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Karl Polanyi: The Great Transformation – Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystem

Frankfurt am Main: Suhrkamp, 394 Seiten, 1978, 15 Euro.

Karl Polanyi wieder gelesen: Wie der Staat den Kapitalismus schuf

In Zeiten, in denen „Neoliberale“ einen Kult um den freien Markt betreiben und Neo-KenysianerInnen in staatlichen Interventionen ein Allheilmittel sehen, lohnt es sich wieder ein Mal den Klassiker „The Great Transformation“ von Karl Polanyi aus dem Jahr 1944 zur Hand zu nehmen. Um es postmodern auszudrücken: In diesem Werk dekonstruiert Polanyi den Mythos einer sich naturwüchsig und spontan entwickelnden, freien Marktwirtschaft sowie die Idee, den Staat als Gegenpol zum Kapital zu denken. Polanyi untersucht die Entwicklung des Kapitalismus hauptsächlich am Beispiel Englands vom 16. Jahrhundert bis in die 1930er Jahre. Eine der Hauptthesen des Buchs ist: „Die Wirtschaftsgeschichte zeigt, dass das Entstehen nationaler Märkte keineswegs die Folge der langsamen und spontanen Emanzipation des ökonomischen Bereichs von staatlichen Kontrollen war. Der Markt war, im Gegenteil, das Resultat einer bewussten und oft gewaltsamen Intervention von Seiten der Regierung, die der Gesellschaft die Marktorganisation aus nichtökonomischen Gründen aufzwang“ (S.331).

Beseitigung des „Rechts auf Lebensunterhalt“ zur Schaffung des Arbeitsmarktes

Laut Polanyi hat es Märkte schon in der Antike gegeben, erst mit dem Kapitalismus ist aber der Markt nicht mehr Teil der Gesellschaft, sondern die Gesellschaft wurde zum Anhängsel des Marktes (S.88). Das liberale Credo, dass Arbeitskraft, Boden und Geld als freie Waren gehandelt werden sollen, konnte in England erst Mitte des 18.Jahrhunderts durchgesetzt werden. Für Polanyi sind Arbeitskraft, Boden und Geld „fiktive Waren“, da sie nicht für den Verkauf produziert werden (S. 108). Die Arbeitskraft kann nicht vom Leben bzw. Überleben des dazugehörigen Menschen getrennt werden. Der Markt tut trotzdem so, als ob die Arbeitskraft eine beliebige Ware wie jede andere wäre.

Um einen freien Arbeitsmarkt zu etablieren, musste der Staat Mitte des 18.Jahrhunderts das „Recht auf Lebensunterhalt“ beseitigen, dass die Armen durch das Gewohnheitsrecht des sogenannten Speenhamland-Tarifs besaßen (S.120). FriedensrichterInnen hatten 1795 festgelegt, dass zu den Löhnen der Armen ein an den Brotpreis gebundener Zuschuss von der Gemeinde ausgezahlt wurde, um ein Minimaleinkommen zu garantieren. Nach dem Armengesetz wurden Arbeitslose außerdem von der Gemeinde gegen die Sicherung des Unterhalts zu Arbeiten herangezogen. Um zu verhindern, dass wohlhabendere Gemeinden mit „Paupern überschwemmt“ wurden, schränkte der Staat per Gesetz die Freizügigkeit ein und ahndete Landstreicherei im Wiederholungsfall als Schwerverbrechen. In diesem System verließen sich die UnternehmerInnen darauf, dass die Gemeinde die Differenz zwischen dem Existenzminimum und dem Lohn bezahlte. In anderer Form taucht dieses System heute in Deutschland wieder in Form des „Kombi-Lohns“ und des 1 Euro-Jobs auf.

Verschiedene liberale AutorInnen griffen das „Recht auf Lebensunterhalt“ an: Arme könnten nur durch den Hunger zur Fabrikarbeit angespornt werden und die Beseitigung des Hungers durch die Armengesetze sei ein Übel. Diese Gesetze seien außerdem die eigentliche Ursache für die Existenz von Armut überhaupt und würden die Mobilität der Arbeitskraft behindern. 1813/14 wurden in England das Handwerksstatut und 1834 das Armenrecht sowie der Speenhamland-Tarif aufgehoben. Die Entwicklung von Reichtum und Armut wurde nun in den Diskursen von Townsend, Hobbes oder Malthus zum Naturgesetz erklärt.

Regulierungen um Markt und Privateigentum durchzusetzen

Die Verwandlung von Arbeit und Boden in Waren musste vom Staat in einem schmerzhaften Prozess durchgesetzt werden. Die Vertragsfreiheit wurde erst 1860 auf den Boden ausgeweitet, nachdem die BäuerInnen von den Einhegungen durch die SchafzüchterInnen von dem vorherigen Gemeindeland vertrieben wurden. In Italien setzte der Staat durch die Säkularisierung des Kirchenlandes die Übertragung des Bodens an Privatpersonen durch, in Frankreich schuf der Code Napoleon einen mittelständischen Realbesitz, in dem die Hypothek zum zivilrechtlichen Vertrag gemacht wurde.

Auch in der Blütezeit des Liberalismus war es mit dem berühmten Laissez-fairePrinzip nicht weit her: Die Liberalen forderten vom Staat, dass die Bildung von Gewerkschaften durch die ArbeiterInnen und der Zusammenschluss von Unternehmen zu Kartellen verhindert werden musste. Auch um das Dogma einer Deflationspolitik durchzusetzen, unterstützten Liberale staatliche Regulierungen und einen Abbau der Demokratie. „Mit anderen Worten, wenn sich die Erfordernisse eines selbstregulierenden Marktes als unvereinbar mit den Erfordernissen des Laissez-faire  erwiesen, dann wandten sich die Liberalen gegen das Laissez-faire  und bevorzugten die sogenannten kollektivistischen Methoden der Reglementierung und Restriktion“ (S.205). Laut Polanyi war das Bürgertum in England erst bereit, den ArbeiterInnen das Wahlrecht zuzubilligen, nachdem die „Gewerkschaften das reibungslose Funktionieren der Industrie zu ihrem Hauptanliegen gemacht hatten“ (S.236).

Die Verabschiedung von Fabrikgesetzen und des Zehnstunden-Gesetz von 1847 sieht Polanyi als Selbstschutz der Gesellschaft gegen die Kräfte des Marktes. Diese Maßnahmen gingen aber weniger auf die ArbeiterInnenbewegung selbst zurück, sondern auf „aufgeklärte Reaktionäre“ und GroßgrundbesitzerInnen, die das Bündnis mit den ArbeiterInnen gegen die FabrikbesitzerInnen suchten. In Deutschland wurde der Sozialstaat von dem Junker Bismarck etabliert, in Frankreich von Napoleon III.

 Ohne Staat keinen Kapitalismus

Ohne sich darüber bewusst zu sein, hat Polanyi eine ähnliche Theorie der Entstehung des Kapitalismus wie Bakunin. Bakunin war der Meinung, dass das Kapital vom Staat geschaffen wurde und die Revolutionäre deshalb den Staat zerschlagen müssten, um den Kapitalismus abzuschaffen. Interessant an Polanyis Ansatz ist, dass er zeigt, wie der Kapitalismus gemacht wurde und nicht einfach naturwüchsig entstand sowie welche zentrale Rolle der Staat dabei spielte. Es ist daher unsinnig, den Staat als Gegenpol zum Kapital zu denken. Ohne den Staat könnte der Kapitalismus weder durchgesetzt noch erhalten werden. Eine sich selbst regulierende freie Marktwirtschaft ist ein Mythos, den es in der Realität nie gegeben hat.

Um es mit John Holloway zu sagen, Institutionen wie Privateigentum, Kapital oder Lohnarbeit existieren nicht einfach, sondern werden von uns täglich geschaffen und sind umkämpfte Terrains. Deshalb lautet seine Parole „Stop making capitalism!“ Der Staat ist für Holloway wie für Bakunin Teil des Kapitalismus, der nicht einfach aus diesem Zusammenhang gelöst werden kann. Eine staatstheoretische Debatte könnte durchaus  auch an Polanyi anknüpfen.

Wie den AnarchistInnen, so liegt auch Polanyi jeder Fortschrittskult um die Industrialisierung fern, zurück in vorkapitalistische Zeiten möchte er jedoch nicht. Problematisch ist vor allem, dass Polanyi 1944 glaubt, die liberale Marktwirtschaft sei Geschichte. „Bei den Liberalen sinkt die Freiheit bloß zu einer Befürwortung des freien Unternehmers herab, dass heute durch die harte Wirklichkeit gigantischer Trusts und fürstlicher Monopole zu einer Fiktion geworden ist“ (S.340). Dieser Satz könnte auch von Adorno oder Lenin stammen. Polanyi glaubt wie viele ZeitgenossInnen, dass Konkurrenz letztlich zum Monopol führen muss.

Heute sind die Zeiten starker staatlicher Lenkung der Wirtschaft und Staatsmonopole wie in den Systemen des New Deal, Nationalsozialismus oder Staatssozialismus vorbei. Gerade vor diesem Hintergrund wird die Lektüre von Polanyi Buch wieder spannend, da „Neoliberale“ im „Recht auf Lebensunterhalt“ durch den Sozialstaat ein Haupthindernis für den wirtschaftlichen Aufschwung sehen. Um die Senkung der Löhne durch die Etablierung eines zweiten und dritten Arbeitsmarktes durchzusetzen sowie das Privateigentum besonders auf geistigem Gebiet zu sichern und durchzusetzen, wird nach der harten Hand des Staates geschrieen. Durch Laisseze faire lässt sich der freie Markt keineswegs aufrechterhalten.

Paul Pop

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ISSN 1814-3164 
Key title: Grundrisse (Wien, Online)

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