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Johanna Klages  Symbolik der Neuen Ök onomie oder wie staatliche Politik neoliberalisiert wird

Soziale Realität kann nur interpretiert oder gedeutet wahrgenommen werden, sie stellt sich uns nicht „an sich“ dar. Entscheidend ist, welche politischen Kräfte die Interpretations- und Definitionsmacht besitzen, die menschlichen Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata beeinflussen und beherrschen zu können. Die Menschen bilden entsprechend den gesellschaftlichen Strukturen, in die sie eingebunden sind, in ihrem Habitus (Bourdieu) Wahrnehmungs-, Bewertungsschemata aus, die es ihnen ermöglich, sich in der sozialen Welt zurechtzufinden und zu handeln. Gleichzeitig produzieren und reproduzieren sie gesellschaftliche Strukturen und Verhältnisse. 

Obwohl wir davon ausgehen müssen, dass die Habitusstrukturen eines Individuums und somit seine Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata je nach biographischem Kontext relativ verschieden sind, überwiegt die gemeinsame „Sichtweise“ auf die soziale Welt. Gemeinsames besteht nicht nur aus Tradition und Geschichte. Wir sollten auch die jeweils aktuelle gesellschaftliche Deutungsmacht eines herrschenden Diskurses nicht unterschätzen: In der Regel gelingt es ihm, eine Kongruenz zwischen herrschender und individueller Interpretation sozialer Verhältnisses herzustellen. Wie anders ließe sich Akzeptanz von nicht zu akzeptierenden Verhältnissen erklären? Im Folgenden möchte ich versuchen, anhand der spezifischen Symbolik des neoliberalistischen Diskurses auf einige Mechanismen seines Erfolgs aufmerksam zu machen. 

Seine wirkungsvollste Performanz[i] verdankt das Symbol „neu“ dem Diskurs New Economy. Im Gegensatz dazu wurde „alt“ verteufelt, egal was und wen das Adjektiv etikettierte. Auch Bewährtes, einmal in den Sog dieses Gegensatzpaares „neu“ – „alt“ geraten, erhielt allein dadurch eine negative Konnotation. Der Diskurs New Economy ist/war einer der am weitesten reichenden und gelungensten Umdeutungsversuche der symbolischen Ordnung in der jüngsten Geschichte, und zwar weit über die „Grenzen“ des ökonomischen Feldes hinaus. 

Zu kurz gegriffen wäre es, würden wir unseren Blick nur auf Produkte neuer Informationstechnologien oder lediglich auf spektakuläre Erscheinungen wie Start-ups richten, wie der Feuilletonismus dies zu tun beliebt. Mit Umdeutungen ist es gelungen, grundlegende Neuerungen im ökonomischen Feld zu installieren. Neue, neoliberale Reglements haben sich in weiten Bereichen bereits durchgesetzt. Sie sind Resultat neuer Macht- und Konkurrenzbeziehungen im ökonomischen Feld. Wir sollten uns erinnern, dass der Neoliberalismus bereits in den 70er Jahren zum Kampf gegen des Keynesianismus auf den Plan getreten ist. Deficit-spending staatlicherseits geriet zur absoluten Todsünde und wurde für alles verantwortlich gemacht, für Krise, Inflation oder (erstmals auftretende) Dauerarbeitslosigkeit, die vor allem mit den Zechenschließungen im Bergbau begann und blieb. Gefeiert – und nicht etwa kritisiert – wurden Thatcherismus und Reaganomics. 

Seit den 90er Jahren ist zu beobachten, wie sich die Finanzmärkte als ökonomisch strukturbestimmende in den Vordergrund geschoben haben. Die beiden herausragenden „Kreationen“ der New Economy sind „venture capital“ und „shareholder-value“. Beide demonstrieren die Machtstrukturen des ökonomischen Feldes: ein „venture“-Kapitalgeber spekuliert mit Börsengewinnen ebenso wie ein shareholder. Beide repräsentieren Positionsinhaber, die über große Kapitalressourcen als „Spieleinsatz“ im Feld verfügen.[ii] 

In der New Economy avanciert der Markt zur wichtigsten Metapher. Als Begriff „praktisch nie definiert und erst recht nicht diskutiert ... (ist) Markt seit der grenznutzentheoretischen Revolution von etwas Konkretem zu einer abstrakten Idee ohne empirische Bezugsgröße ... zu einer mathematischen Fiktion“ (Bourdieu 1998: 164) geworden. Als Metapher hingegen mutiert der Markt zu etwas scheinbar Konkretem, denn die Metapher imaginiert einen Markt als ökonomisches Feld ohne Machtstrukturen, sie suggeriert in ihrer Symbolik freien Zutritt für jeden, weil sie Vorstellungen mobilisieren kann, die von Alltagserfahrungen herrühren. Es lassen sich symbolische Assoziationen zum orientalischen Basar, zum großstädtischen Wochenmarkt oder zur Börse in der Wallstreet knüpfen. „Viele soziale, politische, internationale Kämpfe haben keine andere Waffe (...) als die Symbolik. So sind die Finanzmärkte zum großen Teil symbolische Spiele, in denen die Kraft der Vorstellungen, die Kraft der Ideen zum Einsatz kommt“ (Bourdieu 2001b: 36). 

In der Metapher, die den ökonomischen Markt als offen und frei für jeden ausmalt, werden die ökonomischen, sozialen und symbolischen Zugangsbedingungen und Voraussetzungen für eine tatsächliche Teilnahme am Marktgeschehen verdeckt. Ohne Besitz von ökonomischem, kulturellem und symbolischem Kapital ist keine Position auf dem Markt zu erobern. „Verkannt“ (Bourdieu) werden Machtstrukturen und Konkurrenzkämpfe um führende Positionen, bei denen sowohl Volumen als auch Symbolkraft des akkumulierten Kapitals entscheidend sind. 

Nur in außergewöhnlichen historischen Konstellationen, wie z.B. das Ereignis New Economy möglicherweise eine solche war, konnten sich einige lediglich mit außergewöhnlichen Ideen (und großzügigen Venturekapital-“Spritzen“) Positionen auf dem Markt (der Informationstechnologie) erobern.[iii] Insofern sind manche junge Start-ups letztendlich in Verkennung der realen Bedingungen und Voraussetzungen auf den Markt gegangen, was ihnen dann auch zum Verhängnis wurde. Dennoch – und dies trifft auch in anderen sozialen Zusammenhängen zu –: Ohne ein „Interesse, das immer eine Verkennung der realen Verhältnisse produziert“, ohne „jene besondere Glaubensform der illusio“ (Bourdieu 2001a: 128) hätten sie ihre Versuche, auf dem Markt der New Economy Fuß zu fassen, nicht gewagt. Auch wenn der Börsenboom längst in sich zusammengefallen ist und in seinem Niedergang nicht nur die IT-Produktion, sondern auch alteingesessene Unternehmen der Realwirtschaft mitgerissen hat, ist der Feldzug des Neoliberalismus keineswegs gestoppt. Im Gegenteil! 

Die Metapher eines „freien“ Marktes (meint auch einen deregulierten Arbeitsmarkt) sorgt darüber hinaus nach wie vor für eine breite Akzeptanz auch bei all denjenigen, die keine Akteure im ökonomischen Feld sind oder sein wollen, insbesondere bei Konsumenten. Letztlich gerät auch manch Arbeitsloser in Zweifel, ob nicht „seine“ Lohnnebenkosten für „Arbeitgeber“ nicht tragbar seien. Eine Metapher transformiert das, wofür sie steht (in unserem Zusammenhang hier ist es der Markt), stets in eine Sphäre des Universellen und Unhistorischen. Mit einer Vorstellung von Markt als abstraktem Gebilde, das weder hierarchische Strukturen noch Geschichte hat, überall gleich und ohne besondere Eigenschaften ist, genau damit arbeitet der Neoliberalismus. Und wenn der Markt nicht funktioniert, d.h. Krisen auftreten und kein ständiges Wachstum stattfindet, dann ist dies Störungen geschuldet, Restriktionen, die dem Markt von „außen“ und „unzulässigerweise“ zugefügt werden. Das Dogma des Neoliberalismus besagt, dass ein Markt, der als eine sich selbst regelnde spontane Ordnung angenommen wird, sich nur dann im „Gleichgewicht“ befindet, d.h. ohne konjunkturelle Schwankungen (Anomalien) nur funktionieren kann, wenn er frei ist von (staatlichen) Reglementierungen[iv] und ihm keine (sozialen) Einschränkungen auferlegt sind. Solch ein „freier“ Markt steht jedem individuellen Interesse offen; jeder kann seine Bedürfnisse befriedigen, ergreift er nur die Initiative, so Friedrich von Hayek in „Grundsätze einer liberalen Gesellschaftsordnung“ (Hayek, 1969). 

Eingebettet in diese neoliberalen Vorstellungen von grenzen- und schrankenlosen Absatzmärkten (Freihandel), wie sie die „ökonomische Orthodoxie“ (Bourdieu) verkündet und in mathematischen Modellen ständig neu „begründet“, ist das Symbol vom stetigen ökonomischen Wachstum, das durch Visionen von unerschöpflichen Absatzmöglichkeiten insbesondere der neuen Kommunikations- und Technologieprodukte gestützt wird. Der PC, ganz zu schweigen vom Internet, hat weite Landstriche und ganze Kontinente noch nicht erreicht; Generationen junger Menschen weltweit sind nach wie vor fasziniert von den Möglichkeiten der Informationstechnologie, die auch in den kapitalistischen Hochländern noch nicht erschöpft scheinen. So gesehen – abstrahiert von notwendigen sozialen, kulturellen und qualifikatorischen, geschweige denn infrastrukturellen Voraussetzungen für die Nutzung neuer Technologien – scheint der Absatz eher am Beginn als am Ende seiner Chancen zu stehen.[v] Der Diskurs vom „Freihandel“, den die mächtigsten Industrienationen in der WTO, allen voran die USA führen, ist ein illustratives Beispiel symbolischer Gewalt gegenüber armen Ländern, denn vom „freien“ Handel profitieren nur die Mächtigen, die unter dem Etikett „frei“ einen Protektionismus ärmerer Länder zum Schutz von deren Produkten ablehnen. 

Die Vision eines Marktes als Feld ohne Grenzen und mit ungeahnten Möglichkeiten ist eine der stärksten Waffen, mit denen die neue Ordnung offensichtlich erfolgreich durchgesetzt wurde. Bereits seit einiger Zeit gerät der Staat, das politische Feld, ins „Visier“, nicht allerdings der staatliche Repressionsapparat – im Gegenteil: Von ihm fordert die Bourgeoisie noch mehr Schutz und Sicherheit –, sondern die neue (neoliberale) Ordnung zielt insbesondere auf soziale und öffentliche Infrastrukturen, für die der Staat genuin die Verantwortung[vi] zu tragen hätte: Arbeitsmarktpolitik, Bildungssystem, öffentliche Dienstleistungen etc. Entweder wird angeprangert, dass vermeintliche „Einschränkungen“ des „freien“ Marktes „freie“ ökonomische Entscheidungen behindern wie im Falle der Arbeitsmarktgesetzgebung, oder es werden staatliche Ausgaben im Bildungs- oder Gesundheitswesen als inflationär oder kontra-konjunkturell gegeißelt. 

Führende Wirtschaftsfachleute, Finanzmarkt- und Bankpolitiker scheinen den Staat als ihren Hauptfeind auserkoren zu haben. Entsprechend rigoros ist jedenfalls ihre Kritik an staatlicher Politik, ja sogar an der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verfasstheit, die insbesondere die Gesetzes- und Entscheidungshoheit des Staates sanktioniert. In diesem Kontext fahren sie u.a. ein wirkungsvolles Geschütz auf, nämlich das Gegensatzpaar: „autoritär“/„totalitär“ versus „demokratisch“ (vgl. Bourdieu/Wacquant 2001). Der Staat ist natürlich „totalitär“ oder „autoritär“, denn er maßt sich an, z.B. per Gesetzgebung über alle Bürger zu bestimmen und Zwang auszuüben.[vii] Der vermeintlich unerträglichste staatliche Zwang sind Steuern, die alle Bürger zu zahlen haben, wirklich alle? – als wüssten die „Großen“ nicht längst, sich diesem Zwang zu entziehen. Ein anderer beliebter Topos ist, dass der Staat zur Unselbständigkeit erziehe, indem er bedürftige Menschen durch seine Alimentierung in eine Passivität zwänge, anstatt Eigeninitiative, Selbsthilfe zu fördern.[viii]

Der Markt dagegen ist „demokratisch“: Er gewährt jedem, der die Initiative ergreift, die gleiche Chance am ökonomischen Geschehen teilzunehmen. „Das Wunderbare an der Marktgerechtigkeit ist, dass hier nicht die Willkür einzelner Menschen, sondern ein anonymer Auslese- und Abstimmungsprozess über die Stellung in der Gesellschaft entscheidet“ (Habermann 2002). Auch dieses Credo des Neoliberalismus ist ein Beispiel dafür, wie von sehr wohl existierenden unterschiedlichen wirtschaftlichen und kulturellen Zugangsvoraussetzungen abstrahiert wird. Der Markt bietet keineswegs gleiche Chancen, sondern eine Teilnahme im ökonomischen Feld erfordert vor allem Besitz von Kapital, wobei auch akkumuliertes symbolisches Kapital (erworben durch Eliteerziehung und -bildung, Ansehen auf Grund von familiärer Herkunft und Reichtum, s. Krupps "Villa Hügel" in Essen) eine nicht unwichtige Rolle für ökonomischen Erfolg spielt.

Eine derartige „Verkennung“ (Bourdieu) von Machtstrukturen im ökonomischen Feld, die letztlich auch die Marktgesetze bestimmen, ist nicht nur für die unmittelbar beteiligten ökonomischen Akteure von Bedeutung, sondern ist wesentliche Grundlage für eine nach wie vor durchaus stabile Akzeptanz des Kapitalismus. 

Das ökonomische Feld bestimmt die Politik, beherrscht den Staat. [ix] – Das Beispiel staatlicher Sparpolitik 

Ein sehr folgenreiches Charakteristikum des neoliberalen Konzepts ist der Anspruch der ökonomisch Mächtigen, auch die gemeinhin soziale und öffentliche Politik des Staates bestimmen zu wollen. Hierfür bedienen sie sich vor allem der Medien, die je nach „Bedarf“ eifrig Schreckensmeldungen von Krisen, Arbeitslosigkeit und Wachstumsschwäche oder Drohungen von Abwanderung in Billiglohnländer verbreiten. Gleichzeitig sind Meldungen von Konkursen und Entlassungen an der Tagesordnung, ohne dass aufgeklärt würde, wie es zu den zahlreichen Insolvenzen kommt und welche Rolle Börse und Banken hierbei spielen. Große Effekte erzielen Wirtschaftsbosse und deren Sprecher kraft ihrer symbolischen Autorität. Und weil in kapitalistischen Gesellschaften die Autorität von Wirtschaftsbossen zählt, wird sie auch kaum angezweifelt, so dass eine Entmachtung von Parlament und staatlicher Politik mehr oder weniger unwidersprochen, eher mit Selbstverständlichkeit akzeptiert voranschreiten kann. 

Vorstellungen und Strategien – mit Wissenschaft drapiert – werden in gut ausgerüsteten, finanzkräftigen Think-tanks des ökonomischen Feldes ausgearbeitet, von den „Autoritäten“ eben dieses Feldes wie Verbandsvertretern, Sprechern von Organisationen wie z.B. IWF und WTO oder Zentralbankvorsitzenden an die Medien (man denke nur an die selbstherrlichen Verlautbarungen von Mr. Greenspan, dem Vorsitzenden der Fed) lanciert. Durch ein Amt, also den Vorsitz einer der mächtigsten Banken, wird ein Amtsinhaber also nicht nur mit autoritativen Befugnissen ausgestattet, sondern auch das, was er spricht, ist qua Amt autorisiert und damit wirkungsvoll.[x] Sprecher von Notenbanken sind heutzutage mit einer autoritativen „Weihe“ ausgestattet wie in früheren Zeiten kirchliche Würdenträger. 

Dennoch: „Die symbolische Wirkung der Wörter kommt immer nur in dem Maße zustande, wie derjenige, der ihr unterliegt, denjenigen, der sie ausübt, als den zur Ausübung Berechtigten anerkennt ... wie er sich selbst in der Unterwerfung als denjenigen vergisst und nicht wiedererkennt, der durch seine Anerkennung dazu beiträgt, dieser Wirkung eine Grundlage zu geben.“ (Bourdieu 1990, S. 83) Die meisten führenden Politiker – der deutsche Bundeskanzler Schröder ist hier ein gutes Beispiel – unterwerfen sich der ökonomischen Dominanz im politisch-sozialen Feld, indem sie sich die Prinzipien neoliberaler ökonomischer Vorstellungen zu Eigen machen, sie offensichtlich bereits im Habitus (Bourdieu) inkorporiert haben und als Akteure kollektive soziale Strukturen[xi] des öffentlichen Raums nach Normen verändern, die vom ökonomischen Feld gesetzt sind. Die gegenwärtig forcierten Veränderungen bleiben irreversibel und sind nicht einfach bei einem (möglichen?) Regierungswechsel rückgängig zu machen. (Wie es sich mit den Unterschieden zwischen einer Regierung Kohl und einer Regierung Schröder verhält, wäre noch auszumachen.) 

Ein noch nicht allzu weit zurückliegendes Beispiel, wie staatliche Politik, und zwar in der ganzen EU, den Interessen der Ökonomie, insbesondere der Finanzmärkte untergeordnet wurde, ist der von Bourdieu als „System Tietmeyer“ (damals Präsident der Bundesbank) gegeißelte, von der Regierung Kohl lancierte sogenannte europäische „Stabilitätspakt“[xii]. Alle Staaten der europäischen Mitgliedsländer müssen ihre Haushaltspolitik nach der Maßgabe gestalten, Inflation zu vermeiden, und das mit dem Ergebnis, dass staatliche Anti-Inflationspolitik längst zum Selbstzweck gerät, zu einer unhinterfragbaren Maxime öffentlicher Hauhaltspolitik[xiii]. 

In der Argumentation zum öffentlichen Sparen, dessen Notwendigkeit unhinterfragt bleibt, wird eine Analogie zum Symbol altmodischer Tugenden hergestellt: Welche einfache Familie möchte nicht sparsam mit den ihr zur Verfügung stehenden begrenzten monetären Ressourcen umgehen? 

Wenn staatliche Ausgaben für öffentliche Einrichtungen ohne Kredite bzw. Subventionen (und ohne alte „Schulden“) bewerkstelligt werden sollen, aber die Kosten für Rüstung (einschließlich der notwendigen Korruption), Polizeiapparat und Gefängnisse nicht angetastet werden dürfen, sondern im Gegenteil aufgestockt und ausgebaut werden, und wenn progressive Besteuerung nach wie vor ein Tabu bleibt, so trifft das in erster Linie die Ausgaben für Sozial- und Dienstleistungen, Bildung und Ausbildung, die zu kürzen sind. Der Staat kappt seine “linke Hand“ und kräftigt seine „rechte“ (Bourdieu). 

Diskussionen über Sparpolitik, die in allen Bereichen des öffentlichen Raums – von Krankenhäusern bis Hochschulen und Kultur – geführt werden, verlaufen nach einem überall gleichen formalen Muster und zeigen, wie sehr vermeintliche ökonomische Rentabilität – de facto abgeleitet vom Value der Shareholder – inzwischen bereits zur zwingenden Norm in (nahezu) allen nicht ökonomischen Feldern geworden ist. Staatliche Institutionen schicken sich an, öffentliche Dienstleistungen an Prinzipien privater Wirtschaftsunternehmen auszurichten oder sie zu privatisieren und zu kommodifizieren.[xiv] 

Mit symbolischer Gewalt wird eine „pensée unique“ (Bourdieu), ein Einheitsdenken orientiert an wirtschaftlicher Rentabilität durchgesetzt. Dem Alltagsverstand erscheint Sparsamkeit plausibel, allemal bei öffentlichen Ausgaben, die für „andere“ verwaltet werden. Insofern drängt sich als Alternative nur der Gegensatz Verschwendung auf und nicht z.B. Nachhaltigkeit oder notwendige öffentliche Fürsorge. Alltagsverstand orientiert sich immer am Gegenwärtigen und kann sich weder verheerende zukünftige Folgen eines bereits jetzt sträflich vernachlässigten Bildungswesens ausmalen, noch will er wahrhaben, dass z.B. Investitionen in Bildung und Ausbildung „nachhaltig“ sind, weil künftige Generationen davon profitieren (vgl. Krätke, 1999) können und müssen. 

Wir beobachten die Paradoxie, dass die „Ökonomisierung der Öffentlichkeit“, der Abbau des Sozialstaates oder mit Bourdieu die „Zerstörung kollektiver Strukturen“ breite Akzeptanz findet, auch bei Ausgegrenzten. Dies ist m.E. ein Indiz gelungener Umdeutung der Symbolik. Der Maßstab ökonomischer Rentabilität um jeden Preis auch dort, wo andere Maßstäbe sich Geltung zu verschaffen hätten, reicht bis an die Grenze der eigenen Existenz. Wachstum ohne Krise und weltweit ohne Einschränkungen wird zum Nonplusultra sozialer Prosperität – die Symbolsysteme der neoliberalen Ökonomie, der Neuen Ökonomie zeitigen ihre Wirkung. Von Erfolgreichen bis hin zu Ausgeschlossenen sehen mehr oder weniger alle Gruppen der Gesellschaft in der (anarchischen) ökonomischen Entwicklung den einzigen Hoffnungsträger, und nicht etwa in deren politischer, am „Interesse des Gemeinwohls“ [xv] orientierter „Lenkung“. Mit symbolischer Gewalt zwingt sich der „Anspruch auf Allgemeingültigkeit“ des „für absolut gehaltenen Gesetzes der Logik“ (Bourdieu 2001a: 147) der Neuen Ökonomie auf. Im ökonomischen Feld produziert, inkorporiert im Habitus nicht nur der Führungseliten, sondern breiter Bevölkerungsschichten, verändert dieses Gesetz durch das Handeln der Akteure selbst – von führenden Politikern bis hin zu resignierenden Ausgegrenzten – öffentliche kollektive Strukturen (Bourdieu) in ganz unterschiedlichen sozialen Räumen. So wie die Akteure sich dem Gesetz der ökonomischen Logik unterwerfen, produzieren und reproduzieren sie gleichzeitig die Strukturen im politischen Feld. Ein weitreichender Effekt geht von der Kommodifikation14 öffentlicher Güter aus: Nur wer Geld hat, wird sich Dienstleistungen aller Art kaufen können. 

Wie die konstitutive Rolle der Medien in diesem Prozess symbolischer Umdeutung zu bewerten ist, wäre gesondert zu untersuchen – allein die Frage, wie und wie oft welche Wirtschaftsrepräsentanten und führenden Politiker über das mediale Forum als Autoritäten in den Mittelpunkt der Öffentlichkeit gerückt werden, dürfte aufschlussreich sein. 

Die Maximen ökonomischer Rentabilität haben sich inzwischen in der „Welt des gemeinen Menschenverstandes“, des Alltagsverstandes eingenistet; dieser existiert feldübergreifend. „Es ist dies (der gemeine Menschenverstand) der einzige wirklich gemeinsame Ort, an dem diejenigen, die auf ihn beschränkt sind, weil sie keinen Zugang zum Erwerb scholastischer Dispositionen und zu wissenschaftlichen Errungenschaften hatten, und diejenigen, die an diesem oder jenem scholastischem Universum teilhaben (...) ausnahmsweise zusammenkommen und, wie man so sagt, eine gemeinsame Ebene finden können.“ (Bourdieu 2001a: 123) Eine mögliche Erklärung für die weitläufige Dominanz des Ökonomischen könnte darin gesehen werden, dass die Symbolik der Neuen Ökonomie an diesem Ort des „gemeinen Menschenverstandes“ Akzeptanz erlangt und – wenn auch je nach Bildungsgrad in durchaus unterschiedlicher Weise – in die allen gemeinsame Weltsicht integriert wird. „Der gemeine Menschenverstand ist ein Fonds von allen geteilter Überzeugungen, der in den Grenzen des jeweiligen sozialen Universums eine grundlegende Übereinstimmung über den Sinn der Welt und einen Bestand von (stillschweigend akzeptierten) Gemeinplätzen sichert“ (Bourdieu 2001a: 123/124). 

So weit es den sozialen Bewegungen gelingt, der symbolischen Macht der Neuen Ökonomie eine andere entgegenzusetzen, d.h. deren Symbolik umzudeuten und damit die Wahrnehmungsschemata der Menschen zu ändern, könnte der Ort des gemeinen Menschenverstandes zum Kampffeld politischer Auseinandersetzungen werden. Den Effekten herrschender Symbolik ihre Wirkung zu rauben, hieße, soziale Wirklichkeit nicht als naturgegeben zu verkennen, sondern als sozial konstruiert und veränderbar zu erkennen. 

Kontaktmöglichkeit mit der Autorin: johanna.klages/ at /t-online.de

Literatur

Bourdieu, Pierre (1990): Was heißt Sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches

      Wien

Bourdieu, Pierre (1998): Der Einzige und sein Eigenheim. Hamburg

Bourdieu, Pierre (2001a): Meditation. Zur Kritik der scholastischen Vernunft. Frankfurt/M.

Bourdieu, Pierre (2001b): Das politische Feld. Zur Kritik der politischen Vernunft. Konstanz

Bourdieu, Pierre/Loïc Wacquant (2001) : Neoliberal Newspeak : Notes on the New Planetary

      Vulgate. In: Radical Philosophy, 108 January

Einemann, Edgar (Hg.) (2001), Silicon Valley. Materialien, Hinweise, Eindrücke. CD-ROM

Habermann, Gerd (2002): Ökonomie des Neides im Wohlfahrtsstaat. Zermürbende Wirkung

      auf die unternehmerische Elite. In: NZZ vom 2./3. März

Hayek, F.A., von (1969) Freiburger Studien. Gesammelte Aufsätze, Tübingen.

Krätke, Michael (1999), Neoklassik als Weltreligion? In: Kritische Interventionen 3.


[i] redaktionelle Anmerkung: Sprachverwendung in einer bestimmten Situation.

[ii] Überzogene Erwartungen auf den Aktienmärkten, d.h. Forderungen nach massiven Gewinnsteigerungen – eine der möglichen Ursachen für den Korruptionsskandal bei Enron. Vgl. NZZ vom 9./10.2.02

[iii] Die Genese der Informationstechnologie im Silicon Valley zeigt den Ausnahmefall eindrucksvoll: Es waren sowohl die historischen Bedingungen besondere als auch eine Konzentration wissenschaftlich-technischer Qualifikationen außergewöhnlich, und schließlich fanden sich auch Kapitalgeber, letztlich bis ins Pentagon. Vgl. Einemann, Edgar, 2001

[iv] Von Mitgliedern der Chicagoer Schule und insbesondere Milton Friedman (Capitalism and Freedom, 1962) wird Markt mit Freiheit gleichgesetzt, womit „die ökonomische Freiheit zur Bedingung der politischen Freiheit erhoben“ wird. (Bourdieu 1998: 168)

[v] Ein Politiker nach dem anderen, Schröder, Bush etc. bereisen Länder mit zukunftsträchtigen Absatzmärkten, immer begleitet von einem Tross gewichtiger Wirtschaftsfunktionäre.

[vi] Ich betrachte den Staat nicht nur als Teilsystem kapitalistischer Herrschaft. Für diesen Zweck sind zahlreiche Instrumente wie Steuergesetzgebung, Justiz, Polizei und Militär etc. entwickelt worden. Wichtige Teilbereiche resultieren aber auch aus demokratischen Auseinandersetzungen und politischen Kämpfen wie z.B. die Bildungs- und Ausbildungssysteme, die nicht nur der Produktion und Reproduktion von Arbeitskräften dienen. Ähnlich zu betrachten wären Gesundheitswesen, Arbeitsmärkte etc. Wenn die so genannte staatliche Infrastruktur ausschließlich kapitalistischen Interessen untergeordnet wäre, hätten wir keine Veranlassung zu beklagen, dass gegenwärtig auch deren Subsumtion unter privates Kapital massiv vorangetrieben wird. Siehe z.B. die Politik der „rot-grünen“ Regierungskoalition in der Bundesrepublik, was Arbeitsmarkt“reform“, Renten“reform“ und „Reform“ des Gesundheitswesens anbetrifft.

[vii] Unter der Überschrift „Frankreich nach Jahren des Paternalismus“ schreibt die NZZ vom 16./17.2.02 in ihrem Wirtschaftsteil: „Frankreich präsentiert sich nach zwei mehrheitlich sozialistisch geprägten Jahrzehnten als zentralistischer und bürokratischer Wohlfahrtsstaat, in dem eine Oberschicht in paternalistischer Manier für das zwangsläufig unscharfe ‚Gemeinwohl’ der Bürger sorgt. Verwurzelt ist die fehlende Eigenverantwortung in der französischen Mentalität.“

[viii] In New Labour’s New Deal-Programm heißt es denn auch: „Der moderne Wohlfahrtsstaat ist keine Hilfsorganisation (...) vielmehr müssen wir die Fähigkeiten der Menschen stärken, zu lernen und Geld zu verdienen, damit sie selbst für ihr Auskommen sorgen und Ersparnisse anlegen können.“ (Hewitt 1999: 172/171)

[ix] Nicht nur in den USA werden Millionäre Präsidenten, inzwischen Berlusconi auch in Italien. (Vermutlich wird ihnen Wirtschaftskompetenz attestiert.)

[x] vgl. in der „Frankfurter Rundschau“ vom 15. November 2002 folgende Verlautbarung der EZB: „Neue Arbeitsplätze entstehen, wenn die Wirtschaft brummt ... dass zuletzt geringere Wachstumsraten als früher ausreichten ... „könnte“ nach Meinung der EZB mit Arbeitsmarktreformen zu tun haben. Doch sie gehen den Notenbankern nicht weit genug. ... Besonders wichtig sei es, die „Anreizkompatibilität“ der Steuer- und Sozialleistungssysteme zu erhöhen ... staatliche Hilfen einzuschränken, um damit den Abstand zu den Arbeitseinkommen zu vergrößern.“

[xi] Sie sind vielfach historisches Resultat zäher politischer Kämpfe demokratischer Bewegungen.

[xii] Wie eine Ironie der Geschichte nimmt sich gegenwärtig die „Rüge“ der Europäischen Union an die deutsche Bundesregierung aus; sie, deren Bundesbankpräsident auf Anraten der Deutschen Bank als Marge für den Beitritt zur Währungsunion für alle ambitionierten europäischen Staaten ein Defizitobergrenze von 3% des jeweiligen BSP erzwungen hatte, bildet z.Zt. das Schlusslicht in puncto Haushaltsdefizit verglichen mit den anderen europäischen Staaten. Nicht dass sie ungenügend „gespart“ hätte, allein es ist ihr unverhofft die DDR in den Schoß gefallen. (Vgl. „Frankfurter Rundschau“ vom 13. Februar 2002). In Wahrheit ging es beim deutschen Vorschlag des so genannten Stabilitätspaktes um die deutsche Hegemonie in der EU.

[xiii] Die Flutkatastrophe im Jahr 2002 hat diese rigorosen Stabilitätsvorschriften erst recht ad absurdum geführt.

[xiv] redaktionelle Anmerkung: in Warenform bringen, als Ware setzen

[xv] Zur schnelleren Verständigung sei hier der „altmodische“ (reformistische) Begriff Gemeinwohl erlaubt.

 

 

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