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Martin
Birkner - Der schmale Grat
Anmerkungen
zu Geschichte und möglicher Zukunft zweier methodologischer Stränge der
Marx-Interpretation am Beispiel von Michael Heinrich´s „Die Wissenschaft vom
Wert“. Durch
das Erlahmen marxistischer Theoriebildung in den 80er Jahren ist es in Zeiten
wie diesen notwendig, sich der Geschichte verschiedener (Weiter)Entwicklungen
des Marxismus zu erinnern; einerseits um Fehlentwicklungen nicht zu wiederholen,
andererseits um das Rad nicht ein zweites Mal zu erfinden. A Die zwei Stränge Die
Ausgangshypothese ist, dass seit den 60er-Jahren in der Marx-Rezeption im Großen
und Ganzen zwei einander ausschließende Interpretationsstränge existieren,
welche – unreflektiert aber doch – zentrale Auswirkungen auf heutige
Interpretation und Weiterentwicklung der Marxschen Theorie nach sich ziehen. Der
Grund für meine Auseinandersetzung mit dieser Thematik ist, dass, aufgrund der
nichtreflektierten Unvereinbarkeit der zwei Stränge, die marxistische
Theoriebildung eigentlich vorwärts bringende Diskussionen immer wieder auf
diese „unsichtbare“ Grenze stoßen und somit im Sand verlaufen. Als Beispiel
sei hier die Diskussion zwischen Michael Heinrich und Vertretern der „Krisis“-Gruppe
genannt, auf deren konkreten Inhalt noch genauer eingegangen wird. Anhand
Michael Heinrich´s „Die Wissenschaft vom Wert“ soll ein theoretischer (wenn
auch teilweise impliziter) Strang genauer herausgearbeitet und anschließend auf
zentrale Probleme der Abgrenzung zur „gegnerischen“ Linie untersucht werden.
Diese Bestandteile der „Demarkationslinie“ (Althusser mit Lenin) betreffen
elementare Aspekte marxistischen Methodenverständnisses, wie die Frage nach dem
Theorie/Praxis-Verhältnis, die Rolle des Subjekts in der Geschichte oder die
Frage nach der Trennung von Ideologie und Wissenschaft. Zum
besseren Verständnis der Ausgangshypothese sollen hier die zwei diametral
entgegengesetzten „Idealpositionen“ kurz beschrieben werden: a)
Die theoretische Entwicklung von Karl Marx ist eine stringente, stetig
nach „oben“ weisende Linie im klassisch teleologischen Sinne. Die
Erkenntnisse des „jungen“ Marx werden ständig – auf „höherer“ Ebene
– in die späteren Werke integriert bzw. „aufgehoben“. Dies wäre die
klassisch hegelianische Interpretation, die auch eine anthropologische
Grundkonstante „Wesen“ und die damit verbundene Entfremdungstheorie von den
frühen in die Spätwerke Marxens projiziert. Auf politischer Ebene bedeutet
dies: das Proletariat ist laut marxistisch-wissenschaftlicher Analyse
„revolutionäres Subjekt“ und muss lediglich seine „historische Mission“
erfüllen. Die quasi naturgesetzliche Entwicklung der kapitalistischen Ökonomie
führt mehr oder weniger automatisch zu einer Zuspitzung der gesellschaftlichen
Widersprüche, welche in der sozialistischen Revolution gipfeln. Im Folgenden
wird diese Linie als „klassische“ bezeichnet werden. b)
Die „strukturale“ Linie: Der junge Marx steht gänzlich auf dem Boden
der Feuerbachschen Wesensphilosophie. 1845 – mit Erscheinen der „Deutschen
Ideologie“ – bricht Marx mit der Wesensphilosophie (und spätestens dann
auch „mit Hegel“) und begründet das Feld einer neuen Wissenschaft. In der
„Deutschen Ideologie“ und in den „Feuerbachthesen“ werden dafür die
Grundsteine gelegt, aber erst mit den „wissenschaftlichen“ ökonomischen
Schriften (Grundrisse, Kapital) ist Marx wirklich auf der Höhe des „positiven
Wissens“ angelangt. So hingegen würde in etwa die „strukturalistische“
Sichtweise der theoretischen Entwicklung von Marx aussehen, welche sich außerdem
durch eine konsequente Entfernung jeglicher Subjektivität und durch die
Ablehnung jeglicher Historisierung Marxscher Kategorien auszeichnet. Im
folgenden Text geht es nicht um die Verteidigung der einen oder der anderen
„Linie“. In der überspitzten „reinen“ Form werden die jeweiligen
„Idealpositionen“ ohnedies nur der jeweils „anderen“ Seite
zugeschrieben. Dies zeigt sich auch, wenn Michael Heinrich in „Die
Wissenschaft vom Wert“, welche sich zweifelsohne an der zweiten
Interpretationslinie orientiert, beim Entfernen der „Fallstricke der
Dialektik“[i]
in mancherlei Hinsicht übers Ziel hinausschießt. Der Ausschluss des Subjekts
aus der Theorie führt zu einer Vernaturwissenschaftlichung der Marxschen
Theorie zu Lasten des Postulats der achten Feuerbachthese: „Alles
gesellschaftliche Leben ist wesentlich praktisch. Alle Mysterien, welche
die Theorie zum Mystizism[us] veranlassen, finden ihre rationelle Lösung in der
menschlichen Praxis und in dem Begreifen dieser Praxis“.[ii] Wie
in der Überschrift schon angedeutet, bildet das Buch „Die Wissenschaft vom
Wert“ von Michael Heinrich[iii]
das Zentrum meiner „symptomatischen“ Lektüre. Anhand der darin angewandten
Methode, die Heinrich selbst breit thematisiert, wird versucht werden, die
Problematik eines Theoriestranges herauszuarbeiten, nämlich jenen der
„strukturalen Marx-Interpretation“ ausgehend von den Theorien Louis
Althussers, welche für Heinrich m.E. eine wichtige Rolle spielen. Im Gegensatz
zu dieser „Linie“ (Namedropping: „Epikur-Machiavelli-Spinoza-Marx-Althusser“)
steht jener Strang, den ich vorerst als „dialektischen“ bezeichnen möchte (Namedropping:
„Hobbes-Rousseau-Hegel-Marx-Kritische Theorie“). Die
Anmaßung, so grundverschiedene Denker in eine Interpretationslinie einzuordnen,
ist zweifellos eine prekäre Angelegenheit, wurden mehr oder weniger präzise
jedoch von VertreterInnenn beider Richtungen durchgeführt. So beschreibt
beispielsweise Louis Althusser in seinem – noch unübersetzten – späten
Text „Le courant souterrain du matérialisme de la rencontre[iv]“
(„Der unterirdische Strom des Materialismus der Begegnung“, MB) eine
methodische Kontinuität von Epikur über Machiavelli und Spinoza zu Marx, eben
jenen bislang „unterirdischen“, d.h. verdeckten Strang eines
„aleatorischen Materialismus“ und auf dem Taschenbuchumschlag von „Die
wilde Anomalie“[v]
setzt Antonio Negri „gegen die philosophische Entwicklungslinie
Hobbes-Rousseau-Hegel [...] eine andere – Machiavelli-Spinoza-Marx.“
Andererseits ist die Literatur zur Kontinuität Hegelschen Denkens bei Marx kaum
zu überblicken und eine „aufklärerische“ Linie mit Bezug zu Rousseau in
der traditionellen ArbeiterInnenbewegung offensichtlich, ebenso der zentrale
Stellenwert der „dialektischen Totalität“ in der an Marx anschließenden
Kritischen Theorie. B „Die
Wissenschaft vom Wert“
„Die Wissenschaft vom Wert“[vi] ist in den letzten Jahren im deutschsprachigen Raum zu einem der meist gelesensten Bücher zur Marxschen Theorie geworden. Heinrich versucht, ausgehend von einer methodischen Reflexion und der Darstellung der Geschichte der politischen Ökonomie, die Besonderheit der Marxschen Wissenschaft bzw. deren Methode herauszuarbeiten bzw. diese zu rekonstruieren. Im Zentrum seiner Aufmerksamkeit stehen dabei jene Aspekte, denen Heinrich bei der Revolutionierung der politischen Ökonomie durch Marx besondere Bedeutung zuspricht. Diese Aspekte stellen auch für die vorliegende Untersuchung den zentralen Anknüpfungspunkt dar, während auf eine Analyse/Kritik der eigentlichen Darstellung der „Kritik der politischen Ökonomie“ nur am Rande eingegangen wird. Ob die Methode von Heinrich der „strukturalen Linie“ zuzuordnen ist, inwiefern dieser Aspekt bei Heinrich selbst reflektiert wird und welche Auswirkungen eine solche Herangehensweise in Hinsicht auf zentrale Begriffe wie „Wissenschaftlichkeit“, „Geschichte“, „Subjekt“ oder auch „Praxis“ nach sich zieht, soll im Weiteren zu klären versucht werden.
Anhand einer kritischen Lektüre von „Die Wissenschaft vom Wert“ sollen Aspekte einer „Demarkationslinie“ zwischen den beiden Strängen herausgearbeitet, aber auch Widersprüche und Inkonsistenzen in Heinrichs Arbeit selbst aufgezeigt werden. Folgende Annahmen dienen im Weiteren als Eckpfeiler einer kritischen Lektüre:
C1
Entfremdung und materialistische Dialektik
Trotz
einer Lawine von Publikationen – vor allem in den 70er-Jahren – gibt es bis
dato keine zufriedenstellende Darstellung der Marxschen Logik und Methodik. Die
beiden „Linien“ bleiben mehr oder weniger dogmatisch „ihrer“ Tradition
treu und so bleibt es entweder beim „epistemologischen Einschnitt“ inklusive
„Hegel-Tilgung“ oder bei theoretischen Ausformulierungen der „Umstülpung“
der Hegelschen Dialektik durch Marx. Herangehensweisen, die Positionen abseits
dieser Pole beziehen, sind die Ausnahme und – wie neokantianische und
analytische Zugänge zum Marxschen Werk zeigen – nicht immer hilfreich. Als
Ausnahme seien hier die Studien von Hans-Georg Backhaus und Helmuth Reichelt
genannt, die sich mit der dialektisch-logischen Struktur Marxscher
Begrifflichkeit akribisch auseinandersetzen.[vii] Heinrich
widmet den zweiten Teil seines Buches Fragen nach der Spezifität der
wissenschaftlichen Methode bei Marx. In den Kapiteln „Anthropologie als
Kritik“ und „Der Bruch mit dem theoretischen Feld der politischen Ökonomie“
nimmt er eine Einteilung am Marxschen Werk vor, die von Althusser stammt. Schon
die Kapitelüberschriften verweisen auf den berühmten „epistemologischen
Bruch“ oder „wissenschaftstheoretischen Einschnitt“, welcher sich im Jahre
1845 zugetragen haben soll. An diesem Punkt – mit der „Deutschen
Ideologie“ – bricht Marx radikal mit der Wesensphilosophie und somit
auch mit der Problematisierung von Entfremdung. Die Diagnose eines
solchen Einschnitts ist jedenfalls ein Hauptcharakteristikum der strukturalen
Linie. Heinrich
tut sich mit der Einordnung der Marxschen Schriften in sein Schema manchmal
ziemlich schwer. Wird auf Seite 107 mittels eines Marxzitates – „Versetzen
wir uns nicht wie der Nationalökonom, wenn er erklären will, in einen
erdichteten Urzustand. Ein solcher Urzustand erklärt nichts.“[viii] – dessen (Marxens)
Abgrenzung von der klassischen Nationalökonomie beschrieben, so feiert für
Heinrich der „Marxsche Urzustand“ einige Seiten weiter fröhliche
Urständ´: „Wenn Marx vom Kommunismus als der „Rückkehr“ des Menschen
zu seinem menschlichen Wesen spricht, so ist damit ein ursprünglicher
Zustand impliziert, in welchem der Mensch sein menschliches Wesen noch besaß.“
(116, Hervorhebung im Original) Genau an dieser Stelle zitiert Heinrich
erneut Marx, und in jenem Zitat findet sich auch der explizite Verweis auf Gesellschaftlichkeit,
welche Heinrich uns unterschlagen hat: „[...]die Rückkehr des Menschen aus
Religion, Familie, Staat etc. in sein menschliches, d.h. gesellschaftliches
Dasein“.[ix] Die Marxsche Gleichsetzung
von menschlich und gesellschaftlich untergräbt bereits in den „Ökonomisch-philosophischen
Manuskripten von 1844“ die These vom „Individualismus“ Marxens ebenso
wie den Vorwurf des „Ahistorismus“. Dass Termini wie „Rückkehr“
freilich noch auf die Feuerbachsche Wesensphilosophie abzielen, sei außer
Streit gestellt. Die Gesellschaftlichkeit jedoch, jenes Attribut das
gegen Empirismus und Anthropologie ins Zentrum von Heinrichs Analyse des späten
Marx rückt, muss draußen gehalten werden, um den Althusserschen „Königsweg“
nicht zu durchkreuzen. Aus ebendiesen Gründen zielt eine Argumentation, die das
Phänomen der Entfremdung verwirft, der Kritik des Warenfetischismus
jedoch – als Theorie des „späten“ Marx – Wissenschaftlichkeit
zuspricht, ins Leere. Hier wären neben den Brüchen ebenso die Kontinuitäten
der Marxschen Theorieentwicklung im Auge zu behalten. Auffällig
ist auch, dass Heinrich – bei aller Differenziertheit seiner Argumentation –
„in the long run“ immer wieder in eine Art Schematismus zurückfällt. Er
beschreibt die vier Charakteristika der klassischen politischen Ökonomie: Empirismus,
Anthropologismus, Individualismus und Ahistorismus. Marx bricht nach
und nach mit jedem dieser Felder (Restbestände finden sich jedoch auch noch
beim späten Marx). Der wichtigste Bruch ist natürlich jener von 1845, „[in]
der Deutschen Ideologie [wird] zwar mit dem Anthropologismus und dem
Individualismus aber noch längst nicht mit dem Empirismus gebrochen“.
(146) Abgesehen von der ohnedies prekären Ausgangsbasis – scharfe Trennlinien
zwischen den „-Ismen“ lassen sich nicht ausmachen – gleitet die
Argumentation, wie oben anhand des gesellschaftlichen Individuums gezeigt
wurde, manchmal ins Haltlose ab. Vor allem mit Althusser gegen den Ahistorismus
zu argumentieren, ist einigermaßen paradox, zeichnen sich doch die Frühschriften
Althussers durch eine klare Absage an die Historisierung Marxscher Kategorien
aus. Heinrich
beschreibt zwar die bei Marx selbst unthematisierten kontinuierlichen Veränderungen
der Begrifflichkeit und in der Methode bis 1845, der Bruch hier stellt jedoch für
Heinrich eine unvermittelte Abkehr vom, ja eine totale Abrechnung mit „unserem
bisherigen philosophischen Gewissen“ (so Marx und Engels in der „Deutschen
Ideologie“) dar. Exakt der Terminologie Althussers folgend, beginnt
jenseits von Hegel, Feuerbach, Entfremdung und (Gattungs)Wesen der neue
Kontinent der Wissenschaft. Dass das menschliche Wesen für Marx schon in den „Ökonomisch-philosophischen
Manuskripten“ als gesellschaftliches und somit historisch
gewordenes und veränderbares verstanden wird, tut Heinrich als Nebensächlichkeit
ab. Jedwedes Fortleben der Problematiken der Frühschriften wird geleugnet, um
den Weg für die positivistische Antithese zum orthodoxen „Hegelmarxismus“
freizumachen. Akut
äußert sich die Problematik des epistemologischen Bruchs, wenn die Sprache auf
das „Herzstück“ der Marxschen Theorie kommt, auf die „Dialektik“ als,
ja als was? Als Logik der Forschung, der Darstellung, oder beides? Als die berühmte
„Einheit von Darstellung und Kritik“? Als Geschichtsteleologie, Eschatologie
gar? Hier schwankt Heinrich zwischen verschiedenen Positionen hin und her.
Dialektik als Dialektik, als „sogenannte“, mit und ohne Anführungszeichen,
von der Verdammung bis zur Affirmation reicht der Bogen. Im
Folgenden soll keineswegs versucht werden, eine „richtige“ Dialektik gegen
Angriffe zu verteidigen, vielmehr geht es um das Aufzeigen von Inkonsistenzen in
der Heinrichschen Argumentation, welche m.E. aber zu weitreichenden Problemen in
den ökonomisch-gesellschaftlichen Analysen führen. An dieser Stelle sei auf
die in der Zeitschrift „Streifzüge“ geführte Debatte zwischen Michael
Heinrich und Vertretern der „Krisis“-Gruppe verwiesen, in denen diese grundsätzlichen
methodischen Differenzen deutlich zu Tage traten.[x] Die Problematik, welche schon im Rahmen der strukturalistischen Marx-Interpretation in den 60er- und 70er-Jahren virulent war, taucht bei Heinrich erneut auf. Im Folgenden möchte ich zwei zentrale Problemfelder herausheben: Das
(Nicht-)Verhältnis von logischer und historischer Lesart des „Kapital“ Die (Nicht-)Relevanz des politischen Subjekts (mit ihrer voluntaristischen Kehrseite) als Folge der strikten Trennung von Theorie und Praxis Zu
Beginn des dritten Teiles von „Die Wissenschaft vom Wert“ beschäftigt sich
Heinrich näher mit der Marxschen Dialektik und deren Interpretationen. Zentrale
Fragestellung ist das Verhältnis Marxens zu Hegel bzw. die Wirkungen, welche
die Hegelsche Dialektik auf die Theorieentwicklung von Marx ausgeübt hat.
Heinrich verwirft die „orthodoxe“ Interpretationslinie, wonach sich die
Marxsche Dialektik „durch eine Einheit von logisch-begrifflicher und
historischer Analyse auszeichne [...]“. (165) Diese von Heinrich „hegelmarxistisch“
bezeichnete Tradition wird von ihm aber über Gebühr ausgedehnt, sodass jeder
Versuch, die Kategorien der politischen Ökonomie (und auch jene der Kritik)
auch als historisch gewordene und veränderbare zu begreifen, abgelehnt wird. In
der Darstellung des Form/Inhalt-Problems wird dann entgültig schwarz-weiß
gemalt, „denn eine Übertragung der hegelschen Kategorien setzt voraus, daß
sich die Argumentationsfiguren der Hegelschen Logik überhaupt von ihrem
spekulativen Inhalt trennen lassen.“ (169), Marx hingegen „hat es
aber immer [sic!] mit einem äußeren Gegenstand zu tun“. (170) Hier wird
nicht nur jeder Einfluss Hegels aus der Marxschen Theorie eliminiert, sondern
auch die Methode der Gesellschaftsbetrachtung und Gesellschaftskritik von ihrem
Inhalt abgetrennt und somit enthistorisiert. Der Vorwurf des Ahistorismus, den
Heinrich der klassischen politischen Ökonomie macht, fällt so – zumindest
teilweise – auf ihn selbst zurück. Im nächsten Kapitel – „Dialektische Darstellung als Form wissenschaftlicher Begründung“ – bietet Heinrich eine „Minimaldarstellung dessen was dialektische Entwicklung in der Kritik der politischen Ökonomie bedeutet“. (172) Die begriffliche Entwicklung bei Marx führt zu einer „Ordnung, die wesentliche Beziehungen der Kategorien ausdrückt“. (172f.) Hier jedoch sind wir bereits auf Höhe der entwickelten bürgerlichen Gesellschaft angelangt und diese „wesentlichen Beziehungen der Kategorien“ sind jeglicher Historizität vorgelagert, ganz im Sinne Althussers. „Die Darstellung des historischen Prozesses der Herausbildung dieses Ganzen [der kapitalistischen Produktion, Anm. MB] liegt außerhalb der dialektischen Darstellung.“ (177) Einige Zeilen weiter: „Auch wenn die dialektische Entwicklung nicht die einzige Form der Darstellung ist, so dominiert sie doch gewissermaßen die historischen Teile.“ (177) Da soll sich eineR auskennen: Die Dialektik dominiert Aspekte der Darstellung, die außerhalb ihrer Reichweite liegen?! Hier tritt die nach wie vor virulente Frage nach dem Verhältnis von Logischem und Historischem in der Marxschen Begriffsentwicklung deutlich hervor, ebenso wie der Wunsch, eine Art „enthistorisierte Dialektik“ als gegenstandsexterne Forschungs- bzw. Darstellungsmethodik zu erhalten. Hier zeigt sich die enge Verbundenheit Heinrichs mit der Althusserschen Theorie: „Die Erkenntnis der Geschichte ist ebenso wenig geschichtlich, wie die Erkenntnis des Zuckers süß ist.“[xi] Beim
„Auseinanderreißen“ der kapitalistischen Totalität hätte Heinrich mehr Rücksicht
auf seinen methodologischen Ziehvater Althusser nehmen sollen. Der gab nämlich
der Synchronie[xii]
von prozessualen Abläufen eindeutig den Vorzug vor diachronischen Folgen,
wenngleich er quasi-metaphysisch die Historizität überhaupt aus der Marxschen
Theorie tilgen wollte. Eine Schwierigkeit dialektischer Darstellung wird hier
jedoch aufgeworfen: die notwendiger Weise nacheinander abfolgende
Beschreibung real gleichzeitig ablaufender Prozesse. Diese Frage um die
Differenz von logischen und historischen Abläufen ist ein „Evergreen“ der
marxistischen Debatte, wobei die „hegelmarxistische“ Schule meist auf die
absolute Einheit, die „strukturalistische“ immer auf die unvermittelbare
Trennung der beiden Formen insistiert(e). Heinrich fällt trotz seiner
„strukturalistische“ Ausgangsbasis auf eine diachronische Argumentation
„zurück“, wonach der Wert einer Ware sich erst in ihrem Austausch bildet.
Heinrich trennt also die Zirkulationssphäre von jener der Produktion und
schreibt der erstgenannten als historisch nachgeordneter „erste Priorität“
zu. Die abstrakte Trennung der kapitalistischen Totalität in verschiedene Sphären
birgt hier jedoch die Gefahr, Kapitalismuskritik auf die Marktsphäre zu
reduzieren.[xiii] Heinrich wendet die
marxistische These, wonach der Markt ein notwendiges Element der Produktion sei,
ins begriffliche Gegenteil. Auch diese „klassische“ Argumentation („Primat
der Produktion“) verweist auf eine Historisierung logischer Begrifflichkeit,
und das nicht zu unrecht, ist doch eine sich als marxistisch verstehende Kritik
am Kapitalismus nicht ohne Kritik am Lohnarbeits-, d.h. Ausbeutungsverhältnis
zu haben. C2
„Prozess ohne Subjekt“ oder „Historische Mission der Arbeiterklasse“? „Der
Marxismus [ist] kraft des einzigartigen ihm zugrundeliegenden
wissenschaftstheoretischen Bruchs theoretisch gesprochen ein Antihumanismus und
Antihistorizismus in einem [...].“[xiv] Dem
Strukturalismus gilt die Struktur jedem Handeln als vorgängig. Sehr gut
beschreibt dies die Metapher, in der Althusser den „Mechanismus“ der
wissenschaftlichen Praxis als „Theater ohne Autor“ beschreibt. Die Struktur
als komplexes Ganzes bildet den unhintergehbaren Ausgangspunkt vor jeder
Geschichte. Die strukturale Totalität im Althusserschen Sinn bildet eine
„Struktur von Strukturen“ in denen jeweils „relative Autonomie“ bzw.
eigene „Zeiten“ herrschen: „Es [gibt] eine eigene Zeit und eine eigene
Geschichte der Produktionsverhältnisse, die auch auf besondere Weise geprägt
sind; ferner eine Zeit und Geschichte der politischen Superstruktur, eine Zeit
und Geschichte der Philosophie; der ästhetischen Produktion; der
wissenschaftlichen Formationen usw.“[xv]
Da erst die Ideologie die Individuen als Subjekte anruft und somit konstituiert,
bilden diese „subjektlosen“ Strukturen quasi das „Unbewusste“ (im
Freudschen Sinne) jeder Gesellschaft. Die extreme Gegenposition kann als die eines metaphysischen und idealistischen Historizismus bezeichnet werden, in welchem es „dem Proletariat“ vorbehalten ist, wahre Erkenntnisse ans Tageslicht zu befördern und diese in Gestalt der Avantgardepartei in die historische Mission der „Kritik der Waffen“ zu transformieren. Einsicht in die Notwendigkeit also, und die Partei hat immer Recht, ist also die „personifizierte“ Einsicht. Logische Abstraktionen in Theorien werden samt und sonders mit historischen Abläufen synthetisiert und ein anthropologisches Menschenbild („Gattungswesen“) bildet die nicht-entfremdete Urform, welche sich der befreite Mensch nach der „Expropriation der Expropriateure“ wieder aneignen muss, auf höherer Ebene, versteht sich. In
den verschiedenen sich auf Marx beziehenden Theorien wurden diese idealtypischen
(also überzeichneten) Formen natürlich nicht affirmiert (außer vielleicht in
sehr „orthodoxen“ Marxismen), sondern wurden immer in Richtung des jeweils
anderen „Stranges“ erweitert bzw. verfeinert. Die Tiefenstruktur sowohl des
Strukturalismus als auch der Kritischen Theorie verweist jedoch nach wie vor auf
die jeweils „eigene“ Seite der „Demarkationslinie“. Aufgebrochen
wurde diese Linie meist nur zwecks Entsorgung marxistischer Inhalte, wie z.B. im
sogenannten Poststrukturalismus oder seitens der Vertreter des inzwischen
restlos systemkonformen Frankfurter Institutes für Sozialforschung (wie zum
Beispiel Jürgen Habermas). Geschichten,
Subjekte und Verwirrungen Bei Heinrich findet sich eine durchaus ambivalente Herangehensweise an das Verhältnis von Mensch und Geschichte: „Insofern
kann man sagen, daß nicht die Menschen, sondern ihre Verhältnisse die
Gesellschaft konstituieren.“ (147) „Die
wirkliche Geschichte muß immer von Menschen gemacht werden und ist in ihrem
Ausgang offen.“ (152) „Die
Geschichte hat auch kein „Subjekt“, weder „die Menschen“ noch „die
Klassen“ [...]. Es handelt sich um einen Prozeß ohne Subjekt.“
(152, einige Zeilen später...) „[...]
es sind nicht einfach die Individuen, die die Gesellschaft konstituieren, es
sind vielmehr gesellschaftliche Strukturen[...]“.
(182) Mensch,
Subjekt, Individuum; bei diesem Durcheinander stellt sich die Frage, ob ein Rückblick
auf Marx selbst nicht etwas Licht ins Dunkel bringen könnte: „Die Menschen
machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken,
nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen
und überlieferten Umständen.“ (MEW 8, 115) Heinrich zitiert diese berühmte
Passage aus dem „18. Brumaire“ zwar selbst, seine explizite
Althussersche Lesart[xvi]
muss hier derartiges „hegelianisieren“ aber draußen halten. Dieses Problem
verweist erneut auf die in marxistischen Zusammenhängen bekannte Frage nach dem
Verhältnis von Logischem und Historischem (v.a. beim „späten“ Marx). Nach
der strukturalen Interpretation muss die historische Entwicklung streng von der
logischen Entwicklung im Kapital getrennt werden, während in der
„klassischen“ Sichtweise historische und logische Entwicklung in Eins
fallen. Letzteres rekurriert auf die geschichtsteleologische Interpretation der
Marxschen Theorie, ausgehend von Engels, weiterentwickelt in Lenins
Widerspiegelungstheorie und im klassischen ArbeiterInnenbewegungsmarxismus.[xvii]
Althussers
Theorie der kapitalistischen Gesellschaft als „Struktur mit Dominante“ (die
Dominante bezeichnet die „in letzter Instanz“ bestimmende Ökonomie) billigt
jedoch den „relativ autonomen“ Strukturen des „Überbaus“ eine
Eigengesetzlichkeit zu, welche eine einheitliche Geschichte (wenngleich auch
„in letzter Instanz“) nicht mehr zulässt. Somit wird auch die Geschichte
notwendiger Weise zum „Prozeß ohne Subjekt“. Für ein Subjekt ist
hier kein Platz mehr. Die Historizität von Gesellschaftlichkeit wird dem Primat
der Analyse gleichzeitig ablaufender (diachroner) Prozesse unterworfen. Nicht
ganz zu unrecht wirft Alfred Schmidt[xviii]
dem „Strukturalismus“ ein „zurück zur Metaphysik“ vor.[xix] Die
Problematik lässt sich also folgendermaßen beschreiben: Während die
hegelianische Linie geschichtliche und logische Interpretation in Eins fallen lässt,
was zum bekannten Geschichtsautomatismus der frühen ArbeiterInnenbewegung
(mitsamt einer mechanischen Dialektik von Entfremdung und Befreiung,
Zusammenbruch und notwendig folgendem Sozialismus führte[xx]),
eliminierte die strukturale Linie die Historizität und die wirklichen
Menschen aus dem gesellschaftlichen Prozess zugunsten einer adäquaten
Gesellschaftsanalyse, welche nicht jede gesellschaftliche Veränderung aus
Bewegungen der ökonomischen Basis ableitet und so der Realität zwangsläufig
hinterher hinkt. Auch bei Heinrich findet sich eine solche Einseitigkeit, wenn
er lediglich in einer Fußnote anmerkt, dass in die Bestimmung des Wertes der
Ware Arbeitskraft nach Marx auch ein „historisches und moralisches
Element“[xxi]
einfließt. (siehe 258) Gemeint ist hier der Klassenkampf, welcher nicht als
konstitutiver Moment gesellschaftlicher Verhältnisse in die Analyse integriert
wird, sondern als „störendes Element“ die streng-wissenschaftliche Analyse
erschwert. Schon auf dieser relativ basalen Ebene zeigt sich die Schwierigkeit,
gesellschaftliche Analysen ohne gesellschaftliche Subjekte zu betreiben. Wünschenswert
wäre hier eine Herangehensweise, welche bei aller „Wissenschaftlichkeit“
die „subjektive“ Seite von Gesellschaft als die Vielheit gesellschaftlicher
Praxisformen nicht vernachlässigt.[xxii]
Hier treffen wir auf einen weiteren kritischen Punkt der „spontanen
Philosophie“ in „Die Wissenschaft vom Wert“, nämlich auf die Frage nach
dem Verhältnis von Ideologie und Wissenschaft. C3
Von der Ideologie zur Wissenschaft: die unsichtbare Grenze
Heinrich
schreibt auf S. 384, dass „es zwar einen wissenschaftlichen Sozialismus
aber keine sozialistische Wissenschaft geben [kann]“. Hier zeigt
sich offen die Problematik der unvermittelten Trennung von Ideologie und
Wissenschaft. Die Wissenschaftlerin oder der Wissenschaftler steigt über die
Ideologie hinaus und analysiert aus beinahe Kantscher Höhe die „Prozesse
ohne Subjekte“, die (Denk)Strukturen, welche jedem gesellschaftlichen
Handeln vorausgehen. Längst vergessen ist die Einleitung, wo noch jede
wissenschaftliche Tätigkeit Interpretation war und „so etwas wie
eine authentische Interpretation“ gar nicht möglich war. Hier zeigt sich
die oft dünne Grenze zwischen philosophischer Hermeneutik und
strukturalistischer Wissenschaft erneut in Form von Ideologie, jener
(nach Althusser) condition sine qua non jeder menschlichen Gesellschaft. Hier
angelangt, verwundert das Zurate ziehen von Popper und Gadamer, zweier
ausgewiesener Anti-Marxisten, wenig.[xxiii] Interessant
ist hier, sich die philosophischen Ausführungen Georg Lukacs´ in „Geschichte
und Klassenbewußtsein“[xxiv]
näher anzusehen. Lukacs lehnte die Engelssche „Dialektik der Natur“ als
universale Erkenntnismethode ab und konstatierte die Notwendigkeit einer grundsätzlich
anderen Herangehensweise an naturwissenschaftliche Problemstellungen als an
„geisteswissenschaftliche“ bzw. eben gesellschaftliche. In Rückbesinnung
auf den „jungen“ Marx sah Lukacs allerdings im klassenbewussten Proletariat
(der „Klasse für sich“) ein zur „Wahrheit“ fähiges Erkenntnissubjekt. „Nur
die Klasse [...] vermag sich praktisch umwälzend auf die Totalität der
Wirklichkeit zu beziehen.“[xxv]
Dem Althusserschen Wissenschafts- bzw. Erkenntnisbegriff steht das diametral
entgegen, obwohl sich Althusser paradoxer Weise im Rahmen seiner
„Selbstkritik“ quasi „durch die Hintertüre“ der Lukacsschen Position
annäherte: „Es genügt nicht, sich eine politische proletarische Position
anzueignen. Diese politische Position muss zu einer theoretischen
(philosophischen) Position ausgearbeitet werden, damit das, was vom
proletarischen Standpunkt aus sichtbar ist, in seinen Ursachen und seinen
Mechanismen konzipiert und gedacht wird.“[xxvi]
Heinrich zitiert die letztgenannte Textstelle, lehnt sie aber als
„Standpunktlogik“ ab. Das ist durchaus gerechtfertigt, nur hat Althusser
selbst wohl nicht nur aus parteitaktischen Gründen seine ursprüngliche
epistemologische Herangehensweise kritisiert. So lassen v.a. die „frühen“
theoretischen Positionen Althussers eine wie auch immer geartete Vermittlung in
eine politische Praxis kaum bis gar nicht denken.[xxvii]
Es scheint, als ob mit der Althusserschen Selbstkritik aus der unüberwindbaren
„Demarkationslinie“ zwischen Ideologie und Wissenschaft schnurstracks eine
zwischen Proletariat und Bourgeoisie geworden ist. Eine
brauchbarere Herangehensweise an diese „Demarkationslinie“ erscheint mir
Althussers Text „Philosophie und spontane Philosophie der Wissenschaftler“[xxviii],
wo – noch vor seinen ideologietheoretischen Schriften – Althusser zwischen
die Bereiche „Wissenschaft“ und „Weltanschauung“ sowohl die Philosophie,
als auch die „spontane Philosophie der Wissenschaftler“ (SPW) einschiebt.
Innerhalb der SPW (die alle WissenschaftlerInnen „betreiben“) findet ein
unentwegter Kampf des materialistischen Elements mit dem idealistischen[xxix]
statt. Die Philosophie, namentlich die materialistische, kann in diesen Kampf
eingreifen, nicht jedoch direkt in die Wissenschaften. Was aber macht Heinrich?
Einerseits definiert sich jede Wissenschaft über eine – letztlich
ideologische – konstruktive Interpretation, andererseits soll es aber keine
sozialistische Wissenschaft geben. Vor allem die zweite Aussage lässt eine
Binnendifferenzierung verschiedener Wissenschaften nicht zu. Sogenannte „soft
sciences“, meist „Geisteswissenschaften“ müssen, da sie zu eng mit
Weltanschauungen verzahnt sind, aus dem Bereich der Wissenschaftlichkeit
ausgeschlossen werden, um ein einheitliches Wissenschaftsbild zu gewährleisten.
Aber
selbst in den „Naturwissenschaften“ kommen wir mit Heinrichs Definition in
Bedrängnis, insbesondere in Wissenschaftsfeldern, die direkt in
weltanschauliche Sphären hineinwirken, wie am Beispiel moderner Biotechnologien
ersichtlich ist. Die Frage, die in den Raum kommt, ist jene nach der
Definitionsmacht von Wissenschaft. Wer bestimmt, wer einE WissenschaftlerIn bzw.
was überhaupt Wissenschaft ist? Die strukturalistische Definition antwortet
uns: die Wissenschaft selbst! Diese Antwort ist jedoch genauso unbefriedigend
wie jene („die Partei!“) des stalinistisch geprägten Marxismus. Wir
befinden uns jetzt bereits inmitten einer weltanschaulichen Auseinandersetzung:
Wer bestimmt, wer bestimmen darf, wer einE WissenschaftlerIn bzw. was überhaupt
Wissenschaft ist? Wir sehen, dass wir mit der Althusserschen Ideologietheorie
alleine hier nicht weiterkommen. Wenn jede Gesellschaft Ideologie produzieren
muss, wird Ideologie quasi mit Gesellschaft gleichgeschaltet. Wissenschaft kann
nur mehr außerhalb von Gesellschaft gedacht werden (als der berühmte „Prozeß
ohne Subjekt“), Ideologiekritik wird unmöglich. Ideologie
wirkt zwar auch auf die Herrschenden und ist nicht lediglich als ein Instrument
zur Festigung der Macht des Kapitals anzusehen, aber AUCH. Jede Ideologie enthält
– mehr oder weniger große und explizite – Wirkungen ohne Ursache und solche
MIT![xxx]
Die materialistische Dialektik hat nicht zuletzt die Aufgabe, diese
Differenzierungen der ideologischen Wirkungen aufzuspüren und letztlich
politisches Handeln zu ermöglichen. Beide theoretischen Extreme (Ideologie NUR
als Instrument der Herrschenden, Ideologie als NOTWENDIGKEIT jeder Gesellschaft)
führen zu Einengung politischer Handlungsmöglichkeiten. Hier kommt erneut die
Frage des Theorie/Praxis-Verhältnisses ins Spiel. Theorie
und Praxis können demnach genauso wenig in Eins fallen wie sie schlichtweg
Verschiedene wären, welche niemals und in keiner Art und Weise zur Deckung
gebracht werden können. Auch wenn Althusser das Messen einer Theorie an ihrer
gesellschaftlichen Wirkung als „Pragmatismus“ abqualifiziert, sollten wir
uns vor so viel Wissenschaftlichkeit nicht abschrecken lassen. Die Errichtung
einer weiteren Demarkationslinie, diesmal zwischen „theoretischer“ und
„politischer Praxis“, führt in letzter Konsequenz zur gleichen Folge wie
jene zwischen Ideologie und Wissenschaft. Analytische Abgrenzungen dienen der Möglichkeit
verbesserter Erkenntnis. Ohne Nutzbarmachung dieser Erkenntnis in der Lebenswelt
aber bleibt die schönste und beste Wissenschaft letztlich
herrschaftsstabilisierend. Wir werden nicht umhinkommen, den Kampf um Hegemonie
auch in der Wissenschaft zu führen. WissenschaftlerInnen werden nicht qua
Anrufung konstituiert, sondern bilden – gerade wegen ihrer „Spontanen
Philosophie“ – ebenso eine unhintergehbare Voraussetzung für
Wissenschaft, die der Befreiung und nicht der Herrschaft „dient“. Die
„relative Autonomie“ der Wissenschaften ist also ernst zu nehmen. Wie, wo
und durch wen die gesellschaftliche Vermittlung stattfindet, das ist hier die
Frage.[xxxi] Althussers
Theorie der „spontanen Philosophie der Wissenschaftler“ leistet hier mehr:
Sie beschreibt die Vermittlung der weltanschaulichen Ebene bis hinein in die
Wissenschaft. Außerdem ermöglicht sie, Mechanismen zu erkennen, welche die
Elemente der SPW bzw. ihren Kampf konstituieren, ohne auf eine schlichte
Standpunktlogik zurückzufallen. Die Anwendung dieses theoretischen Ansatzes auf
„Die Wissenschaft vom Wert“ zeigt uns die inkonsistente
Interpretationsmethode von Heinrich. Die „Anrufung“ Karl Poppers würde
Althusser mit Recht als eindeutigen Sieg des idealistischen Elements der
SPW über das materialistische bezeichnen.[xxxii]
Da Heinrich den Gegensatz idealistisch/materialistisch nicht verwendet, verbaut
er sich die Chance einer methodologischen Selbstreflexion. Er schlingert quasi
zwischen verschiedenen epistemologischen Zugängen hin und her. So ist neben der
kritischen Interpretation der Heinrichschen Marx-Interpretation noch eine
kritische Interpretation der SPW Heinrichs zu leisten; pikanter Weise lassen
sich diese zwei Elemente jedoch nicht trennen.
Der
Strukturalismus hat interessante Aspekte ins Spiel gebracht, aber die
unvermittelte Trennung von Theorie/Praxis bzw. Subjekt/Struktur ist nicht
durchhaltbar. So schießt die positive Seite strukturaler Interpretation – die
Schärfung des Aspekts der Wissenschaftlichkeit – oft über ihr Ziel hinaus.
Geopfert werden Historizität und Subjektivität. Dies führt zum Ausschluss von
Veränderbarkeit aus dem Zentrum der Theorie und bringt uns hinter die elfte
Feuerbachthese von Marx zurück zur verschiedenen Interpretation, welcher
die Veränderung nachgeordnet wird. Die
Hegelsche Dialektik kann nicht von ihrem Inhalt separiert und einfach „umgestülpt“
werden. Gleichwohl ist die dialektische Methode nicht lediglich eine
Darstellungsweise von Begriffsverhältnissen. Weder eine „Dialektik der
Natur“, welche Geist, Gesellschaft und Natur mittels einer einheitlichen
Methode „erkennbar“ machen, noch Erkenntnis durch Reduktion
gesellschaftlicher und Bewusstseinsphänomene auf harte naturwissenschaftliche
(und ahistorische) Fakten wird der Komplexität menschlicher Gesellschaft
gerecht. Die philosophischen Bezugnahmen Marxens auf Vertreter einer „Linie“
zu reduzieren, hieße, die enorme Dichte und Fruchtbarkeit der Marxschen Theorie
unzulässig zu verkürzen, ohne Spinoza und Hegel, Aristoteles und Kant wird´s
nicht gehen. In der Frühphase der Marxschen Theorie ist dabei ein weitaus stärkerer
Bezug zu Feuerbach bzw. Hegel vorhanden als in den Werken des „reifen Marx“.
Ein unvermittelter und unvermittelbarer Bruch kann allerdings nicht konstatiert
werden. So wird eine aktuelle Weiterentwicklung der Marxschen Theorie nur dann möglich
sein, wenn die beteiligten Subjekte (!) ihre ausgetretenen Pfade verlassen und
abseits ideologischer Vorurteile versuchen, die enorme Breite und Vielfalt der
Marxschen Theorie für diese Weiterentwicklungen nutzbar zu machen. Hiezu ist
nach wie vor ein Wahrheitsanspruch aufs Spiel zu setzen, jedoch ohne diesen aus
vorgeformten Denkmustern abzuleiten und selbstverständlich unter Einbeziehung
theoretischer Leistungen seit Marx. Michael Heinrich hat mit „Die Wissenschaft
vom Wert“ eine detaillierte Auseinandersetzung mit der ökonomischen
Theorie(Entwicklung) von Karl Marx vorgelegt, die nicht zu unrecht als
Standardwerk gilt. Die strukturale Methode, der er sich bedient, verbessert zwar
die wissenschaftliche Präzision, tilgt bzw. verschweigt aber das Element der
Praxis zugunsten jenem der Wissenschaftlichkeit. Auch mit der Tilgung des
Subjekts aus der Theorie kommt Heinrich, zumindest in methodologischer Hinsicht,
dem bürgerlichen Wissenschaftsbetrieb entgegen. Dies erfordert – da Heinrich
offensichtlich einen marxistischen Anspruch aufrechterhalten möchte –
andererseits einen stark voluntaristischen Zug auf der praktisch-politischen
Seite. Dem wäre eine „Subjektivierung“ und Historisierung der ökonomischen
Kategorien entgegenzustellen. Sowohl
Historizität als auch die Marxschen „wirklichen Menschen“ als
Subjekte dieser Veränderung müssen in einer Methodik integriert werden, wenn
nicht der zentrale politische Anspruch Marxens und seiner NachfolgerInnen auf
ebendiese Veränderung verabschiedet werden soll. Marxismus ist weder
Objektivismus noch Subjektivismus. Auf jenem schmalen Grad werden sich Theorie
und Praxis, Objekt und Subjekt begegnen müssen, wollen wir einem illusorischen freischwebenden
Intellekt entkommen. Im Weiteren sollen hier die zwei wesentlichen
Dichotomien (Ideologie/Wissenschaft, geschichtliches Subjekt/“Prozess ohne
Subjekt“), welche die „zwei Stränge“ der Marxinterpretation von
einander trennen, infrage gestellt werden, um einer Nutzbarmachung von Begriffen
aus beiden „Strängen“ für eine erneuerte antikapitalistische Theorie und
Praxis den Weg zu ebnen. Es geht also um eine fortgeschrittene Symbiose, nicht
um eine Synthese. „Die Wissenschaft vom Wert“ ist zweifelsohne trotz aller
Probleme ein wesentlicher Beitrag auf dem Weg zu einem solcherart erneuerten
Marxismus.
Heinrich,
Michael, „Die Wissenschaft vom Wert. Die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie
zwischen wissenschaftlicher Revolution und klassischer Tradition“, überarbeitete
und erweiterte Neuauflage, Münster 1999. Althusser,
Louis, „Philosophie und spontane Philosophie der Wissenschaftler“, Schriften
4, Berlin (West) 1985. Ders.
und Balibar, Etienne, „Das Kapital lesen“, Reinbek bei Hamburg 1972. Jaeggi,
Urs, „Ordnung und Chaos; Der Strukturalismus als Methode und Mode“,
Frankfurt a. M. 1968. Lukacs,
Georg, „Geschichte und Klassenbewußtsein“, Berlin 1923. Schmidt, Alfred, „Der strukturalistische Angriff auf die Geschichte“, in: Alfred Schmidt (Hg.), „Beiträge zur marxistischen Erkenntnistheorie“[xxxiii], Frankfurt a. M. 1969, S. 194-265. [i] Die Verdammung ebendieser „Fallstricke“ stammt wenngleich aus einem gänzlich(?) anderen Grund – von Eduard Bernstein, dem zentralen Vertreter des Revisionismus der II. Internationale. Interessanter Weise benutzt auch Althusser in „Das Kapital lesen“ diesen Terminus und zwar in kritischer Absicht gegen die „Geschichtsideologie“ einer einheitlichen Geschichte. [ii] Karl Marx, Thesen über Feuerbach, in: MEW 3, S. 7, Hervorhebung im Original. [iii] Michael Heinrich, Die Wissenschaft vom Wert. Die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie zwischen wissenschaftlicher Revolution und klassischer Theorie, 2., überarbeitete und erweiterte Auflage, Münster 1999. [iv] In: Louis Althusser, Écrits philosphiques et politiques, Bd. 1, Paris 1994, S. 539-579. [v] Antonio Negri, Die wilde Anomalie; Spinozas Entwurf einer freien Gesellschaft, Berlin 1982. [vi] „Nur-Seitenangaben“ beziehen sich immer auf „Die Wissenschaft vom Wert“. [vii] siehe Hans-Georg Backhaus, Dialektik der Wertform. Untersuchungen zur Marxschen Ökonomiekritik, Freiburg 1997 oder auch soeben im ca ira-Verlag neu aufgelegt: „Zur logischen Struktur des Kapitalbegriffs bei Marx“ von Helmut Reichelt aus dem Jahre 1970. [viii] Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, in: MEW 40, S. 511. [ix] ebd., S. 537, Hervorhebungen im Original. [x] siehe „Streifzüge“ Nr. 1 & 2 1999 sowie 1, 2 & 3 2000 wo eine lebhafte Debatte zwischen Michael Heinrich und Vertretern der „Krisis“-Gruppe stattfand, welche sich vor allem um die Frage nach der „Entstehung“ des Werts bzw. um das Verhältnis Produktions-/Zirkulationssphäre drehte. [xi] Louis Althusser und Etienne Balibar, Das Kapital lesen (im Folgenden zitiert als LC), S. 139. [xii] „Die Synchronie ist die Ewigkeit im Sinne SPINOZAS [...]“, LC, S. 141. [xiii] Paradoxer Weise wurde in der Althusserschen Tradition die Zirkulationssphäre noch sträflich vernachlässigt (was zu einer fundierten Kritik im Rahmen der Regulationsschule führte), so analysiert Heinrich umgekehrt „den Wert“ vom Tausch/Markt her. [xiv] LC, S. 158. [xv] LC, S. 130. [xvi] vgl. LC, S. 242: „Die wahren [...] [Subjekte] sind [...] eben nicht die [konkreten Individuen] und die [wirklichen Menschen] [...] Die bestimmenden und verteilenden Faktoren, kurz, die Produktionsverhältnisse (und die politischen und ideologischen Verhältnisse einer Gesellschaft) sind die wahren [Subjekte].“ und II, 243: „Produktionsverhältnisse [...] sind Strukturen.“ Ergo: Strukturen sind also „Subjekte“! [xvii] Für eine aktuelle Darstellung dieser geschichtsmetaphysischen Interpretation siehe Georg Quaas, Dialektik als philosophische Theorie und Methode des „Kapital“, Frankfurt a. M. 1992, insbesondere Kapitel 4. [xviii] Alfred Schmidt, Der strukturalistische Angriff auf die Geschichte, in: Alfred Schmidt (Hg.), Beiträge zur marxistischen Erkenntnistheorie, Frankfurt a. M. 1969, S. 194-265. [xix] ebd., S. 254. [xx] vgl. den Artikel von Markus Gassner in diesem Heft. [xxi] Karl Marx, „Das Kapital“, 1. Band, MEW 23, S. 185. [xxii] Solch eine Berücksichtigung gesellschaftlicher Subjektivität rückte in den Theorien des italienischen Operaismus ins Blickfeld. Dabei wurde allerdings die Subjektivität des „gesellschaftlichen Arbeiters“ zum Movens jeglicher gesellschaftlichen Entwicklung hypostasiert. Extreme Ansätze erklären so das Ende des Fordismus zur Folge einer Offensive der Arbeitersubjektivität, welche UnternehmerInnen und Staat quasi zum neoliberalen Systemumbau gezwungen habe, vgl. auch Karl Marx, Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses, Frankfurt 1969, wo detailliert auf die Rolle der „lebendigen Arbeit“ im Rahmen des kapitalistischen Produktionsprozesses eingegangen wird. [xxiii] Angesichts der positiven Bezugnahme Heinrichs auf den Hermeneutiker Hans-Georg Gadamer sei hier auf eine Arbeit hingewiesen, die sich u.a. ebenfalls mit einem Flirt zwischen Strukturalismus (Althusser) und Hermeneutik (Heidegger) beschäftigt: Hermes Spiegel, Gramsci und Althusser. Eine Kritik der Althusserschen Rezeption von Gramscis Philosophie, Hamburg 1997. [xxiv] Georg Lukacs, Geschichte und Klassenbewußtsein, Berlin 1923. [xxv] ebd., S. 211. [xxvi] Louis Althusser, Die Bedingungen der wissenschaftlichen Entdeckung von Marx, in: Horst Arenz u.a. (Hg.), Was ist revolutionärer Marxismus? Kontroverse über Grundfragen marxistischer Theorie zwischen Louis Althusser und John Lewis, Berlin (West) 1973, S.87, zit. n. „Die Wissenschaft vom Wert“, S. 144. [xxvii] So in LC, S. 79: „Den Erkenntnischarakter der von MARX produzierten Erkenntnisse kann nicht die ferne historische Praxis bestätigen [...] Das Kriterium für die [Wahrheit] der von MARX produzierten Erkenntnisse ist die theoretische Praxis von MARX selbst.“ (Hervorhebung, MB) [xxviii] Louis Althusser, Philosophie und spontane Philosophie der Wissenschaftler, Schriften 4, Berlin (West) 1985. [xxix] vgl. ebd., S. 103 ff. [xxx] ganz im Gegensatz zu „Das Kapital lesen“, wo es auf Seite 254 noch hieß: „Die Struktur ist ihren Wirkungen immanent, sie ist eine ihren Wirkungen immanente Ursache im Sinne SPINOZAS; ihre ganze Existenz besteht in ihren Wirkungen, und außerhalb ihrer Wirkungen ist sie als spezifische Verbindung ihrer Elemente ein Nichts.“ [xxxi] An diesem Punkt wäre eine Auseinandersetzung mit dem Begriff der Praxis vonnöten, der aber aus Platzgründen unterbleiben muss. [xxxii] vgl. Louis Althusser, „Philosophie und spontane Philosophie der Wissenschaftler“, Schriften 4, Berlin (West) 1985, S. 136, wo sich Althusser mit der „Spontanen Philosophie“ des Biologen Jacques Monod auseinandersetzt. |
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