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Robert
Foltin Multitude – Subjektivität
gegen das Empire. Multitude
ist von den Begriffen, die durch das Buch „Empire“ von Hardt / Negri in die
linke Diskussion eingeführt wurden, einer der meistdiskutierten. Verkürzt
beschrieben handelt es sich dabei um die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Wünsche
und Bedürfnisse, die in individuellen und kollektiven Revolten sichtbar werden.
Im folgenden möchte ich beschreiben, wie die ArbeiterInnenklasse im Fordismus
als Subjekt anerkannt wird und die Subjektivität der Multitude (z.B. durch
ritualisierte Lohnverhandlungen) institutionalisiert wurde. In einem weiteren
Teil geht es dann darum, aufzuzeigen, wie sich die Subjektivität gegen die
fordistische Normalität richtet. Das ist einerseits der individuelle und
kollektive Widerstand außerhalb der Parteien und Gewerkschaften, andererseits
der Angriff auf das Disziplinarsystem durch die 68er und die sozialen Bewegungen
danach. In einem Übergangsteil geht es um die reaktionären Elemente, die in
jeder Revolte vorkommen. Im letzten Teil möchte ich dann die
Institutionalisierungen beschreiben und spekulieren, wie sich die Subjektivität
der Multitude zu einer Gegenmacht, einem Gegen-Empire entwickeln kann, ohne in
Identitätspolitik abzugleiten[i]. Subjektivität
im Fordismus
Im
Kapitalismus der frühen Industriegesellschaft wurde das Proletariat (Männer,
Frauen, Kinder) einfach vernutzt, es wurde keine Rücksicht auf das Leben und Überleben
genommen. Die Industrie saugte die ArbeiterInnen aus den nicht-kapitalistischen
Bereichen an. Teilweise wurde das durch die Vernichtung der Überlebensgrundlagen
(der Subsistenz) der bäuerlichen Bevölkerung erzwungen, teilweise die
Subjektivität der (jungen) Landbevölkerung ausgenützt: Landflucht und
Proletariserung war auch eine Antwort auf die Wünsche nach einem besseren
Leben, sie war auch eine Flucht vor den ländlichen autoritär-patriarchalen
Strukturen. Reproduktion (die Wiederherstellung der Arbeitskraft) hat es in
dieser Phase des Kapitalismus nicht gegeben, in den nicht-kapitalistischen
Strukturen wurde Leben produziert, das als lebendige Arbeit vom Kapitalismus
vernutzt wurde. Privatheit spielte für das Proletariat (Männer, Frauen,
Kinder) keine Rolle, Sexualität passierte einfach und wurde im Diskurs der
damaligen bürgerlichen Gesellschaft ignoriert[ii]. Das
Ziel der ArbeiterInnenbewegung war es, das Proletariat zu einem Subjekt zu
machen, dessen Bedürfnisse als ArbeiterInnenklasse anerkannt werden.
Organisiert wurde das hauptsächlich durch die intellektuellen Eliten der linken
Parteien, die sich auf Seite der Subjektivität, der Revolten des Proletariats
stellten und begannen für das Proletariat zu sprechen. Durch die revolutionäre
Welle am Beginn des 20. Jahrhunderts - mit dem Höhepunkt der russischen
Revolution 1917 - und über den Umweg von Krise und Krieg setzte sich der
Wohlfahrtsstaat des Fordismus durch. Durch die Erzeugung von Massenprodukten
wurden die ArbeiterInnen als KonsumentInnen anerkannt. Es gab relativ hohe Löhne
im Vergleich zur vorherigen Phase, soziale Absicherung und Massenkaufkraft
parallel zur Einbeziehung der Gewerkschaften und linken Parteien in das
nationalstaatliche, demokratische System. Die ArbeiterInnenklasse wurde als
Subjekt anerkannt. Die ArbeiterInnenbewegung sorgte dafür, daß die Subjektivität,
die Wünsche und Bedürfnisse der ArbeiterInnen in einem geordneten Rahmen
verwirklicht wurden. Der
weibliche Teil der Subjektivität zeigte sich teilweise in den gleichen Bedürfnissen
wie der männliche: durch Flucht aus dem vorkapitalistischem Patriarchat in die
Proletarisierung und Kampf um bessere Arbeitsbedingungen. Verbunden war das mit
Wünschen nach Selbstbestimmung von Liebe und Sexualität, welche sich im Bedürfnis
nach Privatheit ausdrückte[iii].
Die revolutionäre Welle zu Beginn des 20 Jh. war nicht nur mit der
ArbeiterInnenbewegung verbunden, sondern auch mit der ersten Frauenbewegung, mit
der ersten Homosexuellenbewegung, mit einer verbreiteten Diskussion über
Sexualität (von der Psychoanalyse bis zu populären Frauenzeitungen). Auch die
Diskussion um den weiblichen Körper spielte in der Diskussion um die Abtreibung
eine wichtige Rolle. Die von intellektuellen Eliten geführte
„Arbeiterklasse“ drängte diese Subjektivitäten an den Rand, auch wenn sie
z.B. im Rahmen der „Dienstbotenfrage“ oder durch den Kampf um das Recht auf
Abtreibung nicht völlig ignoriert wurden. Der fordistische Kapitalismus
integrierte diese Wünsche einer weiblichen Subjektivität nach Privatheit durch
die Kleinfamilie. Erst jetzt, mit der Anerkennung der (männlichen) Arbeitskraft
entsteht aus der Produktion von Leben die Reproduktion. Es ging darum, die
ArbeiterInnen nach der Vernutzung in der Fabrik physisch und psychisch
wiederherzustellen. Sie werden nicht eingesaugt und dann wertlos wieder
ausgespuckt, sondern sollen ihr ganzes Leben bis zur Pension arbeiten. Erst
jetzt wird die geschlechtliche Arbeitsteilung mit der in die Kleinfamilie
verlagerten Hausarbeit konstitutiv für den Kapitalismus. Diese Arbeitsteilung
hat natürlich schon vorher bestanden, das Leben der ArbeiterInnen war aber
vorher nur ein Rohstoff („die Ware Arbeitskraft ist eine Ware wie jede
andere“), sie wird jetzt durch Reproduktion und Konsum, also in ihrer
Organisation, dem Kapitalismus, untergeordnet. Die
weiblichen Wünsche und Bedürfnisse werden innerhalb des Familiensystems
befriedigt, die ArbeiterInnenbewegung ist auf diese Subjektivität weniger
eingegangen als der Kapitalismus durch seine strukturelle und technologische
Entwicklung. Auch Hausfrauen werden als Konsumentinnen gefragt, was sich u.a. im
Versprechen ausdrückt, die Arbeit durch Haushaltsgeräte zu erleichtern. Subjektivität
gegen den Fordismus
Die
linken Parteien und Gewerkschaften haben die proletarische Subjektivität in
Sozialpartnerschaft (mit oder ohne gewerkschaftliche Kampfrituale) umgewandelt.
Höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen werden im geordneten Rahmen
innerhalb der Disziplinargesellschaft erreicht. Neben dieser geordneten,
gebremsten, organisierten Subjektivität der ArbeiterInnenbewegung hat es immer
auch autonome Entwicklungen und Kämpfe gegeben. Z.B. wurden in der Phase der
Vollbeschäftigung Lohnsteigerungen allein durch die Drohung mit einem
Arbeitsplatzwechsel erreicht: das ist ein Grund warum viele (Männer)-Löhne in
großen fordistischen Betrieben höher sind als die Kollektivverträge. Auch
andere Möglichkeiten der Widerständigkeit wurde benutzt, kleine
Auseinandersetzungen auf Abteilungsebene, Krankfeiern, Pausen und Freizeit während
der Arbeitszeit, bis hin zu Festen in der Fabrik (in Italien) und wilden
Streiks. Neben den gewerkschaftlich organisierten Strukturen hat es immer eine
Vielzahl von individuellen und kollektiven Revolten gegeben. Getragen wurden
diese Auseinandersetzungen häufig von ArbeiterInnen, die gerade in die Stadt
gekommen sind oder auch von MigrantInnen, die noch nicht in die organisierten
Strukturen der ArbeiterInnenbewegung integriert waren. In den meisten europäischen
Regionen wurden auch diese ArbeiterInnen sukzessive organisiert. Diese Widerständigkeiten
innerhalb der „ArbeiterInnenklasse“ erreichten einen Höhepunkt parallel zu
der Revolte gegen die Disziplinargesellschaft, die üblicherweise mit 1968
verbunden wird. Die
„neue Linke“, die StudentInnenbewegung und der Feminismus sind nur die
Spitze des Eisbergs der sozialen Bewegungen, die im Anschluß an 1968 einen
Ausbruch der Subjektivität, ein sichtbar werden der Revolten bedeuteten.
Jugendliche und junge Erwachsene wollten kein normiertes Leben mehr führen,
nicht mehr 40 Stunden pro Woche ein Leben lang (bis zur Pension) arbeiten. Das
hat sich in einer massiven Suche nach Kreativität ausgedrückt, in Experimenten
mit Drogen, durch Reisen, in einer Verweigerungshaltung innerhalb und außerhalb
der Arbeit, im Ausleben und im Diskurs über Sexualität. Die Subjektivitäten
außerhalb der fordistischen Normen wurden sichtbar: „Außenseiter“,
„Minderheiten“ treten an die Öffentlichkeit, in Randbereichen ist es möglich,
Sexualität zu leben, die heterosexuelle Norm wird zwar nicht in Frage gestellt,
aber zumindest nicht mehr als einzig gültige gesehen[iv].
Die kapitalistische Gesellschaft reagierte relativ schnell auf das Aufbrechen
dieser Revolten. Das erfolgte einerseits durch die „Sachzwänge“, die
alternative oder revolutionäre Projekte gezwungen hat, sich entweder dem Markt
zu unterwerfen oder in die Abhängigkeit von staatlichen Subventionen zu
begeben. Andererseits entwickelte sich die Organisation der Arbeit in Richtung
eines Aufnehmens, daß die revoltierenden Subjektivitäten aufgenommen werden.
Der Wunsch nach freier Zeiteinteilung wird zur Flexibilität im Kapitalismus,
Kreativität und Selbstorganisation sind Managementqualitäten,
Selbstverwirklichung führt zu „freiem“ UnternehmerInnentum und
Projektarbeit. Vieles
hat der aktivistische Feminismus angestoßen, insgesamt ist dieser aber nur der
spektakuläre und sichtbare Teil der weiblichen Subjektivität. Der Zerfall der
Familien geht maßgeblich von den Frauen aus. In den 50er Jahren arbeiteten
viele junge Frauen, ihr Lebensziel aber war die Heirat, heute wollen die meisten
Frauen arbeiten, um nicht von ihren Männern ökonomisch abhängig zu sein. Der
Wunsch nach sexueller Selbstbestimmung hat durch den Diskurs über (hetero- und
homo)-Sexualität einiges erreicht, auch wenn ein großer Teil der Männer noch
Probleme damit hat. Durch den Diskurs über Verhütung und Abtreibung ist es
Frauen möglich, über die Produktion von Leben selbst zu bestimmen. So wird die
Entscheidung für oder gegen Kinder nach den ökonomischen und sozialen Möglichkeiten
getroffen[v].
Wurde früher die Arbeit als Übergangsstadium gesehen, gibt es jetzt auch das
Drängen nach Aufstieg in den männlichen Hierarchien, aber auch nach Bildung
und dem Versuch der Anerkennung in gesellschaftlich bedeutenden Bereichen wie
der Wissenschaft. Auch wenn die staatlichen und kapitalistischen Institutionen
teilweise darauf reagiert haben (Alibifrauen in Spitzenpositionen, Aufwertung
weiblicher Qualitäten wie Kommunikativität, soziales Verhalten, Gender
Mainstreaming) sind die Widerstände der männlich dominierten Institutionen
noch gewaltig, und ich würde erwarten, daß der weibliche Teil der Subjektivität
in einem neuen Kampfzyklus eine maßgebliche Rolle spielen sollte[vi]. Subjektivitäten
In
groben Zügen lassen sich die Subjektivitäten in drei Gruppen zusammenfassen,
wobei es sich immer um eine Bewegung oder Entwicklung in Richtung eines besseren
Lebens für alle handelt. Bei der ersten handelt es sich um den Wunsch nach
Migration in Richtung mehr Freiheit und besseren Lebensmöglichkeiten. Das drückte
sich in der Landflucht aus, in der GastarbeiterInnenmigration des 20.
Jahrhunderts und besonders in der (zeitweisen oder dauernden) Arbeitsmigration
und den Bewegungen der Flüchtlinge. Die rassistische Diskussion in den
reicheren Zielländern, ob die Menschen „echte“ oder nur „Wirtschaftsflüchtlinge“
sind, ist völlig bedeutungslos. Es geht um ein besseres Leben, und das bedeutet
Flucht vor autoritären Strukturen und Gewalt ebenso (in der Familie, von
identitären Gruppen oder von Staaten), wie die Suche nach besseren Lebens- und
Verdienstmöglichkeiten. Die entsprechende Forderung, die Hardt und Negris
(„Empire“ S. 396-400) dazu erhoben haben, ist jene nach einer allgemeinen
Weltbürgerschaft[vii]. Die
zweite Forderung die Hardt / Negri aufstellen, ist mit dem Kampf um Einkommen
mit oder ohne Arbeit verbunden (S. 401-403). Dabei geht es um den Wunsch nach
Einkommen überhaupt - aus diesem Grund wird Arbeit gesucht -, um ein höheres
Einkommen und bessere Arbeitsbedingungen in der fordistischen Fabrik, aber auch
um Einkommen ohne Arbeit, wie z.B. durch die Kämpfe von Erwerbslosen 1996 in
Frankreich um Weihnachtsgeld sichtbar geworden. Als
drittes geht es um die Eroberung und Wiederaneignung von Wissen, Sprache, Körper,
Körperlichkeit - des ganzen kollektiven und individuellen Lebens (Hardt / Negri
403-407). Das drückt sich in dem Wunsch nach Bildung für sich selbst oder für
die nächste Generation aus, nach den Wünschen auf eine befreite Lust, ein
befreites Leben, das Leben und Erleben des eigenen Körpers, die
Selbstbestimmung über die Körperlichkeit. Auch in den Wünschen nach der Erfüllung
und Wiederaneignung der Kreativität in Produktion und Reproduktion[viii]. Gegen-Multitude
Die
subjektiven Wünsche („Subjektivität“) sind nicht per se emanzipatorisch.
Die Flucht aus dem vorkapitalistischem Patriarchat, die Anerkennung als
ArbeiterInnenklasse im Fordismus und die postfordistische Strukturierung des
Lebens und der Arbeit hat das Leben vieler Menschen (zumindest in den
Metropolen) verbessert, aber auch die Ausbeutung perfektioniert. Die Subjektivität
hat den Kapitalismus vor sich hergetrieben, aber der Kapitalismus hat diese
Subjektivität aufgenommen und in geordnete Strukturen umgewandelt. Daneben
hat es in jeder Revolte auch die Elemente der Raserei und Lynchjustiz gegeben.
Aufstände gegen herrschende Strukturen, gegen den Kapitalismus haben sich
teilweise gegen „Andere“, meist noch schlechter gestellte gerichtet. Oder
der Kapitalismus wurde mit irgendwelchen HändlerInnen oder privilegierten Bevölkerungsgruppen
oder Individuen identifiziert und damit nicht der Kapitalismus bekämpft,
sondern „kapitalistische Personen“. Es scheint keine revolutionäre Bewegung
ohne nationalistische, rassistische und/oder antisemitische Elemente gegeben zu
haben. Das gleiche gilt für homophobe und sexistische Strukturen, nur einer
dekadenten Bourgeoisie wurde in großen Teilen der ArbeiterInnenbewegung die
Homosexualität zugetraut und immer waren die reichen (oder weißen) Frauen ein
besonderes Objekt der Verachtung, des Spottes, des Begehrens. Die
Eliten der ArbeiterInnenbewegung haben diese Probleme gesehen, aber an den Rand
gedrängt. Sie setzten das „Proletariat“ an die erste Stelle und vertrauten
auf die Geschichtsmächtigkeit der Aufklärung und der emanzipatorischen
Elemente. Der Internationalismus ist aber spätestens im ersten Weltkrieg
gescheitert, Nationalismus und Rassismus haben sich mit teilweiser Benutzung der
Symbolik der ArbeiterInnenbewegung in den faschistischen Diktaturen der ersten Hälfte
des 20. Jahrhunderts durchgesetzt. Der Antisemitismus erreichte in Deutschland
(und Österreich) mit dem Versuch der Vernichtung aller JüdInnen seinen Höhepunkt. Jede
Revolte entsteht aus den ungleichen herrschenden Strukturen, aus diesem Grund
kristallisiert sich der Wunsch nach einem besseren Leben auch mehr oder weniger
gegen andere. Wobei es natürlich Unterschiede gibt, welche Elemente dominierend
sind. Daß sich der Nationalismus im ersten Weltkrieg gegen den
Internationalismus der Multitude durchgesetzt hat, ist einerseits an den
objektiven Strukturen am Höhepunkt des bürgerlichen Nationalstaats gelegen,
aber auch an der Geringschätzung dieser Gefahren durch die systemfeindlichen
Bewegungen. Es hat keine Strömung der ArbeiterInnenbewegung (SozialistInnen,
KommunistInnen, aber auch AnarchistInnen) gegeben, die völlig frei von
Antisemitismus, Sexismus und Homophobie gewesen wäre. Die linken Eliten habe
sich positiv auf den Nationalismus bezogen, in dem soziale Kämpfe durch die
Intervention nationaler und liberaler Eliten repräsentiert wurden. Das
taktische („dialektische“) Eingehen auf nationale Strömungen verhinderte
eine mögliche Begrenzung der nationalen Begeisterung. Auch die faschistischen
und nationalsozialistischen Massenbewegungen konnten sich durch die Verknüpfung
sozialer Fragen mit dem Nationalen durchsetzen. Erleichtert wurde das auch durch
die patriarchale, militaristische und autoritäre Struktur der
ArbeiterInnenbewegung. Die vereinheitlichenden, repräsentativen Strukturen mit
einem Führerprinzip erleichterten es den reaktionären Eliten, die
nationalistischen, rassistischen, sexistischen Elemente der Subjektivität
zu mobilisieren. Gegen-Empire
und konstituierende Macht
Revolten
als größere Ausbrüche der Subjektivität passieren nicht dann, wenn am
meisten Elend vorhanden ist, sondern wenn es zu Veränderungen in den
herrschenden Strukturen kommt: das kann eine ökonomische Krise sein, die
Verschlechterungen erzwingt, oder, wie in den Sechzigerjahren, ein Schub von
Ausbreitung der fordistischen Arbeit auf bisher gesellschaftlich noch nicht
erfasste Bereiche und die Erweiterung von Qualifikationen (Stichwort:
Massenuniversität). Ob sich revoltierende Bewegungen in eine identitäre,
nationalistische etc. Richtung entwickeln, ist nur teilweise vorgegeben, es gibt
welche, in denen eher die emanzipatorischen Elemente überwiegen wie 68[ix]
und andere, die sich von vornherein rassistisch gegen andere Unterdrückte
richten, wie die rassistischen Riots in Deutschland zu Beginn der 90er Jahre
(Hoyerswerda, Mannheim, Rostock). Das
zwanzigste Jahrhundert hat gezeigt, daß für die Entwicklung des Kapitalismus
und die Entstehung des Empire der eliminatorische Nationalismus einer
imperialistischen Macht nur eine Übergangsphase war. Auf Grund des Sieges der
Alliierten über Nazideutschland hat sich glücklicherweise eine Art von
„Reformismus“ als das dominierende Element durchgesetzt. Es gibt keineswegs
eine Garantie, daß die aus der heutigen Situation entstehenden Unruhen und
Aufstände nicht wieder in eine radikal identitäre, z.B. nationalistische
Richtung gehen. Die Ethnisierung des Sozialen wie in Jugoslawien kann als
Beispiel dafür dienen. Aus diesem Grund sollte die Diskussion in den Bewegungen
einerseits als in Frage stellen der integrierenden Elemente („Reformismus“)
geführt werden, aber auch die damit verbundenen nationalistischen (und/oder
antisemitistischen) Strukturen kritisiert werden. Als
Antwort auf die Revolten im Trikont (antiimperialistisch, demokratisch oder
„nur“ sozial) haben sich Institutionen der „Zivilgesellschaft“,
insbesondere NGOs (Nichtregierungsorganisationen) durchgesetzt. Sie sind ein
wichtiges Element zur repräsentativen Einpassung der Subjektivitäten in das
herrschende System, u.a. weil die demokratischen Mechanismen, auf
Nationalstaaten bezogen, kaum mehr Einfluß haben (so wird die linke PT in
Brasilien – außer verbal – kaum eine andere Wirtschaftspolitik durchführen
können als die vorherige Regierung Cardoso). Dabei handelt es sich um
Organisationen, die einerseits an kleineren Strukturen als den staatlichen
ansetzen und solchen, die sich internationaler sehen. Anfang der 90er scheinen
alle autonomen Revolten marginalisiert oder reaktionär-rassistisch zu sein und
die NGOs haben sich auf weltweiter Ebene durchgesetzt. Durch die globale
Protestbewegung zeigt sich aber, daß die Umstrukturierungen und Umgruppierungen
Richtung Empire noch keinesfalls einen konstituierten Rahmen erreicht haben. Um
eine negative Entwicklung der Revolten in Richtung einer identitären Sichtweise
zu vermeiden, sollte die Gegen-Macht der Multitude nicht als Aufbau alternativer
Machtapparate gedacht werden, sondern gegen die Macht gerichtet sein. Es sollte
von der Möglichkeit der Macht (Hardt / Negri verwenden den Begriff Potentialität
– Posse) ausgegangen werden. Jede Art des Widerstands hat die Tendenz, sich
Koordinations-, Kommunikations- und Organisationsformen zu geben. Die
Individualitäten – die Subjektivität – werden für kurze Zeit
zusammengefasst. Mit dem Niedergang – durch reformistische Zugeständnisse
oder durch Repression – entsteht die Tendenz, daß sich Avantgarden, Eliten,
RepräsentantInnen finden, die entweder den „Sachzwang“ als Argument zur
Integration ins System benutzen, oder sich radikalisieren in die Richtung, daß
die Bewegung „besser organisiert und militanter werden müsse“. Beide
Entwicklung sind eine Art von Bürokratisierung, was Hardt / Negri (2001) als
konstituierte Macht - constituted
power (und damit Teil des Empire) bezeichnen im Gegensatz zur
konstituierenden Macht – constituent power. Durch die praktische Kritik
der Selbstorganisation sollte vermieden werden, daß die Revolten in
Nationalismus oder identitäre Strukturen gedrängt werden. Ein
Ansatz zur Gegenmacht könnte der Versuch der Verknüpfung der Widerstände,
Aufstände etc. durch die globale Protestbewegung sein. Das sind die
verschiedenen Elemente der Selbstorganisation der MigrantInnen, die
Auseinandersetzungen der Arbeitenden, der Erwerbslosen oder sonstiger Kämpfe im
sozialen Bereich und schließlich die Unterstützung der Kämpfe, die mit der
Wiederaneignung von Wissen, Sprache, Körperlichkeit zu tun haben (z.B.
Auseinandersetzungen im Bildungsbereich). Die regionalen, lokalen, „kleinen“
Kämpfe könnten sich koordinieren und miteinander kommunizieren. Dabei sollte
darauf geachtet werden, daß sich keine repräsentativen Strukturen durchsetzen,
die allerdings bereits in vielen Bereichen die Bewegung dominieren. Ein Manko
ist nicht nur der zu starke Blick auf spektakuläre Protestevents, sondern auch
das Zurückdrängen von Elementen weiblicher Subjektivität (abgesehen von
verbalen antisexistischen Kundmachungen). e-mail
Adresse des Autors: r.foltin/ at /aon.at Literatur: Butler
Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt am Main:
Suhrkamp. Butler
Judith (1997): Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts.
Frankfurt am Main: Suhrkamp. Foltin,
Robert (2002): Immaterielle Arbeit, Empire, Multitude. Neue Begrifflichkeiten in
der linken Diskussion. Zu Hardt/Negris Empire. In: grundrisse Nr. 2, S.
6-19. Hardt,
Michael, Negri, Antonio (2000): Empire. Cambridge
(Mass): Harvard University Press. (Empire) Hardt,
Michael, Negri, Antonio (2001): Globalization and Democracy. Wien:
Vortrag auf der Documenta 11. Reitter,
Karl (2002): Spinoza – ein vormoderner Denker? http://mailbox.univie.ac.at/Karl.Reitter/Spinoza.htm Truman, Andrea (2002): Feministische Theorie. Frauenbewegung und weibliche Subjektbildung im Spätkapitalismus. Stuttgart: Schmetterling Verlag. [i] Ich gehe davon aus, daß Begrifflichkeiten wie Fordismus, Disziplinargesellschaft, Multitude und Empire bereits bekannt sind (vgl. Hardt / Negri 2000, Foltin 2002). Was ich mit Subjektivität meine, wird hoffentlich im Laufe dieses Textes klar. [ii] Diese Darstellung mit der Unterscheidung „fordistisch“ und „frühkapitalistisch“ ist etwas schematisch, tatsächlich gibt es in einigen Regionen Europas bereits ab 1830 Elemente sozialer Versorgung, die als Vorläufer des Sozialstaates gelten können. [iii] Es sollte klar sein, daß diese Wünsche auch die Wünsche von Männern waren, darum spreche ich auch nicht von Frauen, sondern von der weiblichen Seite der Subjektivität. Weiblichkeit und Männlichkeit sind gesellschaftlich produzierte Identitäten, erzeugt durch die heterosexuelle Norm (Butler 1991, 1997). [iv] Dabei meine ich wieder nicht allein die organisierte Schwulen- und Lesbenbewegung, sondern z.B. auch schwule, androgyne und bisexuelle Ausdrucksformen in der Populärkultur der 70er (Disco und Soul). [v] Die Entwicklung von Reproduktionstechnologien bedeutet nicht nur „Enteignung“ der Frauen durch ExpertInnen und ÄrztInnen, sondern ist die kapitalistische Antwort auf die Wünsche nach Selbstbestimmung, die eben nicht eingeschränkt, sondern in die kapitalistische Vernutzung eingebaut werden (vergleiche Truman 2002). [vi] Die globale Protestbewegung scheint bisher (trotz massiver weiblicher Beteiligung wie in jeder emanzipatorischen Revolte) wieder ziemlich männlich dominiert. [vii] Einer der gravierendsten Kritikpunkte an Hardt / Negri ist, daß sie sich mit dieser Art von Forderungen wieder an irgendeine Art (national-)staatliches Subjekt wenden und sich dadurch nur innerhalb eines reformistischen Horizontes bewegen. Ich interpretiere das als Richtung, in die Kämpfe gerichtet sein sollten. Es gibt keine soziale Bewegung, die nicht an irgendwen Forderungen stellt. Es gibt keine nicht-reformistischen Kämpfe, aber in der Organisation der Kämpfe sollte bereits die Struktur einer nicht-kapitalistischen Gesellschaft angelegt sein. |
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