Theorie des Staates vor uns? Folgt daraus, dass ein Staat, der auf kapitalistische Produktionsverhältnisse aufsetzt, notwendig diesen Beschreibungen entspricht oder daraus ableitbar ist? Meiner Meinung nach keinesfalls. Das 20. Jahrhundert war voll von Entwicklungen des Staates, die mit den eben beschriebenen wenig gemeinsam hatten.
Die Zeit nach dem ersten Weltkrieg, in der die internationale Bourgeoisie Furcht hatte, ihrer Herrschaft insgesamt verlustig zu gehen, zeigte, dass auch andere, nämlich faschistische Formen der staatlichen Herrschaft mit kapitalistischen Produktionsverhältnissen vereinbar sind. Kann bei ihnen so einfach von der Unvereinbarkeit eines umfassenden und kontrollierenden Zentrums mit der kapitalistischen Produktionsweise gesprochen werden? Zweifellos ist es beim Faschismus wesentlich berechtigter vom Staat als dem steuernden Zentrum zu sprechen als im fordistischen Nachkriegsstaat.
Auch die Analyse des stalinistischen und des „real­sozialistischen“ Staates würde hier weitere erhellende Zusammenhänge ans Tageslicht bringen. Wie steht es dort mit der Trennung von „Ökonomie“ und „Politik“? Gab es dort ein umfassendes und kontrollierendes Zentrum?
In einer Reihe von marxistischen und nicht marxistischen Analysen wurden die Parallelen zwischen der fordistischen Produktionsweise mit der „realsozialistischen“ betont. Schließlich war zur Hochblüte des Fordismus ja immer von „Systemkonvergenz“ die Rede. Treffen deshalb die Überlegungen zum fordistischen Staat auch auf den „realsozialistischen“ zu?

In den Abschnitten des Buches von Hirsch über die Entwicklung des Fordismus zum Postfordismus, über die Internationalisierung des Staates und über die politischen Perspektiven werden konkrete und detailreiche Analysen der Entwicklungen der letzten 20 – 30 Jahre vor dem Bild der Beschreibung der Mechanismen des Fordismus gemacht. Gerade diese sehr überzeugenden Darstellungen des Buches lassen die Frage aufkommen, wieweit die allgemeinen Darlegungen über den Staat zu Beginn des Buches ihren Ansprüchen gerecht werden.

Wenn allerdings dieser erste Teil nicht als die „allgemeine Staatstheorie“ gelesen wird, sondern als Zusammenfassung der Erfahrungen mit dem fordistischen Regulationsregime und Staat, bekommt dieser Teil plötzlich Farbe: Der Leser, die Leserin vergleicht ihn im Geiste mit seinen eigenen Erfahrungen fordistischer Vergesellschaftung und weiß, was gemeint ist.

Dieser bescheidenere Ansatz könnte dann auch mehr Platz lassen für Phänomene, die es in einer allgemeinen Darstellung nicht geben kann, wie: Zufälligkeiten von staatlicher Politik (der Wahlerfolg von Bush) und direkte Einflussnahme der herrschenden Klassen durch Propaganda, Bestechung, Korruption und – ich traue es mich fast nicht zu sagen – Verschwörung.

Ein anderes Beispiel dafür, dass die Versuche, allgemeine Staatstheorien zu entwickeln, auch neuen und interessanten Überlegungen im Weg stehen, lassen sich bei Poulantzas finden.

Poulantzas versucht einen Zusammenhang zwischen der Trennung von Hand- und Kopfarbeit und der Struktur des Staates herzustellen: die geistige Arbeit – verstanden als Wissen um die Organisation und Lenkung des Staates – reproduziere sich in den Apparaten und Agenten des Staates, wohingegen sich die manuelle Arbeit (als Ausschließung/Distanzierung von diesem Wissen) sich in den beherrschten Massen konzentriere. Die für die repräsentative Demokratie grundlegenden Institutionen wie Parteien, Parlament usw. würden auf diesem Ausschlussprinzip basieren. Die Trennung von Hand und Kopfarbeit verortet er wiederum in der Produktion, im Taylorismus. Poulantzas orientiert sich dabei an einer Anmerkung von Marx aus dem Kapital: „Die spezifische ökonomische Form, in der unbezahlte Mehrarbeit aus den unmittelbaren Produzenten ausgepumpt wird, bestimmt das Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnis, wie es unmittelbar aus der Produktion selbst hervorwächst und seinerseits bestimmend auf sie zurückwirkt. Hierauf aber gründet sich die ganze Gestaltung des ökonomischen, aus den Produktionsverhältnissen selbst hervorwachsenden Gemeinwesens und damit seine spezifische politische Gestalt.“ (MEW 25; 799)[vi]

Durch den Versuch, eine allgemeine Theorie des kapitalistischen Staates zu schreiben, bekommen dann die Ausführungen von Poulantzas eine Starrheit, die einem politischen Phänomen meiner Meinung nach nicht angemessen ist oder anders ausgedrückt, mehr als Marx kann man/frau „allgemein“ nicht sagen, ohne den staatlichen Strukturen eine unangemessene Rigidität zu geben. Eingebettet in konkrete Untersuchungen der fordistischen und tayloristischen Regulationsweise mit ihren Kämpfen und Auseinandersetzungen, schauen die Überlegungen zu den Auswirkungen der Trennung von Hand und Kopfarbeit wesentlich interessanter und überzeugender aus. Vor allem wäre es interessant, das postfordistische  Regulationsregime unter dem Blickpunkt des Endes oder zumindest des Bedeutungsverlustes der tayloristischen Arbeitsteilung zu betrachten. Was bedeutet die von Negri/Hardt behauptete Dominanz der immateriellen Arbeit für den Staat?

Wenn nach diesem Streifzug durch Versuche allgemeine Staatstheorien zu entwickeln, wiederum Marx betrachtet wird, dann werden dessen Darstellung staatlicher Formen gar nicht mehr so eingeschränkt empfunden. Sie haben den Vorteil, konkret zu sein: In den historischen Untersuchungen zum Bürgerkrieg in Frankreich wird als Resümee geschrieben:

„Die zentralisierte Staatsmacht, mit ihren allgegenwärtigen Organen - stehende Armee, Polizei, Bürokratie, Geistlichkeit, Richterstand, Organe, geschaffen nach dem Plan einer systematischen und hierarchischen Teilung der Arbeit - stammt her aus den Zeiten der absoluten Monarchie.... Während der nachfolgenden Herrschaftsformen wurde die Regierung unter parlamentarische Kontrolle gestellt, d.h. unter die direkte Kontrolle der besitzenden Klassen. Einerseits entwickelte sie sich jetzt zu einem Treibhaus für kolossale Staatsschulden und erdrückende Steuern und wurde vermöge der unwiderstehlichen Anziehungskraft ihrer Amtsgewalt, ihrer Einkünfte und ihrer Stellenvergebung der Zankapfel für die konkurrierenden Fraktionen und Abenteurer der herrschenden Klassen - andererseits änderte sich ihr politischer Charakter gleichzeitig mit den ökonomischen Veränderungen der Gesellschaft. In dem Maß, wie der Fortschritt der modernen Industrie den Klassengegensatz zwischen Kapital und Arbeit entwickelte, erweiterte, vertiefte, in demselben Maß erhielt die Staatsmacht mehr und mehr den Charakter einer öffentlichen Gewalt zur Unterdrückung der Arbeiterklasse, einer Maschine der Klassenherrschaft." (MEW 17; 336)

Wenn wir nun zur Behauptung von Negri und Hardt zurückkehren, dass es nicht möglich war, den 5. Band des Kapitals zu schreiben, so können wir ihnen - so meine ich - zustimmen. Allerdings behaupten Negri/Hardt im Empire noch etwas anderes:

„Heute ist es vielleicht endlich möglich (nachdem der kapitalistische Verwertungsprozess und die politischen Herrschaftsprozesse nach Meinung von Negri/Hardt zusammenlaufen) ... Marx’ beide fehlenden Bände zu skizzieren. Wenn man dem Geist der Marxschen Methode folgend seine Einsichten zum Staat und zum Weltmarkt zusammenbringt, wäre der Versuch zu machen, eine revolutionäre Kritik des Empire zu schreiben.“ (Negri 2002; 248)

Ob Negri/Hardt meinen, dass ihr Buch schon dieser Versuch ist? Nun darüber muss ein anderer Artikel geschrieben werden.

E-Mail: francois.naetar/ at /gmx.at


Literaturverzeichnis

Engels: Marx Engels Werke, Bd. 21, „Der Ursprung der Familie des Privateigentums und des Staates“ S25 – S173

Hirsch: J. Hirsch, „Herrschaft, Hegemonie und politische Alternativen“, VSA Verlag 2002

Negri: Michael Hardt / Antonio Negri, „Empire“, Campus Verlag 2002

Poulantzas:  N. Poulantzas, „Staatstheorie: politischer Überbau, Ideologie, sozialistische Demokratie“ Hamburg 1978


[i] Einen Zusammenhang, den Engels detailliert ausführt, lassen wir hier aus: Den Zusammenhang zwischen Entstehung der Klassengesellschaft, dem Ende des Matriarchats und der Unterdrückung der Frau. Engels schreibt: „Der erste Klassengegensatz, der in der Geschichte auftritt, fällt zusammen mit der Entwicklung des Antagonismus von Mann und Weib in der Einzelehe, und die erste Klassenunterdrückung mit der des weiblichen Geschlechts durch das männliche.“ ( MEW 21; 68)

[ii] Diese Einschätzungen drängen dem Leser die Frage auf, ob die Darstellung des reinen Kapitalismus im Kapital diese Nichtexistenzfähigkeit unterschlagen hat oder ob mit nicht existenzfähig gemeint ist, dass der Kapitalismus tendenziell seine eigenen Grundlagen, nämlich den Menschen und die Erde zerstört und daher die Gesellschaft der auch realen Gemeinschaftlichkeit des Staates bedürfe, um diese Zerstörungen im Zaum zu halten. Vielleicht ist es aber in erster Instanz doch das Proletariat oder die Multitude, die hier Schranken setzt.

[iii] Interessant ist in diesen Zusammenhang, eine andere Form der Verbindung der Ausführungen im Kapital mit Einschätzungen von Politik und Staat zu betrachten. Diese Versuche waren gekennzeichnet durch das Bestreben, die von Marx geplanten, aber nichtgeschriebenen Bände 5 und 6 des Kapitals über Staat und Weltmarkt nachzuliefern. Vor allem im Berlin der 60 und 70 Jahre gab es solche Versuche. Siehe z.B. die Arbeiten im Anschluss an das „Projekt Klassenanalyse“ von J. Bischoff und C. Neusüß. Die Idee dieser Strömung war in einer dem Kapital ähnlichen Vorgehensweise, die Realabstraktionen nicht nur der kapitalistischen Produktionsweise und die Klassenstruktur der deutschen Gesellschaft sondern darauf aufgesetzt auch die des Staates und Weltmarktes zu formulieren. Aus abstrakten Formen des Staates und Weltmarktes (?) sollten in ähnlichen Schritten wie im dritten Band aus dem Wert und Mehrwert Profit, Zins und Grundrente abgeleitet wird, konkrete Staats- und Weltmarktformen abgeleitet werden. Hier wurde also eine Überbautheorie beibehalten. Diese Versuche brachten interessante Einschätzungen des Sozialstaates und andere Entwicklungen. In ihren Versuchen das Kapital zu ergänzen sind sie – meiner Meinung nach notwendig – gescheitert.

[iv] Poulantzas – einer der Autoren, auf die sich J. Hirsch stützt – zieht die richtige Schlussfolgerung, dass gleiche historische Produktionsverhältnisse vorzufinden, nicht automatisch bedeute, dass gleiche politische Formen der (bürgerlichen) Herrschaft aufzufinden seien. Das ist für ihn auch die Begründung, warum es keine generelle marxistische Theorie des Staates geben kann und der theoretische Ansatz auf die kapitalistische Gesellschaftsformation begrenzt werden muss. Gilt aber nicht genauso, dass es keine generelle Theorie des kapitalistischen Staates geben kann?

[v] Der Artikel über die Staatstheorie bei Poulantzas in dieser Nummer stellt diese wichtigen Einschätzungen ausführlich dar.

[vi] In einer eindrucksvollen Weise macht Poulantzas das am Beispiel des Gesetzes klar: „Diese Juristenschaft im weitesten Sinne repräsentiert als von der Gesellschaft „abgetrenntes“ Netz wahrscheinlich am besten die im Staat verkörperte intellektuelle Arbeit. Jeder Vertreter des Staates im weitesten Sinne[...] ist in dem Maße ein Intellektueller, wie er ein Mann des Gesetzes ist, der Gesetze macht, Gesetz und Vorschrift kennt, sie konkretisiert und anwendet. „Jeder kennt das Gesetz“ ist die grundlegende Maxime eines modernen juristischen Systems, in dem außer den Repräsentanten des Staates keiner es kennen kann. Diese von jedem Staatsbürger verlangte Kenntnis ist nicht einmal Gegenstand eines besonderen Schulfachs. [....] Diese Maxime drückt so die Abhängigkeit und Unterordnung der Volksmassen in Bezug auf die Staatsbeamten [...] aus; die Unkenntnis (das Geheimnis) des Gesetzes bei den Volksmassen ist ein Merkmal dieses Gesetzes und der juristischen Sprache selbst.“ (Poulantzas 1978; 82)

 

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ISSN 1814-3164 
Key title: Grundrisse (Wien, Online)

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