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Marcus
Gassner -Emanzipation als Maßstab für jegliche Organisation
Zu
Beginn eines Aufsatzes über das Spannungsfeld Elite/Emanzipation stellt sich
die Frage, wieso man auf bürgerliche Autoren wie G. Mosca und V. Pareto zurückgreift.
Während dies bei R. Michels noch einigermaßen nachvollziehbar ist – er
untersuchte die deutsche Sozialdemokratie unter dem Gesichtspunkt der Verbürokratisierung
– liegt dies bei den „Italienern“ nicht unbedingt auf der Hand.
Mir ging es in den Überlegungen zu Elite/Organisation darum,
aufzuzeigen, was auf bürgerlicher Seite an Arbeiten geleistet wurde. Natürlich
könnte man hier einwenden, dass es den Autoren um die Delegitimation von
Widerstand ging. Dem soll auch nichts entgegengestellt werden. – Allein der
Antrieb sagt noch nichts über den Inhalt aus. Will man nach den
fehlgeschlagenen Projekten die Frage der Organisation wieder neu diskutieren
erscheint es zumindest mir als unumgänglich, auch diese Überlegungen mit
einzubeziehen. Gegen
Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte G. Mosca im italienischen Turin seine
elitetheoretischen Überlegungen. Ähnlich verhielt es sich mit den Überlegungen
Vilfredo Paretos, der ebenfalls in seinen Arbeiten zur Position kam, dass
jegliche Gesellschaft immer in zwei Klassen geteilt ist, eine die herrscht und
eine die beherrscht wird. Bekanntlich ging es den Theoretikern des italienischen
Faschismus hier nicht um eine emanzipatorisch – kritische Aufarbeitung,
sondern viel mehr darum, wie man den italienischen Staat vor dem aufstrebenden
Proletariat „retten“ könne. Die Grundüberlegung hierbei war, dass die
vermodernde Elite (gemeint sind hier die liberalen PolitikerInnen) dem Ansturm
der ArbeiterInnenschaft keinen adäquaten Widerstand entgegensetzen würde. „Pareto
vertrat – konsequenter als Max Weber – die Auffassung, dass die Krise der
liberalen Bourgeoisie und ihrer politischen Kultur nicht mehr durch diese selbst
– gleichsam aus eigener Kraft – zu überwinden sei. Eine neue Elite müsse
durch Gewalt eine neue Machtordnung – jenseits der Verfassungsordnung der
liberalen Demokratie – etablieren, um in letzter Instanz die
(individualistische) Wirtschaftsordnung des Privateigentums vor jedweder Form
eines etatistischen oder sozialistischen Kollektivismus zu schützen.“[i] Als Soziologe war Pareto von der aufstrebenden ArbeiterInnenelite fasziniert und angewidert zugleich. Fasziniert, weil dies die aufstrebende Elite der Zeit war.[ii] Angewidert ist er vom politischen Inhalt, den diese aufstrebende Elite vertritt. „Die
Eliten sind nicht von Dauer. Welches auch immer die Gründe dafür sein mögen,
sie verschwinden unbestreitbar nach einer gewissen Zeit. Die Geschichte ist ein
Friedhof von Eliten.“[iii] Pareto
entwickelt hier ein Konzept von Klassenkämpfen, das geprägt ist von einer
unendlichen Zahl von unterschiedlichen Interessensgruppen, die sich um die Macht
streiten. Dieser Klassenkampf wird von der herrschenden Klasse natürlich
geleugnet, da es ja im Interesse dieser liegt, dies zu verschleiern. Eine
wesentliche Überlegung ist hier, dass es mehrere Eliten gibt. Es gibt
einerseits die „ausgewählte Klasse“ und die „nicht ausgewählte
Klasse“. Ähnlich wie bei Mosca findet auch bei Pareto eine Erneuerung der
herrschenden Klasse statt, indem die dekadenten Mitglieder ausgesondert werden.
Würde dies nicht geschehen, hätte die Gesellschaft ein zentrales Problem. Eine
Anhäufung überlegener Elemente in den Unterklassen und umgekehrt dekadenter
Elemente in den Oberklassen bildet, seiner Meinung nach, eine machtvolle Ursache
zur Störung des gesellschaftlichen Gleichgewichts. Laut
Pareto müssen die überlegenen Elemente nicht aus den Unterklassen kommen.
Vielfach ist genau das Gegenteil der Fall, dass sich Individuen aus bestehenden
Eliten den „Unterklassen“ anschlossen, oder diese für ihre Ziele benutzten.
Pareto führte hier die RepräsentantInnen der Partido Socialista Italiano an.
Er schloss aus der damaligen Realität, dass sich eine Gruppe der
„Oberklasse“ den SozialistInnen anschloss und unter der Führung bourgeoiser
RenegatInnen wiederum zur Oberklasse drängte. „Die
heroischen Zeiten des Sozialismus sind vorüber: Die Rebellen von gestern sind
zu Zufriedenen von heute (…) Wie es eine alte Weisheit ist, dass der Teufel,
wenn er alt wird, sich in die Eremitage zurückzieht, so werden sie ( die
einstigen revolutionären Sozialisten) zu guten Verteidigern der bürgerlichen Züchtigkeit.“[iv] Mit
dieser Einschätzung lag Pareto nicht sehr weit von der Wirklichkeit weg, wie
sich in den darauf folgenden Jahrzehnten zeigen sollte. Sowohl
Pareto als auch Mosca unternahmen eine scharfe Trennung zwischen dem
Liberalismus und der Demokratie. Die Ablehnung des Parlamentarismus beruhte hier
auf der Grundlage, dass die hegemoniale Fähigkeit des Bürgertums in Permanenz
abnahm, während die Arbeiterschaft mit ihren Organisationen aufstieg. Besonders
der Parlamentarismus wurde von Pareto belächelt und von Mosca als anonyme
Tyrannei der WahlsiegerInnen verworfen. Die
Diskussion über den Parlamentarismus, die hier geführt wurde, ist nicht eine
primär legitimatorische, d.h. es wurde nicht um die Legitimation von Herrschaft
diskutiert, ob sie nun göttlich abgeleitet oder mittels Repräsentation
hergestellt wird. Vielmehr ging es um die konkrete „Machtfrage“, um es mit
Lenin zu denken. „Ausgehend
von einer auf Machttrieb zielenden Elitetheorie, wonach die kombinatorischen und
persistenten elitären Schichten das allgemeine Aggressivitätsreservoir
bestimmen, wurde ein auf die auslösenden Faktoren revolutionärer Umbrüche
gerichtetes Zirkulationsmodell entwickelt, wobei man die auf eine neue
politisch-soziale Ordnung zielende Gewaltanwendung unterstrich, wenngleich sich
circulation des elites auch evolutionär zu vollziehen vermochte, in der Art
pseudolegaler Revolution, einer inneren Aushöhlung des Staates im Wege der
doppelten Legalität.[v] Ausgehend
von der Hauptthese Moscas und Paretos, dass die Mehrheit immer von einer
Minderheit beherrscht werde, versucht Robert Michels mittels Untersuchung genau
jener Organisation, die ihren wesentlichen Lebenszweck in der Bekämpfung
herrschender Verhältnisse sah, zu beweisen, dass es ein „ehernes Gesetz der
Oligarchie“ gibt. Robert
Michels
Die
Analyse Michels beruht hier auf zwei zentralen Hypothesen, deren Einschränkungen
überhaupt erst die Möglichkeit für weitergehende Untersuchungen des von ihm
angeschnittenen Problems eröffnen.[vi]
Die
Frage des Aktionspotentials wurde bei Michels auf die konstante fachliche
Inkompetenz reduziert. Bezüglich dieser ersten Hypothese gibt es den Einwand,
dass sie unhistorisch sei, den Entwicklungsstand und die Herrschaftsverhältnisse
außer Acht lasse. In der zweiten Hypothese geht Michels von einem
technologischen Determinismus aus. In der Kürze zusammengefasst heißt dies,
dass die innerorganisatorische Oligarchie als Funktion der Bürokratie
wahrgenommen wird, die wiederum in einem Wechselverhältnis zur Größe und
Komplexität stehe. Gegen diese These wurde eingewandt, dass dies in dieser Form
weder empirisch nachweisbar noch theoretisch zwingend sei. -Dem kann man nur
zustimmen. Können
nun die beiden genannten Hypothesen zurückgewiesen werden, dann kann auch die
zentrale These Michels, das eherne Gesetz der Oligarchie, nicht mehr
aufrechterhalten werden. Eine Neuformulierung, die von einer mehr oder weniger
starken Tendenz zur Oligarchisierung spricht, wäre so unumgänglich. Soviel
nur als Vorbemerkung zu einem Problembereich, den Michels als „abgeschlossen
und nicht weiter diskutierbaren Tatbestand ansah“.[vii] Das
Grundproblem von Demokratie und Masse stellt sich bei Michels wie folgt dar: „Zumal
in den großen Industriezentren, in denen die Arbeiterpartei bisweilen an die
Hunderttausende von Mitgliedern zählt, ist es nicht mehr möglich, die Geschäfte
dieses Riesenkörpers ohne ein System der Vertretung zu besorgen. Das
sozialdemokratische Großberlin (…) zählt über 90.000 organisierte
Mitglieder. Es liegt auf der Hand, dass es ein Ding der Unmöglichkeit ist, eine
derartig riesenhafte, einer Einheitsorganisation angehörige Menschenmasse als
Basis direkter Beschlussfassung praktisch anzuwenden.“[viii] Michels
versuchte die oligarchischen Tendenzen innerhalb der sozialistischen Parteien
aufzuzeigen, insofern er in diesen Organisationen das tauglichste
Beobachtungsfeld sah. Der Grund für diese Wahl liegt im Umstand, dass diese
Parteien entgegen konservativen und liberalen „ihre Entstehung und ihre
Willensrichtung nach die Negation dieser [oligarchischen] Tendenzen
darstellen“.[ix] In
seiner Untersuchung der deutschen Sozialdemokratie erarbeitete Michels die
Hypothese des technologischen Determinismus aus. Zu diesem gesellen sich aber
auch noch verstärkend psychologische Ursachen für die Oligarchisierung. Hier
benennt er die hinsichtlich August Bebels entgegengebrachte Verehrung, die er
als „genuinen Gehorsamswillen“ der ArbeiterInnenschaft qualifizierte. „Die
Massen stehen zu ihrem Führer häufig in dem Verhältnis jenes Bildhauers im
griechischen Altertum, welcher nachdem er einen Jupiter Donnergott modelliert
hatte, vor seinem Machwerk auf die Knie fiel, um es anzubeten.“[x]
„In
der Kunst der Versammlungsleitung, der Anwendung und Auslegung der Geschäftsordnung,
der Einbringung von opportunen Resolutionen, in den Kniffen, wichtige strittige
Punkte aus der Diskussion auszuschalten oder auch eine ihnen gegnerisch gesinnte
Majorität zu einer ihnen günstig lautenden Abstimmung zu veranlassen (…),
sind sie Meister.“[xi] Kurz,
es sind nicht nur die Massen, die ihren Autoritätsglauben ausleben, sondern
ebenso die FührerInnen, die Gehorsam verlangen. Eine Erklärung für die
Entstehung von Oligarchien sieht Michels einerseits in einer Umgestaltung des
Seelenlebens, welche einzelne Persönlichkeiten dieser Bewegung im Lauf der
Entwicklung durchleben, andererseits aber auch in der Psychologie der
Organisation selbst, diese Notwendigkeit taktischer und mechanischer Natur, die
aus dem Wachstum einer Organisation erwachsen. Schließlich kommt er zum
Schluss, dass die Massen unter Aufbietung all ihrer Kräfte, ihre Herren
wechseln – „ein bescheidener Erfolg.“ [xii]
Hier sieht man schon, dass auch bei Michels Theorie nicht die Mehrheit eine Minderheitenherrschaft abstreift, sondern sich nur die Eliten ändern. „Selbst
wenn es der Unzufriedenheit der Massen einmal gelingen sollte, die herrschende
Klasse ihrer Macht zu berauben“,[xiii]
„Sie
entwickelt eine gewaltige Anziehungskraft und Fähigkeit der Absorption, die
auch ihren erbittertsten und konsequentesten Gegnern gegenüber auf die Dauer
nur selten versagt.“[xiv]
„Wie
ist die Idealdemokratie zu errichten, sondern vielmehr so: welcher Grad und
welches Maß von Demokratie ist a) an sich möglich, b) im Augenblick durchführbar
und c) wünschenswert?“[xv]
Wenn
man diesen Gedanken auf die ArbeiterInnenbewegung weiterdenkt, so ergibt sich,
dass die Eigendynamik der Bürokratie (Eliten) sie in zunehmendem Maße
Organisation und Klasse, in verschärfter Form sogar Apparat und Klasse
gleichsetzen ließ. Darin mußte sich naturgemäß der Widerspruch zwischen den
Interessen des Apparates und der spontanen Massenbewegung niederschlagen. –
Jeder größere unkontrollierte Streik stellte die Bürokratie vor ein doppeltes
Problem. Zum einen nützt jede Demonstration der Stärke der ArbeiterInnenklasse,
ihre eigene Position gegenüber dem Gegner als starken Verhandlungspartner zu
zeigen. Gleichzeitig beinhaltet eine spontane Eruption, dass die
„Forderungen“ der Bürokratie von den Massen „überholt“ werden können,
dass die Eliten der Arbeiterbewegung nicht mehr als Verhandlungspartner
akzeptiert werden, weil sie die Bewegung nicht kontrollieren. Ernest
Mandel nannte noch ein weiteres Phänomen, das zum tragen komme, die
„Dialektik der partiellen Errungenschaften“. Diese geht davon aus, dass
alles Errungene auch verteidigt werden muss und die Offensive eine Gefahr des
Totalverlustes in sich birgt.[xvii]
Ein
weiterer Faktor der oligarchische Tendenzen produziert, ist die Statusdiskrepanz
von Führung und Basis. Erstere entwickeln ein starkes Interesse, ihre
Positionen zu erhalten, um einen sozialen Abstieg zu verhindern. Die
organisationspolitische Apathie (Inkompetenz der einfachen Mitglieder) stellt
schließlich einen weiteren Faktor dar. Im Gegensatz zum hauptamtlichen
Funktionsträger hat das einfache Mitglied eine Vielzahl von sozialen
Verpflichtungen, die es in der Freizeit wahrnimmt. Die politische Aktivität ist
also immer nur ein Bereich der Betätigung. Für den Berufspolitiker jedoch
steht die meiste Zeit des Tages zur Betätigung zur Verfügung. Der
Leninismus Vladimir
Iljitsch Lenin erarbeitete in „Was tun?“[xviii]
einige zentrale Thesen, die den Marxismus nicht unwesentlich beeinflussten. Am
wichtigsten erscheint mir die Frage des Bewusstseins. „Das
politische Bewusstsein kann dem Arbeiter nur von außen gebracht werden, das heißt
aus einem Bereich außerhalb des ökonomischen Kampfes, außerhalb der Sphäre
der Beziehungen zwischen Arbeitern und Unternehmern.“[xix] Mit
dieser Überlegung griff Lenin die marxsche Problematik „von der Klasse an
sich zur Klasse für sich auf“. Unter der Bedingungen der Illegalität
erarbeitete er in der Folge ein Organisationsmodell aus, das diesem Anspruch
gerecht werden sollte. Die „Partei neuen Typs“, sollte mit BerufsrevolutionärInnenen
ausgestattet, das kleine russische Proletariat organisieren und anführen. Interessant
ist hier, dass man weder bei Lenin noch seinen Anhängern eine
Auseinandersetzung mit der Problematik von Parteieliten findet. Während bei
Marx noch in den Feuerbach Aphorismen nachzulesen war, dass die Menschen
Produkte der Umstände und der Erziehung sind, veränderte Menschen also
Produkte anderer Umstände sind, findet bei dieser „revolutionären
Organisation“ keine Selbstreflexion mehr statt. Lukacs schreibt hierzu: „Die
Menschen machen ihre Partei selbst,…“[xx] Dies verkennt, dass es
auch in einer Partei ein Oben und ein Unten gibt. Die Selektionsmechanismen sind
vielfältig und oft auf den ersten Blick nicht erkennbar. Es findet nicht eine
Auswahl der Klügsten und Besten statt, sondern vielmehr werden die Unerwünschten
abgedrängt. 1904
schrieb Trotzki in Bezug auf Lenins „Was tun?“, dass eine Theorie, die
darauf abzielt, die Ausführung der wichtigsten Aufgaben der Revolution vom
Proletariat auf die Partei zu übertragen, darauf hinausläuft, dass die Partei
durch das Zentralkomitee, das Zentralkomitee durch das Polbüro und das Polbüro
durch den Generalsekretär ersetzt wird. Dies wäre schließlich die Ersetzung
des revolutionären Subjekts durch eine einzige Person. – Dies ist der
Leninismus in der Organisationsfrage, auch wenn Trotzki diese Einsicht später
wieder verwarf. Man
kann nicht bestreiten, dass die Oktoberrevolution in einem rückständigen Land
stattfand, in welchem BäuerInnen die Bevölkerungsmehrheit ausmachten. Es ist
auch unbestreitbar, dass sie ohne internationalen Rückhalt blieb, und dass in
der jungen Sowjetunion der Bürgerkrieg wütete. Diese Faktoren erklären aber
nicht das spezifische Scheitern der Russischen Revolution. Genauso wie nach der
Pariser Kommune, der deutschen Revolution oder der Bayrische Räterepublik hätte
es zu einer Restauration des Kapitalismus kommen können. Es
interessiert uns hier also das spezifische Scheitern der Russischen Revolution
und hier im speziellen die Funktion der bolschewistischen Partei. – Dies, weil
die Tragweite der Niederlage unendlich größer ist als Francos Sieg in Spanien
oder Pinochets Sieg in Chile. Trotzkis
Geschichte der Russischen Revolution stellt eine hervorragende Lektüre dar, da
sie die ganzen Widersprüchlichkeiten aufzeigt. Auch wenn dies nicht die
Intention des Autors war, so veranschaulicht sie uns doch das Ausmaß des
Scheiterns der Partei neuen Typs. „Die
Menschen machen eine Revolution wie auch einen Krieg nicht gern. Der Unterschied
jedoch ist, dass im Krieg die entscheidende Rolle der Zwang spielt; in der
Revolution gibt es keinen Zwang, sieht man vom Zwang der Verhältnisse ab. Eine
Revolution geschieht dann, wenn kein anderer Weg übrig bleibt. Der Aufstand der
sich über die Revolution erhebt wie ein Gipfel in der Bergkette, kann
ebenso wenig willkürlich hervorgerufen werden wie die Revolution in ihrer
Gesamtheit. Die Massen vollziehen wiederholte Angriffe und Rückzüge, ehe sie
sich zum entscheidenden Sturm entschließen.“[xxi]
Trotzki
zitiert Mstislawski, den Führer des linken Flügels der Sozialrevolutionäre,
der später zu den Bolschewiki überging: „Die Revolution hat uns, damalige
Parteileute, wie die törichten Jungfrauen des Evangeliums schlafend überrascht.“
Die Sowjets blieben hinter den Betriebskomitees zurück, die Betriebskomitees
hinter den Massen und hinter all diesem fand man dann die Partei. Allein
dieser Umstand würde schon genügen, den Mythos von den Bolschewiki als
revolutionäre Avantgarde der Arbeiterklasse zu zerstören. – Doch schauen wir
uns die Sache genau an. In den Julitagen des Jahres 1917 hatte die Dynamik der Massen einen neuen Höhepunkt erreicht. Fünf Monate nach Beginn der Februarevolution und drei Monate vor der Oktoberrevolution führten die Massen sich selbst. Der Partei blieb im Juli nichts anderes übrig, als den Massen zu folgen. Trotzki selbst schrieb über die Ereignisse des 3./4. Juli: „Die
Diskussionen drehten sich nicht um die Frage, ob man zur Machtergreifung
aufrufen solle oder nicht, wie später die Gegner behaupteten, sondern darum, ob
man versuchen müsse die Demonstration zu liquidieren, oder aber sich am nächsten
Morgen an ihre Spitze stellen soll.“[xxii]
Von
April bis Oktober führte Lenin einen erbitterten Kampf gegen die regulären
Parteigremien, um den Kontakt mit den Massen nicht vollkommen zu verlieren. Er
arbeitete an allen Parteigremien vorbei und schaltete das Zentralkomitee im
Wesentlichen aus. Die
Partei, dieser zentralistisch und hierarchisch
aufgebaute Apparat, geschaffen um die Bewegung zu dirigieren und zu stärken,
war paralysiert, bestenfalls ein Spiegelbild, oft sogar ein Hindernis auf dem
Weg der Revolution. Lenin
geriet immer mehr in Widerspruch zu den von im selbst entwickelten Richtlinien
des demokratischen Zentralismus. Sein Agieren jenseits der offiziellen
Parteistrukturen kommentierte Trotzki als offenen Aufruf zur Auflehnung gegen
das Zentralkomitee. Jedoch auch Trotzki zeigt hier, dass er unfähig ist, aus
den Beobachtungen die richtigen Schlüsse zu ziehen. Anstatt die These von der
Notwendigkeit der „Partei neuen Typs“ über Bord zu werfen, versucht er, die
Widersprüche zu verschleiern. „Tugan-Baranowski
hat Recht, wenn er sagt, die Februarrevolution hätten die Arbeiter und Bauern
vollbracht, die letzteren in der Person des Soldaten. Es bleibt aber die große
Frage bestehen, wer hat den Umsturz geleitet? Wer hat die Arbeiter auf die Beine
gebracht? Wer die Soldaten auf die
Straße geführt? Nach dem Siege wurden diese Fragen Gegenstand von Parteikämpfen.
Am einfachsten suchte man sie durch eine Universalformel zu lösen: keiner hat
die Revolution geleitet, sie vollzog sich von selbst.“[xxiii]
– Trotzki erfasst das Problem, antwortet auch richtig, kann aber die
Konsequenz dieser Antwort nicht akzeptieren. Georg
Lukacs versucht das beschriebene Problem elegant zu lösen. Im Essay über den
Zusammenhang der Leninschen Gedanken schreibt er: „ Die revolutionäre
Situation selbst kann natürlich nicht ein Produkt der Tätigkeit der Partei
sein Es ist ihre Aufgabe, vorauszusehen, welche Richtung die Entwicklung der
objektiven, ökonomischen Kräfte einnimmt, worin die den so entstehenden Lagen
angemessene Verhaltensweise der Arbeiterschaft besteht.“[xxiv] Das
konkrete Versagen in einer Situation wird hier nach außen verlagert. Es wird
festgestellt, dass die Partei die Situation nicht erzeugen kann. Dies hat ja
aber auch niemand behauptet. Das Versagen in den Julitagen bleibt aber bestehen,
weil die „Avantgarde“ in dieser Zeit auch nicht fähig war, die Richtung der
Entwicklung zu verstehen.
Die
Partei, während den Juli-Ereignissen unfähig zur Revolution, war jedoch fähig
genug, gleich nach Ende der Revolution, andere, nicht weniger eindrucksvolle
Aufgaben, zu übernehmen. Alle kritischen Einwände, die es zu Beginn des
Jahrhunderts in der Diskussion um
die Organisation gab, wurden nun Wirklichkeit. Rosa Luxemburgs Antwort auf
„Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück“ lesen sich geradezu
prophetisch, wenn sie dem Ultrazentralismus von Lenin keinerlei Schöpferischen,
dafür aber einen Nachtwächtergeist konstatiert. „Die
Disziplin, die Lenin meint, wird dem Proletariat keineswegs bloß durch die
Fabrik, sondern durch die Kaserne, auch durch den modernen Bürokratismus, kurz
– durch den Gesamtmechanismus des zentralisierten bürgerlichen Staates
eingeprägt. Doch ist es nichts als eine missbräuchliche Anwendung des
Schlagsworts, wenn man gleichzeitig als Disziplin zwei so entgegengesetzte
Begriffe bezeichnet, wie die Willen- und Gedankenlosigkeit einer vielbeinigen
und vielarmigen Fleischmasse, die
nach dem Taktstock mechanische Bewegungen ausführt, und freiwillige
Koordinierungen von bewussten politischen Handlungen einer gesellschaftlichen
Schicht; wie den Kadavergehorsam einer beherrschenden Klasse und die
organisierte Rebellion einer um die Befreiung ringenden Klasse.“[xxv] Rosa
Luxemburg bringt es hier auf den Punkt. – Emanzipation kann nicht
„diszipliniert“, nach dem Taktstock vollbracht werden, weil sie die
bewusste, kreative Handlung von Individuen in einem Kollektiv darstellt.
Eine
Analyse der Gewerkschaften zeigt, dass nicht etwa deren Führungen versagen,
Fehler gemacht oder etwa Verrat begangen haben, sondern es zeigt sich, dass sie
Teil des Systems der Ausbeutung sind. Sie integrieren aufstrebende Elemente aus
der Klasse in das System. Die existierenden Gruppen, hier im besonderen die
trotzkistischen[xxvi] sehen in den unterdrückten
Elementen nur eine Masse, die geführt werden muss. Diese Einstellung zwischen
Partei und ArbeiterInnen herrscht auch innerhalb der Organisationen, zwischen
dem Führungsapparat und der Basis. Diese
Spaltung zwischen FührerInnen und Geführten ist Norm. Diese Kritik am
Bolschewismus ist also weder psychologischer noch moralischer Natur, sondern
soziologischer Art. Sie richtet sich nicht gegen Personen, sondern gegen ein
Organisationskonzept, das umso auffälliger ist, da sich der bürokratische
Charakter nicht unmittelbar durch die Bedingungen der Ausbeutung bestimmt. Hauptargument
des Leninismus ist es, dass das Subjekt nur zu einem tradeunionistischem
Bewusstsein fähig ist. Um nicht der herrschenden Ideologie zu verfallen, ist es
notwendig, es politisch zu schulen. Politik
ist jedoch nicht lehrbar[xxvii]
sondern muss vielmehr aus der konkreten Lebens- und Verhaltensweise entwickelt
werden. Diese Auffassung führt zu einer völlig neuen Vorstellung von der Tätigkeit
eines Militanten. Es kann nicht mehr darum gehen, als „Volkstribun“ jede
Gelegenheit zu nutzen, die sozialistischen Forderungen zu erläutern. Der /die
politische AktivistIn ist somit nicht mehr „FührerIn“, sondern
emanzipatorisches Element in einem Prozess. Im
Staatssozialismus wurde die Partei nicht durch schlechte organisatorische
Richtlinien pervertiert, sondern die Partei (neuen Typs, mit ihrem Führungsanspruch)
verhindert mit ihrer reinen Existenz eine emanzipatorische Demokratie. Georg
Lukacs beschreibt in Geschichte und Klassenbewusstsein den Grundwiderspruch des
Bolschewismus mehr als deutlich: „Das bewusste Wollen des Reiches der
Freiheit kann also nur das bewusste Tun jener Schritte bedeuten, die diesem tatsächlich
entgegenführen. Und in der Einsicht, dass individuelle Freiheit in der heutigen
bürgerlichen Gesellschaft nur ein korruptes und korrumpierendes, weil auf die
Unfreiheit der anderen unsolidarisch basiertes Privileg sein kann, bedeutet es
gerade: den Verzicht auf individuelle Freiheit. Es bedeutet das bewusste
Sich-unterordnen jenem Gesamtwillen, der die wirkliche Freiheit wirklich ins
Leben zu rufen bestimmt ist…“[xxviii] In
diesen Worten Lukacs erkennt man unschwer einen jüdisch-christlichen
Entsagungs- und Aufopferugsgeist. Emanzipation wird auf ein Endziel reduziert.
Genau so kann aber Emanzipation nicht funktionieren. Eine Bewegung, die auf der
Arbeitsteilung von Kopf- und Handarbeit beruht, wird auch wieder nur eine
Gesellschaft hervorbringen, die auf Arbeitsteilung basiert. Alles andere zu
glauben, würde bestenfalls Dummheit voraussetzen, schlimmstenfalls wäre es
einfach nur reaktionär. – Ein Kampf gegen die kapitalistische Gesellschaft
bedeutet gleichzeitig ein Kampf gegen die Organisationen, gegen die TrägerInnen
der Unterdrückung in der Bewegung selbst. Verzicht auf individuelle Freiheit
bringt niemals ein mehr an Freiheit, auch wenn dies noch so „dialektisch“
erklärt wird. Noch
deutlicher tritt das Bild von Emanzipation bei Lukacs in der Frage Partei und
Parteimitgliedschaft auf. Einzelne Parteimitglieder können sich irren, die
Partei aber nie. Hier stellt Lukacs den Gesamtwillen der Partei dem isolierten
Individuum entgegen, anstatt eine Ungleichzeitigkeit von Klassenbewusstsein
anzunehmen. Folglich fehlt jede Möglichkeit zur kollektiven Meinungsbildung und
die Durchsetzung alternativer Politik wird verunmöglicht. – Dies ist der
Gegensatz zu der Überlegung, wie den das „Reich der Freiheit“
antizipatorisch sowohl in den Kämpfen als auch in den Organisationsformen
vorwegzunehmen sei. Die kritische Ausformung einer politischen Position wird
zugunsten der Unterdrückung konkreter Erfahrungen aufgegeben, und damit auch
die Funktion einer politischen Führung. Nicht die kontinuierliche Anhäufung
und Koordinierung von Erfahrungen und deren Umsetzung bestimmen die Analyse und
Handlungsanleitung, sondern die vorgegebene, abstrakte „Totalität“ in den Köpfen
der Führung. [i] Frank Deppe, Politisches Denken im 20. Jahrhundert, Die Anfänge, VSA Verlag Hamburg 1999, S. 182 [ii] „der Sozialismus stellt heute die neue Elite“ V. Pareto, Les Systemes Socilistes, Oeuvres Completes, Band 5, zitiert nach F. Deppe, S. 193 [iii] V. Pareto, zitiert nach G. Lambertz, S. 35 [iv] V. Pareto, zitiert nach, Wilfried Röhrich, S. 89 [v] Wilfried Röhrich, S.171 [vi] vgl. hierzu auch Frieder Naschold, Organisation und Demokratie, S. 12 ff [vii] ebd., S. 13 [viii] R. Michels, zitiert nach G. Lambertz, S. 41 [ix] R. Michels, zitiert nach Wilfried Röhrich, S.66 [x] R. Michels, ebd., S. 59 [xi] R. Michels, zitiert nach W. Röhrich, S. 60 [xii] R. Michels, ebd., S.102 [xiii] R. Michels, ebd., S. 76 [xiv] R. Michels, ebd., S. 80 [xv] R. Michels, ebd., S. 70 [xvi] Die Überlegungen zur Bürokratie bei Marx verstehen sich als Gedanken zur Staatsbürokratie. Dennoch erscheint es sinnvoll, einige Gedanken auch auf andere Felder der Gesellschaft zu übertragen. [xvii] Diese Überlegungen haben eine besondere Berechtigung, wenn man sich das Agieren der ArbeiterInneneliten in der Auseinandersetzung mit dem Faschismus genauer betrachtet. Aber auch in Sozialpartnerschaftlichen Strukturen weichen die VerhandlerInnen immer wieder zurück, um nicht „Gefahr“ zu laufen, „alles“ auf Spiel zu setzen. [xviii] Und auch in „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück“ (1904) [xix] LW, Bd.5, S. 436 [xx] G.Lukacs, Lenin, Luchterhand, 1969, S. 35 [xxi] Leo Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, Bd. 2.2, S. 831, Fischer 1982 [xxii] ebd., S. 429 [xxiii] Leo Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, Bd. 1, S. 129 [xxiv] Georg Lukacs, Lenin, Luchterhand, 1969 [xxv] R. Luxemburg, Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie [xxvi] Auf die maoistischen, castristischen, hodscheristischen wird nicht eingegangen, da sich diese Gruppen entweder in der Vergangenheit oder in der Gegenwart an staatssozialistischen Konzepten orientieren. Sie sind in der einen oder anderen Form Anhängsel einer Bürokratie und identifizieren gesellschaftliche Emanzipation mit Elitenaustausch. Wohl gibt es auch innerhalb des Trotzkismus Tendenzen, die die Emanzipation auf den Elitentausch reduzieren, der wesentliche Unterschied zwischen den Strömungen liegt jedoch darin, dass letztere das „Glück“ hatten, keinen Staat, kein „Vaterland der Werktätigen“ zu besitzen. [xxvii] Im abstrakten Sinne [xxviii] Georg Lukacs, Geschichte und Klassenbewusstsein, S. 318 |
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