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Editorial Nr. 4 Liebe
Leserinnen und Leser! Ein Ziel
der grundrisse-Redaktion ist es, nicht nur schriftlich die Debatte um
wesentliche Fragen gesellschaftskritischen Handelns und Denkens zu führen,
sondern auch konkret Veranstaltungen durchzuführen, bzw. uns an solchen zu
beteiligen. Papier ist oft sehr geduldig, und eine mündliche Diskussion kann
oft rascher zur Klärung unklarer Punkte beitragen. In dieser Hinsicht ist
einiges geschehen: Am Volksstimme-Fest organisierten wir ein sehr gut besuchtes
Diskussionsforum mit Michael Heinrich zum Thema „Subjekt: Wer macht die
Revolution?“; die Debatte wurde am nächsten Tag auf einem grundrisse-Seminar
weiter geführt. Im November organisierten wir eine ebenfalls äußerst gut
besuchte Podiumsdiskussion zum Thema „Schwarzblau war die Haselnuß?
Widerstand ist nicht wählbar!“ auf der verschiedene Aktive aus der
Widerstandbewegung diese hinsichtlich unterschiedlichster Aspekte thematisierten
– und nicht zuletzt im Hinblick auf die mittlerweile erbärmlich ausgegangene
Wahl. Ebenfalls im November debattierte Robert Foltin mit der
Bruchlinien-Redaktion über die Aktualität der Empire-Analyse von Negri/Hardt
sowie Martin Birkner auf einer KPÖ-Veranstaltung über Bilanz und Zukunft des
Europäischen Sozialforums. Natürlich wäre es sinnvoll, diese Debatten hier rückblickend
zu reflektieren; dass dies nicht geschieht und wir hier euch keine Berichte
vorlegen können hat einen simplen Grund: wir schafften es arbeitsmäßig
einfach nicht. Das soll
sich jedoch beim kommenden grundrisse-Seminar, zu dem wir alle LeserInnen der
grundrisse herzlich einladen, ändern: Das Seminar soll das in dieser Nummer
begonnene und in der Nr. 5 fortgeführte Thema „Staatstheorie und -kritik“
zum Gegenstand haben. Zeit und Ort stehen fest: Freitag, den 10. Jänner 2003
von 15 bis 21 Uhr in der Martinstraße 46, 1180 Wien. Weitere Informationen
sowie das genaue Pogramm findet ihr in Kürze auf unserer Homepage:
www.grundrisse.net. In der Nr. 5 der grundrisse werdet ihr dann einen Bericht über
diese Veranstaltung finden, versprochen! Geschafft
haben es hingegen Martin Birkner und Bernhard Dorfer zum Europäischen
Sozialforum in Florenz. Ihre Eindrücke und Erfahrungen findet ihr im Anschluss
an dieses Editorial. Eingelöst
konnte bis dato unser Anspruch werden, alle Artikel mit den AutorInnen genau zu
diskutieren. Daran wollen wir entscheiden festhalten, da diese Debatten für
alle Beteiligten sehr fruchtbar und erhellend sind. Wie formulierte doch Spinoza?
„Die Geisteskraft der Menschen ist zu schwach, um alles auf einmal
durchdringen zu können; durch Sichberaten, Zuhören und Diskutieren wird sie
aber geschärft, und indem sie alle möglichen Lösungen erprobt, findet sie
endlich diejenigen, die sie will, die dann alle Menschen gutheißen und woran
vorher niemand gedacht hätte.“ (Politischer Traktat, Kapitel IV, § 14) Üblicherweise
werden diese Diskussionen mündlich geführt, im Falle von Stefan Gandler, der
eine Professur in Mexiko ausübt, musste auf den Austausch von e-mails zurückgegriffen
werden. Dies hatte allerdings den Vorteil, dass diese Debatte leicht
exemplarisch dargestellt werden kann. Hier einige Auszüge aus den
Stellungnahmen einiger grundrisse-Redaktionsmitglieder zum ursprünglichen
Artikelentwurf: „Der Artikel weicht aber gleichzeitig dem Thema der
Produktivkraft der Arbeit aus. Diese findet ja – unter anderem - ihren
Ausdruck in der Menge der Gebrauchswerte, die menschliche Tätigkeit in einem
bestimmten Zeitraum produzieren kann. Das heißt ja überhaupt nicht, dass
produzierte Gebrauchswerte „höherwertiger“ sind, weil sie in einer
Gesellschaft produziert wurden, die eine größere Produktivkraft der Arbeit
hat.“, so Franz Naetar. Und Robert Foltin wendete ein: „Ich habe ein
Problem mit der ‚Gebrauchswert-Sichtweise’. Erinnert mich ein bisschen an
eine antiimperialistisch-befreiungsnationalistische Sichtweise, die meiner
Ansicht nach entsteht, wenn der Kapitalismus andere (nicht nur, aber auch
vorkapitalistische) Produktionsweisen unterworfen hat, aber über Handel und
Markt ausbeutet (nur unter formeller, nicht unter reeller Subsumtion). Es
entsteht die Sichtweise, das ursprüngliche System müsste nur vom Tauschwert,
vom Kapitalismus befreit werden, dann wäre alles gut.“ Und Bernhard
Dorfer schrieb: „Was die vorgestellten theoretischen Konzepte Echeverrías
betrifft: Gebrauchswert/Naturalform der gesellschaftlichen Reproduktion,
erweiterter Kulturbegriff (4 Ethen) sowie den Versuch einer produktiven Nutzung
der Semiotik respektive Saussurescher Ansätze: Markt- und
Wertvergesellschaftung ist nicht ohne kapitalistisch organisierte und
kontrollierte Produktion zu denken. Theoretiker in der Nachfolge der Frankfurter
Schule neigen dazu, diesen letzteren Bereich auszublenden, da sich wohl nur so
die von ihnen behauptete Totalität der Verdinglichung konstruieren lässt.“ Karl
Reitter: „Überlegen wir uns die Konsequenzen der Aussagen Stefan Gandlers:
Macht der Begriff des Fortschritts überhaupt noch Sinn? Müssen nicht alle
Kulturen strikt als gleichwertig, wie etwa die Sprachen, angesehen werden? Ein
Kriterium, nämlich die „Produktivkräfte und ihre technisch-industrielle
Perfektion“ werden als Kandidatin für Fortschritt klar zurückgewiesen. Gut,
aber bedeutet das, dass es deswegen überhaupt keine Kriterien mehr gibt? Die
Antwort bleibt eigentlich offen.“ Nun, all diese Einwände beziehen sich
auf die ursprüngliche Version des Artikels. Unsere LeserInnen mögen selbst
beurteilen, ob die hier skizzierten Einwände – so sie überhaupt geteilt
werden -
auf die aktuelle Version noch zutreffen. In diesem
Sinne wünschen wir euch allen eine anregende Lektüre und euren FreundInnen und
Bekannten ein grundrisse-Abo unterm Lichterbaum! |
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